Keine Zeugen - Andreas Heßelmann - E-Book

Keine Zeugen E-Book

Andreas Heßelmann

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Beschreibung

"Ich hatte tatsächlich gehofft, derartige Fälle vorerst nicht wieder untersuchen zu müssen." "Und doch landen solche früher oder später weder bei uns auf dem Tisch. Die Kundschaft dafür geht einfach nicht aus. - Die Nachfrage wird immer perfider, und die Angebotsseite passt sich an." "Vielleicht ist es auch umgekehrt", seufzte Inés. "Könnte sein, es geht ja dabei um viel Geld." "Mein Gott, die armen Mädchen." "Andreas Heßelmann entspinnt geschickt eine Geschichte auf Mallorca, in der es nicht allein um das Katz-und-Maus-Spiel einer Mördersuche geht." (Peter Bausch, Journalist, Aix-en-Provence)

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Qui dorm no pilla peixos Wer schläft fängt keine Fische (mallorquinisches Sprichwort)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

13. August, 11 Uhr 25

14. August, 10 Uhr 20

14. August, 14 Uhr 40

15. August, 9 Uhr 25

15. August, 11 Uhr 10

15. August, 14 Uhr 30

15. August, 16 Uhr 45

15. August, 17 Uhr 30

15. August, 18 Uhr 20

15. August, 19 Uhr 05

16. August, 00 Uhr 10

16. August, 9 Uhr 55

16. August, 10 Uhr 15

16. August, 11 Uhr 15

16. August, 14 Uhr 05

16. August, 16 Uhr 55

16. August, 17 Uhr 30

16. August, 19 Uhr 00

17. August, 9 Uhr 15

17. August, 10 Uhr 40

17. August, 13 Uhr 45

17. August, 18 Uhr 40

17. August, 19 Uhr 50

18. August, 9 Uhr 35

18. August, 11 Uhr 10

18. August, 13 Uhr 35

18. August, 21 Uhr 15

18. August, 22 Uhr 55

18. August, 23 Uhr 40

19. August, 7 Uhr 40

19. August, 9 Uhr 00

19. August, 10 Uhr 45

19. August, 11 Uhr 00

19. August, 12 Uhr 05

19. August, 17 Uhr 15

19. August, 18 Uhr 05

19. August, 19 Uhr 55

19. August, 20 Uhr 05

19. August, 20 Uhr 10

19. August, 20 Uhr 20

19. August, 22 Uhr 15

19. August, 23 Uhr 35

19. August, 23 Uhr 50

20. August, 0 Uhr 40

20. August, 8 Uhr 20

20. August, 9 Uhr 00

20. August, 9 Uhr 10

20. August, 9 Uhr 40

20. August, zur gleichen Zeit

20. August, 10 Uhr 20

20. August, 14 Uhr 40

20. August, 15 Uhr 15

20. August, 15 Uhr 50

20. August, 16 Uhr 00

20. August, 18 Uhr 15

20. August, 18 Uhr 25

20. August, 22 Uhr 40

21. August, 3 Uhr 55

21. August, 10 Uhr 10

22. August, 5 Uhr 05

22. August, 7 Uhr 05

22. August, 11 Uhr 40

22. August, 11 Uhr 50

22. August, 11 Uhr 55

22. August, 12 Uhr 05

22. August, 13 Uhr 15

22. August, 13 Uhr 55

22. August, 14 Uhr 10

22. August, zur gleichen Zeit

22. August, 21 Uhr 50

23. August, 10 Uhr 10

23. August, 15 Uhr 20

24. August, 11 Uhr 00

24. August, 13 Uhr 15

25. August, 14 Uhr 35

25. August, 16 Uhr 40

25. August, 16 Uhr 55

25. August, 22 Uhr 35

26. August, 11 Uhr 20

26. August, 15 Uhr 45

26. August, etwa zur selben Zeit

26. August, 17 Uhr 05

27. August, 7 Uhr 15

27. August, 22 Uhr 55

Prolog

„¡Maldita sea! Verdammt nochmal! Bei dem Deutschen hat das doch auch geklappt!“, schimpfte Inés von vorne. Inspector Miguel Sanchez Olivero schaute auf. Keine zehn Meter lief sie vor ihm. Gar nicht mehr beschwingt. Sondern eher verkrampft und ungelenk. Er sah ihre Rückenpartie. Ihren kurzen Rock. Den Po darunter – leider verborgen – und die nackten Beine. Und ihr Aufstampfen. Ihre Entrüstung. Unverändert impulsiv. Wie die ganzen letzten Monate hindurch. Trotz allem. Trotz ihres inzwischen nahezu selbstverständlichen Verhältnisses oder ihrer Beziehung oder gar Liebschaft oder was auch immer Inés’ Launen an Beschreibung gerade zuließen. Hieß es nicht, gute Beziehungen könnten beruhigen? Gemeinsame Wege gangbar, Ziele erreichbar und Zukunft möglich machen? Gut, dass nicht er der Grund ihrer Aufregung war, sondern diese neumodischen Stöcke, über die sie gerade immer wieder stolperte. Sein für sie im Moment unsichtbares Schmunzeln hätte sie jetzt auf jeden Fall noch mehr aufgeregt. In Rage oder gar auf die Palme gebracht. Amüsiert schüttelte er den Kopf. Seit nun fast einem Jahr waren sie also zusammen. Das war zumindest seine Definition. Nein, sein Gefühl! Seit dem Fall mit den toten Mädchen. Mehr oder weniger. Mit zwei Wohnungen. Mit zwei Autos. Mit einer Menge Herumdrucksen und Ausreden, damit niemand in der Jefatura das mitbekam, was jeder schon längst mitbekommen hatte. Ihr Chef, Comisario Pelleter, hatte sie sogar schon zur Seite genommen: Ich werde Sie trennen müssen. Andere Ressorts. Andere Dienststellen. Keine Ahnung. Himmelherrgott! Sie wissen doch, was man oben darüber denkt?! Nach ein paar Wochen hatte man sich auf diesen Kompromiss mit zwei Adressen geeinigt, der mehr oder weniger gelebt wurde. Heute weniger. Kam selten genug vor. Denn die Jungs waren bei ihrer Mutter, also der Oma, die entgegen aller Vorhaben immer noch in Palma in diesem einstigen, jetzt renovierungsbedürftigen Neubauviertel lebte, das aufgrund der wirtschaftlichen Verwerfungen der letzten Jahre zu einer, nach Miguels Meinung, denn seine Sympathien würden vorerst eingeschränkt bleiben, zu ihr passenden Brutstätte für Klatsch und Tratsch, für Gerüchte, Rechthabereien und gleichzeitiger Ahnungslosigkeit geworden war. Während sie sich nun die Freiheit nahmen, unterwegs zu sein. Die Penyals d’Honor zwischen Bunyola und Orient, die Felsen mit Traumaussicht, waren das erste Ziel.

Und das zweite, der Abend, noch nicht geplant.

„Vielleicht hast du sie doch zu lang?“, wendete er vorsichtig ein.

„Der hat mir das aber so gezeigt!“, zischte sie und rammte die Stöcke neben ihre Füße in den steinigen Pfad, „Arm rechtwinkelig abknicken, Stockspitze neben den Knöchel, Griff in die Hand. – Das ist die Länge des Stocks. Und dann soll man beim Wandern nahezu schweben. – So eine Scheiße! Verdammt noch mal! Auf dem blöden Asphalt ging’s besser.“

Zwei Schritte weiter war sie zum weiß Gott wievielten Mal über die Spitzen der für Südländer, wie sie, immer noch zu modernen Trekking-Stöcke gestolpert. Grinsend und mit hochgezogenen Brauen verfolgte er wieder ihr verzweifeltes Herumstochern, das ihr der Deutsche in aller Seelenruhe beigebracht hatte, während die Kollegen der CNP einen gewöhnlichen Unfall aufnahmen, den dieser verursacht hatte. Leider waren sie genau in diesem Moment mir ihrem Auto direkt hinter dem Deutschen gewesen, als der plötzlich mit seinem Wagen ins Schlingern kam, das Lenkrad verriss und dann auf der MA-1 in Höhe Santa Maria del Cami in die Leitplanken krachte und sie fast durchbrach. Sonst wäre Sanchez Olivero vielleicht um den Lehrgang herumgekommen; wahrscheinlich aber auch um diesen Ausflug – und diese Ansicht. Bald eine Dreiviertelstunde stolzierte der Typ dann neben seinem schrottreifen Auto in der prallen Sonne mit Inés auf und ab, nachdem er den Inhalt des Kofferraums neben der demolierten Mercedes M-Klasse ausgebreitet hatte, damit er nicht alleine auf den Abschleppwagen warten musste. No, veramente ist totalemente easy. Vamos! Dass er Minuten vorher sicher siebzigtausend Euro zerkleinert hatte, war ihm offensichtlich egal. So wie sein Aussehen, das mit keinem Kleidungsstück seinen womöglichen Besitzstand darstellte. Wie ein Storch mit Tennissocken auf Balzgang sah er dabei aus. Inés hatte zunächst ungläubig und grinsend zugeschaut, doch als sie es nach einer Weile selbst ausprobierte, war sie sichtlich verwundert und walkte am Straßenrand auf und ab.

„¡Hombre! Damit ist man viel schneller! ¡Mira! Und der ganze Körper ist in Bewegung“, und sie wackelte extra mit dem Hintern.

Noch am selben Nachmittag war bereits das nötige Equipment in der Sportabteilung im Carrefour zusammengestellt. Zweiteilige Teleskop-Stöcke, Wandersandalen, dieser verboten kurze Rock und ein Shirt aus Mikrofaser, dazu ein knallroter Rucksack mit unzähligen Fächern. Damit du mich besser findest, wenn ich dir dann davoneile, meinte sie zur Farbe. Er hingegen lief und schwitzte in seiner ältesten Jeans und einem karierten, viel zu dicken Holzfällerhemd hinterher, als gäbe es später noch irgendeine Drecksarbeit zu machen, bei der man sich versauen könnte. Außerdem ohne Stöcke. Ohne Rucksack. In ausgelatschten Turnschuhen zum geschätzten zehnten Mal an derselben Felswand vorbei. Er suchte den Weg, der nach rechts abgehen sollte. Steil hinauf. Aber was ist steil hinauf? Und das vor ihnen war irgendwie auch kein Weg. Dafür hing an den Spitzen von Inés Stöcken schon der halbe Wald. Wie Jahresringe eines Baumes. Fein säuberlich aufgesammelt. Braune Steineichenblätter, Hülsenreste von Johannisbrotfrüchten und ein Fetzen Plastikfolie. SYP las er in einer Ecke. Der Rest einer Einkaufstüte einer längst pleitegegangenen und aufgekauften Supermarktkette. Der Konsummüll war mittlerweile überall zu finden.

Wieder schaute er auf. Zu ihr und den wütenden Schritten. Inés Farrigua Bertoli, hatte Pelleter sie ihm vorgestellt, wie soll ich sagen, ihre neue Assistentin. Neunundzwanzig war sie seinerzeit. Saß auf seinem Stuhl als er in sein neues Büro eintrat. Hatte sich vielleicht Hoffnungen auf den Posten gemacht. So einen gab’s in jenen Tagen aber nicht für so junge Dinger. Falsches Alter, falsches Geschlecht. Und schon gar nicht, wenn sie Mütter waren wie sie. Zehn und fast acht waren die zwei Jungs damals. Früh angefangen oder früh nicht aufgepasst, war sein erster Gedanke. Aber gleich vom ersten Tag an hatte er sie und ihr Temperament gemocht. Nur wenig später vermutete er mehr hinter seinen Gefühlen. Viel mehr. Und es wurde noch mehr. Von Tag zu Tag. Ohne dass er etwas sagte.

Endlich, Jahre darauf, lud er sie öfter zu einem Kaffee oder gar zu einem Nachmittag mit den Jungs ein, weil er sich sicher war. Ja, an manchen Sonntagen gab es sogar einen Ausflug, von dem sie glaubte, dass er den Buben keinen Spaß machen würde. Ab und zu nahm sie auch seine sonstigen Einladungen an. Meist in den Mittagspausen. Auf einen simplen Kaffee. Im September des letzten Jahres gab sie nach und – das war das Wichtigste – hatte es seitdem wohl nicht bereut. Mit einem Handrücken wischte er sich über die Stirn. Ein Tropfen Schweiß rann an seiner Schläfe herunter. Inzwischen wusste er mehr: Er liebte sie. Wirklich. Irrtum ausgeschlossen. Er machte ein paar schnelle Schritte um aufzuholen.

Der kurze Rock flog erneut ein wenig hoch. Das Höschen, ein Geburtstagsgeschenk von ihm, mehr als Spaß gedacht, blitzte kurz unter ihm auf. Ein Essen zu zweit hätte es auch getan, hatte sie verschmitzt geantwortet, soll ich ja wohl nie lange anhaben, fügte sie noch hinzu, und hielt das Ding hoch. Am Gummi auseinander, als wolle sie gleich hineinhüpfen. Hellblau. Eine Unfarbe. Aber vorne mit dem in knallig leuchtenden Farben aufgedruckten Spruch: El lugar más hermoso del mundo1. Natürlich waren sie auch essen gegangen. In einem der angesagten Restaurants in Palma. Das Essen war reiner Nepp. Aber das Höschen später ein voller Erfolg. Hatte sie etwa Zweifel an seiner Kondition und es deshalb angezogen? Quasi zur Motivation? Aber dadurch auch wieder ein kurzer freier Blick auf die Schenkel und die Kniekehlen. Seit eineinhalb Stunden lächelten sie ihn an. Diese Kniekehlen. Mit jeweils zwei Grübchen. Bei jedem Schritt. Braungebrannt. Geschätzte 144 Quadratzentimeter. Spontan beschloss er, jetzt Kniekehlenfetischist zu werden. Oder deren Erforscher. Eine Professur wäre das Mindeste. Eigentlich müsste er jeden Millimeter ihres Körpers kennen. Aber das zugestandene Halbdunkel für ihre Liebe ließ nur unvollständig das Finden solcher Details zu. Und wer schaut da schon nach Kniekehlen?

„Weißt du, dass du unglaublich schöne Kniekehlen hast?“, fragte er.

Halblaut. Eher sich selbst. Die Finger schon ausgestreckt.

„Und was ist das für ein schöner Knochen?“

Sie. Laut. Über die Schulter.

Ein großer Schmetterling tanzte ihm vor der Nase herum. Gelblichweiß. Mit schwarzer Bänderzeichnung. Ihm vollkommen unbekannt. Allenfalls der Hinterflügel hätte von einem ihm bekannten Schwalbenschwanz sein können. Kurz zuvor war der Falter noch damit beschäftigt gewesen, eine Blüte um ihren Nektar zu erleichtern. Mehr oder weniger passend fiel dem Inspector eine Zeile eines Gedichts ein: Quiero hacer contigo lo que la primavera hace con los cerezos2. Kurz musste er überlegen, von wem es war. Dann fiel ihm der Name ein, Pablo Neruda. Komisch was einem beim Wandern alles einfällt, dachte er und war überrascht, die Zeilen noch zu kennen. Seine Stimmung nun angeheizt. Auch wenn der duftende Frühling sich in einen feuchtglänzenden Sommer verwandelt hatte, den er ein weiteres Mal von seiner Stirn wischte. So roch es nun verführerisch nach Pinien, wilden Blumen und Kräutern und – Ziegenbock. Eindeutig von rechts. Er rümpfte die Nase. Die Natur hatte sich in Schönheit versucht und einen Dämpfer erhalten. Sanchez Olivero schaute trotzdem nur beiläufig auf den Boden, um sofort wieder auf ihre jetzt in der Sonne golden glänzende Beine zu schielen. Er würde es mit ihr genau hier, genau jetzt machen wollen ...

„Ach, die legen manchmal tote Ziegen für die Geier aus, damit sie genug zu essen haben“, versuchte er abzuwiegeln.

„Aber welcher Knochen der Ziege ist so groß?“

Inés kannte seine Gedanken nicht und deutete auf den bleichen, ungefähr in der Mitte zerbrochenen Knochen.

Sanchez Olivero stand neben ihr. Im Kopf der gerade geschmiedete Plan. Eine Hand frech unter ihren Rock geschoben. Auf den formidablen Po. Auf die zarteste Haut, die er kannte. Sie machte einen tadelnden Laut und wendete sich etwas ab, schubste den Knochen mit der Fußspitze dann in seine Richtung.

„Und?“

„Hund. Schwein. Rind.“

„Rinder? – Hier in den Bergen?! – Seguro!“

Er zuckte mit den Schultern und bückte sich. Hielt das tote Stück in der Hand und maß es. Mehr als eine Handspanne lang, er schätzte gut dreißig Zentimeter und drehte es. Auf der einen Seite rissig und schmutzigweiß, fast grau, auf der anderen voller Erde, braun und mit ein paar Resten von Sehnen oder so. Es hatte lang schon so gelegen. War leicht und nicht mineralisiert, dafür das kugelige Gelenk in seiner Art umso verräterischer. Sie schauten sich beide an. Es war kaum ein Zweifel möglich. Der war weder von einer toten Ziege, noch einem in den Bergen tödlich verunglückten Pferd oder Esel. Auch ein Paläontologe würde keinen geeigneteren Vorschlag für diesen knöchernen Knüppel haben. Denn er war auch kein Bestandteil eines sogenannten, jetzt ausgeschwemmten Bonebeds, einer versteinerten Knochenschicht in der Erde, wie er es mal in einem Buch gelesen hatte. Zudem war die Gegend bislang in keinem wissenschaftlichen Katalog als Fundstelle für fossile Überreste aufgeführt und Mallorca nebenbei dafür viel zu spät aus dem urzeitlichen Thetys-Ozean aufgetaucht. Für das Erkennen solcher Teile eines Skeletts hatten sie auf der Akademie genug Unterrichtsstunden erhalten. Wenn man ihnen also keinen Mist beigebracht hat, war das in seiner Hand ein menschlicher Oberschenkelknochen. Blank, weil vielleicht bis auf den letzten Fetzen abgenagt und zusätzlich von der Sonne ausgelaugt. Synchron schoben sie ihre Brauen in die Stirn.

„Denkst du das Gleiche wie ich?“, wollte sie wissen. Er nickte bloß. Befühlte die Struktur und meinte:

„Tausende Jahre ist der auf jeden Fall nicht alt.“

„Vielleicht ein Wanderer. – Vor Jahren abgestürzt. Oder’n Mountainbiker.“

„Ich hoffe es“, sagte er und schaute an ihren Schenkeln hoch.

Genau hier und genau jetzt.

„Na, so ausgebleicht wie der Knochen da ist“, erklärte sie noch.

Der Frühling, Kirschbäume, Sommer oder was auch immer musste ein paar Minuten warten. Schon war er aufgestanden, schaute sich von einem Verdacht getrieben um und kletterte zwischen kantigen Felsen ein paar Meter höher. Unter Umständen lag oberhalb von diesen ja der andere Teil oder noch mehr. Drei Minuten später erreichte er das obere Ende. Rosmarin und abgeblühte Zistrosen-Sträucher begrünten die erodierte Felsspitze. Dahinter eine Steineiche. In einer ihrer Astgabeln ruhte eine umgestürzte Aleppo-Kiefer. Es sah aus, als sei sie im Moment ihres Sterbens, vielleicht bei einem Sturm, froh darüber gewesen, so aufgefangen zu werden, um sich so erleichtert dem Tod hinzuzugeben. Es war ein eigenartiges Bild der Ruhe mit dem nahezu täglichen, postkartentauglichen Blau des Himmels als Hintergrund. Zwischen dem Kräuterbusch und dem Stamm einer weiteren kleinen Steineiche, die nun aus dem entstandenen Wurzelloch emporwuchs, sah er etwas liegen. Wieder beugte er sich zu dem Gefundenen vor und rief sofort den riesigen Stein hinunter:

„¡Espera! Warte eben! Bin gleich wieder da“, dann lugte er über die Kante. Inés war nicht zu sehen. ¡Pucha! Verdammter Mist!, murmelte er. Und schon hörte er sie direkt hinter sich:

„Sag nicht, dass ich sehe, was ich glaube.“

Ihre Stimme klang merkwürdig. In der Sekunde darauf hustete Inés und übergab sich ein paar Schritte neben ihm. Sie konnte solche Anblicke einfach nicht ertragen. Seit jeher.

Aus dem bleichen Schädel vor ihnen glotzten sie Ziegenköttel an. Auf einem Stück ledern gewordener Haut über dem Stirnbein waren noch Reste der Behaarung zu sehen. Kurze, dunkle und pelzige Strähnen. Vermutlich einstmals schwarz. Vier Zähne, keine Nase, das Kinn weit aufgeklappt. Ein längst verhallter Schrei. Aber ein Gesicht war dennoch nicht mehr zu erkennen. Der rechte Arm, im wahrsten Sinne des Wortes nur noch Haut und Knochen, nach hinten gedreht, als suche er nach Halt. Kleiderfetzen hielten den von Wind, Wetter, großen Vögeln und vermutlich streunenden und hungrigen Hunden aufgerissenen Korpus zusammen. Alles zusammen hatte versucht, den Resten eines Lebens ein geordnetes und damit verwertbares Ende zu bereiten. Ihm war, als sei der Körper trotz dieser Hilfestellung noch nicht vollständig verwest. Ein Bein fehlte gänzlich. Lediglich einen Teil davon, so vermutete er, hatten sie dort unten am Felsen gefunden. Für den anderen fielen ihm die wilden Hunde ein und er dachte lieber nicht weiter. Da wo die Sonne hingekommen war, schienen die bloßgelegten Knochen schon ausgeblichen. Zwei, höchsten drei Monate waren demnach vergangen, wenn Ricardo mit seinen Ausführungen recht hatte, die er bei jeder Leiche dozierte.

Inés blieb etwas abseits stehen und hielt sich räuspernd ein Tuch vor den Mund. Ihr Gesicht aschfahl. ¡perdon! Tschuldige! Er schob einen weiteren Ast zur Seite. Klappte in förmlich nach hinten. An ihm blieben Reste der Kleidung hängen und ein großes Stück nahezu vertrockneter Haut und anderem Gewebe. Die sterblichen Überreste waren nun ein klaffendes Loch. Schwarz und unwirklich. Ein paar Fliegen stoben auf und jede Menge Ameisen rannten davon. Auch er musste nun schlucken und sich räuspern. Er ließ den

Ast, der von keinem Kirschbaum stammte, ruckartig los. Federnd schnellte er zurück. Irgendetwas klackte wie Kastagnetten aufeinander. Vielleicht Geröll. Vielleicht ein paar Knochen. Ein leichter Grusel ließ ihn deshalb schaudern. Dann richtete sich Sanchez Olivero auf.

„Wanderung beendet. Das ist Sache der Spurensicherung.“

Auch seine Stimme alles andere als fest. Dann zog er sein Handy aus einer Hosentasche, nahm mit der anderen Inés in den Arm, küsste sie mit einem versonnenen Blick und tippte anschließend die Nummer des Servicio.

1 Der schönste Ort der Welt

2 Ich will mit dir machen, was der Frühling mit den Kirschbäumen macht.

13. August, 11 Uhr 25

„Verdammich! Dat is ja janz doll“, Franz-Herbert Korte stand vor dem in der Sonne fast golden schimmernden Portal der Kathedrale, die der Beschreibung in seinem alten Reiseführer als »Die Leuchtende« alle Ehre machte. Hingegen er ein Bild von Tourist: kurze weiße Sportshorts mit blauen Nähten, Badelatschen und Söckchen, Käppi, fette Goldkette um den Hals und mit einem roten 1.FC Köln Hemd, das eher einem Zelt glich. In Höhe des Bauchnabels hing eine altertümliche Spiegelreflexkamera mit einem ausgefahrenen Telezoom. Mit einer Hand über den Augen schaute er an dem steinernen Koloss empor.

„Erna! Komm! Dat musst du dir angucken“, seine Stimme donnerte zwischen Almudeina und Kathedrale hin und her. Fast hopste er dabei und klatschte in die Hände. Ein paar Kilo mehr und er hätte eine übergroße wiederbelebte Ausgabe von Dirk Bach sein können.

„Leck mich en de Täsch. Wat die Kerls nich alles hinbekomme hann, so ohne Betonmixer und Spundwänd.“ Es war nicht klar, ob er wusste wie viele Menschen aus der halben Welt, über weiß Gott wie viele Jahre an zarten Engelsflügeln, filigranen Pflanzen, dem treuen Hund des Abendmahls oder dem treulosen Judas gemeißelt hatten, aber über so viel Zierrat war er schlicht begeistert. Seit jeher. Immer wieder stach seine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger in die Luft, mal auf ein Ornament, mal auf eine Figur weisend. Passanten, Touristen und ein paar Kutscher grinsten zu ihm herüber. Er war eine echte Show. Selbst die mageren Pferde schienen froh über die Vorstellung des menschlichen, übergroßen Springballs. Schon drinnen, nach fast zwanzig Minuten Wartezeit in der Schlange und dem ungewohnten Eintritt für eine katholische Kirche, hatte er in jedem Winkel die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Vor allem als er mit seinem riesigen Teleobjektiv die aus dem sechsten Jahrhundert, also noch aus byzantinischer Zeit stammende Säule im Hauptaltar ablichtete.

In dem Moment als Erna neben ihm stand, trommelte Phil Collins seinen Schlagzeugeinsatz von In the air tonight in der Gesäßtasche von Kortes Shorts. Er zupfte das Handy, vielmehr ein edles Smartphone heraus, hämmerte seinen Zeigefinger auf das leuchtende grüne Symbol und bölkte:

„Wat? Sie schon wieder? – Ach! – Verdammich! Is ja janz doll! – Jut! Hab ich jetzt nich gewusst. – Nee! Trotzdem. Bei dem Preis! Der Kerl soll voranmachen. – Hatten wir meines Erachtens drüber gesprochen. – Rufen Sie bitte Armando Ruiz Castedo an. Ihn hab ich jetzt mit der ganzen Sache betraut“, plötzlich klang Korte förmlich, „ja, natürlich, was glauben Sie denn, er hat alle Unterlagen und Pläne! Ich hab ja auch noch was anderes zu tun. – Jau, nix für ungut.“

Dann legte er auf und zischte leise in Richtung des erloschenen Displays: „Do kanns mich krützwies! Wat dat al kost. – Avver et is woll nüdich.“

„Was wollte der?“, wollte Erna wissen und kaute dabei auf einem Fingernagel herum. Auch sie ein ansehnlicher Star in dieser Vorführung, allerdings in anderer Hinsicht. Schlanke, gute Figur. Sehr gute Figur. Durch Studios fit und in Form gehalten. Gepflegte, feste, lange, blonde Haare zu einem dicken Zopf geflochten. Kurzes leichtes Sommerkleid, das sicher nicht besonders billig war. Genauso wenig wie das geschmackvoll verwendete Make-up. Dass Korte und sie seit mehr als acht Jahren ein Paar waren, war bezüglich eines solchen Erscheinungsbilds unwahrscheinlich. Sie das hübsche, ehemalige Model, für die Presse durch die Agentur mit dem Namen Serena von Falkenburg, statt Erna Hammerschmidt, versehen, aber war mit dem dicken, ehemalig mehrfachen Würstchenbudenbesitzer aus Köln-Deutz sogar verheiratet.

„Der denkt wohl, er hätt‘ ‘nen rheinischen Jeck am Apparat oder glaubt die Leute aus Inca könnten dat nich“, Korte schaute die Front der Kathedrale hinauf und hielt sich die Kamera vor das Gesicht. Jetzt war er schon so lange auf der Insel und hatte erst heute die Gelegenheit wahrgenommen, diese Kirche, dieses Kunstwerk, genauer in Augenschein zu nehmen. Ständig war er an diesem vorbeigerannt, weil er andere Termine oder bei den wenigen Besichtigungstouren dafür nicht genügend Zeit hatte. Aber jetzt verlangte der Bau genau das: Zeit und Ehrfurcht. Denn das vor ihm war ein wahr gewordener Traum. Innen wie außen. Etwas, das er trotz seines Geldes nie realisieren könnte. Und etwas, das seine Hartnäckigkeit bestärkte. Als er sich den Apparat wieder umhängte, diesmal nicht vor den Bauch, fuhr er fast auf Hochdeutsch fort, was zeigte, dass nun Zweifel an ihm nagten:

„Erst sacht der mir, dat ich dat Gemäuer billig haben könnt un nu kütt der anner und hält de Hand bei allem Schitt opp.“

Dann nahm er Erna aufgrund seines Umfangs etwas umständlich in die Arme. Zwischen ihren Beinen schien die Sonne durch den dünnen Stoff ihres Kleidchens. Alles wäre zu sehen, hätte sie nicht ihren flammend roten Bikini darunter an, der unmissverständlich das ansonsten zu Erspähende verbarg. Er seufzte und nuschelte ihr ins Ohr:

„Manchmol froch ich mich, wat uns he noch alles erwartet udder wat ich überhaupt he soll?!“

Er schielte genau auf die sonnendurchflutete Stelle des Kleides, tätschelte kurz ihren Po und ergänzte:

„Komm! – Jommer noh Hus. – Ich mach doch nich nur Stippeföttche mit dir.“

14. August, 10 Uhr 20

„Wo seid ihr denn rumgelatscht? ¡macho! Das sind doch alles Ziegenpfade. Der Wanderweg ist mindestens dreihundert Meter weit weg. In westlicher Richtung“, Enrique schüttelte etwas herablassend den Kopf und legte Sanchez Olivero eine Mappe auf den Tisch. Sie trug den Titel Ausgerutscht, in seiner Handschrift, „Na ja, sie hat kein ruhiges und du kein aufgeräumtes Zuhause, also muss sich das zarte Pflänzchen eurer jungen Liebe ein Örtchen für heimliche Zweisamkeiten suchen, – ¿eh? ¿verdad?“, fügte er dann noch ein wenig hämisch klingend hinzu.

„¡Idiota! Zerreißt euch nur alle das Maul!“, pfiff ihn der Inspector an, „vielleicht kannst du als Entschuldigung dafür eine weiche Version von dem erzählen, was darin steht“, er tippte mit den Fingern auf die Mappe, nachdem er sie kurz geöffnet hatte und das Bild von seinem Toten mit Ziegenköttelblick und eine wunderbar farbige und für ihn daher genügend eklige Aufnahme des offenen Thorax auf Ricardos Seziertisch liegend gesehen hatte. Enrique holte tief Luft, setzte sich dadurch gut aufgeplustert auf den Stuhl vor dem Schreibtisch und war mit einem Mal der wichtigste Mensch in diesem Raum:

„Ricardo tippt auf sieben bis neun Wochen, aber natürlich sind seine Untersuchungen noch nicht abgeschlossen“, er streckte die Beine aus, schob ein paar Kugelschreiber hin und her und sein Blick wurde noch bedeutsamer, „aber so viel wissen wir bereits: Wetterbedingt verlief die Putrefaktion überdurchschnittlich schnell, es war ja die ganze Zeit ungewöhnlich heiß. Und obwohl die Einstrahlung durch Bäume und Buschwerk teilweise verhindert wurde, so weisen Knochen, Haut und Haare schon jetzt nicht mehr den sonst normalen Verwesungsgeruch auf, sondern riechen bereits wie die Erde und Steine drumherum. Die Hautablösung ist weit fortgeschritten, Haare und Nägel sind, wie du selbst gesehen hast, ausziehbar. Auch das Entwicklungsstadium des Fettwachses deutet auf zumindest eineinhalb, eher aber zwei Monate hin. Die Mumifizierung ist weit fortgeschritten, eine bakterielle Fäulnis ist kaum noch vorhanden. Die Fliegen, die du gesehen hast, sind bereits die nächste und übernächste Generation, denn es gibt mehr leere Puppenhülsen als frische Maden und Puppen. Der Befall und Verbiss durch Ameisen ist fortgeschrittener. Der Körper ist unter Umständen durch einen mutwilligen Stoß, Tiere oder einen Sturm oder alles zusammen von weiter oben durch die Bäume hindurch den Hang hinabgerutscht und dann hängengeblieben. Die noch sichtbaren Hautabschürfungen, Position und Schädigungen der Knochen weisen darauf hin. Wir gehen zumindest davon aus. Das Gelände über dem Fundort ist zudem ja ausnehmend steil. Das Erdreich unter der Abbruchkante, auf der der Körper lag, bricht häufig heraus. Das geht da wie in einer Kaffeemühle und erklärt die vielen angebrochenen Knochen und nachträglichen Verschiebungen in der Anordnung, was die Lage am Fundort betrifft. Der Körper scheint wie verdreht. Die inneren Organe sind so gut wie vertrocknet und zum Teil fehlend. Verbissspuren lassen insbesondere auf Greifvögel schließen. Die Leber weist darüber hinaus Spezifikationen des Alkoholmissbrauches auf, weil ...“

„¡Estupendo! Fein! Bevor du dich zu sehr hineinsteigerst, eine schlichte Fassung reicht mir ...“

„Nun gut, du Weichei“, Enrique grinste, als würde er dafür einen Preis erhalten können, „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelt es sich hierbei um eine irreversibel tote Leiche.“

Sanchez Olivero schnitt eine Grimasse und schüttelte den Kopf. Gerade als er etwas entgegnen wollte, öffnete Inés die Tür und schaute zwischen Enrique und Miguel hin und her.

„Ach“, sie nickte mit dem Kopf in Richtung Miguels Schreibtisch, „der Obduktionsbericht? – Woran ist er gestorben?“

„Das wollte ich ihm die ganze Zeit erklären“, antwortete Enrique, „aber Miguel hat mittlerweile deine schwachen Nerven geerbt.“

Inés boxte Enrique grinsend in die Seite und erwiderte:

„Die ständen dir manchmal auch ganz gut. – Was machen Frau und Kinder?“ Jetzt verzog Enrique sein Gesicht.

„Soweit alles in Ordnung. – Bis jetzt.“

„Mein Rafael und dein Oscar gehen jetzt in die gleiche Klasse.“

„¡Ah si! Stimmt! Sie verstehen sich ganz gut.“

„Ich habe auch nichts anderes gehört. Die beiden können gerne zusammen bei uns zu Hause lernen oder Hausaufgaben machen. Da wären sie unter Beobachtung“, lachte sie, „meine Mutter kann ziemlich hartnäckig sein in solchen Sachen. Vielleicht hilft’s ... Deine gute Eva ist ja auch oft bis spät abends arbeiten.“

Sanchez Olivero blätterte derweil die Seiten durch. Als ob dadurch endlich Ausweispapiere, Eheringe oder andere Dinge nebst einem lückenlosen Stammbaum zur Feststellung der Identität auftauchen würden und der Fall innerhalb von Minuten abgeschlossen werden könnte. Die Seiten mit den Bildern ließ er aus. Nach dem zweiten Mal blickte er verdutzt Enrique an:

„Da steht nicht mal was über die Todesursache!?“

„Doch! Vorne drauf. Abgerutscht. Haben wir doch gerade drüber geredet. Mehr kann Ricardo eben noch nicht sagen.“

„Keine Kugel? Kein eingeschlagener Schädel? Kein Gift?“

„Nicht in dieser Leiche. Nur gebrochene Knochen. Und davon eine ganze Menge.“

„Und das Alter?“

„Nicht jünger als fünfundsechzig bis siebzig. Wahrscheinlich deutlich älter. Unter Umständen achtzig und mehr.“

„Also vielleicht doch ein Wanderer. Herzinfarkt, Schlaganfall oder so.“

Enrique zuckte mit den Schultern. Dazu hatte Ricardo ihm nichts gesagt.

„Du hast gesagt, es fehlen Innereien?“

„Ja! Organhandel können wir aber ausschließen. Falls du das meinst. Der Typ war eh zu alt. Es sind nur große Teile von Leber, Herz und Magen. Und schöne Stücke des Dar ...“

„Ist schon gut! – Warum?“

„Du hörst einfach nicht zu! Habe ich nämlich auch schon erwähnt. Deutet auf Tiere hin. Hunde, Ziegen, Rinder“, er grinste, „was weiß ich. Es soll ja auch Geier in unseren Bergen geben.“

Der Inspector seufzte. Die blutigen Details brachten ihn nicht wirklich weiter. Um einen Menschen zu identifizieren, in irgendwelchen Karteien zu finden, brauchte er andere Fakten.

„Gibt es so was wie Fingerabdrücke, ein brauchbares Gebiss oder Gesichtsrekonstruktionen?“

„Gesichtsrekonstruktionen?“

Enrique zerhackte das Wort in mehrere Teile und sah in verblüfft an.

„Ja! Der Klosterschülerinnen-Fall, du entsinnst dich sicher. – Da habt ihr doch euer ganzes Können bewiesen.“

Sanchez Olivero kassierte einen bösen Blick von Inés. Die Kerle in der Jefatura würden es nie kapieren, wie bescheuert und gefühlskalt sie sich manchmal anhörten, wenn sie über ihre Fälle quatschten. Klosterschülerin.

Das arme Ding war alles andere. Nämlich ein Mädchen, das willenlos gemacht und dann grausam gefoltert, gequält und vergewaltigt worden war, so lange, bis sie unter Tausenden von Schmerzen mit einer leeren, zerschlagenen Colaflasche in der Scheide eher krepiert als gestorben war und anschließend einfach unter eine Plane neben ein Kloster geworfen wurde.

„Ach du meinst eine Zeichnung. – Das geht nicht auf die Schnelle, außer du bist mit ‘ner Micky Maus zufrieden.“

„¡chistoso! Witzbold! Hast du eine Ahnung, wann Ricardo mehr weiß?“

„Ich denk, Ende der Woche darfst du noch mal nachfragen. Er hat ja auch noch was anderes zu tun.“

„Und solange spiel ich in eurem Vorzimmer Wartesaal? Ihr habt wirklich drollige Vorstellungen! – Gibt’s wirklich keine Anhaltspunkte?“

„Ehrlich gesagt, bislang nur die gebrochenen Knochen, inwieweit mutwillig wird sich zeigen. Frag morgen nochmal nach. Ich hab‘ ja auch nicht die ganze Zeit neben ihm gestanden, als er sich alles angeguckt hat. – Ich sag, von alleine fällt da keiner runter.“

Sanchez Olivero schaute Inés an und zog die Augen hoch. Mit verschränkten Armen stand sie da, und ihr Blick war unverändert tadelnd, als sie beide von oben herunter fixierte. Enrique hingegen zuckte mit den Schultern.

„Na denn, das heißt, solange dürfen wir die Vermisstenliste des letzten Vierteljahres durchsehen und Leuten dumme Fragen stellen. Auch eine sportliche Übung“, sagte er zu ihr, ohne zu kapieren, warum sie ihn so vorwurfsvoll ansah.

14. August, 14 Uhr 40

Tatsächlich eher eine Beschäftigungsmaßnahme als sinnvolle Arbeit. Vielleicht auch eine Flucht vor der brütenden Hitze draußen oder eine gute Gelegenheit, bei einer der dauernden Suchen nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen dicht neben ihr zu sitzen, sie zu fühlen und zu riechen. Jedenfalls nutzte er die Situation, ihre nackte Schulter zu küssen. Sie zuckte mit ihr gerade so viel zurück, dass sein Kuss nicht unerwünscht wirkte. Nur das dazugehörende Lächeln fehlte. Wieder fiel ihm der berühmte Pablo Neruda ein: Donde mis besos anclan y mi húmeda ansia anida3. Jahrelang kein Gedicht gelesen und nun fielen ihm komplette Strophen ein. Dazu noch passend. Mühelos ergänzte er in Gedanken sogar die weiteren Zeilen und versuchte sich zu erinnern, wann er diese das letzte Mal zum Besten gegeben hätte. Vielmehr für wen. Was war bloß los mit ihm?

„Was ist denn los mit dir?“, fragte sie Miguel und schaute kurz zu ihm.

Zu kurz. – Seine Lippen verfehlten ihre.

„A nadie te pareces desde que yo te amo4“, komplettierte er Neruda laut.

„¿Que? Hä?“

„Neruda.“

„Wer ist das?“

Sanchez Olivero lehnte sich zurück und betrachtete ihr Profil. Auch dafür hatte Neruda Wörter gefunden.

„Ein chilenischer Dichter“, er sagte es wie eine Uhrzeit, nach der gefragt wurde, zwanzig vor drei, oder so, und war fasziniert von ihrem Anblick.

„Ach so. Kenne ich nicht. Seit wann liest du Gedichte? Klingt aber gut. – Schau mal, der wird zu jung sein, oder?“

Inés schob ihm zwei Blätter rüber, die er nur widerwillig anschaute. Paolo Francisco Irgendwer. Geboren auf dem Festland in Torrevieja. War hier, auf Mallorca, gemeldet in Santa Sofía. Siebenundzwanzig. Eindeutig zu jung. Ihre Frage als Ablenkung von Gefühlen – zu großen Gefühlen. Er lächelte sie schmachtend an, dann überflog er den Bericht und erinnerte sich. Den würde man sicher wieder drüben auf der anderen Seite des Meeres finden. Also in Torrevieja oder wo auch immer. Quicklebendig mit einer anderen Frau beziehungsweise seiner richtigen. Denn die Vermisstenanzeige stammte von keinem Verwandten, sondern einem jungen Mädchen. Am Tag der Anzeige gerade siebzehn. Bald zehn Jahr jünger als dieser Paolo Soundso. In einer Disco kennengelernt, anschließend Körperertüchtigung und dann über Nacht verlassen. »Und Sie sind sicher, dass er nicht zurückgegangen ist?«, hatte der Kollege sie sogar gefragt, »Hundertprozentig! Wir liebten uns. Warum hätte er mir sonst ein Kind gemacht?«. Der Inspector konnte regelrecht den Seufzer des protokollierenden Polizisten hören und dessen ungesagte Antwort: Vielleicht gerade deswegen?!

„Zu jung“, wusste Sanchez Olivero.

„Bleiben nicht allzu viele übrig. Und die drei Frauen können wir auch vergessen.“

Sie stauchte die Blätter zusammen und reichte ihm den kleinen Stapel. Vier Anzeigen. Die Ausbeute des laufenden Jahres.

„Wirklich nicht viel“, stellte er fest.

„Die ganzen Touris habe ich sogar weggelassen. Bei keinem gab es weitere Nachfragen. Irgendwo sind sie dann doch wieder aufgetaucht“, sie zuckte mit den Schultern, „aber jedes Mal wird Panik gemacht.“

Sanchez Olivero zupfte eine Seite heraus.

„Der klingt schon mal gut“, dann eine zweite, „und den schauen wir uns auch mal an. – Hat Ricardo eigentlich was zur Größe gesagt?“

Inés wackelte mit dem Kopf.

„Man kann aufgrund der Knochenmaße eine ziemlich genaue Größe errechnen. Die soll zwischen einssechzig und einsvierundsechzig liegen.“

„Trotz allem eine ziemliche Differenz. Der hier passt.

1,63. Julio Corado. 72 Jahre“, er las die weiteren Anmerkungen und konnte ein Lächeln nicht verkneifen, „seine Frau fragte bis Ende Juli mehrmals täglich nach.“

„Was ist daran so lustig? – Im Übrigen ist sie inzwischen gestorben.“

Sein Lächeln erstarb. Er fuhr sich mit einem Finger an seinem Haaransatz entlang. Sein Markenzeichen, das kurz geschorene Dreieck über der Stirn, schien immer weiter nach hinten zu rücken.

„Steht nichts davon hier drin“, redete er sich raus.

„Sie gilt ja auch nicht als vermisst.“

Er verzog das Gesicht und sie beugte sich vor, fast über ihn. Ihre Schulter streifte sein Gesicht und er hielt sie fest und küsste sie ein weiteres Mal. Auf ihrem Rücken eine kleine Schweißbahn. An der Stelle, wo diese den Stoff ihres BHs kreuzte, war der Verschluss. Es sah im wahrsten Sinn des Wortes anziehend aus. Sexy. Schon hob er die Hand.

„Ich liebe dich“, purzelte aus ihm heraus.

„Aber nicht hier“, sachlich und ernst. In ihren Händen das nächste Blatt.

Sanchez Olivero seufzte, ließ die Hand unverrichteter Dinge wieder sinken und meinte stattdessen:

„Was machen wir, wenn der Tote ein Ermordeter aus Turkmenistan ist?“

„Aus Turkmenistan?“

„Ja. Oder Sudan, Botswana oder Kamerun.“

„Hat Enrique nicht gesagt, dass es ein Weißer war?“ Inés machte ein Gesicht, schaute ihn an und merkte, dass er sie auf den Arm genommen hatte.

„Bocaza! Schwätzer!“

Mit den Schultern zuckend himmelte er sie weiter an.

Gerade war ihm eine weitere Neruda-Zeile eingefallen.

„Da sollten wir auch nachhaken“, lenkte sie ab und saß schon wieder neben ihm, „Roberto Pintor, aus San Juan de Bonany, bei ihm stimmen die ganzen Daten am besten überein.“

„Dann suchen wir jetzt alles zusammen und fangen gleich morgen früh mit ihm an“, seufzte er, „bevor ich jetzt auf dumme Gedanken komme.“

„Dann lass uns lieber gleich aufbrechen.“ Endlich lächelte sie ihn an.

„Morgen früh reicht“, schon war er aufgestanden und drückte ihr einen Kuss in den Nacken, „der ist jetzt schon seit Wochen tot, also werden ihn diese paar Stunden auch nicht retten. – Ein Cortado gefällig?“

Ihre immer noch nackte Schulter hochgradig verführerisch vor seinem Gesicht.

„Also gut. Aber nur einen Cortado – hier am Automaten!“

„Klar! Was denkst du denn? Mit drei Schlucken getrunken für: Gutmütigkeit, Weisheit und – Liebe. Hat mir ein alter Mann mal beigebracht.“

3 Wo meine Küsse ankern und meine feuchte Gier nistet

4 Niemandem ähnelst du, seit ich dich liebe

15. August, 9 Uhr 25

Ruud hatte sie gefragt. Maarten hatte sie gefragt. Rob hatte sie gefragt. Einer nach dem anderen. Jeder schon nach wenigen Tagen. Im Abstand von vier Wochen. Allen drei antwortete sie sofort mit einem Nein. Nicht mal ein Wochenende wollte sie mit einem von denen verbringen. Denn mit allen drei hatte sie zuvor eher zweifelhafte Nächte verbracht. Schnellentschlossen. Viel zu schnell. Hintereinanderweg. Nach Disco- und Kneipen-Besuchen in Haarlem, Utrecht und Amsterdam. Im Oktober, November und Dezember. Die erste schon kurz nach dem Urlaub im letzten Jahr. Genau genommen nur zwei Tage später. Auf der Suche nach Glück. Mit Kerlen. Richtig potenten Männern. Also entsprechend ausgestattet. Auch um zu wissen, ob alles mit ihr in Ordnung war. Nachdem sie, im Grunde genommen ungeplant – ungewollt war dann schon gelogen – im Urlaub zuvor ein paar Nächte mit zwei Mädchen im Bett verbracht hatte. Eine davon mit allem Drum und Dran. Doch die am Ende gefundenen Befriedigungen, als sie mit den Kerlen mitgegangen war, blieben mehr oder weniger einseitig. Und das ausschließlich auf der Seite der gar nicht so männlichen, plötzlich doch eher halbwüchsigen Jungs. Ruud war sogar dermaßen hektisch, dass er sie mit einem Fingernagel heftig aufkratzte, während er nervös an ihr zwischen ihren Schenkeln herumhantierte. Obwohl sie die ganze Zeit versuchte, seine Hand zu lenken und ihn zu dirigieren. Junge, ist gut. Mach doch langsam! Doch er glubschte sie nur an. So brannte es bei jeder Bewegung von ihm wie Hölle in ihr drin und er hielt ihr verzerrtes Gesicht für eine Bestätigung seines Könnens. Als alles vorbei war, meinte er dann auch noch etwas aufgebracht, als er ihr Blut an seinem Schniepel sah:

„Dass du zurzeit deine Tage hast, hättest du ruhig sagen können. Verdammt nochmal! Guck dir das mal an! So ‘ne Sauerei!“

Sie sah den Fleck im Laken, stand auf und zog sich an. Verletzt, gedemütigt und in jeder Hinsicht ernüchtert. Blieb stumm, bis sie an der Wohnungstür war. Erst als sie sich die Jacke überstreifte und er sie in einem blöden Ton fragte:

„Ey, was ist Alte, Sprechen verlernt? War doch ganz nett sonst“, entfuhr ihr mit Tränen in den Augen die einzig mögliche Antwort:

„Arschloch!“, und knallte die Tür hinter sich zu.

Doch auch zehn Tage später hatte sie nichts dazugelernt und ließ sich in Utrecht alkoholisiert, wie sie war, leicht und beschwingt von einem Typen namens Maarten zum Ausgang des Club Havanna schieben. Du willst doch auch? Also hops! Bei mir ist Platz! Und guck mal! Er presste ihre Hand in seinen Schoß und sie glaubte mit ihrer dussligen und vor allem angetrunkenen Naivität endlich den Mann gefunden zu haben, der ihre Normalität beweisen könnte. Die angeschwollene Härte, die sie unter dem Stoff fühlte, ließ einfach keinen anderen Schluss zu. Bierchen hin oder her. So nutzte er ihren Zustand weidlich aus und stand eine Stunde später bleich, nackt, wankend und als würde er die ganze Zeit das Magazin eines Colts nachladen mit seinem rot angelaufenen Ding in der Hand über ihr.

Wenn überhaupt war Rob der Einzige, der etwas getaugt hätte. Zumindest was den Start anbelangte. Der war netter, höflicher und zärtlicher als die anderen. Der bemühte und benahm sich anders. Männlicher. Wie sie glaubte. Hatte sie zum Essen eingeladen, bezahlt und ihr sogar die Türen aufgehalten. Alles Dinge, die schon beim ersten Mal mehr versprachen. Ihr daheim einen Kaffee gemacht und gewartet, bis sie ihm an den Gürtel gegangen ist. Weil sie einerseits vollkommen aufgedreht war und andererseits dachte, er sei zu schüchtern, da er doppelt so alt war wie sie. Deswegen hoffte sie, auch erfahrener. Aber seine ständige Fragerei, nachdem er sich zehn Minuten später ein Kondom überstreifte: Darf ich? Ist’s so gut? Lieber auf ‘n Bauch? Tu ich dir weh?, nur weil sie vielleicht in diesem Moment ein wenig heftiger gluckste und schnaufte, als sein Finger, offenbar etwas aus der Übung gekommen, endlich die richtige Stelle getroffen hatte, während ihr Inneres von genügend Männlichkeit ausgefüllt wurde, ging ihr auf die Nerven und killte schnell den letzten Rest Lust in ihr. Besonders nachdem aus den Fragen ein dümmliches Geplapper über ihr Tun wurde. Ja, das fühlt sich gut an, mindestens zwanzig Mal. Gleich explodier‘ ich, mindestens dreißig Mal. Ja! – Komm! – Jetzt!, mindestens hundert Mal. Konnte der Idiot nicht mal für ein paar Sekunden das Maul halten und still sein? Damit man wenigstens die eigene Lust hören konnte? Zumal sein Getue und die höfliche Neugier dann doch mit ziemlicher Sicherheit nur vorgeschoben waren, denn am Ende vergaß er alle Rücksicht und Erfahrungen, wuchtete sich rüde, dann nur noch mit atemlosen Geräuschen, die sie nun auch wieder nicht hören wollte, in sie hinein. Danach fühlte sie sich wie ein Kaninchen. Geschlachtet und gefüllt. Sie wollte Männlichkeit und nicht Grobheit, Lust und Lüsternheit und keinen hochfrequenten Fick. Im Endeffekt war’s wie immer und sie bei allen dreien zu feige gewesen, ihnen rechtzeitig auf die Finger zu hauen oder vorher ehrliche Antworten zu geben. Seitdem Funkstille. Keine Männer, dusselige Typen, Schönlinge oder Jüngelchen mehr. Kein dummes Gequatsche, keine dämlichen Fragen. Ohne Schmerzen oder Mangelerscheinungen dabei zu haben. Ohne einen Verlust zu spüren. Im Notfall ging es auch anders.

Oder hatte sie doch einen Webfehler?

Denn als vor ein paar Wochen Anneke fragte, ob sie mit ihr nochmal in Urlaub gehen würde, hatte Gitte sofort Ja gesagt. Ohne groß zu überlegen und ihre Antwort in der Minute darauf gleich wieder bereut. Plötzlich kam sie sich noch schäbiger vor als nach diesen bescheuerten Nächten mit Ruud oder Maarten. Anneke. Ausgerechnet Anneke. Mit der sie im letzten Jahr dieses Abenteuer – ihr fiel kein anders Wort ein – im Urlaub hatte. Die hatte doch seit dieser einen Sache damals ‘nen Hau und war doch ... die war doch ... andersrum. Müsste sie doch spätestens seit der Abschlussfeier im Frühjahr wissen, auf der Anneke immer wieder zu ihr kam, seltsam aufgekratzt, komisch guckte, sie dabei abbusselte und Gitte am Ende sogar fast mit ihr nach Hause wäre. Andererseits hatte sie sich saumäßig gefreut sie wiederzusehen. Ungeachtet der Tatsache, dass der Urlaub am Ende fast ein Fiasko wurde, so war er doch gut verlaufen. Und immerhin war sie ja bei den entscheidenden Sachen, in dieser einen Nacht, beteiligt gewesen. Ohne großen Widerspruch.

Dennoch, mein Gott, sollte ich wissen, dass ich dann nicht nur aus ‘ner Furzlaune, sondern ziemlich bewusst mit ‘nem Mädchen bumsen würde, wenn ich das mache, dachte Gitte. Will ich das? Sie hörte ihr eigenes alberne Gackern von damals, sah sich mit den beiden Mädels im Bad des Hotels stehen. Sektflasche in der Hand und dabei die anderen angucken, als gäbe es was zu vergleichen. Größe des Busens, des Bauches oder so. Dabei kannte sie ihre Defizite. Sah Doortje und Anneke nackt aus dem Bad hüpfen, Schlager singen und miteinander rummachen. Dachte an die Scheiße, die die beiden an dem einen Abend über sich ergehen lassen mussten und an Annekes Hand – dann in der letzten Nacht – und griff zum Telefon. Suchte nach einer Entschuldigung, die glaubhaft genug klingen würde. Mein Gott, tut mir leid, aber ich hab ganz vergessen, dass … oder Du, ich seh grad, das ist in der Zeit, wenn ... Anneke nahm ab und Gitte verschlug es augenblicklich die Sprache. Statt abzusagen, fragte sie mit brüchiger Stimme:

„Wieder nach Malle? Jungs vernaschen?“ Sie musste einen Webfehler haben.

„Malle ja, Jungs weiß ich noch nicht. Wir zwei auf jeden Fall alleine“, Annekes Stimme ließ keine Zweifel aufkommen, was sie damit wirklich meinte und fügte hinzu: „Doortje hat inzwischen ihren Traumprinzen gefunden. Weißt du?“

Jetzt saßen sie vor dem Los Geranios in Port de Sóller und frühstückten. Schon den dritten Tag. Ganz entspannt. Zwar nicht ganz billig, das nach der Schule sauer verdiente Geld war kurz nach der Buchung schon um die Hälfte geschrumpft – Ist doch scheißegal, man lebt nur einmal – aber dafür gediegen und ruhig. Mit einem riesigen Frühstücksbuffet, sogar eine Flasche Sekt stand jeden Morgen in einem mit Eis gefülltem Kübel, und wunderbarem Blick auf eine strahlend blaue Bucht, auch oben aus ihrem Zimmer, am Ende des Ganges, im zweiten Stock.

Anneke saß um einiges offenherziger als Gitte es sich trauen würde am Tisch, nur mit einem schmalen, knappen Oberteil und einer leuchtend orangefarbigen Boxershorts. Ein Bein hatte sie hochgezogen und den Fuß auf die Sitzfläche gestellt. Schaute jemand genauer hin, konnte man an den Schenkeln entlang bis in ihren Schritt sehen. Und einen dunklen Fleck, der kein Schlüpfer war. Ihr Gesicht war nur leicht geschminkt. Zudem hatte sie ihre braunen Haare in den vergangenen Monaten wachsen lassen und unzählige blondierte und aufgebauschte Dreadlocks hineingemacht. Sie sah mit ihnen verflucht verwegen und gut aus. Es war Gitte nicht nur deswegen ein Rätsel, warum Anneke ausgerechnet sie für einen solchen Urlaub ausgewählt hatte. Neidisch lugte sie zu ihr hinüber. Trotzdem war alles wesentlich harmloser abgelaufen, als Gitte es sich ausgemalt hatte. Von der ersten Minute an. Allein das Hotel verbat so etwas, wie die im Nachhinein so empfundenen Orgien des letzten Jahres im September an der Playa de Palma. Freilich war Anneke in der ersten Nacht zu ihr ins Bett gerutscht. Irgendwie hatte Gitte es ja erwartet und sie auch in den Arm genommen. Dennoch hielt sie die Luft an, als sie Annekes Hand unter ihrem Pyjama auf dem Bauch spürte und dachte dabei gleichzeitig an die unausgesprochenen Inhalte des Telefonats.

„Verdammt noch mal, du bist wenigstens ‘ne richtige Frau“, hörte sie da Anneke sagen, als die Hand auf Wanderschaft gegangen war, „kein Wunder, dass sich keiner für mich interessiert. Inzwischen weiß ich nicht einmal, ob ich es noch wollte.“

Dann schob sie ihre Hand etwas weiter unter Gittes Pyjama und fügte hinzu:

„Es passiert nichts, was du nicht willst! Okay?“ Und es passierte nichts, was Gitte nicht wollte.

15. August, 11 Uhr 10

Na prima! Julio Corado und Roberto Pintor schieden aus. Inspector Miguel Sanchez Olivero fluchte. Die Unterlagen waren schludrig. Von vorne bis hinten unordentlich und schlampig geführt geworden. Es machte einfach keinen Sinn, dass dauernd mehrere Sicherheits und Polizeiorganisationen an solchen Fällen herumarbeiteten. Oder so taten als ob. Local, Guardia und nun die CNP. Aber es half nichts: Der eine hatte vor über zwanzig Jahren sein rechtes Bein verloren, der andere in den letzten drei Jahren seines Lebens eine Glatze bekommen, weil der Krebs ihn von innen langsam auffraß und die Chemo versuchte dagegen anzukämpfen. Unter dem Ast hatte aber ein Mann mit zwei Beinen und, wenn auch schütter, dunklen Haaren gelegen. Und die waren sicher nicht nachgewachsen. Julio Corados Bild aus den Unterlagen verschwieg das fehlende Bein und Roberto Pintors Foto war ein Jahr vor der beginnenden Chemo aufgenommen worden. In den Texten war nichts weiter darüber zu lesen. Wirklich saubere Arbeit.

Sie stiegen in ihren Wagen und drehten entnervt die Scheiben herunter. Fast logisch, dass sie an so einem Tag auch noch den einzigen Einsatzwagen mit nicht funktionierender Klimaanlage erwischt hatten. Die offenen Fenster nutzten nichts. Die Luft stand. Draußen wie drinnen. Nicht der leichteste Hauch. Kurz darauf war Sanchez Oliveros Hemd durchgeschwitzt, genauso wie das von Inés. Ihre Brüste drückten sich spitz geworden und sichtbar dunkel durch den hellblauen Stoff. Ausgerechnet heute ohne BH. Ausgerechnet heute lähmte die Hitze jegliche Fantasien. Ausgerechnet heute hatte Neruda keine Chance. Ah desnuda tu cuerpo de estatua temerosa5 . Zumal Inés auch gestern Abend wieder zu sich nach Hause gefahren war. Allein. Wie die letzten fünf Nächte. Trotz aller Anstrengungen. Allmählich bekam er Sorge, dass sich zwischen ihnen etwas verändert haben könnte und er nur noch nicht dahintergekommen war.

„Es wäre ja auch zu schön gewesen“, konstatierte der Inspector und linste auf ihre Bluse. Alles provozierend verlockend, wie so häufig, und doch entmutigend genug. Sie verfolgte seinen Blick und zuckte ein wenig.

„Lüstling!“, war ihr einziger Kommentar, dann ließ sie sich wieder in die Lehne zurückfallen. Ein Schwall heißer Luft wehte herein. Sofort stand ihr Schweiß auf der Stirn.

„Und jetzt?“, wendete sie sich lustlos an ihn und wischte sich die Tropfen mit dem Handballen weg.

„Können wir nebenbei auch noch von einem Mord an Mister X ausgehen, wenn wir hier nicht vorwärtskommen. Vielleicht hat ja Mona, Sofia oder Magdalena ihren Alten um die Ecke gebracht und freut sich nun auf die Ruhe in ihrer Wohnung und das Geld, das er hinterlassen hat.“

„¡fantástico! Prima! Pelleter gibt uns sicher Zeit dafür bis Weihnachten.“

„Klar! Wir müssen dann alle alten Damen bei einem Kaffeekränzchen befragen. Das kann dauern.“

„Sonst fällt dir nichts ein, was?“

„Doch. Wir gehen alle Unterlagen nochmals durch, Schicht für Schicht, von oben nach unten und anschließend machen wir die große Tour und fragen die Leute aus, was anderes fällt mir tatsächlich nicht ein“, log er ohne ihre Bluse und diese halbverborgenen Verlockungen aus den Augen zu lassen. Vielleicht wäre er noch zu einer anderen Regung fähig. Denn sein Kopf signalisierte, diese eine Stelle des durchsichtigen Stoffs küssen zu wollen, doch die dazugehörige Bewegung wurde vom Klingeln ihres Mobiltelefons gestoppt. Inés lächelte ihn wissend an und nahm ab.

„¡Si! Mama? – Was ist los? – Què? – escolta’m un segon! – d’això res! – és increïble6...“, und für weitere Sekunden andere mallorquinische Bruchstücke, „... ja, ich komme ...“, war ihr letzter Satz.

„Rafael?“, fragte Sanchez Olivero nach, der von dem Ganzen wieder nur die Hälfte verstanden hatte.

„Diego“, gab sie knapp zurück. Nach einer Weile:

„Hat irgendwie ‘ne Prügelei gehabt und liegt zu Hause auf seinem Bett. – So eine verdammte Scheiße. Nicht mal als Polizistin bist du vor solchen Sachen sicher. Da denkt man, die eigenen Kinder ...“, sie sah wieder zu ihm herüber und hob den Stoff der Bluse an. Weg von ihrem Körper. Ein kurzes Fächeln. Sofort waren jegliche Verlockungen, die Transparenz des an den entscheidenden Stellen feuchten Stoffes zunichte und die dunklen Spitzen ihrer Brüste unsichtbar gemacht. Dann schnappte sie sich den Sicherheitsgurt und legte ihn an.

„Also los! Fahr mich heim! Die Unterlagen musst du erst mal alleine durchsehen“, und sie sah seinen enttäuschten Blick, „jetzt kannst du dich auf sie konzentrieren. Wenn dann Mister X aktuell wird, komme ich wieder dazu. – Guck nicht so belämmert!“

5 Ach, enthülle doch deinen furchtsamen, statuenhaften Leib

6 Was? – Hör mir eben zu! – Kommt nicht in Frage! – Es ist unglaublich.

15. August, 14 Uhr 30

„Nach unserem letzten Gespräch haben wir etwas umgestellt, der Nordflügel ist nun der Spa. Ohne Zimmer oder Suiten. Die bleiben in dem anderen Bau dadurch ganz für sich. Abgetrennt und losgelöst vom Rest. Jedes mit einem herrlichen Blick auf die Berge. Genauso wie bei den Wellness-Räumen. Die Form des Baukörpers schützt zudem vor einer eventuellen Unruhe durch Autos, ankommende Gäste oder Lieferwagen vor dem Komplex. Ein weiterer Vorteil ist die Zuleitung von der Quelle weiter oben, die nun ohne Probleme hier einmündet. – Wir denken in diesem Zusammenhang, einen Teil des Wassers wie einen kleinen Bach mitten durch das Gebäude fließen zu lassen“, er schmunzelte und ergänzte: „Allein schon wegen des beruhigenden Geräusches.“

Er verfolgte die Hand des Architekten und beugte sich über das Modell. Beruhigende Geräusche. Wenn der wüsste! Hauptsache Geräusche. Dann ließ er sich nach hinten in den tiefen Sessel sinken, schob ihn sogar einen halben Meter vom Tisch weg. Plötzlich war ihm das alles hier unangenehm, ja zuwider. Ein Spa mit beruhigenden Geräuschen. Eine Schnapsidee. Nichts anderes. Tatsächlich bei Bier, Wein und diversen Cognacs ersonnen. Unter dem riesigen Sonnenschirm an seinem Pool. Aber was macht man im Sommer, wenn die Quelle versiegte? Mensch, mit ihrem Geld lässt sich so was spielend finanzieren – und äußerst gewinnträchtig entwickeln. Das ist ein Boom-Markt. Von unsereins gibt es doch ganze Hundertschaften. Mehrere! Äußerst zahlungskräftig.

Zu dritt hängten die anderen nun ihre Köpfe über das Modell. Mitsamt dem Architekten. Diesem Ruiz Castedo, dem er jetzt sein ganzes Vertrauen schenkte. Es schenken musste. Da jetzt keiner mehr sein Gesicht verlieren wollte. Der also, einer von der Immobilienagentur, Zacarias und ein Typ namens Martínez. Kennt sich super aus in der Branche! Zu viert schauten sie das Ding an, als handelte es sich um eine Spielzeugeisenbahn.

„Wir haben noch ein paar weitere Details auf Ihren Wunsch hin geändert. Sehen Sie nur“, Ruiz Castedo schielte zu ihm hinüber und wies auf den neu angelegten Innenhof, der an der Verbindungsstelle der drei jetzt angewinkelten Baukörper entstanden war, „dieser Platz ist nun ein Atrium geworden und soll in seiner Art an den von Säulengängen umgebenen Hof der Kathedrale in Palma erinnern. Ein, wie ich finde, hübsches, landestypisches Detail, das die drei in ihrer Aufgabe unterschiedlichen Gebäudeteile harmonisch verbindet und gleichzeitig einen Ort der Ruhe und auch Begegnung schafft. Mit einem kleinen aber feinen Pool. Uneinsehbar von außen. Selbst wenn Sie auf dem Berg stehen.“

„Ich dachte, an diese Art von Begegnungen wird nicht gedacht“, Kortes schwacher Einwand. Vor seinem geistigen Auge tollten nun puttenähnliche Gestalten um diesen feinen Pool zu sphärischer Musik mit weniger sphärischen Verlockungen.

„Das gilt nicht für jeden. Die Atmosphäre sollte also stimmen“, Ruiz’ verdatterte Antwort.

„Wie haben Sie sich den Zugang in den Park gedacht? Wir wollten doch eine Variante mit einer großen Glastür und kleiner Freitreppe. Wie zum Beispiel bei dem alten Herrenhaus von Els Caldereres. Die Höhenunterschiede des Geländes wären dafür doch wie geschaffen. Auch um das Foyer nicht einsehbar zu machen“, wollte nun Zacarias wissen.

Der Architekt lächelte siegessicher und hob das Dach des sogenannten Empfangsgebäudes in die Höhe. Korte sah aus drei Meter Entfernung zu und erinnerte sich, wie Ruiz Castedo an diesem besagten Abend in sein Weinglas linste, es drehte und den funkelnden Schimmer in ihm wohl für eine Eingebung, Vision oder so etwas hielt. Ein Spa für Männer. Mit allem Drum und Dran. Von Aufguss bis Zuwendung, dann folgte ein wissendes Grinsen, von Animation bis Zweisamkeit. Von mir aus zu dritt, zu viert oder fünft. Ganz egal. Sie müssen zugeben, das hat doch was?!, dann seufzte er, nicht nur für eine Stunde, sondern mindestens zwei Übernachtungen, nicht für hundert, sondern mindestens 3000 Euro – natürlich mit Frühstück, natürlich mit Schampus, natürlich pro Nacht, natürlich nicht pauschal buchbar. Natürlich nicht! Die Herren Manager, die mit solch berauschenden Erlebnissen zu belohnen wären, wüssten die Adresse schneller als diejenigen, die sie belohnen wollten.

„Sie finden diese in dieser Ecke des Atriums. Es ist mehr als eine gewöhnliche Tür. Das Ganze ist als Fragment eines griechischen Peristyls konzipiert, das von außen links und rechts zu einem schlichten, nahezu romanisch anmutenden Tor führt, welches nun durch zwei lichtdurchflutete Flügel aus Glas ersetzt worden ist. Ein preiswert zu erzielender, aber stimmungsvoller Effekt, der Größe und Weite darstellt. Alte und schöne Steine dafür sind nach meinen Recherchen zur Genüge vorhanden. Ja sogar ganze Toreinfassungen.“

Die drei Männer schauten sich an. Martínez zog die Augenbrauen hoch, der Agent von der Immobilien-Vermittlung zuckte die Schultern und Zacarias nickte langsam mit dem Kopf. Kurz erinnerte es an die drei berühmten Affen. Zacarias war dann der erste, der antwortete:

„Nette Spielereien. Solange Sie nicht den Kostenrahmen verändern, können Sie Romanisches, Griechisches und sonstige antike Stile mixen wie Sie wollen. Übertreiben Sie es nur nicht. Die Kundschaft ist zwar zahlungskräftig, aber ein spanisches Disneyland möchte sie mit ihrem Aufenthalt sicher nicht finanzieren.“