Keine Vergebung - Andreas Heßelmann - E-Book

Keine Vergebung E-Book

Andreas Heßelmann

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Beschreibung

"Woher weißt du, dass das keine Axt oder etwas anderes war?" Inspector Sanchez Olivero landet nach einem Überfall im Krankenhaus. Danach wird ihm Ruhe verordnet, die sich aber nicht so richtig einstellen will, weil Elena nach wie vor große Probleme hat und Gabriela so rührend um ihn besorgt ist, dass er Gewissensbisse bekommt. Obendrein wird nach einem verheerenden Sturm in den Bergen eine Leiche gefunden. Die Todesursache scheint aber dann doch nicht der Sturm zu sein. Das Opfer ist der Chef einer Sicherheitsfirma, die sich bei den Untersuchungen von Sanchez Olivero trotz ihres guten Rufes als sehr dubios herausstellt. Auch in seinem siebten Fall hat es Inspector Miguel Sanchez Olivero alles andere als leicht. Am Ende wird alles sogar noch von der Weltpolitik eingeholt.

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Seitenzahl: 319

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Hurga el dolor como un pinchazo y no encuentro alivio.Der Schmerz stochert wie ein Nadelstich und ich finde keine Erleichterung.

(Fernando G. Delgado, La mirada del otro)

Inhaltsverzeichnis

Prolog, 3. Oktober, 4 Uhr 15

5. Oktober, 19 Uhr 10

6. Oktober, 8 Uhr 20

6. Oktober, 21 Uhr 05

6. Oktober, 22 Uhr 35

7. Oktober, 12 Uhr 25

7. Oktober, 21 Uhr 45

7. Oktober, 21 Uhr 50

7. Oktober, 21 Uhr 55

7. Oktober, 23 Uhr 25

8. Oktober, 3 Uhr 30

8. Oktober, 8 Uhr 55

8. Oktober, 9 Uhr 20

8. Oktober, 9 Uhr 40

8. Oktober, 11 Uhr 30

8. Oktober, 16 Uhr 15

8. Oktober, 17 Uhr 40

8. Oktober, 21 Uhr 35

8. Oktober, 22 Uhr 15

9. Oktober, 2 Uhr 25

9. Oktober, 8 Uhr 10

9. Oktober, 10 Uhr 40

9. Oktober, 22 Uhr 55

10. Oktober, 11 Uhr 35

10. Oktober, 12 Uhr 40

10. Oktober, 13 Uhr 05

10. Oktober, 15 Uhr 05

10. Oktober, 15 Uhr 45

10. Oktober, 16 Uhr 55

10. Oktober, 17 Uhr 10

10. Oktober, 17 Uhr 35

10. Oktober, 18 Uhr 50

10. Oktober, 22 Uhr 20

11. Oktober, 6 Uhr 10

11. Oktober, 9 Uhr 15

11. Oktober, 11 Uhr 20

11. Oktober, 14 Uhr 20

11. Oktober, 15 Uhr 00

11. Oktober, 17 Uhr 05

11. Oktober, 17 Uhr 25

11. Oktober, 17 Uhr 55

11. Oktober, 18 Uhr 35

11. Oktober, 18 Uhr 45

11. Oktober, 19 Uhr 25

11. Oktober, 22 Uhr 10

12. Oktober, 5 Uhr 40

12. Oktober, 9 Uhr 20

12. Oktober, 9 Uhr 45

12. Oktober, 11 Uhr 05

12. Oktober, 18 Uhr 10

12. Oktober, 20 Uhr 55

Fast auf den Tag genau fünf Monate später …

7. März, 17 Uhr 45

Prolog, 3. Oktober, 4 Uhr 15

Unpünktlich, aber nicht zu spät, war das Erste, was ihm einfiel, und er wusste nicht, wie er nach allem darauf kam, als er auf die Uhr schaute. Er überquerte die Brücke und kurz dahinter stand sie und wartete schon auf ihn. Natürlich hatte sie ihn längst bemerkt, während sie die Stühle zusammenstellte. Er hingegen sah sie erst jetzt und traute seinen Augen nicht. Leggins im Militärlook, bauchfreies Top und rötliche Haare, die nach innen geföhnt knapp über ihre Schultern reichten. Fünf Meter vor ihr traf ihn der erste Tropfen und sie schaute hoch. Dann zuckte sie mit der Schulter und ging langsam rückwärts ins Bianco zurück. Der nahezu hämmernde Regen begann genau in dem Moment, als er mit seinem überaus erstaunten und verblüfften Blick an ihr vorbeiging. Sofort schloss sie hinter ihm ab. Jetzt würde niemand mehr kommen. Jetzt hatte niemand mehr zu kommen. Sie gab ihm, wie immer in letzter Zeit, einen viel zu zärtlichen Kuss und er strich mit seinen beiden Händen an ihren Seiten hinunter. Ihre frauliche Figur fühlte sich gut an und sah in der engen Kleidung mehr als sexy aus. Kurz streichelte er über ihren Po und sie drängte sich für einen genauso langen Moment an ihn, bevor sie ihn zu seinem Platz führte und sich hinter ihn stellte. Ihre Hände auf seinen Schultern, ihre Lippen in seinen Haaren. Langsam begann sie sein Genick zu massieren. Nach einer Weile schob sie ihre Hände unter das Hemd, öffnete die Knöpfe von innen und zog es so an seinem Oberkörper bis auf die Hose hinunter. Ihre Finger glitten zurück auf seine Schultern und sie drehte ihn auf dem Stuhl zu sich um. Beugte sich vor und gab ihm wieder einen Kuss. Ihre Zunge drängte sich zwischen seine Lippen und er schmeckte Blut.

„Was machst du denn für Sachen?“, fragte Gabriela. Ihr Kopf schwebte über seinem Gesicht vor einem klinisch weißen Hintergrund. Ihre Haare kürzer, aber nicht rötlich. Soweit er sehen konnte, hatte sie eine weiße Bluse an. Seine Zunge fuhr über seine Lippen. Neben dem Blut glaubte er so etwas wie Farbe zu schmecken. Sie strich ihm über den Kopf, der sofort zu schmerzen begann. Langsam, als würden verrostete Zahnräder langsam in sich greifen, und als wenn eines von ihnen immer wieder etwas hakeln würde, kamen ein paar wenige Bilder hoch. Schreibtisch, Andreu, Brücke, Bianco, Regen, Geldautomat – schwarz.

„Sie haben dir keine zwanzig Meter von mir entfernt eine übergebraten. Die kamen mit ’nem Roller an und haben dich beim Geldautomaten gesehen. Ich bin noch losgerannt, aber da haben sie dir schon den Schläger auf den Kopf geknallt. Und weg waren sie. Auch das Geld ist natürlich weg. Wie die. Leider habe ich nicht an das Nummernschild gedacht. Tut mir leid. Aber ich hab’ gedacht, du bist tot, so geblutet hat das. Ist aber nur ’ne Platzwunde. Die haben sie im Rettungswagen schon notdürftig geflickt. Jetzt hast du ein tolles Andenken. Wird sicher eine schöne Narbe. – Ich war die ganze Nacht bei dir. Nicht dass doch noch was passiert. Man weiß ja nie. Und die haben ein Gerinnsel oder so übersehen. Mein Gott, tut mir das alles leid.“

Sie unterbrach ihren aufgeregten Redeschwall und strich ihm wieder vorsichtig über den Kopf. Dann näherte sich ihr Gesicht. Er hatte sich nicht getäuscht. Es waren ihre Lippen gewesen, die er gerade geschmeckt hatte. So gut es ging, erwiderte er ihren Kuss und genoss ihre streichelnde Hand auf seiner Wange. Ihre Zunge erforschte tatsächlich derweil seinen Mund. Nach ein paar Sekunden richtete sie sich etwas auf:

„Draußen hab’ ich gerade Elena getroffen. Einer der Sanitäter hat dich erkannt und ihr Bescheid gegeben. – Sie ist ja Ärztin und organisiert gerade noch eine weitere Untersuchung für dich. Wenn die gut ausgeht, darfst du morgen oder übermorgen Nachmittag schon nach Hause. Platzwunden reichen wohl nicht für einen längeren Klinikurlaub. Und das Krankenhaus ist voll. Kann also noch etwas dauern. Seit gestern liefern die nämlich wieder einen Patienten nach dem anderen mit diesem Scheißvirus ein. In Palma drehen sie deshalb auch schon durch. Vielleicht dürfen wir ab nächster Woche die Wohnung schon wieder nur für den Weg zum Arbeitsplatz verlassen und wenn du zum Arzt gehst oder so. – Und die Touris laufen frei herum.“

Sie seufzte leise und strich ihm abermals, nun allerdings mit feuchten Augen über den Kopf.

„Schade!“, stellte sie dicht über seinem Gesicht fest und ihm war sofort klar, was sie damit meinte. „Daran hätte ich mich gewöhnen können. – Ich meine, an so einen Kuss. – Möglichst täglich. Und …“

Schwerfällig schob er sich im Bett hinauf, um irgendwas zu erklären, was sein klopfender Kopf noch nicht erklären konnte. Erst recht nicht nach den ganzen Geschehnissen in den letzten Tagen, die er mit Elena erlebt hatte. An das viel zu kurze Krankenhaushemd dachte er in diesem Moment auch nicht. Bevor er sich die Decke über seinen Unterleib ziehen konnte, hatte sie seinen ansonsten nackten Körper schon etwas traurig und von der Zukunft enttäuscht betrachtet und dabei für eine Sekunde über seinen deshalb freigelegten Bauch und die Seite gestrichen und fügte hinzu:

„Hast dich wohl nicht getraut?“

Sich selbst unhörbare Vorwürfe machend erwiderte er:

„Im Traum gerade wohl.“

5. Oktober, 19 Uhr 10

„Ihr würdet gut zusammenpassen. Du bietest ihr eine Heimat – war das nicht sogar dein Spruch oder der von Raul? Freundschaft – das ist wie Heimat – und sie würde sie dir tipptopp in Ordnung halten.“

Ihr Ton war unmissverständlich eifersüchtig. Er versuchte zu grinsen, aber der Verband um seinen Kopf, den sie vorhin gegen den Turban ausgetauscht hatte, zog an der Narbe, die sie ihm auf dem Hinterkopf fabriziert hatten. So, wie sich das anfühlte, war sie größer als der Schädel. Immerhin dreizehn Stiche.

„Ich hoffe, du hast sie nicht enttäuscht. Wär ich an ihrer Stelle gewesen, hättest du jetzt freie Laufbahn, weil ich tot umgefallen wäre, wenn ich das gesehen hätte. Dein Kopf hat in einem See von Blut gelegen, haben selbst die Sanis gemeint. Du kannst von Glück reden, ein Dickschädel zu sein. Dass der nicht gebrochen ist, hat jeden im Krankenhaus gewundert. – Hat sie dich gut versorgt? Immerhin hatte sie ja über zwei Stunden Vorsprung.“

Elena redete sich regelrecht in Wut und er grinste deswegen amüsiert, stöhnte aber sofort ein wenig, weil selbst das Grinsen wieder wehtat oder er eine Memme war, und fragte mit rauer Stimme, was er eigentlich schon wusste:

„Bist du etwa eifersüchtig?“

Plötzlich stand Elena ganz dicht vor seinem Gesicht und sah ihn mit weit aufgerissenen, funkelnden, fast feindseligen Augen an. Ein Finger pikte in seine Brust und schien ein Loch bohren zu wollen. Ihre Haare wild im Gesicht.

„Du hättest ihren Blick sehen sollen, als sie dich aus dem OP gefahren haben. Und ihre Hände! Die ganze Zeit über hat sie an deinem Gesicht rumgemacht! Und Tränen in den Augen gehabt. – Die ist nicht nur verknallt in dich – die liebt dich, dass es kracht. Und du fragst, ob ich eifersüchtig bin. Zwischen euch läuft doch schon längst was, oder? War das nicht auch eine Option, von der du neulich mal gesprochen hast?“

Sein Grinsen sah nun wie eingefroren aus. Was sollte er antworten? Nicht, was du denkst? Quatsch, das ist sicher nur, weil ich in meinen Mittagspausen öfter bei ihr einen Kaffee trinke. Ich bin doch Stammkunde. Alles wäre irgendwie gelogen. Aber laufen tut nichts zwischen uns. Trotzdem fühlte er sich ertappt. Immerhin war Gabriela schon Bestandteil seiner Träume und er wunderte sich nicht besonders darüber. Alles, was er sagen würde, war im Ansatz schon Gestotter. Während er die richtigen Worte suchte und sein Kopf brummte, schob Elena ihn vor sich her.

„Was hast du denn geträumt vor ein paar Tagen? Hast du mir ja selbst erzählt. Sicher, wie ihr es gemacht habt, oder? Kann sie es besser als ich?“

Ihre Augen funkelten noch mehr und mit zitternden Fingern fuhr sie sich nervös durch die Haare. Schubste ihn tiefer in die Wohnung und kickte ihre Pumps zur Seite. Etwas widerwillig folgte er ihrem Geschiebe.

„Na ja“, meinte er mit schmerzverzogenem Gesicht und dachte verschämt an Gabrielas Blick, als sich das blöde Krankenhaushemd verschob, „immerhin hat sie alles gesehen – äh –, wie sie zugeschlagen und alles geklaut haben. Wenn du so etwas mit ansehen müsstest, wärst du sicher auch ganz schön durcheinander, oder?“

„Weißt du, was das Schlimme ist?“ Sie war fast schon in Rage. „Sie ist eine richtige Frau und nicht so ein … ein … ein Wesen, wie ich es bin. Nein! Kein Mädchen. Kein Girlie. Die … die steht mit beiden Beinen im Leben. – Hat sie dich geküsst?“

Miguels hochgezogene Mundwinkel fielen herunter. Du bist alles andere als ein Girlie, wollte er sagen, doch ihre Frage stoppte sein Vorhaben. Stattdessen, schon fast behutsam:

„Ja. – Nein. – Doch. – Auf die Stirn“, log er und wusste jetzt schon, dass es wahrscheinlich nicht der letzte Kuss von Gabriela bleiben würde. Sobald er wieder raus durfte, würde er sie auf einen Kaffee besuchen und sich irgendwie bei ihr für alles bedanken müssen, ja, auch wollen. Das hatte er schon im Krankenhaus beschlossen und blieb bei der Art Danke zu sagen, bei allen Überlegungen, immer an der Stelle hängen, die ihm auch in seinen Träumen begegnete. Gabriela schien es längst zu wissen und war den Schritt mit ihrem Kuss schon weitergegangen. Sicher wartete sie jetzt nur noch darauf, dass er auf einen Kaffee vorbeikommen würde. Und dann? In seinem Kopf startete eine wackelige Achterbahnfahrt.

Inzwischen hatte Elena ihn ins Schlafzimmer verfrachtet, ihn innerhalb von einer halben Minute bis auf die Unterwäsche ausgezogen – nein, das Unterhemd musste auch noch weg – und ihn, wie eine Mutter ihr krankes Kind, ins Bett befördert. Ein Tätscheln hier, ein Tätscheln da. Sein Hintern bekam allerdings nichts ab. So viel Zärtlichkeit hatte er heute wohl nicht verdient. Dafür kontrollierte sie nochmals medizinisch neutral den Sitz des Verbands und hieß ihn, sich hinzulegen. Mit einem Mal war sie innerhalb von fünf Sekunden nackt. Sie hatte eh nur noch Slip und eines ihrer Sommerkleider an. Vorne geknöpft.

„Aber so leicht gebe ich mich nicht geschlagen“, zischte sie und setzte sich auf seinen Schoß.

~~~

Sein Kopf tat weh. Die Narbe schmerzte. Der Nacken war verspannt. Hätte ihn jemand gefragt, würde er behaupten sein Unterleib jetzt auch. Elena hatte Handtücher zu einer harten Rolle gedreht und untergeschoben, damit die Narbe nicht belastet würde. Seine Haltung und Position waren daher nicht besonders gut geeignet für derlei Liebesspiele. Vor allem nicht für so häufig wiederholte. Medizinisch betrachtet sicher auch nicht der Zeitpunkt. Versuchen Sie ein paar Tage in Ruhe zu verbringen. So eine Wunde ist kein Pappenstiel. Die braucht Zeit. In zwei, drei Wochen können wir dann vielleicht die Fäden ziehen. Als er protestieren wollte – erst? –, meldete sich sein Kopf und er hatte nur ein leise protestierendes Grunzen parat.

Elena schien dies egal zu sein. Ihr vollkommen nass geschwitzter Körper glitschte auf seinem genauso nassen herum, als wollte sie ihre letzte Drohung nun wahr machen wollen. Ich bring dich um, wenn du es mit ihr machst! Denn sie presste ihn mit beiden Händen um den Hals auf diese harte Rolle. Seinen Versuch eines Widerspruchs – So eine Wunde ist kein Pappenstiel. Die braucht Zeit – überhörte sie. Sein Röcheln, weil sie wieder fester zudrückte, jetzt auch.

Nun rang er wieder nach Luft, räusperte sich und fasste sich vorsichtig an den Kopf. Der Verband hatte es überstanden und Miguels Part in diesem Spiel gerettet. Elena richtete sich schnaufend auf. Thronte, ihren Körper auf seiner Brust abgestützt, auf seinem Schoß, rollte mit eingesogenen Lippen auf ihm mit ihrem Becken noch ein wenig vor und zurück und schien, trotz ihres flackenden Blicks, eine imaginäre Peitsche zu schwingen. Ich bring dich um, wenn du es mit ihr machst! Hast du verstanden? Nichts war ihm klarer als das. Aber in den letzten zwei Stunden war er sich auch nicht immer sicher gewesen, Elena gestreichelt, geküsst und geliebt zu haben. Sondern eine unbekannte Domina mit ganz unbekannten Seiten.

Ihm fiel das Foto auf dem Display ihres Smartphones ein: ohne Oberteil an einem Strand, den er nicht kannte. Es war nicht der von diesem einen Abend, das Bild nicht von ihm und sicher auch nicht besonders alt. Ihre Frisur war kaum verändert. Weiter kam er nicht. Sie hatte wohl immer noch nicht genug. Ihr Unterleib rubbelte wieder heftig an seinem. Hatte sie vielleicht eine Zwillingsschwester, die hauptberuflich tatsächlich als Domina arbeitete? Auf jeden Fall ließ er den Plan fallen, Gabriela auf einen Kaffee zu besuchen. – Vorerst.

6. Oktober, 8 Uhr 20

Die nächsten Tage sollte er wenigstens noch zu Hause bleiben. Bis Sonntag. Zumindest. „Okay“, sagte er und dachte: vielleicht. Jetzt saß er vor dem Fernseher, weil er nicht wusste, was er tun sollte, und klickte sich durch die Programme. Bei einer Nachrichtensendung blieb er hängen und sah den Bericht über die Entwicklungen der Inzidenzzahlen, die wieder in die Höhe schossen. Die Inselregierung würde sicher bald mit einer erneut rigorosen Vorgehensweise reagieren. Jetzt, wo die Urlaubssaison langsam zu Ende ging, dachte sie, sie könnte sich solche Überlegungen leisten. Tatsächlich wurde über die Wiedereinführung von Ausgangssperren nachgedacht. Ausgerechnet jetzt, nachdem endlich so etwas wie Normalität erreicht war. Wieder sollten Restaurants und Bars früher zumachen und wieder könnten Ortschaften und Stadtteile abgeriegelt sowie Discos und Sportstudios geschlossen werden.

Die Krankenhäuser, vor allem die Intensivstationen, füllten sich jedenfalls mit Infizierten. Elena hatte ja bereits die eine oder andere Nachtschicht hinter und nun wahrscheinlich gehäuft vor sich. Mein Gott! Ihre Kollegen waren am Rand ihrer Kräfte. Und die auf der Straße interessierte es nicht besonders. Was für ein Thema, seit bald zwei Jahren!? In der Burg sprach man über nichts anderes. Mehr wollte er nicht wissen und klickte weiter. El bosque de las fantasías lief auf 2. Ein Bericht über die Alpen, der ihn nicht interessierte. Auf cuatro eine Wiederholung einer Folge von ¡Toma Salami! Auch auf Highlights irgendwelcher dusseligen Shows hatte er keine Lust. Ebenso wenig auf den Humor von Alfonso Arús in seiner Sendung Previo Aruser@s. Er zappte die ganzen Programme wieder zurück zu den Nachrichten. Jetzt die neuesten Schadensmeldungen, die der Sturm vor zwei Wochen hinterlassen hatte, die aber schon in diesem Moment durch einen Bericht über einen tödlichen Unfall bei Inca abgelöst wurden. Die Bilder dazu erinnerten ihn an den See aus Blut.

Er schnupperte. Irgendjemand im Haus fing an zu kochen. Auf die Uhr schauend schüttelte er den Kopf und versuchte gleichzeitig herauszubekommen, wonach es roch. Heißes Wasser riecht nicht. So viel wusste er. Er glaubte Safran und Paprika zu erkennen und etwas, das ihn an daheim erinnerte, wenn seine Mutter sonntags auch so früh zu kochen begann. Angebratenen Reis. Das kam aber erst am Ende zustande, wenn eine Paella zubereitet wurde. Prompt bekam er ein schlechtes Gewissen. Seit mindestens vierzehn Tagen hatte er sich nicht gemeldet. Und von dem Überfall und der Verletzung wussten sie natürlich auch noch nichts. Er verzog das Gesicht. Wenn er es erzählen würde, machten sie sich unnötig Sorgen.

Wieder zappte er vor. Der nächste Nachrichtenkanal. Warum gab es nur so viele von denen? Jetzt die neuesten Nachrichten aus aller Welt und diese in Stichpunkten abgehakt, darüber hinaus lief die Zeile mit den Eilmeldungen viel zu schnell durch. Wer sollte bei der Geschwindigkeit noch mitkommen? Auch wenn sich die Berichte ständig wiederholten. Kein Wunder, dass die halbe Menschheit im Verlauf der letzten Jahre immer nervöser und angriffslustiger wurde, wenn sie andauernd mit solchen Meldungen konfrontiert wurde und auf dem Sofa oder an den Theken ihre Urteile fällte. In nahezu jeder Bar, jedem Bistro, dröhnte zumindest ein Radio. Selbst bei Gabriela flimmerte oft genug der Fernseher in der Ecke mit Bildern von Flüchtlingen, Demonstrationen, Waldbränden, Vulkanausbrüchen und Überflutungen in aller Welt. Mitten in dem einen Ozean versank wochenlang vor den Augen der Couch-Potatos die kanarische Insel Palma und in einem anderen ein ganzes Inselreich im Ascheregen und wurde Stück für Stück unbewohnbarer. Und im Osten von Europa entwickelte sich ein unanständiges Kräftemessen. Alte Männer glaubten über die Köpfe ihrer Bevölkerung hinweg irgendwelche territorialen Ansprüche stellen zu können. Dämlicher ging es wirklich nicht mehr. Dazu stieg der Meeresspiegel. Als Letztes eine kurze Nachbetrachtung über Spaniens Rolle in Afghanistan, genauso unrühmlich wie die der restlichen westlichen Welt in diesem unsäglichen Fall. Da war es auch kein Trost, dass die letzten Toten der spanischen Soldaten dort im Jahr 2005 zu beklagen waren. Kurz erschien Gabriel Ferrán, der ehemalige Botschafter. Er sah mitgenommen und fertig aus. Das Filmchen musste älter sein. Wohl aus dem letzten Jahr. Im Hintergrund Szenen des Rückzugs und der letzten Flüge aus Kabul.

Was für ein Feuerwerk an Informationen! Er fühlte, wie sich auch bei ihm eine gute Portion Fassungslosigkeit breitmachte und dachte ans Krankenhaus. An das Zimmer, in dem er gelegen hatte. Der Typ im Bett neben ihm war alles andere als gesprächig, sondern geiferte vor sich hin und glotzte höchstens zu ihm rüber, als Gabriela sich so aufgeregt über ihn beugte, und wenn Elena immer wieder nach ihm schaute. Wollte Miguel mit ihm reden, erhielt er nur ein Brummen. Der Mann, um die fünfzig, hatte auch niemanden, der ihn besuchte, und ließ den ganzen Tag nur seinen kleinen Fernseher laufen, die kleinen In-Ear-Kopfhörer tief in seine Ohren gestopft. Dann klickte der höchstens wie er gerade durch die Nachrichtenprogramme, Gott sei Dank ohne Ton. Die rasende Zeile unter den flimmernden Bildern war wichtiger und reichte wohl aus.

Miguel schüttelte wieder den Kopf und klickte weiter. Der Inselsender. Mitten in ein Interview von Felip Palou mit einem Mann in einer gelben Weste hinein. Agent-Noro stand vorne und hinten auf dieser drauf. Schulterzuckend erzählte er über seine tägliche Arbeit in den Stadtvierteln. Kaum vorbei, folgte schon der Bericht über die neuesten Entscheidungen. Natürlich bezüglich Noro. Dieses Virus war auch auf diesem Kanal in jeder zweiten Sendung und die halbe Bevölkerung saß auch auf der Insel auf dem Klo. Lustig war das nicht. So dehydriert konnte sie nicht für Frieden sorgen, die Brände löschen, die Vulkane stopfen oder Deiche bauen. Das Gesicht der Kommentatorin bei der Verkündung entsprechend ernst. Wenn Elena daran schuld war, wie sie immer wieder behauptete, wurde sie auf diese Weise wenigstens berühmt, schoss ihm durch den Kopf. Und vielleicht sogar, wie die Ortschaften, über die diskutiert wurde, zum Risikogebiet ernannt. Wieder grinste er in sich hinein. Kein Wunder, wenn er sich an den gestrigen Abend erinnerte. Schon lief passend dazu die nächste Meldung unten am Rand durch: Anders als beim inselweiten Lockdown im Frühjahr und den Bestimmungen im Sommer wird den Bewohnern der folgenden, vom Virus stark betroffenen Dörfer, Stadtviertel und Kommunen um das Stadtgebiet von Palma ab Mitternacht untersagt, diese zu verlassen. Hiervon ausgenommen sind wieder Schüler und Personen auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkauf oder Arzt. Der Stadtrat war schneller als der Inselrat. Es wurde und wurde nicht besser. Miguel griff sich automatisch an den Hinterkopf, stöhnte voller Selbstmitleid auf und machte den Fernseher genau in dem Moment aus, als sich ein formatfüllender Pinien-Prozessionsspinner über einen Baum hermachte. Auf eine solch geballte Ladung schlechter Nachrichten hatte er keine Lust mehr. Und das restliche Programm ließ zu wünschen übrig. Ein anständiger Action-Film hätte ihm jetzt besser gefallen und ihn abgelenkt.

Dann lehnte er sich zurück, sah auf die Uhr und verdrehte die Augen. Elena war erst vor einer Stunde ins Krankenhaus gefahren und wollte am frühen Nachmittag wieder zurück sein – wenn nichts dazwischenkam. Hatte sie nicht gesagt, dass nun lange Schichten drohen könnten? Die Zeit kroch somit vor sich hin. Er allerdings hatte das Gefühl, hier nun schon seit Stunden herumzuhängen. Eines wusste er jetzt schon, die nächsten Tage würde er hier nicht rumsitzen, Zeitung lesen, in den Fernseher starren und auf das Heilen dieser Welt und seiner Narbe warten. In zwei, drei Wochen können wir die Fäden ziehen. Er prustete gegen die Zimmerdecke. Seinen Gedanken bestätigend, schüttelte er den Kopf. Zu heftig. Prompt tat der weh. Abermals leicht aufstöhnend ließ er sich wieder zurückfallen und spürte etwas Hartes in seinem Rücken. Mit einer Hand zog er den harten Gegenstand hervor und hielt Elenas Handy-Ladegerät zwischen den Fingern. Wann sie das letzte Mal ihres aufgeladen hatte, wusste er nicht. Er legte das Ding auf den kleinen Tisch, verdrängte von einer fahrigen Handbewegung begleitet sofort den aufkommenden Gedanken an das Foto der halb nackten Elena auf dem Display ihres Smartphones und streckte sich auf dem Sofa aus. Er hoffte, der anstehende Termin würde ihr helfen können und wenigstens ihr Problem aus der Welt schaffen. Wieder schnaubte er auf und beschloss, nachher mal im Büro anzurufen, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Anrufen würde ja wohl noch erlaubt sein. Wenn schon kein Action-Film und wahrscheinlich auch keine Elena für einen unterhaltsamen Abend, dann gab es vielleicht wenigstens einen aktuellen Fall, der nicht ohne seine Meinung dazu auskommen konnte.

Nach nicht mal einer Minute setzte er sich schon wieder auf und stierte unzufrieden vor sich hin. Sein Blick fiel dabei auf den Espressokocher auf der Küchentheke. Er rieb sich mit einer Hand über das Kinn. Das ist mal eine vernünftige Alternative, ging ihm beim Betrachten seines alten Freundes durch den Kopf, vielleicht hast du Besseres zu verkünden. Hab’ schon viel zu lang nicht auf dich gehört und Horoskope schon seit Wochen nicht gelesen, dachte er noch und stand etwas schwerfällig auf. Denn plötzlich tat nicht nur der Kopf, sondern der ganze Körper weh. Besonders sein Unterleib. Was hatte Elena mit ihm gestern Nacht nur angestellt? Er versuchte sich zu erinnern, grinste in sich hinein und schaffte es trotzdem irgendwie nicht richtig. Nur, dass sie nicht genug bekommen konnte, und nur ein Teil von ihm ihren Zärtlichkeiten gehorcht hatte.

Er setzte den frisch befüllten Kocher auf eine Herdplatte und machte sie an. Zehn Minuten würde es dauern, bis der Kaffee fertig wäre. Die wollte er nutzen, um sich frisch zu machen. Effizienz ist das halbe Leben, schoss ihm durch den Kopf, und dass er bereits anfing mit sich selbst zu reden. Er zog sich das Shirt vorsichtig aus, blieb prompt am Verband hängen, fluchte, wegen des spitzen Schmerzes und sog die Luft zwischen den Zähnen scharf ein. Aber der Verband hatte gehalten. Anschließend studierte er im Badspiegel sein Gesicht. Sofort verzog er es. Er sah nicht nur verletzt oder tatsächlich wie frisch aus dem Krankenhaus entlassen, sondern genauso fertig wie der Botschafter im Fernsehen aus. So konnte er wirklich nicht unter die Leute. Er beugte sich vor und schlug sich mehrmals kaltes Wasser ins Gesicht. Über den Kopf konnte er es ja nicht laufen lassen. Ohne seinen Anblick nochmals zu kontrollieren, trocknete er sich ab und zog sich vorsichtig an. Dieses Mal kein Shirt, sondern ein Hemd. Bloß nicht wieder an der dusseligen Wunde hängen bleiben!

Als er aus dem Bad kam, duftete das Essen wirklich lecker durch die Wohnungstür und der Kocher fing an zu brodeln und zu glucksen. Wie der von Gabriela, fiel ihm plötzlich auf, er lauschte mit zusammengezogenen Augenbrauen und schob den Kocher dann doch enttäuscht auf eine andere Platte. Auch der wusste also nichts Neues, erst recht nichts Besseres. Er machte den Herd aus, zog sich die dünne Jacke über und die Schuhe an. Kurz schaute er sich um, dann in den Hausflur, schnupperte und überlegte, ob er die Quelle für den Duft nach dem sicher leckeren Essen herausfinden sollte. So zog er die Wohnungstür hinter sich zu, ging jedoch die Treppen zum Ausgang hinunter.

6. Oktober, 21 Uhr 05

„Am 11. nachmittags habe ich dort den ersten Termin. Nachmittags um halb drei. An diesem soll ich allein kommen. Dann …“

Elena brach ab, lächelte etwas aufgesetzt wirkend und reichte ihm wie beiläufig ein Blatt rüber. Sie war zwar heute tatsächlich schon am frühen Nachmittag nach Hause gekommen, rückte aber erst jetzt damit heraus. Den unerwartet gemeinsamen Rest des Tages hatten sie bislang nahezu still, mit ein paar Einkäufen, einem anschließenden Kaffee im Stehen und nur mit unbedeutenden Gesprächen und dem üblichen aktuellen Zustandsbericht aus dem Krankenhaus verbracht. Drei von fünf Patienten mit diesen Symptomen liegen schon wieder in einem künstlichen Koma. Und wir müssen auch schon wieder davon ausgehen, dass jeder Zweite von denen sterben wird. – Ich sag dir, wenn noch ’ne Welle kommt, macht die uns platt. Wahrscheinlich werd’ ich schon in den nächsten Tagen eine 24-Stunden-Schicht nach der anderen schieben. Sie schaufelte sich ihre langen Haare nach hinten und schien mit der letzten Feststellung ihr Atmen eingestellt zu haben. Er sah sie mit zusammengekniffenen Lippen an und meinte lediglich:

„Scheiße! – Heute Morgen waren die Nachrichten im Fernsehen voll davon.“

Als sei es eine Antwort, starrte Elena in den Himmel, jetzt flatterten ihre Haare im Wind. Miguel sah ihnen mit einem leisen Schnauben dabei zu. Zu Hause hatte sie dann nach einem weiteren Kaffee ihr langes Lieblings-T-Shirt angezogen und sich mit nichts Weiterem als diesem und einem Slip neben ihm ausgestreckt, ihren Kopf auf seine Schenkel gelegt und war nach wenigen Augenblicken eingeschlafen.

Die einzige Zärtlichkeit ein Kuss und davor die Kontrolle, ob sein Verband richtig saß. Zwar beides mit einem liebevollen Blick, aber nicht mit ihrem sonst vorhandenen Überschwang an weiteren Zärtlichkeiten. Miguel wunderte sich deswegen und betrachtete ihren tatsächlich eher mädchenhaften Körper, der durch den Stoff des Shirts durchschimmerte. Sah zu, wie sich ihre Brust gleichmäßig langsam hob und senkte und ihre rechte Hand bei jedem Einatmen Stück für Stück von ihrem Bauch herunterrutschte und plötzlich neben dem Sofa herunterhing. Ihren Schlaf störte es nicht, sie schlief ungerührt weiter.

Nun, inzwischen Abend, nahm er den Zettel entgegen, ohne sie aus den Augen zu lassen. An diesem soll ich allein kommen. Ihr Gesicht verriet, sie litt. Irgendwie. War es diese Anordnung, allein zu kommen? Das Unvorhersehbare, was damit in Verbindung stand? War es die Arbeit im Krankenhaus? Oder ihre ständigen Selbstvorwürfe, an diesem … Debakel schuld zu sein? Nein, er glaubte eher, dass sie Angst vor diesem Termin hatte. War ja wohl auch das Logischste. Alles würde umgekrempelt und hervorgeholt werden. Seine Verletzung schien ihm dafür jedenfalls nicht Grund genug zu sein. Und das mit Gabriela beim besten Willen auch nicht. Oder vielleicht doch die Situation auf der Station, die ein weiteres Mal aus dem Ruder lief. Was er in den Nachrichten gesehen hatte, reichte. Eine anständige Notversorgung war bald nicht mehr möglich, wenn die Entwicklung so weiterging. Er erinnerte sich an die Bilder schwer kranken Menschen auf dem Festland, die aufgrund des Platzmangels in Krankenhausgängen auf dem Fußboden ausharrten. Vielleicht vermied man wegen des Tourismus solche Bilder von der Insel. Angeblich war es hier (noch) nicht so weit.

Dazu kam das, was ihnen in der Burg immer mehr Sorge bereitete. Der größere, bislang stille Teil der Bevölkerung hatte zunehmend keine Lust mehr. Sie hatten Dinge zu tun und sich an Verordnungen zu halten, die für andere nicht galten. Entweder es wurde härter durchgegriffen oder man machte auch, was man wollte. Die Jugendlichen waren die Ersten und ließen ihren Frust auf nächtlichen Partys heraus und legten sich dabei mit den Ordnungskräften an. Die Verwahrzellen stießen wie die Intensivstationen an ihre Grenzen.

Erst jetzt schaute er auf das Papier und überflog die Zeilen. Es war eine Liste mit Namen von Therapeuten. Er erkannte es an den Eintragungen hinter den Namen. Cristian Canto Fuster, terapeuta, ansiedad, trastornos psicosomáticos. Psychosomatische Störungen. Erst runzelte er die Stirn, psychosomatische Störungen, dann schaute er sie forschend an. Wenn sein Kopf wiederhergestellt war, spätestens nach ihrem Termin, musste er sich mehr kümmern. Er hatte erwartet, etwas wie Beratung oder Hilfe zu lesen, und nicht schon einen halben Befund. Sie streckte eine Hand über den Tisch und tippte mit einem Finger wenig gezielt auf einen anderen Namen. Hinter diesem stand nur Psychotherapeut. Ihre Hand zitterte wie zuvor ihre Stimme. Okay, Psychotherapeut, so nennt man die Leute nun mal, kam ihm in den Sinn. Irgendwie beruhigte ihn das.

„Und den kennst du und kannst ihn nicht leiden“, stellte er deshalb mit einem sanften Lächeln fest, ohne auf die andere Eintragung einzugehen. Sie zögerte mit ihrer Antwort, schien diese zu überlegen, bevor sie ohne Energie meinte:

„Ja. – Ich kann ihn tatsächlich nicht besonders gut leiden. Er hat in meinen Augen eine seltsame Einstellung gegenüber Frauen.“

„Dann wähle doch einen anderen“, empfahl Miguel und wedelte mit dem Blatt.

„Er wurde mir aber … im Krankenhaus empfohlen“, log Elena, ohne dass Miguel es wissen konnte, und erhielt deswegen ein bedächtiges Nicken von ihm als Antwort.

„Demnach kennt Teresa ihn auch. Nimm den ersten Termin wahr und dann siehst du weiter. Auf dem Zettel stehen ja noch genug andere, die den Job sicher genauso gut machen.“

Fast wäre er doch auf die andere Eintragung eingegangen. Bisher glaubte er an einen Burn-out bei ihr und las stattdessen Angstzustände und psychosomatische Störungen. Doch bei den anderen Namen stand meist lediglich Psychotherapeut und dahinter Dinge wie Konfliktbewältigung, berufliche Identitätskrisen und Beziehungsstörungen. Das beruhigte doch, oder nicht? Obwohl, Beziehungsstörungen? Er seufzte und überlegte, ob er darauf eingehen sollte. Entschied sich aber, nur auf das Wort zu zeigen. Sie schüttelte den Kopf, fuhr sich durch die Haare und nickte gleichzeitig.

„Quatsch! Mit uns hat das nichts zu tun.“

Sie zupfte ihm müde lächelnd den Zettel wieder aus seinen Fingern. Statt mit irgendeinem Satz weiter darauf einzugehen, wollte sie wissen:

„Was hast du denn heute so gemacht? Du bist gar nicht im Räuberlook.“

Er räusperte sich und hoffte, höchstens unmerklich gezuckt zu haben. Daran hatte er nicht mehr gedacht und schaute an sich herunter. Saubere Jeans, genauso sauberes Hemd und der weinrote Pullover, den er höchstens anzog, wenn sie an den letzten etwas kühleren Abenden essen gegangen waren. Hoffentlich hatte sie seine Reaktion nicht bemerkt.

„Ich kann hier nicht den ganzen Tag rumsitzen und geradeaus gucken. Im Fernsehen gibt es nur Horrorszenarien. Bin kurz ins Büro und hab mich auf den neuesten Stand bringen lassen. Bei den Kollegen ist wegen der drohenden neuen Verordnungen genug die Hölle los. In einigen Abteilungen mussten die Einsatzpläne geändert werden. – Und natürlich hat es auch welche von uns erwischt.“

Wieder nickte sie und er hatte den Eindruck, sie ahnte, dass seine Aussage dieses Mal nicht die ganze Wahrheit war. Sicher würde sie gleich fragen, ob er Gabriela besucht hätte und sich für ihren Einsatz bedankt hatte. Doch meinte sie nur:

„Und?“

Er schnaufte entspannt durch.

„Ansonsten nichts Besonderes. Zumindest im Moment“, er lachte auf und ergänzte: „Keine Leichen oder andere Schwerverbrechen. Sie kommen gut alleine zurecht und freuen sich, wenn ich wieder zurück bin.“

Wieder eine nicht ganz ehrliche Antwort, denn nachdem er die Burg, die Jefatura in der Simó Ballester, nach einer Stunde verlassen hatte, stand er für ein paar Minuten am anderen Ende der Brücke gegenüber dem Bianco, stützte sich auf dem Geländer ab und beobachtete, aus dieser Entfernung, so gut es ging, Gabriela bei ihrer Arbeit. Die Erinnerung an ihren Kuss, ihren Blick danach und das leise Schade ließ ihn wieder mit sich selbst reden. Du musst mit ihr reden! Sie macht sich falsche Hoffnungen. Er schnaubte und seufzte und kratzte sich an einer Stelle vor seinem Verband am Kopf. Fast wäre er zu ihr hinübergegangen, doch dann ging er zurück zu seinem Wagen.

6. Oktober, 22 Uhr 35

„Dieses Foto auf deinem Handy …“

Elena drehte ihm den Kopf zu und sah ihn mit schmal gewordenen Augen forschend und etwas ängstlich an. Sie hatte sich wieder, immer noch nur in T-Shirt und Slip, auf das Sofa mit dem Kopf auf seinen Schenkel gelegt und dabei irgendwelche Fotos in ihrem Handy angeschaut, die sie nahezu hektisch durchscrollte, weil sie mit ihren Gedanken ganz woanders war. Seine Frage kam zum unpassendsten Zeitpunkt. Ihr war klar, die Fotos, die sie gerade anschaute, meinte er nicht. Wie kam er denn jetzt darauf?

„Du … meinst, wenn ich es … anmache?“

Miguel nickte langsam. Sein Blick glitt über den Stoff des überlangen T-Shirts, das ausnahmsweise ganz geziemt ihren Körper verhüllte, bis zu ihren nackten Beinen, die ihm unvermutet blass vorkamen, und wieder zurück zu ihrem Handy in der Hand. Auf dem kleinen Display war gerade Teresas lachendes Gesicht zu sehen. Also das ihrer Kollegin. Sie hatte irgendeine Ampulle in der Hand. Elenas nun etwas verunsicherten Blick von unten hatte er registriert. Nun rechnete er mit allem.

„Ich … gefalle mir darauf“, stellte sie tonlos fest, schob das Bild zur Seite. Nun schnitt Teresa ein Gesicht und zeigte wohl Elena einen Vogel. Die wurde nun blass, spürte gleichzeitig einen komischen Sog, eine Art Welle auf sich zukommen und scrollte mit etwas zittrigen Fingern weiter: Blick aus einem der Fenster des Krankenhauses in Richtung des Flughafens. Sie löschte es mit einer fahrigen Bewegung, ließ das Handy sinken und reagierte ohne große Überlegung mit einer Flucht nach vorne:

„Hat damals Ruiz Castedo aufgenommen.“ Sie biss sich kurz auf die Unterlippe, ihre Grübchen waren verschwunden. „Wir haben uns gerade eine Woche gekannt, können auch zehn Tage gewesen sein. Ist schon eine ganze Weile her. – Keine Ahnung, warum ich es nicht längst … ausgetauscht habe. Kannst du mir glauben. Es ist nicht wegen ihm. Ehrlich! Es ist nur eine Erinnerung. Ich sagte ja, ich gefalle mir auf dem Bild. Vielleicht hab ich’s deshalb nicht gelöscht.“

Sie setzte sich etwas mühevoll auf, schlug die Beine unter und beugte sich zu ihm. Strich sich dabei wieder die Haare aus dem Gesicht, glitt anschließend mit einer Hand unter sein Shirt und streichelte ihm, als müsste sie sich dazu zwingen, eher gedankenlos als zärtlich über den Bauch und meinte gleichzeitig:

„Wir haben von uns ja noch nie eines gemacht. Hier, schau nach. Kannst es kontrollieren.“ Sie hielt ihm das Handy hin und fügte mit einem bemühten Lächeln hinzu: „Lass uns eins machen und ich wechsle es aus. – Magst du, dass ich mich dafür ausziehe?“

Schon setzte sie sich auf und zog sich dabei ihren Slip aus. Doch Sanchez Olivero hielt ihre Hände fest, schüttelte kaum merklich den Kopf und schaute sie lange an. Ihr Blick hatte nichts mehr mit der Domina vom Vortag zu tun. Der neutrale Tonfall und ihr emotionsloses Tun passten ebenso wenig. Ausgerechnet der – Ruiz Castedo. Was hatte sie mit ihm noch zu schaffen, dass sie dieses Bild als Begrüßung für sich selbst trotz aller Beteuerungen noch auf ihrem Handy hatte? Und warum war ihm das nie aufgefallen? Sie hatte es oft genug in seinem Beisein angeschaltet. Eifersucht stieg in ihm hoch. Wie oft hast du es schon mit ihm gemacht? Oder mit jedem, den du kennengelernt hast?, schoss ihm durch den Kopf, der plötzlich wieder anfing zu schmerzen. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, meilenweit von ihr entfernt zu sein. Elena war ihm ein Rätsel geworden. Es würde schwer werden, ihr helfen zu können. Zumal er wirklich keine Ahnung hatte, was er dafür tun könnte. Seine psychologischen Fähigkeiten reichten, Verbrecher zu überführen. Das war’s.

In ihren Augen ein seltsam verängstigter Blick. Ihre Wangen eingefallen. Sofort ärgerte er sich. Auch das hatte er bisher nicht bemerkt. Er hatte sich einfach zu wenig gekümmert, ihr Zustand war ja nicht erst in den letzten Tagen verändert, sondern schon seit der Aktion am Flughafen. Zudem war sie noch schmaler geworden und in letzter Zeit wirkte sie mal fahrig, mal himmelhoch jauchzend und mal zu Tode betrübt. Natürlich taten dieses Virus und seine Folgen für die Arbeit im Krankenhaus sicher ihr Übriges. Sie sammelte wie alle anderen dort Überstunden und Vierundzwanzigstundenschichten wie Rabattmärkchen.

Und hatten sie noch nie ein Bild voneinander gemacht? Er hätte jetzt glatt behauptet, oben am Santuari oder an diesem einen Strand. Er überlegte und spürte den Inspector in sich wach werden, der in letzter Zeit ihr gegenüber nicht achtsam genug gewesen war, und nicht den Freund, der er sein müsste. Er räusperte sich und damit die Zeit nicht zu lange still und dadurch auffallend verstrich, meinte er ernst und viel zu neutral:

„Das lässt sich doch ändern.“

Dann griff er nach seinem eigenen Handy und kontrollierte dort die abgespeicherten Bilder, bevor er die Kamera einschaltete und ihr maskenhaftes Gesicht aufnahm. Es war tatsächlich das einzige Bild von ihr. Er sah es an, zeigte es ihr kurz und bevor sie das Gesicht verziehen und ihre Bemerkung – Sieht ja echt voll scheiße aus