Der Tote auf Tabarca - Andreas Heßelmann - E-Book

Der Tote auf Tabarca E-Book

Andreas Heßelmann

0,0

Beschreibung

Spanien ist einfach zu nah, als dass die Menschen des afrikanischen Kontinents nicht den riskanten Weg über das Mittelmeer in die vermeintlich bessere Welt wählen würden. Doch sind sie angekommen, sind die Verlockungen in dieser Welt genauso groß. Inspector Xarneracomte und sein Freund Primo müssen im neuen Fall einen weiteren Mord aufklären, der wohl mit dieser Sehnsucht nach Freiheit in Verbindung steht. Wären die beiden weniger mit ihren Angehimmelten, Mónica und Cristina, beschäftigt, würden sie sich sicher besser auf die Antwort darauf konzentrieren können. Auch "Der Tote auf Tabarca" spielt vor dem hochaktuellen Hintergrund der Flüchtlingskrise in Spanien.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 403

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Cuando el río suena, agua lleva (Spanisches Sprichwort)

Inhaltsverzeichnis

Der Anfang vom (Wochen)ende: Eine Art Prolog

Sonntag

Montag

Fast vier Wochen später

Donnerstag

Freitag

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Fast Mitte Oktober

Der Anfang vom (Wochen)ende Eine Art Prolog

Ich werde es das Jahr der kurzen Hosen nennen. Oder das der kurzen Röcke, Kleider, Hemden oder was weiß ich. Der schulterfreien Blusen, T-Shirts und bauchfreien Tops. Irgend so etwas. Auf jeden Fall der nackten Beine und Schenkel. Denn von denen gab es – sogar geteilt durch zwei – mehr als Menschen in der Stadt. Alles in allem inflationär zur Schau gestellte nackte Haut. Rund um die Uhr. Von jungen und nicht mehr ganz so jungen Mädchen aus der ganzen Welt. In dieser Anzahl ziemlich verführerisch und verwirrend zugleich. Vielleicht nenne ich es auch das Jahr, in dem die Welt begann unterzugehen und drohte, mich mitzureißen. Genau wegen dieser Verführungen. Wegen all der Gefahren, die dadurch beinhaltet waren. Und der Gefahren, die uns, trotz der angeblichen Erfolge, sonst noch ereilten: Arbeitslosigkeit, Geldnot, geschlossene Läden und Bars, pleitegegangene Banken, unbezahlbare und unerfüllbare Wünsche, noch mehr Inflation und die wie Unkraut unaufhörlich nachwachsenden, ständig grinsenden, unfähigen und korrupten Politiker, die sich nur um Nebensächlichkeiten kümmerten, statt um die richtigen Probleme. Auch das sehr international. Aber Geld machte auch bei denen alles möglich.

Dazu kommt der Dreck am Wochenende. Und das schon seit Monaten! Von Montag bis Freitag glänzt die Stadt. Nicht nur wegen der achtzig bis neunzig Prozent nackten und eingesalbten Körper, und nicht nur, weil wir von der CNP, der Local, Guardia Civil und der am Postiguet neuen Protección Civil, versuchen, das kriminelle Perpetuum Mobile in Griff zu bekommen, sondern auch, weil Leute wie Mónica mehrfach täglich für ihre Sauberkeit sorgen. Zumindest an den meisten Stellen. Häufig genug vergebene Liebesmüh. Denn übermorgen Abend wird die vom Leben frustrierte und dennoch ständig feiernde und johlende Jugend wieder nur dieses eine Wochenende gebraucht haben, um genau hier, mitten in der Stadt, ihre Müllberge zu hinterlassen. Dosen, Flaschen, Kippen, Schnipsel, Tüten, leere Fast-Food-Behältnisse und Plastik, Plastik, Plastik. Und wer darf es wieder saubermachen? Genau! Ich sehe, Sie haben verstanden.

Und die ganzen bettelnden Hände gehen mir langsam auch auf die Nerven. Inzwischen kommen diese sogar von weither, häufig genug aus den östlichen Ländern Europas. Als wenn wir mit den anderen nicht schon genug Probleme hätten. Alle zwanzig Meter sitzen sie da und strecken mir auf der Rambla, Soto, Maisonnave, am Bahnhof, der Markthalle, an beinahe jedem Zebrastreifen und weiß Gott wo Becher, Mützen oder Kartons vor die Knie. Wehe du schaust nicht hin, schon stolperst du über siebzehnjährige Mädchen mit bereits vier Kindern, die allesamt hungern. Achtzigjährige Frauen, die jedes Geschäft annähmen, wenn man sie nur lassen würde. Halb amputierte Männer, die alle in Srebrenica ihre Ehre verloren haben und nirgendwo in Europa ihre Ruhe finden. Manche von ihnen lassen sogar ihre Kinder auf die Leute los, damit sie mit einem wirklich wehleidigen Blick ein paar Cents bekommen. Aber alle sind unschuldig in den Strudel der Armut geraten, haben immer die richtigen gewählt. Alle sind seit jeher ohne Arbeit, Haus und Hilfe. Alle haben es in unseren Gossen besser als bei sich daheim. Steht alles auf den Pappdeckeln vor ihren Füßen. Dass sie zu Hunderten mit falschen Versprechungen in Bussen für ein horrendes Geld, woher auch immer, hierher gekarrt wurden; aus einer Heimat, die ihnen bis zu diesem Zeitpunkt wenigstens ein, wenn auch armseliges Dach über dem Kopf bescherte, und in der es verboten war, genau das zu tun, wozu man sie hier nötigte, vielmehr zwang, verschwiegen sie natürlich. Genauso, dass sie für all das zumeist freiwillig einen Arm gehoben hatten, damit man sie auch wirklich mitnahm. Aber niemand erstattete Anzeige gegen solche Machenschaften. Wie immer sah man über alles hinweg. – Meistens.

Dazwischen, ab und zu, aber dann doch eher selten, die wahren arme Tröpfe, Versprengte aus Elche oder Murcia, aus Sevilla und Bilbao, aus Salamanca und Lugo, denen man die Arbeit genommen und das Haus unterm Hintern weggepfändet hatte und die nun wirklich nichts mehr ihr Eigentum nennen können und sich natürlich aus Scham nicht in Elche oder Murcia, Sevilla und Bilbao, Salamanca und Lugo trauen, in den Dreckkanten der Häuser hockend, auf ein, zwei Euros für einen Kaffee oder Pinchos bei Lizarran zu hoffen.

Einige von ihnen spielen Gitarre, Akkordeon, Violine oder sonst was. Machen Musik, nicht mal schlecht. Da werfe sogar ich immer wieder mal ein Fünfzig-Cent-Stück in deren Becher. Andere versuchen sich als Zeichner und machen aus dir Batman, eine Comicfigur à la Pepe Gotera oder eine dieser verzerrten Karikaturen oder basteln aus alten Cola- und Bierdosen kleine Autos, Hubschrauber und Schiffe, mit Rädern und Rollen aus kaputten Korken zum Schieben darunter. Einen solchen Hubschrauber habe ich im Übrigen seit letzter Woche auch zu Hause. Sein Rotor wird sogar von einem batteriebetriebenen Motor auf Touren gebracht und sorgt dadurch in seiner unmittelbaren Nähe für ein frisches Lüftchen. Deshalb steht er auf dem Tischchen neben meinem Sofa.

Ja, Krisen haben etwas Merkwürdiges an sich. Sie werden versteckt wie Wertpapiere, wie Liebesbriefe. Haben sie einen erfasst, will man es nicht zeigen, man gehört zu denen, die nichts verloren haben. Mit dem Handy am Ohr, tut man wichtig und geschäftig, beschwert man sich bei einem geschnorrten Bier bei Freunden, dass das Internet zu langsam ist, googelt irgendwelche Unanständigkeiten, während ein gefakter Arbeitsvertrag offen auf dem Tisch rumliegt. Wenn welche auf der Straße protestieren, sind es die vom Sozialsystem betrogenen, sind es Separatisten, TTIP-Gegner, Tierschützer, Menschen, die die immer noch vorhandene Sklaverei in Afrika oder Südamerika oder sonst wo anprangern, die Kriege in der Welt beenden wollen… Alles kein Fehler, aber beim letzten Protestzug gegen die mafiösen Banken in unserem Land kamen nur 1162 Leute in unserer Stadt zusammen. Das sind etwas mehr als 0,3 Prozent der Bevölkerung. So wenig, dass die policia local, die mit 800 Einsatzkräften angerückt war, Zeit hatte, sie zu zählen. Und auf den Parkplätzen rund um die Stadt standen Fahrzeuge aus … ach, ist auch egal. Vielleicht waren sie geleast, mit Zusatzausstattung oder von einem Hersteller, mit dem man sich besser nicht sehen ließ.

Nach dem Protestzug das gleiche Bild wie nach den Wochenenden. Zwar lagen keine Bierdosen oder Fastfood-Tüten herum, dafür hunderte von Flugblättern, abgebrochene Stangen von Spruchbändern, Fähnchen, Luftballons und andere Bruchstücke des Protests: ¡devuelvan nuestro dinero! Gebt unser Geld zurück! stand auf einem abgerissenen Plastikfetzen. 1162 Teilnehmer nur. So viele waren also gar nicht betroffen, ließen aber Dreck für die anderen 330.000 liegen. Mónica und ihre Kollegen haben sich gefreut. Stolz hielt sie eine Euromünze in die Luft. Die lag auch dort!, meinte sie, doch das passende Lächeln fehlte.

Und immer noch breiten die Schwarzen, inzwischen zumeist aus Senegal, die oft genug nach jahrelangen Märschen, nach Hunger, Entbehrungen und größten Qualen, nach unzähligen Vergewaltigungen und seit Geburt vorhandener Mittellosigkeit, nach grauenvollen Stationen in Marokko, Libyen oder sonst wo in Nordafrika, hier angeschwemmt worden waren, an der Puerta del Mar und entlang der Marina ihre Tücher für Hüte, Sonnenbrillen, Taschen, Musik-CDs und blinkenden Spielkrimskrams aus, mit dem sie das nachtschwarze Firmament bisweilen wie einen zweiten Sternenhimmel leuchten lassen. Der Rest der Welt verkauft dir also, alle zwei Minuten, während du in Ruhe endlich ein Bierchen trinken willst, Armbänder, Kettchen, quietschend leuchtende Blinkeringe und Feuerzeuge. Man muss regelrecht über alles hinwegsehen und drübersteigen. Über die Extremitäten Europas, die Tentakel, die bis nach Schengen reichen, die Scherben und den Dreck und den Plastikscheiß, den die negros oder negs, wie Primo sagen würde, bisher aus China importiert haben.

Und, ja, auch seit Kio und Ndidi sich irgendwo in die dunklen Ecken der Stadt zurückgezogen haben, in die entlegenen Stadtteile, deren Straßennamen sie jetzt erst recht nicht mehr kennen und nie kennen wollten, weil nichts Vertrautes in ihnen zu finden ist, nichts, was auch nur im Geringsten an ihre Heimat oder Nachbarschaft erinnert, in der es ohnehin, selbst in den großen Städten, solche Orientierungspunkte nicht gab, da man so etwas dort nicht brauchte, obwohl man nur von internationalen und daher einfalls- und gesichtslosen Hochhäusern und Bürotürmen umgeben war, sondern sich an der Straßenküche von Mama Neela oder der letzten noch stehenden Baracke, die Xhemile als Kiosk diente, orientierte, ist auch unter den refugiados, den Flüchtlingen, nichts mehr so, wie es einmal war. Zumal ihre zwar nicht heimatlichen, aber durchaus angestammten Plätze am Postiguet und auf der Explanada nun von anderen Clans besetzt wurden, die nicht aus ihren Heimatländern stammten, sondern häufig genug aus den uns altbekannten Ländern jenseits der anderen Meerseite.

Darüber hinaus passierte es weiterhin tagtäglich, dass Angehörige ehemals verfolgter Religionen auf Befehl ihrer Führer Angehörige anderer Religionen verfolgten und sie somit zu den neuen Verfolgten machten. Alles Sachen, die tausendfach in Zeitungen standen, tausendfach gelesen wurden, sie waren allesamt bekannt. Jeder schüttelte genau deshalb den Kopf. Aber futterte die Tüte Chips leer, die er auf einer weichen Couch sitzend noch schnell vor den Nachrichten im Fernsehen aufgerissen hatte. Nicht nur Politiker taten also nichts anderes. Und uns hatte das inzwischen nicht nur beim Bierchen in der 26, sondern auch auf unserem Schreibtisch erreicht. Die Kollegen von der UDYCO aus Valencia, der Drogenfahndung, hatten seit Jahren einen riesigen Suppentopf vor sich, der nun – trotz einiger Erfolge – nur noch überlief. Das Versagen der staatlichen Strukturen – und damit meine ich die politischen – auf breiter Front führte dazu, dass der Inhalt in zu viele Ressorts mäanderte und dadurch die Arbeit der gesamte CNP lähmte. Also auch die von Primo und mir.

Keiner muckt dagegen auf. Es wird nur getuschelt. Leise! Sehr leise. Zum Beispiel über den schönen Po der Nachbarin oder das Verhältnis des Kollegen mit seiner Sekretärin. Über Belanglosigkeiten also. Tuscheln, das macht man unter Freunde. Doch sind Krakeeler, Schreihälse und Populisten am Werk, hören alle zu, wird ausgerechnet denen Gehör geschenkt, ein Kopfnicken, und am Ende auch noch lauthals Zustimmung. Dann werden Belanglosigkeiten wichtig gemacht, beschweren sich plötzlich alle über alles. Wissen alle alles besser, schränken alles ein und würden dies und vor allem das am liebsten verbieten, während sie sich selbst in den viel zu üppig verteilten Zuwendungen unserer Gesellschaft aalen. Stillschweigend selbstverständlich!

Ich erzähl Ihnen das alles, obwohl Sie das vielleicht gar nicht interessiert, während ich mich in unserem wohlverdienten Feierabend in meinen Vorurteilen suhle und ein paar Jugendliche dabei beobachte, wie sie vorne an der Ecke in unserer Stadt, und damit vielleicht auch in ihrer, ohne jeglichen Protest wieder mal eine halbvolle McDonalds-Tüte fallen lassen und ich überlege, ob ich nicht aufstehen sollte, um sie zusammenzuscheißen, Primo neben mir ein weiteres Heineken bestellt und sich nach bereits drei getrunkenen, von der Sonne beschienen lamentierend darüber beklagt, dass weder seine angehimmelte Cristina noch ersatzweise Melina, die nach wie vor unglaublich hübsche Bedienung aus der 26, in der wir gerade hocken, die er an manchen Abenden buchstäblich mit den Augen auffrisst, neben uns sitzen und ihm gegenüber endlich in die Gänge kommen, beziehungsweise ihn ausreichend bedauern. Zudem ist er neidisch auf mich. Nicht, weil ich tatsächlich in diesem Moment auch mit einem Glas Bier in der Hand dem nächsten Paar nackte, von der gleichen Sonne beschienen Beine hinterherschaue, die aufgrund ihrer Länge und des provozierend langsamen Gangs mitsamt dem schwingenden Po darüber genau das herausfordern, sondern auf mich wegen Mónica. Was ich zum Teil ja wiederum verstehen kann. Denn ich habe ihn, in einem nicht angekündigten Rennen, inzwischen unerwartet überholt. Und das bei meiner Vorgeschichte. Aber wäre er an meiner Stelle, würden zumindest diese dummen Anfängerfehler ausbleiben.

Sonntag

Denn ich werde mir Vorhänge kaufen müssen. Vor allem Vorhänge! Oder noch zwei, drei Grünlilien mit vielen, möglichst langen Blättern. Das sind pflegeleichte Pflanzen, die schaff sogar ich zu pflegen. Oder opulenten Schnickschnack. Hauptsache groß und blickdicht. Vor die Fenster schiebbar. Wie Schachteln oder bunte Kartons. Von mir aus falsche chinesische Vasen. Billige riesige Dinger. Am besten heute noch. Unbedingt! In einem dieser Baumärkte, die hier trotz der immer noch nicht überwundenen Immobilienkrise überall wie Pilze aus dem Boden schießen, obwohl sie keiner braucht. Und wir haben einige von denen in der Stadt. In einem wird es sicher solche Sachen geben!?

Erschrocken schaute ich also zu meinen Fenstern. Allesamt unverändert niedrig und daher ziemlich gefährlich auf Oberschenkelhöhe, weil die Dachschräge hier im dritten Stock schon bei einszwanzig anfängt und den längst verstorbenen Architekten zu einem solch gefährlichen Plan zwang. Rollladen oder Fensterläden einzubauen, war einfach unmöglich. Nur ein paar dusselige Eisenstäbe, zwischen die nicht einmal der Kopf durchpasst, sind senkrecht davor montiert, damit man nicht herausfällt. Auf der anderen Seite der Mayor, keine sechs Meter entfernt, in dem ehemaligen Dominikaner-Kloster und jetzigem Hotel, gab es wenigstens solche Vorhänge und die waren heute allesamt geschlossen. Gut, dass die ehemaligen Herren dort nicht mehr wohnten. Überhaupt war es gut, dass die ganzen Orden nur noch in den Namen der Straßen und Stadtteilen um mich herum zu finden waren, ansonsten wäre ich von diesen zu deren Lebzeiten dicht umzingelt gewesen und womöglich keusch geblieben – oder geworden. Natürlich zwangsweise.

In San Anton direkt zu Füßen der Burg waren das die Dominikaner. In Los Ángeles die Franziskaner. In Arrabal Roig auf der anderen Seite des Benacantil, unserem Hausberg, zuerst die Tempelritter, danach im benachbarten Campoamor, wie passend, die Menoriten. Dazu die Karmeliter in der Nähe des Plaza Carmen, darüber die Ermita de San Roque und etwas abseits, über den Resten der wirklichen Altstadt, Santa Cruz. Herrlich weiß und unschuldig. Alle waren sie vor ungefähr vierhundert Jahren hierhergekommen. Auf die Fläche eines langgezogenen Quadratkilometers von West nach Ost. Alle hätten mir mit erhobenem Finger Enthaltsamkeit empfohlen und sich selbst, wen wundert’s, die schönsten Frauen herausgepickt. Heimlich, versteht sich.

So blickte ich also Mónica hinterher. Vielmehr auf ihren Po. Schön, weiblich, nackt. Mit zwei Grübchen, links und rechts. Wahrlich ein göttlicher Po. Denn nur er da oben, soviel wollte ich diesen Geistlichen entgegenkommen, konnte so etwas erschaffen haben. Trotzdem, nicht auszudenken, wenn die von drüben, die vom Hotel, das einmal ein Kloster gewesen war, durch die dünnen Blättchen des grünen Etwas, das sich mühte den Einblick zu versperren, so viel Nacktheit und ihre Auswirkung unzensiert sehen könnten. Allein wenn ich dabei an Isabels Blick denke. Das putzende, Schürzen tragende Mädchen von drüben, das gleichzeitig aufreizende Wet-T-Shirt-Girl der letzten Hogueras, das in den letzten Wochen im Nebenbei den Wandel meines Schicksals verfolgt hatte und dort drüben im Hotel, wie Mónica in der Stadt, dafür sorgte, dass die Welt sauberer wurde. Doch in unserer Stimmung gestern Abend konnte ich ja nicht an alles denken, unvorbereitet wie ich war. Vorsichtshalber kniff ich mir in den Oberschenkel und versuchte, mein Oberstübchen zu sortieren. Vielleicht träumte ich ja nur. – Wieder einmal.

Sie hatte also geklingelt. Mónica. Sie können sich noch erinnern? Ja? ¡Okey! Logischerweise war ich aufgeregt wie ein kleiner Junge am ersten Schultag. Ein Viertklässler beim Schreiben seines ersten Aufsatzes über das tollste Ferienerlebnis oder wie ein Siebzehnjähriger bei seiner … Aber halt, das wissen Sie ja alles selbst. Die Storys mit Ainhoa habe ich Ihnen ja nun wirklich oft genug erzählt. Ich tanzte dementsprechend aufgeregt vor meinen Herd herum, als hätte ich genau in diesem Moment noch etwas Entscheidendes in die Töpfe zu tun und zählte langsam und japsend bis drei oder vier oder fünf, vielleicht auch sechs. Ich weiß es nicht mehr ganz so genau. Hauptsache ich kam ein wenig zur Ruhe. Erst dann öffnete ich die Tür. Mit dem Schöpflöffel in der anderen Hand. Ich benahm mich so trottelig, dass dann doch mindestens sieben Sekunden verstrichen, bevor ich überhaupt ein Wort herausbekam. Dafür schob Mónica mit einer unnachahmlichen Handbewegung ihre diesmal offene Mähne, wild, lockig, strohblond, auf die linke Seite, lächelte und mir wurde heiß. Schweißausbruch mit anschließender Paralyse. Ihre Nervosität bemerkte ich selbstredend nicht. Ich war ja selbst bis zum Anschlag zappelig.

Endlich legte ich den tropfenden Löffel auf das Garderobentischchen neben der Tür. Natürlich auf eine Jacke, die ich gestern Abend dort etwas nachlässig abgelegt hatte. Dann traute ich mich, ging auf sie zu und fuhr roboterhaft eine Hand aus. Nahm Mónica aber, wegen meiner schwitzenden Finger, nur andeutungsweise in den Arm und krächzte mein ¡hola! ¡qué tal!, wie Dani Flaco gerade aus den Lautsprechern im Hintergrund sein Lied. Gleich würden wieder die Songs von Pablo Alborán laufen. Vorsorglich hatte ich den Denon-CD-Wechsler auf Repeat gestellt. Verrückt, an was man in solchen Augenblicken dann doch denkt, damit in unter Umständen dämlich werdenden Situationen keine ungemütliche Stille entsteht.

Sie hatte tatsächlich das kurze blaue, hautenge Kleid und die Leggins an und war nur leicht geschminkt. Keine einzige, übertrieben aufgetragene Farbe lenkte von ihrem unnachahmlichen Lächeln ab, das mich bereits hypnotisierte und hätte lallen lassen, wenn ich versucht hätte, ganze Sätze zu sprechen. Genau deswegen wusste ich nicht, wohin ich als Erstes hinschauen sollte. Lippen, Leggins, Augen, Hände, Beine, Kleid, Haare, Wangen, Lächeln, blau. Nach einer gefühlten halben Stunde atmete ich wieder ein – dabei waren höchstens zehn Sekunden verstrichen – und glaubte schon an Sauerstoffmangel zu leiden.

„Das riecht ja verdammt lecker hier. Darf ich reinkommen?“

In ihrem Lächeln kein Zweifel, keine Unsicherheit, kein Bedenken, nichts von alledem, von dem ich vielleicht die Wochen und auch tags zuvor noch glaubte, ausgehen zu müssen. Nein, irgendwas war anders geworden, selbstverständlicher. Und ich? Klar! Volltrottelig – sagte ich ja bereits – ich wirbelte mit den Armen:

„Logisch. Entschuldige! ¡venga!“

Mein Satzbau war nach wie vor ungenügend. Mónica kramte derweil in ihrer Tasche und zog ein quadratisches Päckchen heraus.

„Ich hoffe, die hast du noch nicht.“

Doch kleiner Junge. Denn ich riss, noch auf dem Weg in die Wohnung, das Papier auf, ließ es auf den Boden fallen und hielt Manuel Carrasco, Habla in den Händen. Okay, damit können Sie jetzt nichts anfangen, den kennen Sie auch nicht, aber ich. Und – viel wichtiger – sie, Mónica, kannte meinen Geschmack. Millimetergenau getroffen.

„Leg ich gleich auf.“

„Oder nach der, die grad anfängt.“

„Gefällt sie dir?“

Sie griff ein zweites Mal in die Tasche und zog die gleiche heraus.

„Falls du die andere schon gehabt hättest.“

Ich lief rot an. Der Traum von neulich war real geworden. Ich atmete tief ein und holte Luft.

Mutters Rezept, pollo con gambas, Huhn mit Garnelen, war wirklich vorzüglich und für mich einigermaßen leicht nachzukochen gewesen. Und damit du es weißt, wenn du sie mir nicht demnächst, also spätestens nächste Woche, vorstellst, komme ich vorbei, verstanden? Nur ihrer Mengenangabe wollte ich wieder mal keinen Glauben schenken. Nun würde ich mehrere Tage zu essen haben und die Küche sicher erst am nächsten Wochenende wieder richtig sauber sein. Ausnahmsweise hatte auch der Wein dazu geschmeckt. Mustafa, der aus dem Minimercado, oben an der Ecke in der Lonja, direkt gegenüber der Halle mit den archäologischen Ausgrabungen, hatte mich auch häufig genug ermahnt, ihn kaltzustellen. Du kannst sogar einen Würfel Eis hineintun, meinte er noch. Eis in Wein! Ein Prise Salz in Orangensaft. Kräuterbutter auf Magdalenas. Was für Ideen er manchmal hatte. Verdutzt schaute ich ihn an, woher sollte er, ein Muslim, wissen, wann, wie und womit Wein schmeckt? Aber Mónica nickte zufrieden mit dem Kopf, als sie die Kühlmethode sah. Er hatte also wiedermal recht gehabt.

Nach dem Essen schwatzten und ratschten wir über Gott und die Welt. Über Dinge, die knapp neben denen lagen, die unsere gelegentlichen, natürlich ungesalzenen Orangensäfte am Morgen bisher begleitet hatten. Die üblichen Samstagsgespräche der Frauen in der Markthalle oder im Café Jamaica gleich daneben waren wahrscheinlich nicht schlechter oder aufschlussreicher oder inhaltsreicher, auch nicht die meiner Mutter und ihrer besten Freundin Rita, wenn sie nach ihren wackeligen Spaziergängen irgendwo im Schatten einer Palme an der Promenade in Campello saßen.

Deutlich nach Mitternacht, gegen eins oder halb zwei, plötzlich ein sprachloser Augenblick. Manuel Carrasco litt gerade in »Detrás De Ti, Detrás De Mi«, und ich hatte beim besten Willen nicht vor, seine Worte ernst zu nehmen. Mónica schaute verstohlen auf die Uhr. Und bevor ich irgendeinen Blödsinn wie Schon spät, du möchtest sicher gehen oder Darf ich dich nach Hause bringen von mir geben konnte, meinte sie:

„Es ist schon spät ...“

Ich holte Luft, um den Blödsinn doch noch auszusprechen und schaute diesmal offensichtlicher auf meine Uhr. Nur damit sie sah, dass ich verstanden hatte. Auf meiner Zunge machte sich schon eine Antwort breit, wenn du magst, würde ich dich gerne nach Hause begleiten. Nur klang sie mir noch nicht geschliffen genug. Stattdessen machte ich eine alles bedeutende Handbewegung. Aber Mónica war schneller:

„Ich bin nur etwas müde. Wenn du also nichts dagegen hast …?“

„Ich ...“

„Kein Problem“, sie winkte ab und stand auf.

Ich hingegen war schon fast auf dem Weg zur Wohnungstür. Sie in die entgegengesetzte Richtung.

„Ich dachte, wir kennen uns lang genug. Denn, wenn du magst, bleibe ich hier.“

Und nun schaute ich ihr also hinterher. Gerade hatte sie noch neben mir gelegen. Meine Hand auf ihrem Bauch. Wenn’s hoch kommt, haben wir zwei, drei Stunden geschlafen. Den Rest der Nacht haben wir weitererzählt, de lo divino y lo humano, über Gott und die Welt also, wie schon nach dem Essen. Über den Quatsch in unseren Leben gelacht und erklärt, warum wir ihn gemacht haben. Zugehört, als jeder von uns längst andere Wichtigkeiten schilderte. Erzählt, weshalb wir wiederum diese vergessen hatten und als wir begannen uns zu wiederholen, mit einem Mal lächelnd geschwiegen, Blicke gesenkt, nach einer Hand des anderen gegriffen, wie selbstverständlich ein weiteres Mal den Platz gewechselt, uns angeschaut, geküsst, angeschaut, geküsst, wieder angeschaut, gezögert, umarmt, es eindeutig werden lassen, gegenseitig ausgezogen, geküsst, erkundet und geliebt. Ohne Getue, ohne Falschheit, ohne Scham. Die letzten Worte gefallen mir dabei am besten, denn wir kannten uns wohl tatsächlich lang genug, um uns für nichts zu schämen und stattdessen diesem Gefühl hinzugeben, für das es keine Rolle spielte, ob man nun siebzehn, dreißig, vierzig oder älter war.

An diesem Abend gab es keine Albereien, kein Gekichere, keine Spielchen mehr. Liebe ist kein Experimentier- oder Zauberkasten, kein jugendliches Ausprobieren oder die verlogene, aber dafür angeberische Schilderung gegenüber Freunden. Weder ein schnell wachsendes Pflänzchen, das vorher erst noch in Wasser liegen und keimen muss, noch eine plötzliche Eruption. Liebe entsteht nicht durch Abtasten, Denkbilder oder Malen-nach-Zahlen-Vorlagen. Liebe kann vielmehr so selbstverständlich wie ein Sandkorn sein, das manchmal nur deshalb übersehen wird, weil es mit Millionen, vielleicht Milliarden anderen an einem gewöhnlichen Strand liegt. Doch nicht nur an diesem Abend hatten wir nichts über-, sondern hingesehen, wir wussten, wo wir es, das Sandkorn, und damit sie, die Liebe, finden würden. Meine Tollpatschigkeit und ihre Unsicherheit wurden dadurch zur Nebensache und ließen uns deshalb unbekümmert genießen. Und dies gehört dazu, wenn man sich dabei nicht nur um die eigenen, egoistischen Gefühle kümmern will.

Mit einem Glas Wasser kehrte sie zurück, reichte es mir, nachdem ich die darbende Grünlilie vor das Fenster geschoben hatte, und legte sich wieder alle viere von sich gestreckt neben mich. Da war sie wieder, diese Ungezwungenheit. Diese Selbstverständlichkeit. Diese Natürlichkeit. Ich trank einen Schluck, drehte mich zu ihr und streichelte ihren Bauch, während ich auf ihrer Haut Küsse zu verteilen begann.

„Du hast einen tollen Blick über die Stadt“, rekelte sie sich.

„Ich habe einen tollen Blick auf Dich“, hüstelte ich, schaute hinter mich und kontrollierte, was von drüben zu sehen wäre und hätte es besser nicht getan. Wegen der fehlenden Vorhänge oder des nicht vorhandenen opulenten Schnickschnacks oder der noch nie dagewesenen chinesischen Vasen und Schachteln, aber dem dafür hörbaren Geschnattere, das vom Tal der Straßenschlucht unter uns nach oben gespült wurde, ¿lo viste? Hast du gesehen? ¡increíble! Unglaublich! ¡Qué lío! So eine Sauerei! Bei jedem Wort hoffte ich, dass nicht wir gemeint waren, weil wir ja immerhin und eigentlich zumindest für die da unten unsichtbar waren. Dann schaute ich sie verschmitzt an und glaubte mich im nächsten Moment im falschen Film, in einem alten Traum, statt in meinem wirklichen Leben, als sie mit forschenden Augen meinte:

„Falls du immer noch vorhaben solltest, an meinen Leben teilhaben zu wollen, nimmst du auch all dessen Geschichten mit, mit all ihren Unzulänglichkeiten. Daran müssten wir uns vielleicht beide erst gewöhnen. Ich weiß es nicht. Dafür brauche ich Zeit. Ich möchte dich darum bitten, sie mir zu geben. – Ich weiß, es klingt nicht besonders bezaubernd, in einer solchen Nacht, aber …“, sie drehte sich zu mir, winkelte einen Arm an und stützte sich und ihren Kopf auf ihm ab. Schaute mich an, gleichzeitig lächelnd und tief, „… ich bin nicht weit von deinen Gefühlen entfernt – wie du sicherlich gemerkt hast.“

„Ich werde geduldig und bei allem dein Wegbegleiter sein“, antwortete ich schnell und kniff mir dabei heimlich ein weiteres Mal in den Oberschenkel. Nein. Ich war im richtigen Zimmer, ich hatte nicht geträumt, ich lebte und hatte diese Worte gerade tatsächlich gesagt, und dabei mit keinem Wort gelogen.

„Gott sei Dank habe ich das gewusst“, erwiderte sie und ließ sich entspannt zurückfallen. Jetzt sah sie besonders verführerisch aus. Dann drehte sie sich Augenblicke später wieder zu mir, legte ein Bein auf meine Seite und rutschte dichter, als irgendjemand anderes in den letzten vielen Jahren an mich heran. Ich für meinen Teil würde mich an sie gewöhnen können. Nicht nur deswegen.

Irgendwann am späteren Morgen waren wir noch einmal eingeschlafen. Als ich wach wurde, lag Mónica halb auf mir und ich genoss dieses Gefühl, diesen Anblick und diesen Geruch. Ihre langen Haare, die unsere Gesichter wie ein dicht gewebtes Tuch von dem übrigen Diesseits fernhielten. Ihre rechte Brust, nur wenig größer als eine reife Orangenhälfte, lag auf meinem Oberkörper. Ein Arm quer, die Hand abgerutscht von ihrem Schenkel zwischen meinen Beinen. Ihr warmer Atem streifte meine Wange und streichelte sie. Kein Kissen der Welt konnte kuscheliger sein. Endlich war diese Wohnung vollständig. Mein Zuhause. Vielleicht ihres. Auch wenn sie unter Umständen nicht heute, morgen oder innerhalb der nächsten Wochen oder Monate einziehen würde. Sie bat um Zeit. Wir hatten sie.

Tupfend streichelte ich ihre Haut. Jeden Quadratmillimeter, den ich erreichen konnte. Ich war schon jetzt süchtig nach ihr und konnte mich nicht an die Zeiten erinnern, als ich morgens noch mit einem Glas Orangensaft in der Hand wortkarg und verklemmt vor Marios Bistro auf sie wartete, bis sie mit ihren Gerätschaften um die Ecke bog und sich freute, mich zu sehen. Am Ende des Bettes kroch derweil die Hitze eines Sommermorgens durch die offenen Fenster und ließ den Schweiß auf ihrem Körper glänzen. Funkelnder Glimmer, der an manchen Stellen zu einem Tropfen wurde und in Zeitlupe auf mich herunterrann. Ein erregendes Schauspiel.

Langsam wurde nun auch sie wieder wach und Minuten später war es ihr egal, dass man sie, wäre von drüben durch die langen Blätter der Pflanze genau hingeschaut worden, trotz des Halbdunkel in unseren Räumen, auf meinem Schoß hätte sitzen sehen können. Auch jetzt, beim zweiten Mal, hielt sie plötzlich die Luft an. Verharrte. Streckte und spannte den Körper für eine Handvoll Sekunden und ließ ihren Atem dann mit einem lauten, erlösenden Glucksen ausströmen. Ich beugte mich hoch, küsste noch einmal die hellbraunen Zinnen ihrer Brüste und sie glitt von mir herunter.

Mit einem suchenden Blick inspizierte sie das Zimmer, als müsse sie sich orientieren und kämmte dabei mit den Fingern ihre Haare zur Seite, wie an der Tür am Abend zuvor. Sie grinste, als sie wieder die offenen Fenster sah und stand auf. Schob zwei leere Flaschen neben den Blumentopf vor den Rest einer schmalen verräterischen Öffnung und meinte:

„Da bleibt nicht viel anderes übrig, als enthaltsam zu sein. Die können dir ja fast das Essen herüberreichen.“

„Isabel hat mir mal einen Apfel zugeworfen. Ich hab‘ ihn sogar gefangen“, gab ich ihr recht, „aber mein Eckzimmer ist schlechter einzusehen und zur Zeit vollkommen leer.“

„Ich werde es mir überlegen. Aber für ein solch delikates Nachdenken wäre jetzt ein Kaffee nicht schlecht oder was hast du mit mir noch vor?“

„Falls du heute nicht in die Kirche möchtest, fällt mir gerade nichts Besseres ein – nach einem Frühstück.“

Ich stand auf und zog aus dem Schrank einen weißen, fast vergessenen Morgenmantel und reichte ihn ihr hinüber. Gleich darauf verschwand sie ins Bad. Natürlich hätte ich ihr folgen können. Zusammen mit ihr, versteht sich. Unter das plätschernde Wasser. Aber ich war trotz der vergangenen Stunden unsicher, ob sie es gewollt oder zugelassen hätte und sie sich nach einer ungestörten Dusche vielleicht mehr auf eine Tasse Kaffee freute. Ich schlüpfte in Boxershorts, warf meine alte cafetera an und stellte alles, was ich gestern für ein Frühstück eingekauft hatte, auf den Tisch. Auch beim Bäcker hatte ich mich verschätzt, es würde reichen, eine Armee zu versorgen.

Mit dem letzten Tropfen sprudelnden Wassers, der durch das kleine Alugehäuse in die Kanne herabfloss, stand sie neben mir. Den Morgenmantel nur übergeworfen. Mit der glitzernden Haarspange, die mir Isabel besorgt hatte, zwang sie das feuchte und daher dunkle Gold ihrer Haare hinter den Kopf und verlieh sich so eine Frisur aus den sechziger Jahren. Es sah phänomenal aus. Zum ersten Mal seit Wochen glaubte ich in ihrem Blick auch ein wenig Zuversicht zu erkennen. Zumindest war er entspannter als an vielen Tage zuvor.

Sie griff nach einer der Tassen auf dem Tisch und lehnte sich mit dem Rücken an den Kühlschrank neben mir. Den Kopf an dessen Tür gelehnt und die warme Tasse mit beiden Händen auf den Bauch geklemmt. Der Stoff fiel dabei auseinander und rahmte ihren nackten Körper kaum steigerbar fotogen ein. Mir fehlte leider Kamera und Können. Ich schielte auf ihn, während ich die Tasse nochmals vollschenkte.

Mit einem Mal tauchte eine Träne in einem Auge von ihr auf und kullerte die Wange herunter. Sie schaute zur Seite, zog die Nase hoch und fuhr unelegant mit einem Finger unter ihr durch. Doch etwas zweifelnd, stellte ich die Kanne wieder ab und überlegte, wie ich nun zu reagieren hätte. Ich stellte mich darauf ein, dass sie jetzt doch das Ende unserer frisch begonnenen Zweisamkeit ankündigen würde. Es war, wie du weißt, schön heute Nacht, aber… Dann wendete sie ihren Kopf, schaute mir gar nicht traurig in die Augen und sagte stattdessen das Wort, das mich mit dem größten Stolz meines Lebens erfüllte:

„Danke!“

Nachmittags setzten wir uns nach einem Spaziergang auf der Explanada bei Mario vor die Bar, am selben Tisch wie vor ein paar Wochen. Mit einem zwinkernden Lächeln servierte er jedem von uns Kaffee und Magdalenas. In einem Film, ich glaube, es war ein italienischer, den ich vor Jahren in einem der Kinos des Cinebox gesehen hatte, kamen in einer ähnlichen Situation nach und nach Bekannte, Freunde und Nachbarn vorbei, klatschten in die Hände, juchzten, lachten und klopften dem Liebespärchen auf die Schultern, nahmen es in die Arme, knutschten es mit schmatzenden Küssen und gratulierten mit minutenlangen Satzkaskaden. Als sei nach einem Unwetter, einer Katastrophe oder anderem Unheil, nicht nur die strahlende Sonne zurückgekehrt, sondern auch die erlösende Nachricht eingetroffen: Alles wird gut! Aber Gott sei Dank ließ man uns in diesem Filmchen in Ruhe. Lediglich ein paar neugierige Touristen – unter allen Armen bereits aufgeblasenes Strand-Equipment – schauten zu uns rüber.

Und Isabel – Alex! – tauchte irgendwann auf einem der unteren Balkone des Hotels auf. Alex! Sie musste wohl schon einige Male leise meinen Namen gezischt haben, denn Mónica stupste mich an und wies nach oben. Alex! Als ich hochschaute, kniff sie ein Auge zu und reckte einen Daumen in die Höhe. Dann spreizte sie die Hände und schob ihre Haare nach hinten. Sie hatte die Haarspange in Mónicas Haaren entdeckt und verschwand wieder in das Zimmer hinter ihr. Ich prostete ihr mit meiner Tasse zu. Aber diesmal war es nur eine Kusshand, die sie herüberwarf, bevor sie den Vorhang schloss. Im gleichen Moment hörte ich Mario, wie er das Glas mit den Münzen schüttelte, die er zusammen mit mir, im Falle einer bevorstehenden Heirat, auf den Kopf hauen wollte. Fehlte nur noch Kio, dachte ich, der lustige, selbsternannte Zauberer, der hàtsàbiibi mit seinem Zylinder auf dem Kopf und sein mit kleinen Holzfiguren vollführter Veitstanz: gàmzoo, Mann, immer allein. Du musst dir eine matshe, eine Frau suchen. Hab Mut, sprich eine an und stell ihr einfach – dabei klimperte er vor Wochen noch vielsagend mit seinen Augen und kippte mit einer Hand mehrmals seinen Zylinder an der Stirn nach vorne – die richtige Frage. Du wirst sehen, ihre Antwort ist guuuut.

Mónica schaute mich verwundert an, als ich wegen all dem losprustete und vor Lachen Tränen in die Augen bekam. Ich stotterte irgendwelche Sätze zusammen, erntete aber nur ein belustigtes Lächeln, denn manches Detail kannte sie natürlich noch nicht. Ich würde es ihr später erklären. Es war zwar nicht wie in diesem Film, aber von nun an lebten wir gleichzeitig unter Beobachtung und in Abrahams Schoß.

Die dritte Tasse stellte sie, nachdem sie den Kaffeeschaum mit ihren Fingern herausgelöffelt und abgeleckt hatte, auffallend langsam und bewusst ab. Auf ihrer Stirn ein halbes Dutzend Falten. Mit einem Mal nachdenklich geworden schaute sie mich an und stülpte dabei die Lippen nach innen. Für mich unerwartet ernst nach unseren leidenschaftlichen Stunden am Abend, hatten diese doch keine nachdenklichen Themen zugelassen. Unvermittelt begann sie nach einer kurzen Pause zu erzählen, als seien die nächsten Jahre ohne eine Gelegenheit dafür. Mit dem noch schaumigen Finger auf dem Tassenrand herumkurvend suchte sie nach einem Anfang.

„Weißt du, eines musst du wissen, besser jetzt, als in einigen Wochen, da sind auch meine Eltern, sie behüten mich daheim wie ein junges Mädchen. Schauen auf die Uhr, wenn ich nach Hause komm. Sehen morgens hin, wenn ich etwas anderes anhabe als die Dienstkleidung, oder wenn ich länger als fünf Minuten mit jemanden telefoniere ...“

So berichtete sie in den nächsten Minuten vom Zwist und den gelegentlichen Streitereien in Bezug auf das von ihnen verloren geglaubte Leben. Von dem oft endlosen Gezerre bei gemeinsamen Essen, bei denen sie oft genug betonten, dass sie natürlich all das, mit Enrique, der Wohnung, den Geldsorgen und ihrem Beruf, von vornherein geahnt, nein, gewusst hatten, Ist doch nichts Neues. Haben wir alles schon mitgemacht und es dir wieder und wieder gesagt. Aber du hast nie zugehört. Weißt wie dein Bruder immer alles besser, dabei haben wir immer versucht, wenigstens dir solche Dinge zu ersparen. Mónica ahmte den Ton enttäuschter Eltern nach und schüttelte den Kopf.

„Ich kann ihnen ja nicht einmal böse deswegen sein. Sie haben damals nach dem Unfall alles für mich getan, obwohl ich zuvor, entgegen ihres Ratschlags, mit Enrique zusammengezogen war und der sie nie gerne besucht, aber trotzdem die größten Sympathien bei ihnen gehabt hatte. Aber irgendwann bist du dieses Gekeife leid, diese Widersprüche: der liebe Enrique, der böse Enrique, das ständige Sich-rechtfertigen-müssen. Irgendwann muss damit auch mal Schluss sein, dann wirst du laut und wehrst dich, weil du in Ruhe gelassen werden willst. Und undankbar bist du auch, pflegten sie dann zu sagen ...“

Sie sah an mir vorbei, über meine Schulter hinweg und fixierte einen Punkt in den wenigen zu sehenden Ästen der riesigen australischen Ficus-Bäume drüben am Ende der Mayor am Portal de Elche.

„Vorgestern habe ich ihnen von dir erzählt und gesagt, dass ich über Nacht wegbleiben werde“, mit einem unnachahmlichen Lächeln blickte sie mir in die Augen, ich wurde rot, weil ich nun im Nachhinein von ihren längst gemachten Plänen für die Nacht erfahren hatte, „ich kam mir wie eine ungehörige Jugendliche vor, an der die ganze Erziehung gescheitert war und die nun ihren Eltern eine Ungehörigkeit beichten musste. Mein Vater saß am Küchentisch und meine Mutter räumte gerade ab. Sie hatten beide die gleiche Frage auf den Lippen. „Und was ist das jetzt wieder für einer?“, Mónicas Lächeln war im Nu verschwunden, „wieder. Wieder! – Verstehst du, was ich damit sagen will? Wieder! Als wenn ich Hunderte von Männern gehabt hätte. Ich bin weder sechzehn noch ein wandelndes Freudenhaus. Ich muss weder für meine Arbeit noch für mein Leben Rechenschaft ablegen – verdammt nochmal“, mit einer wütenden Handbewegung klopfte sie auf den Tisch und die Tassen schepperten, „wenn schon, bin ich eine Hinterbliebene, ja sogar eine Art Witwe, auch wenn ich mit ihm nicht verheiratet war, immerhin war ein Mensch in meinem Leben, das ich zusammen mit ihm führte, umgekommen. Da spielt Enriques Schuld, mich betrogen zu haben, zunächst keine Rolle. Judit erging es ja nicht besser, zumindest glaubt keiner von uns beiden, also Judit und mir, dass er das in der damaligen Situation durchgezogen hätte, von wegen ernsthaft den Partner zu wechseln. Wahrscheinlich wäre es Monate, wenn nicht Jahre so weitergegangen. Mit immer neuen Ausreden. Mit immer neuen Vorwänden und Lügen. Selbst meine Eltern hätten sie geglaubt. Ihr Schwiegersohn? Solche Sachen? Niemals! – Das musst du dir mal vorstellen, sein Wort hatte trotz ihres ganzen, angeblichen Wissens mehr Gewicht als meines“, wütend war sie lauter geworden, „deshalb warf ich ihnen als Antwort nur: ein Po-li-zist, an den Kopf“, sie unterbrach sich seufzend und eine Hand malte unentwegt Kreise in die Luft, „du solltest das wirklich wissen. Irgendwann werdet ihr euch begegnen und dann suchen sie ihre Anständigkeit und die Vorstellungen darüber in dem Polizisten, der ihnen gegenüber steht ...“

Mario ist ein Menschenkenner. Er spürt schon Minuten vorher aufkommende Dramatik an seinen Tischen, die einerseits aufgrund der entstehenden Lautstärke seinem Geschäft schaden könnte und andererseits für die Betroffenen mitunter plötzlich und heftig wie ein Wettersturz entsteht, die sich wie ein grummelnder Donnerschlag ankündigt und erst später über Tragik oder Zuversicht entscheidet. Über Streit oder Versöhnung. Über bevorstehende Zukunft oder längst begonnene Vergangenheit. So auch in unserem Fall. Denn er stellte zwei Gläser Cava vor uns ab und legte – als sei es selbstverständlich für die Lösung – kurz seine Hand tröstend auf Mónicas Schulter. Mónica ergriff sie, verstand und bedankte sich für die Geste und ich nutzte sie, um etwas ebenso Trostvolles zu antworten:

„Meine Eltern haben mir nie einen Ratschlag gegeben … Ainhoa, meine erste große Liebe, gehörte vom ersten Tag an zur Familie. Probleme? Gab es nicht. Woher auch? So unbedarft wie ich war. Und als ich sie dann hatte, die Probleme, weil die Sache mit uns keine zwei weitere Monate hielt, sie deshalb einfach fortging, ich stumm blieb und nach ihr keine Frau mehr kennenlernte, hat meine Mutter es ihr nachgemacht und auch ein eigenes Leben gewählt. Eines ohne meinen Vater und damit auch häufig genug ohne mich“, ich zuckte mit der Schulter, „damit hatte ich das gute Beispiel verloren, das, dem ich nacheifern wollte. Und alles, was wichtig war in meinem Leben, hatte sich mit einem Mal verschoben. Von einem Tag auf den anderen fielen nämlich Frauen aus der Bedarfsliste heraus. Dafür hätte ich einen anderen Beruf anstreben müssen. Am besten in einem Büro. Denn ein Polizist, der Tag und Nacht für andere zur Verfügung steht, kann mit einer Beziehung nicht viel anfangen.“

„Verschoben. Das ist ein gutes Wort. Meine Eltern haben ihre ganzen Vorstellungen für ein Leben, das sie nicht geführt haben, auf mich verschoben. Auch wegen Rubén, meinem Bruder, der ohne es anzukündigen, ohne Vorwarnung einfach das Haus verließ. Mit gerade mal neunzehn. Von einem Tag auf den anderen war er weg. Ließ er sie und ihre Fürsorge im Stich. So konnten sie sich nicht mehr um ihn und sein Leben kümmern, es steuern und regeln, nicht wie sie es vorgehabt hatten. Doch er wollte die ganzen Tipps und schulmeisterlichen Ratschläge, wie er es nannte, einfach nicht mehr hören und einen Traum verwirklichen, der von dem, was unsere Eltern meinten, meilenweit entfernt war. Aber sein Traum von einer eigenen Farm in Chile und der damit verbundenen Unabhängigkeit war schneller vorbei, als er gedacht hatte, nach nur wenigen Jahren gescheitert. Nun hat er kein Geld mehr, um zurückzukehren. Selbst wenn meine Eltern es schicken würden, ständen die Hyänen der Banken neben ihm und würden dafür sorgen, dass sie es vorher in Empfang nehmen könnten. Der Hof, den er gekauft hat, wirft nichts ab und beim Kauf ist er über den Tisch gezogen worden. Außerdem hat er durch eine Liebschaft, einen in dieser Situation dummen Seitensprung, ein kleines Mädchen zu versorgen. So dass das von Freunden und gelegentlicher Arbeit ab und zu hereintropfende Geld für Miete, Lebensmittel, seine Noch-Ehe und ein anderes, gemeinsames Leben wie Wasser in einer Pfütze versickert.“

Lebensschicksale hörte ich häufig in meinem Leben, mein Beruf zwang mich mehr oder weniger dazu. Sie ähnelten sich untereinander und taten es wieder nicht. Aber allen war die unvorbereitete höhere Gewalt, eine falsche Vorstellung oder Versprechung, eine vollkommen danebengegangene Lebensplanung, ein unvorhersehbares Los oder Schicksal gemein. Nie musste ich eine Lösung vorschlagen. Nie musste ich mir darüber Gedanken machen. Mir reichte es, das Gefundene und Gesagte zu analysieren, Spuren zu erkennen und alles mit etwas Logik und Primos Hilfe zu kombinieren, um einen aktuellen Fall zu lösen, das Getane aufzuklären. Verstehen musste ich es nicht. – Bis jetzt. Mein Kopf signalisierte, dass dies ab heute nicht mehr reichen würde. Mónica war kein Fall, keine Angelegenheit, kein Tatbestand, keine Sache. Sie war aus Fleisch und Blut, Emotion, Leben und damit mittlerweile zu einem zentralen Punkt in meinem geworden. Aber all das sagte mir nicht, was ich nun hätte entgegnen müssen – und ich war schlecht im Improvisieren. Mónica schaute mich an und schien meine Gedanken zu lesen.

„Tut mir leid. Viel zu schwere Kost für einen solchen Tag.“

„Nein, ich bin nur ungeübt, darüber zu sprechen. Ich habe gelernt, Fragen zu stellen, zuzuhören, eins und eins zusammenzuzählen. Wenn alles passt, die Spuren und Beweise, die Schilderungen der Zeugen, ist für mich das meiste erledigt. Ich schreibe ein Datum und meinen Namen darunter. Das Ganze kommt in eine Mappe. Fertig. Mehr musste ich bisher nicht tun. Endgültig zu entscheiden habe ich nichts. Urteile fällen andere. Keine gute Schule für die eigenen alltäglichen Emotionen. Die dann plötzlich gar nicht mehr so alltäglich sind.“

Ein Schmunzeln huschte über ihr Gesicht.

„Das stimmt! Alltäglich sind sie wirklich nicht. In den letzten Stunden habe ich es spüren dürfen, meine sind gehörig auf den Kopf gestellt worden.“

Am Abend, nachdem wir auf der Mole im Las Delicias gegessen hatten, schlenderten wir ohne Umweg zu meiner Wohnung. Unsere Stimmung war glücklich, aufgekratzt und melancholisch zugleich. Die ersten Stufen schnatterten wir noch ausgelassen, die letzten erklommen wir schweigend. Das Kaleidoskop der Empfindungen hinterließ bunte, ständig wechselnde Eindrücke. Bunte Schmetterling und verschrobene Muster. Keine Ahnung, welche Erwartungen jetzt jeder für sich hatte. Ob sie reichten, Zukunftspläne zu schmieden. Oder es besser war, die lange Bank hervorzuholen, um alles auf diese zu schieben.

Kaum hatte ich die Tür hinter uns geschlossen, drehte sie sich unvermittelt zu mir um, griff nach mir, schubste und presste mich, wie wild geworden und mit verzerrtem Gesicht, gegen die Wand gleich hinter der Tür. Überdeckte mein Gesicht mit schmatzenden, nassen Küssen und begann mich und sich auszuziehen. Vielmehr mit einem hitzigen Gefummel die obersten Stoffschichten nach unten und oben zu schieben. Schnaufend wortlos, hektisch, fahrig, unbeherrscht, ja, sogar mit einer Spur Aggressivität. Ihre saugenden Lippen, platschten und schmatzten wenig erotisch auf meinem Mund, sollten und schafften es, mich sprachlos zu machen, vielleicht stammelte ich ein paar Mal ihren Namen, vielleicht mit einem verwunderten Fragezeichen dahinter, mehr sicher nicht, während sie genauso halb entkleidet, ihr Mini zu einem Nierengurt geworden, mit ruhelosen Fingern an meinem Geschlecht, mich den kleinen Gang vorwärts schob, dabei das ein oder andere durch die Gegend kickte, Schuhe, eine Schachtel, zwei Flaschen, Zeitungen und sich nach einer Handvoll Schritte, die eher Hüpfer waren, weil ihre herabgerutschten Leggins und meine Unterhose unsere Knöchel aneinanderfesselten, mit mir zusammen rückwärts auf das Bett fallen ließ.

Ich war zu verblüfft, durcheinander und trotz allem berauscht, als dass ich irgendwas erwiderte oder von mir gab, außer einem Prusten und stattdessen zwischen ihren Schenkeln nur den Slip zur Seite schob. Sekunden später schon war diese Szene voller gestöhnter Schamlosigkeiten vorbei. Außer Atem presste sie meinen Kopf zwischen ihre Brüste, die mittlerweile unter den hinaufgeschobenen Stoffen hervorlugten. Dort trommelte ihr Herz gegen meine Stirn.

„Ab morgen bin ich wieder eine ganz normale Putze verdreckt und ... in versauten Kleidern ... und befrei die Stadt von Scherben, Schnipseln, Plastikbechern … aufgeweichten Papiertüten ... von zermatschten Pommes und Brötchen, von Kotze und Millionen Haufen Hundescheiße … Leere übervolle … verschmierte und muffelnde Papierkörbe. Stinke selbst wie ein gammelnder und faulender Müllcontainer, wie die Laster, die den ganzen Scheiß abtransportieren und sehe … schon nach wenigen Stunden aus wie eine Pennerin mit klebrigen Haaren und … und dieser Scheiß Warn-Weste. Achtung! Die da! Bloß nicht anfassen! Seuchengefahr!“, stieß sie schnaufend mit Tränen im Gesicht hervor, als sei dies alles eine genügende Erklärung dafür.

Wut, Enttäuschung, vielleicht Frust und eine gehörige Portion Angst schwangen in ihrer Stimme mit. Denn, was würde ich von ihr halten – von ihr, der gewöhnlichen, ja, primitiven Putze – wenn sie später für ihren Beruf das Haus verlassen müsste und es eigentlich mit uns weitergehen sollte? Jetzt nach einer solchen Nacht, nach so viel Intimität ging es nicht mehr um Orangensäfte am Morgen, um gelegentliche Gespräche, jetzt ging es um das schnöde Wort Zukunft.

„Mach dich nicht schlecht!“, gab ich nach Atem ringend leise zurück, „ab morgen bin ich wieder ein kleiner, ganz normaler Polizist und fang wie jeden Tag von vorne an, für etwas mehr Gerechtigkeit zu sorgen, indem ich ungewaschenen Kerlen hinterherrenne, Toten ihre Mörder suche, Trickdieben die Tasche entreiße, Halsabschneidern den Hals abschneide und mich ärgere, dass es nicht weniger werden – und ab morgen gehörst du vierundzwanzig Stunden am Tag zu meinem Leben. Egal, was du machst, wo du bist und du vorerst wohnen magst. – Bis du Stopp! schreist.“

Ich rollte auf den Rücken.

„Kann das gut gehen?“, wollte sie – immer noch atemlos – wissen und wischte sich mit den Fingern über das Gesicht.

„Warum nicht?“

„Weil es anstrengend werden könnte.“

„Wenigstens das werde ich hoffentlich noch aushalten.“

Sie drehte den Kopf zu mir und versuchte zu lächeln. Optisch gaben wir ein herrlich desaströses Bild ab. Auch für die, die nahezu ungehindert durch die immer noch geöffneten Fenster hätten schauen können. Zusätzlich beleuchtet von den Lichtern in der Straße und der oberen Fassadenbeleuchtung des ehemaligen Dominikaner-Klosters. Ich versuchte nicht daran zu denken, was man womöglich von der Dachterrasse dort hätte alles sehen können.

Die Grünlilie und die zwei Flaschen standen nämlich nicht mehr da, wo Mónica sie am Morgen noch hingestellt hatte.

Montag

Um halb sechs vibrierte mein Mobiltelefon auf der hölzernen Sitzfläche des Stuhls neben mir. Aus einem vollkommen anderem Dasein erwachend, brauchte ich einige Zeit, bis ich kapierte, was da so lärmte. Dann wunderte ich mich, wie lang der Akku den elektronischen Tobsuchtsanfall unterstützte, weil ich trotz der Nerverei versuchte, diesen zu überhören. Statt abzuheben, kontrollierte ich das Bett neben mir. Es war leer. Kurz war ich enttäuscht, doch dann fiel mir ein, dass ich Mónica gestern Nacht, vielmehr heute am frühen Morgen, vor nicht einmal drei Stunden, doch noch nach Hause begleitet hatte. Ich glaube, eine Nacht muss leider reichen. Heute will ich nochmal ein anständiges Mädchen für sie bleiben und zum Abschluss des Wochenendes nur auf einer schönen Party mit dir gewesen sein, bevor ich ihnen alles andere erklären werde, meinte sie seufzend und untersuchte ihr blaues Kleid und die Leggins. Nicht, dass nach den Gefühlen, die uns vorher so hemmungslos übermannt hatten, etwas zu sehen gewesen wäre, das sie hätte rechtfertigen müssen. Laufmaschen, Risse, vor allem in der Innenseite der Beine, oder gar aufgeplatzte Nähte auf Höhe der Oberschenkel sind prädestiniert für Erklärungen, die dann keine sein würden. Besonders, wenn man als Frau noch das unschuldige Töchterchen mimen muss. Der Akku funktionierte derweil immer noch. Ich gurgelte einen Fluch heraus und hämmerte mit einer Faust auf die leere Matratze neben mir. Es half nichts, mir blieb wohl nichts anderes übrig, und ich drückte die grüne Taste. Wieder hatte ich vergessen, vorher auf das Display zu schauen.

„Mein lieber Freund“, glaubte ich durch die krachende Leitung zu hören, denn Primo klang, als würden aus seinen Wörtern die Vokale herausgeschnitten werden, „du hast wirklich den Schlaf der Gerechten. Seit bald einer Stunde versuche ich dich anzurufen. Tut mir wirklich leid, wenn ich euch störe.“

„Euch?“

„Ich weiß, dass du Besuch hast.“

Mit einem Blick auf das andere, immer noch zerwühlte Bett, sortierte ich meine Gedanken, rettete die schönsten Bilder in eine Ecke meines Hirns und erwiderte:

„Leider hatte.“

„Das war aber ‘ne kurze Liebe.“

Ich überhörte den schadenfreudigen Unterton, richtete mich auf, schob mich nach hinten und ließ mich gegen das Kopfende fallen.