Zooming - Andreas Heßelmann - E-Book

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Andreas Heßelmann

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Beschreibung

"Fast dreißig Jahre hatte sie ihr Land, ihre Heimat gemieden, war sie in diese Himmelsrichtung für einen Urlaub nicht weiter vorgedrungen als bis zu jenem Strand, an dem Leonardo DiCaprio hinaus aufs Meer geblickt und auf den Sonnenuntergang gewartet hatte. Dieser Strand damals hatte allerdings so viel Entferntes, so viel Fremdes, zu viel für die Touristen Zurechtmanipuliertes, dass er es seinerzeit nicht vermochte, eine verborgene Erinnerung aufzuwecken, mit der sie eine Annäherung hätte wagen können." Jetzt, über dreißig Jahren nach ihrer Flucht voller Schicksalsschläge, zoomt sich die Protagonistin zusammen mit ihrem Freund während einer Urlaubsreise in Vietnam von Norden nach Süden an ihren Geburtsort. Werden die lange verdrängte Sprache und Kindheitserinnerungen zurückkehren?

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Flüsse und Meere kann man vermessen, ein menschliches Herz nicht.(vietnamesisches Sprichwort)

Inhaltsverzeichnis

một

hai

ba

bốn

Zooming

đánh

một

Nun war sie doch eingeschlafen. Erst als die Maschine sich im böigen Wind der Erde näherte und eher einem stark wankenden Bus auf einem ausgewaschenen Pfad glich als einem voll besetzten und ausbalancierten, landenden Flugzeug, wachte sie auf. Die letzten Fetzen eines Traumes, unscharfe, gesichtslose Gestalten, die darin nahezu bewegungslos hin und her schwebten, zerstoben wie die nebeligen Wattefetzen draußen vor dem kleinen ovalen Fenster. Geister aus einer unbekannten Zeit, aus einem oftmals wiederkehrenden Traum, der dann immer an derselben Stelle mit einem lautlosen, sonnengrellen Blitz endete und sie auch in den dunkelsten Nächten die Augen aufreißen und nicht wieder in den Schlaf finden ließ. Manchmal spürte sie schon mitten im Schlummer die nahenden Erscheinungen und versuchte sie in diesem unzugänglichen Raum voller Kopfgeburten und Fata Morganas festzuhalten und zu schütteln, um sie zur Rede zu stellen, damit sie ihr endlich die Bilder erklärten und das, was sie von ihr – ausgerechnet in den Nächten – wollten. Sie griff nach ihnen, sah dabei ihre eigenen Hände aber durch sie hindurchschlüpfen, ohne Halt, ohne Erfolg, ohne Antwort, weil spätestens dann häufig genug wieder ein Blitz den Spuk beendete und sie mit zittrigen Gliedern zurückließ. Der Schlaf war jedenfalls dahin. Zumindest für Stunden. Einem Kopfschmerz gleich machte sich eine widerliche Enge breit.

Oft flüchtete sie in solchen Momenten dann in ihre Toilette, in diesen kleinen Raum, eingerichtet wie eine heimelige Höhle, um Ruhe zu finden. Schloss sich in dieser ein und alles andere aus, wie um etwas zu beenden, und lauschte auf die Stimmen im Kopf, auf das Rauschen des Blutes, auf die Stille vor der Tür. Meist las sie dann ein Buch. Ablenkung pur, die manchmal funktionierte. Halb nackt auf der bunten Brille sitzend. Häufig diese ganzen wachen Stunden lang. Vor allem, wenn sie sich gänzlich allein im Hause wusste.

Jetzt aber war es kein Blitz, sondern nur ein Sonnenstrahl, der kurz vor Tagesende für einen kurzen Moment einen Weg durch die Wolken und das Glas auf den Sitz vor ihr gefunden hatte. Sie schaute aus dem kleinen und etwas verkratzten Fenster, in dem sich das Licht tausendfach brach. Weit entfernt unter sich erkannte sie durchhuschende Nebelfahnen und Wolkenfetzen, eine fransige Linie, die das graue und matt glänzende Meer mit vielen Kurven und Zacken durchzog. Es gab keine Konturen, kaum eine Farbe, nichts Besonderes, kaum etwas, das in einem der Reiseführer abgebildet war. Der Küstenstreifen dort unten war lediglich ein Küstenstreifen. Nichts weiter. Hier wie an jedem anderen Meer. Eine Linie, die nichts anderes trennte als zwei Elemente. Land und Meer, Erde und Wasser, festen Boden und eine schwankende, dumpfe Erinnerung, die seit jeher eingewickelt war in einen Alltag fernab von hier – und in den oft wiederkehrenden aufwühlenden Stunden der Nacht einem fast greifbaren Marterl glich. In einer Sprache gesprochen, die das Unterbewusstsein verdrängen, den Kopf vielleicht sogar hatte verlernen lassen. Das mögliche Wiedererkennen war von ähnlich zähen Dunstschwaden verhüllt, wie die Sicht durch diese Wolkenbänder vor dem Fenster, die es in diesem Moment noch zu durchbrechen galt. Womöglich wäre ihr ansonsten aus größerer Nähe oder mit weniger Müdigkeit etwas bekannt, etwas anders genug gewesen, um in ihr ein altes, heimatliches Gefühl emporkommen zu lassen, das sie sich in den Wochen zuvor als tröstende Einstimmung gewünscht hatte.

Fast dreißig Jahre hatte sie ihr Land, ihre Heimat gemieden, war sie in diese Himmelsrichtung für einen Urlaub nicht weiter vorgedrungen als bis zu jenem Strand, an dem Leonardo DiCaprio hinaus aufs Meer geblickt und auf den Sonnenuntergang gewartet hatte. Dieser Strand damals hatte allerdings so viel Entferntes, so viel Fremdes, zu viel für die Touristen Zurechtmanipuliertes, dass er es seinerzeit nicht vermochte, eine verborgene Erinnerung aufzuwecken, mit der sie eine Annäherung hätte wagen können. Dieses Land damals war einfach nicht geeignet für eine erste Sehnsucht, die sich ergeben hatte, als sie von ihrem Onkel den Brief erhalten hatte. Nguyệt thân mến, nhìn những gì tôi tìm thấy … Liebe Nguyệt, schau, was ich gefunden habe … Und im Umschlag lag ein altes Schwarz-Weiß-Foto, auf dem eine junge Frau mit dunklen Haaren, weißer Bluse und schwarzer Hose, somit fast westlich anmutend gekleidet, vorsichtig lächelte. Mẹ của con … Deine Mutter …

Ein erstes echtes, das erste echte Bild aus jener Zeit, das am Ende diese Reise provoziert, das eine Tür aufgestoßen hatte, von der sie noch keine Vorstellung besaß, in welche eigentlich altbekannten Räume voller Erinnerungen und längst vergessener Begebenheiten sie führen könnte.

Die Maschine sackte unvermittelt ein wenig ab und hinter ihr schlug etwas mit einem dumpfen Schlag im Gang auf dem Boden auf. Sie schrak zusammen. Ein hohler, kaum schallender Knall, der laut genug war, um an einem solchen Ort befremdlich und daher unangenehm zu sein. Eine volle Wasserflasche, die aus geringer Höhe auf einen weichen Untergrund fiel? Ein Buch? Ein übergeschlagenes Bein, das aus einer gemütlichen Haltung vom Knie abgerutscht war? Eine gespreizte Hand, die auf ein Polster klopfte, oder ein Schuss, der dunkel und gedämpft durch eine Straße schallte?

„Alles in Ordnung?“

Peter hatte seine Hand auf ihren Oberschenkel gelegt und schaute sie von der Seite durch schmale Augen besorgt und prüfend an. In den letzten Sekunden war ihr Blick nicht mehr auf die Landschaft unter dem Flugzeug gerichtet, sondern fixierte einen Knoten, der ein verrutschtes Nackentuch mit dem Sitz vor ihr verband. Nahezu hypnotisierend. Als ginge es darum, ihn zu lösen, wie einen Gordischen Knoten. Zunächst, weil sie an ihren Onkel dachte. An das Foto und daran, alle zwei, drei Wochen zu ihm fahren zu müssen, um zusammen mit ihm Einkäufe zu erledigen, weil er trotz der vielen Jahre in Deutschland immer noch nicht genug Deutsch konnte, um es selbst zu tun. Von irgendwelchen Dingen aus der Vergangenheit wurde dabei nie gesprochen. Die Sprache, ein zerhacktes Sammelsurium aus Englisch, Deutsch und doch hartnäckig verwendetem Vietnamesisch und wilden Handzeichen ließ tiefere Gespräche erst gar nicht zustande kommen. Sollte es vielleicht auch nicht. Jedwede Erklärung für ein „Weißt du, damals“ war jedenfalls dadurch ausgeschlossen. Und Bilder wie dieses Foto, die sie zwangen, sich mit genau diesem Damals auseinanderzusetzen, hatte er ihr bis zu diesem Brief nie gezeigt. Er beschwerte sich höchstens in diesem Kauderwelsch über sein Dasein, darin weder von seinen Kindern noch seiner Frau korrigiert – wie auch? Seine Kinder waren der Berichte über damals und der ständigen Rückkehrfantasien müde. Lién, seine Frau und ihre Tante, lebte in der Wohnung zurückgezogen wie in einer Höhle und die zwei Kinder hatten deutsche Freunde genug und flohen bei jeder Gelegenheit aus dem Haus. Nguyệt fragte sich jedes Mal, was ihren Onkel und die Tante in Deutschland hielt. Ein thing ist for sure, ich will graben in Vietnam, not tolerate contradiction. Eines ist sicher, ich werde mich in Vietnam begraben lassen, sagte er dann nur und: Ich dulde keinen Widerspruch.

Jetzt war es das Geräusch, der Knall, der Splitter einer Erinnerung, der sie zusammenzucken ließ. Ihr Blick war ernst und die Augenbrauen berührten sich fast unter der zusammengezogenen Stirn. Sie sah zu Peter und nickte ihm mit geschlossenen und müd wirkenden Augen zu.

„Du schaust gar nicht mehr hinaus!? Guck mal – da unten!“

Seine Hand löste sich von ihrem Bein und deutete auf mehrere, winzige, dicht beieinanderliegende Punkte auf dem breiten Fluss bis kurz vor der Mündung ins Meer.

„Dschunken“, stellte sie tonlos fest, schüttelte unmerklich den Kopf und versuchte zu lächeln.

Mit einem Mal riss die Wolkendecke auf und ein breiter Kegel eines Sonnenstrahls beleuchtete so plötzlich und scharf wie ein Scheinwerfer ein großes Stück Landschaft unter ihr. Als sei ein Farbkasten ausgelaufen, war das vorher graue Draußen in fette Farben getränkt. Alles schien frisch gewaschen zu sein und wirkte im ersten Moment eigentümlich künstlich. Vor allem die unzähligen Grüns, das Spektrum und Farbenspiel der Schale einer fast reifen Mango, hatten eine Intensität und Schattierung, die Nguyệt nicht kannte, zumindest nicht aus ihrer jetzigen Heimat. Genauso wie die verschieden roten Dächer der Pagoden und Häuser, die dazwischen gesprenkelt waren. Wenn Dreidimensionalität eine Steigerung erfahren konnte, dann auf diesem Weg.

Mit der gleichen Geschwindigkeit wie das Flugzeug näherte sich der Strahl Hanoi und erfasste schon die Ränder der Stadt, beleuchtete das stärker werdende chaotische Meer aus Gebäuden, Schuppen, Tempeln, Hütten, Seen, Wasserwegen und Straßen. Dann war er verschwunden und das Grau hatte alles wieder eintönig gemacht. Keine Minute später berührten die Räder die Landepiste.

Erst jetzt schaute sie zuerst in den Gang, sah den Schatten einer Wasserflasche nach vorne rollen und dann mit zusammengepressten Lippen in Peters Gesicht. Der Knall war also nur eine Plastikflasche. Zufall, dass er zusammen mit ihren Gedanken an den Onkel geschah. Sie lächelte Peter an, ohne seine Hand zu berühren, beugte sich wieder ein wenig vor, um aus dem Fenster zu schauen.

Das Meer der unter ihr vorbeirasenden Stadt erzeugte für einige Augenblicke eine ungeduldige Woge, die die Passagiere und damit das Innere der Maschine erfasste. Die Stille wurde durch Gähnen, Recken und ein unverständliches Stimmenwirrwarr zerstört. Ein turbulentes Durcheinander – und letztendlich grauslicher Lärm. Nguyệt fühlte sich, vielleicht auch durch die Geschichte mit dem Knall, die sie mit diesem in dieser Sekunde in Verbindung brachte, nahezu tyrannisiert, unter Druck gesetzt. Um sich abzulenken, kramte sie dennoch nervös in ihrer Tasche, suchte etwas und fand nichts. Was auch? Plötzlich ging alles zu schnell. Zudem fühlte sie sich überrumpelt. Nun sollte sie also schon angekommen sein? Seit Wochen hatte