Keine Ausrede - Andreas Heßelmann - E-Book

Keine Ausrede E-Book

Andreas Heßelmann

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Beschreibung

Der Alltag für viele Mallorquiner wird durch die Auswirkungen des Norovirus immer prekärer. Die junge Beziehung von Inspector Sanchez Olivero mit Elena scheint am Flughafen von Palma bereits zu Ende zu gehen - Elena wird von alten Dämonen verfolgt, er sucht händeringend nach einer Lösung. Auch Inés, seine Ex-Partnerin, fängt wieder bei null an: neuer Job, neue Kollegen und ungewohntes Familienleben. Der Fund von mehreren Fässern mit einer seltsamen, stinkenden Fleischpaste im Westen von Mallorca bringt alles durcheinander. Was steckt dahinter? Inspector Sanchez Olivero muss wie so oft mehrere Probleme gleichzeitig lösen und Ausreden helfen in keinem der Fälle weiter... Band 6 der derzeit größten deutschsprachigen Krimireihe, die auf Mallorca spielt.

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Cada oveja con su pareja.

Gleich und Gleich gesellt sich gern.

Inhaltsverzeichnis

Prolog, 28. September, 19 Uhr 25

28. September, 19 Uhr 45

28. September, 20 Uhr 05

29. September, 0 Uhr 20

29. September, 4 Uhr 45

29. September, 6 Uhr 35

30. September, 3 Uhr 40

30. September, 8 Uhr 20

30. September, 8 Uhr 45

30. September, 9 Uhr 10

30. September, 12 Uhr 30

30. September, 13 Uhr 50

30. September, 14 Uhr 20

30. September, 15 Uhr 50

30. September, 16 Uhr 05

30. September, 17 Uhr 35

30. September, 17 Uhr 50

30. September, 18 Uhr 05

30. September, 18 Uhr 15

30. September, 19 Uhr 25

30. September, 22 Uhr 55

30. September, 23 Uhr 10

1. Oktober, 0 Uhr 20

1. Oktober, 6 Uhr 35

1. Oktober, 9 Uhr 00

1. Oktober, 10 Uhr 45

1. Oktober, 12 Uhr 20

1. Oktober, 14 Uhr 50

1. Oktober, 15 Uhr 05

1. Oktober, 16 Uhr 35

1. Oktober, 18 Uhr 55

1. Oktober, 19 Uhr 10

1. Oktober, 20 Uhr 50

1. Oktober, 20 Uhr 55

1. Oktober, 22 Uhr 40

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Prolog, 28. September, 19 Uhr 25

Erst als sie durch die Tür gegangen war, stand er auf. Schaute dabei durch die halbrunde Scheibe des Wartebereichs auf das Rollfeld und von dort nach rechts auf das Seitenleitwerk der Maschine mit dem blau-roten Bogen der Airline. Langsam nahm er die Sonnenbrille ab und klappte sie zusammen, dann zupfte er die Mütze vom Kopf, rollte sie zusammen und schob beides in die Innentasche seiner Jacke. Anschließend ging er zu dem kleinen Schalter vor dem Gate. Bevor er die Frau hinter der Theke erreichte, zog er seine Dienstmarke raus. Bei ihr stehend wechselte er ein paar Worte mit ihr. Sie sah ihn verblüfft an, schien sich zu besinnen und wies zur Tür. Miguel bedankte sich mit einem Lächeln und ging an ihr vorbei. Elena war noch auf der Rampe auf dem Weg nach unten. Sie überholend blieb er vor ihr stehen. Wortlos versuchte sie an ihm vorbeizugehen. Doch er breitete die Arme aus, nahm ihr den Koffer aus den Händen, stellte ihn hinter sich und nahm dann auch ihre riesige Sonnenbrille ab. Das Gesicht war tränenüberströmt und ihr Körper begann zu zittern.

„Du kannst nicht immer wegrennen. Damit lässt du nichts hinter dir. Und ankommen tust du nirgendwo. – Von allem, was du behauptest, wird nichts auf dich zurückfallen. Die Sanz hat dich nicht erwähnt und nicht beschuldigt. Niemand hat es getan oder wird es je tun. – Gib mir deine Bordkarte. – Wir fahren jetzt nach Hause. – Verdammt noch mal, ich brauche dich!“

Inzwischen war das Zittern ein Beben geworden und er hielt sie fest. Als würde sie versinken wollen, glitt sie in seinen Händen nach unten und hockte vor ihm auf dem Boden. Nichts anderes als ein Häufchen Elend in einem gelben, sommerlichen Kleid mit schwarzen Punkten.

Miguel setzte sich neben sie und sah entschuldigend die Leute an, die an ihnen vorbeimussten und sich dabei absichtlich umständlich benahmen, um möglichst viel mitzubekommen. Vielleicht dachten sie an ein Drama in der Familie oder Ehe. Argwöhnisch beobachteten sie das Geschehen. Der Typ war sicher ihr Mann und dabei, ihr eine Szene zu machen. Ein paar von ihnen verfolgte er mit vorwurfsvollem Blick. Dabei fiel dieser auf ihren Koffer. Die Bordkarte klemmte unter dem Gurt, er zupfte sie raus und steckte sie in seine Hemdtasche.

Nachdem ein, zwei Minuten niemand mehr an ihnen vorbeilief, stand er auf und griff unter ihre Arme, um ihr aufzuhelfen. Umständlich wie ein Kind, das dafür viel zu müde war, kam sie wieder hoch. Ihre weinenden Augen geschlossen. Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und küsste sie, dann nahm er sie in den Arm und presste sie an sich. Auch ihm rann eine Träne über die Wange. Er hakte sie unter, schob sie und den Koffer wieder die Rampe hoch. Sie trippelte neben ihm, als hätte sie die falschen High Heels an oder sei tatsächlich nur ein kleines unwilliges Kind. Oben an der Tür gab er der Dame vom Bodenpersonal die Bordkarte und bat:

„Bitte stornieren Sie das Boarding von ihr. Weiteres Gepäck gibt es nicht.“

Zwanzig wortlose Minuten später stellte er ihren kleinen Trolley in den Kofferraum und sie hockte sich fast unwillig in den Wagen. Kramte dann in ihrer Tasche herum, zog Taschentücher heraus und putzte sich geräuschvoll die Nase. Anschließend zerknüllte sie jedes Papiertaschentuch zwischen ihren Fingern und faltete sie wieder auseinander, um sie gleich darauf wieder zusammenzufalten und in ihrer Faust nacheinander zusammenzupressen. Ihre Augen verfolgten ihn durch die Schlieren, sahen ihn dennoch nicht an.

Auch sie hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinen Ton gesagt. Das gelbe Kleid mit den schwarzen Punkten wollte nicht zu dem Bild passen, das sie so zusammengesunken auf ihrem Sitz bot. Erst als Miguel sich neben sie setzte, holte sie tief Luft. Er drehte sich zu ihr, doch sie hielt die Luft an, um sie dann genauso geräuschvoll wie beim Naseputzen zwischen zusammengepressten Lippen wieder rauszulassen. Die Taschentücher fielen nun in die Tasche und sie kämmte sich mit den Fingern durch die Haare. Dann klappte sie die Sonnenblende herunter und betrachtete ihr Gesicht im kleinen Spiegel. Ihr Kopf ging hin und her. Plötzlich kam ein:

„¡Puta mierda! – Ich seh’ ja total scheiße aus.“

Miguel konnte nicht anders und musste lachen. Beugte sich zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

„Quatsch!“, meinte er, „so schön wie immer!“

„Mich hat noch nie jemand von einem Flughafen abgeholt“, grummelte sie leise und zog dabei unfein die Nase hoch, „überhaupt, mich hat noch nie jemand abgeholt, um mich … nach Hause zu bringen. Zu mir hat noch nie jemand gesagt: Wir fahren jetzt nach Hause. – Und gebraucht hat mich auch noch keiner.“

Elena sah zur Seite hinaus, aber der Vorplatz bot nichts, was von dem Chaos im Kopf ablenken konnte. Nur der Typ von der Security glotzte die ganze Zeit herüber und wunderte sich wohl über die Aktion. Elena schüttelte den Kopf über den dämlichen Blick des Kerls.

„Man hat mich meist befummelt und beschlafen. Okay, ich habe es zu oft auch zugelassen und provoziert. Und dann kommst du und holst mich – nach Hause. Hast du gesehen, wie ich lebe? Eine leere Wohnung! Bewacht von der alten und irren Perea auf der anderen Straßenseite. – Ja, das hast du gesehen. Aber dich stört es ja auch nicht, dass so eine wie ich dein Leben belagert und durcheinanderbringt, kaputtmacht und dich von vorne bis hinten belügt und unein… ach scheiße!“

Elena brach ab. Miguel atmete leise durch und streichelte über ihre Wange.

„… und dich braucht – hast du vergessen!“

„Was bist du nur für ein Dummkopf?!“, zischte sie.

Er ließ sich mit hochgezogenen Augenbrauen in den Sitz zurückfallen und startete den Motor. Verfolgt von ihren Augen, die ihm signalisierten, nun bloß schnell loszufahren, weil sie ansonsten wieder aussteigen würde. Vielleicht, um den Flieger noch zu erreichen. Fast hatte sie schon eine Hand am Türöffner. Doch Kraft und Wille reichten nicht, stattdessen wollte sie ihm von dem Chaos in ihrem Kopf erzählen:

„Als ich fast fünf war“, begann sie genauso leise und nahezu tonlos wie gerade eben, „starb mein richtiger Vater …“

„… ich dachte immer …“, unterbrach Miguel sie und Elena hob mit einem Knurren eine Hand, was ihm deutlich machte, still zu sein. Sie sah wieder zur Seite hinaus, wischte sich über die Augen und fuhr fort:

„… ihn habe ich geliebt. Über alle Maßen. Ich kann mich nicht an viel erinnern. Aber eines vergesse ich nie: Wenn ich Trost suchte, bin ich nicht zu meiner Mutter gelaufen, sondern zu ihm. Er hat mir dann Geschichten erzählt, mir, wie du vorhin, die Haare aus dem Gesicht gestrichen und Mut gemacht. Am besten waren seine Geschichten. Deshalb bin ich manchmal mit Absicht auf der Straße gestolpert, nur, um zu ihm zu dürfen und die nächste Geschichte zu hören. Meine Mutter hat immer versucht, mich davon abzuhalten. Stellte sich mir in den Weg und meinte jedes Mal: Papa muss arbeiten! Lass ihn in Ruhe! Und hör auf zu flennen! Irgendwann begann ich sie deshalb zu hassen. Und ich hab’ es ihm erzählt. Ich weiß nicht mehr wie, mit welchen Worten. Ich weiß nur, Papa nahm mich in die Arme, setzte mich auf seinen Schoß und erzählte die nächste Geschichte. Monate später kam ich nach Hause, heulend, weil ich wieder hingefallen war, und meine Mutter stand an der Tür und wartete. Mit dem gleichen harten Gesicht wie immer. Nur dass ihr dieses Mal eine Träne runterlief. Wohlgemerkt, eine! Verstehst du? – Ich wollte an ihr vorbei. Aber diese dumme Schnepfe hielt mich auf und ich tobte und trat sie, ich wollte zu meinem Papa, ich wollte eine Geschichte hören, ich wollte von ihm getröstet werden.“

Elena unterbrach und hob wieder ihre Hand. Sie war noch nicht fertig. Miguel nickte und setzte den Blinker. Gerade bog er von der Autobahn auf die Vía Cintura ab. Vor ihnen war die Sonne vor wenigen Minuten mit einer großen Gebärde hinter Palma und den Bergen untergegangen. Für einen kurzen Moment loderten deshalb die wenigen Wolken über diesem Schauspiel von unten blutrot auf, bevor sie graugeworden weiterzogen. Miguel wollte sich über dieses Zeichen keine Gedanken machen und machte sie sich doch. Ohne den Blick durch die Seitenscheibe zu unterbrechen, atmete Elena tief durch und wrang ihre Hände. Nach ein paar Sekunden fuhr sie fort:

„Zwei Stunden zuvor war er bei einem Autounfall ums Leben gekommen. An diesem Tag endete die eine Welt für mich. Sie explodierte förmlich. Ich stand vor unserem Haus und ich wusste, ich wollte dort nie wieder hinein. Und musste es doch. Von da an gab es nur noch einen Weg. Durch den Flur zur Treppe, diese hinauf und dann in mein Zimmer. Wenn es nicht anders ging, von dort ins Bad oder ins Esszimmer. Das Wohnzimmer hab’ ich wochenlang nicht betreten. Ich blieb davor stehen. Auch als meine Mutter nur fünf Monate später meinen neuen Vater mit ins Haus brachte. Es gab nicht einen Tag, an dem dieser Mann sich zu mir hinuntergebeugt hätte und wenigstens so tat, als würde er sich Mühe machen, meinen Papa zu ersetzen. Nein, er übernahm nur großspurig dessen Institut und als ich dreizehn oder vierzehn war, zuerst meine Schenkel und später mehr. – Meine Mutter nannte mich eine gottverdammte Lügnerin und schlug mir ins Gesicht. – Mit jedem Monat, den ich älter wurde, wollte ich nur noch eines: Raus aus dem Haus und glaubte all den Versprechungen, die mir gemacht wurden. Alle waren sie gelogen. Also stürzte ich mich ins Lernen und machte einen guten, ja sogar sehr guten Abschluss. Als ich ihn hatte, war ich aber kein bisschen schlauer geworden und tat das, was ich dir schon erzählt hatte. Statt Musikerin zu werden, studierte ich dumme Gans Medizin. Statt das Haus nie wieder zu betreten, ließ ich drei Jahre mein Studium ruhen, um in dem Labor dieses … Vaters zu arbeiten. Statt unabhängig zu werden, gingen er und sein Stellvertreter, dieser Romeo Vasquez, über mich. Und ich ließ es wieder zu. Nur um meine Ruhe zu haben und zu gefallen. – Damit es weniger wehtat. – Deshalb hatte ich dir erzählt, dass ich mir andauernd sagte, dass er ja nicht mein richtiger Vater war, um diese Scham auszublenden. So war er nur ein Arsch von Mann, der auch meine Mutter bumste. Und deshalb tat ich es oft freiwillig, nur, um sie damit auch zu bestrafen. Ich wusste, dass sie es herausbekommen hatte. – Am Ende waren gar nicht er, sondern dieser Vasquez und seine abartige Art der Grund, dass ich dort rauskommen wollte. Dieses Angebot, in den USA weiterzustudieren, hat mich dann gerettet. Wie paralysiert bin ich dorthin. Ich hatte nicht mal mitbekommen, wie man mir alle Unterlagen besorgt hatte, um in die USA zu kommen. Ein halbes Jahr lang war ich dann auf der Suche nach etwas, was ich Leben hätte nennen können. Und traf doch nur auf den nächsten Grapscher. So eine wie ich ist selbst in diesem, ach so freien Land bei vielen nur eine Latina, die einen schönen Hintern hat und der man deshalb nicht nur hinterherläuft, sondern sie auch flachlegen will, mit oft perversen Vorstellungen. Dabei gefesselt zu werden, gehört noch zu den fantasielosen Dingen. Aber mit diesen in Freundeskreisen anzugeben, ist schon fast ein Volkssport. Trotzdem habe ich immer wieder nachgegeben. Oft genug, weil ich betrunken war oder weil ich wieder nur meine Ruhe haben wollte. Ich dachte, dann hätte ich es hinter mir. Nur um danach festzustellen, dass es zu viele Frauen gibt, die sich einem solchen Schicksal viel zu ergeben fügen. – Du könntest mich jetzt fragen, warum ich nichts gesagt habe. Warum bin ich nicht zur Polizei? Warum hab’ ich die Idioten nicht angezeigt? Ich hab’s mir überlegt und hab’ mit einer Kommilitonin darüber gesprochen, mit der einzigen, zu der ich damals Vertrauen hatte, weil ich dachte, in diesem Fall könnte sie mir helfen, einen Tipp geben. Sie meinte nur, solche Männer, in so einer Situation, ziehen dich vor Gericht ein zweites Mal aus. Beschreiben haarklein, wie du mitgemacht hast. Sie nutzen alle Möglichkeiten, sich reinzuwaschen und dich in den Schmutz zu ziehen und als Schuldige zu benennen. Sie hätte es nicht anders erlebt. – Das macht dich still und trotzdem bleibst du immer auf dieser Spur. Im Grunde genommen bin ich nichts anderes als ein Flittchen und habe mit mehr Männern geschlafen, als ich dir erzählt habe. Ein studiertes dummes Flittchen. Eines, das nicht nur von diesem … Stiefvater, der nie mein Papa wurde, sondern von – ich habe nicht mitgezählt – vielen anderen benutzt wurde. Ihm habe ich sogar noch geholfen Viren zu manipulieren.“

Kurz sah sie zu Miguel. Er stierte auf die Straße vor sich. Seinen Blick konnte sie nicht einschätzen. Sicher würde er bedauern, sie abgeholt zu haben, und sie wieder zum Flughafen fahren. Was spielte das jetzt noch für eine Rolle? Also durfte er auch noch einen Teil des Rests erfahren. Mit einem weiteren Knurren fuhr sie fort:

„Und – viel schlimmer – die Sanz kannte alle Ergebnisse meiner Gain-of-Function-Experimente. Das sind Informationen über provozierte Gen-Mutationen, die bei Viren zustande kommen, um ihre Funktion zu verändern. Diese Gene werden dann aktiver und erhalten dadurch eine neue Funktion. Eine Spielwiese für die Forschung. Vermutlich wusste die Sanz schon am ersten Tag, was sie damit anstellen könnte. Vermutlich erging es ihr vom ersten Tag nach den Übergriffen nicht anders als mir und sie wusste nur nicht, welche Rolle ich spielte. Ohne darüber zu reden, machten wir Witze, wen wir damit anstecken und ihn dadurch ein Leben lang auf das Klo verbannen wollten. Jedes Mal sah sie mich nahezu forschend an. Vielleicht ahnte sie was und lud mich deswegen nach Buenos Aires ein, um es herauszufinden, um meine Rolle zu erfahren, und hat sich dann doch nicht getraut. Wir haben nicht einmal im Ansatz darüber gesprochen. Außer dass sie dort ganz anders war als in Madrid, ist mir nichts an ihr aufgefallen. Auch da war ich also eine dumme Gans. – Du hast deinen Schatten immer dabei. Es gibt kein Geschäft, in dem du dir einen neuen kaufen kannst. Ein Psychiater – wenn du denn zu einem gehst – hat vielleicht die Chance, ihn schwächer werden zu lassen oder deinen Blick auf ihn zu verändern. Aber stattdessen bin ich wieder zurückgekommen und fast in Madrid gelandet. Meine Mutter hatte es mit ihren dauernden Telefonaten beinahe geschafft, hätte mein Professor nicht eine gute Nase gehabt und mich hierher nach Palma geschickt. – Ich hatte dir es schon einmal gesagt, ich verliebe mich immer zu schnell. Vielleicht ist es wie eine Flucht. Eine falsche Hoffnung. Deshalb gibt es die Geschichte mit Ruiz Castedo. Und bei dir war es nicht anders. – Anfangs. – Aber du bist der Erste, der zu mir sagt: Wir gehen jetzt nach Hause. Der Erste nach meinem Papa, der mir unter die Arme greift und mich aufhebt. Der Erste, der gesagt hat, ich würde ihn zulassen. Du bist der Erste, der keine Versprechungen macht, sondern mir zuhört und bei mir bleibt. Alle anderen haben mich benutzt, befummelt und mir Befehle erteilt.“

Elena sah ihn an. Längst hatte er wieder wie vor Wochen an der Seite der Straße angehalten. Mitten in der Ausfahrt. Der Motor war ausgeschaltet. Nur war er dieses Mal nicht ausgestiegen, sondern schaute mit den Fingern um das Lenkrad gepresst weiterhin zur Frontscheibe hinaus. Die Sonne war verschwunden.

„Ich habe die Wohnung nicht mehr. Der Vermieter behält die paar Möbel und den Fernseher. Ich hab’ ihm 500 gegeben, damit ich gehen konnte. Er hat sie genommen und schon den nächsten Mieter an der Hand. Ich kann jetzt tatsächlich nur noch zu dir oder morgen den nächsten Flieger nehmen. Denn jetzt weißt du über mich Bescheid. Über mich als Liebhaberin des Mannes meiner Mutter und meine unrühmliche Rolle bei dem Norovirus. Ich bin eine Mitwisserin. Irgendwie.“

Die Sekunden verstrichen ungezählt. Seine Finger, die währenddessen die ganze Zeit an seiner Nase vorbeistrichen, dann seinen Mund umrundeten und über das Kinn fuhren, und die stille Mimik seines Gesichts sprachen für sie Bände. Sie legte wie ein schuldbewusstes Kind die Hände in den Schoß und zum ersten Mal, seit sie im Auto saß, begann sie wieder zu weinen. Mit schluchzenden Seufzern meinte sie:

„Wenn, dann liebst du also eine Sechzehnjährige. Eine albern pubertierende moza. Schau mich doch an. Alles an mir ist nicht erwachsen. Weder Körper noch Hirn. Und mein Benehmen ist weit von Reife entfernt. Vielleicht gehöre ich auch in die Psychiatrie. – Was kannst und willst du mit so einer machen? Womöglich über Jahre. Pass auf, dass ich dich nicht mit meiner Scheiße infiziere.“ Es klang wie ein leises Lächeln, aber mutlos.

„Deine Rolle bei dem Virus war die einer Wissenschaftlerin und nicht die einer Frau, die einen Anschlag plante. Nicht nur die Sanz wird die Details deiner Forschung gekannt haben. Da sind ja noch mehr in diesem Institut. Wie sonst wären all die Experimente möglich. Das ist doch keine geheime Fabrik. Denk an Vasquez! Denk an deinen … Stiefvater! Die könnten genauso verdächtigt werden. Das ist aber, wenn, Aufgabe der Kollegen, es herauszufinden. Mir reicht, dass die Zeitungen etwas anderes berichten. Das ist der Fakt, der mich an diesem Fall interessiert. Alles andere spielt für uns beide keine Rolle.“

Jetzt schaute er zu ihr und ließ die Hände sinken. In seinem Blick war tatsächlich nicht der Hauch eines Vorwurfs oder gar Zorns. Er beugte sich zu ihr hinüber und nahm ihren Kopf zwischen die Hände, küsste sie und meinte:

„Wir fahren jetzt dahin, wo alles mit uns begonnen hat, und fangen von vorne an. Reset. Okay? – Und dann nach Hause.“

Tenemos que empezar de cero.

Wir müssen wieder bei null anfangen.

28. September, 19 Uhr 45

Ihre Tagesverläufe waren seit einer Woche ungewohnt ruhig und nur noch eine Ansammlung von alltäglichen Vorgängen. Aufstehen, anziehen, frühstücken, aufräumen, einkaufen gehen … Das Geschrei aus dem anderen Zimmer und seine Befehle waren nun endlich verstummt. Die Tage hatten ein unbekanntes Gleichmaß und eine nie gehörte Stille erreicht. Sie hatte das Gefühl, Freiheit erlangt zu haben. Diese sollte nun nicht verspielt werden. Sie musste jetzt nur noch den nächsten und letzten Schritt tun. Ihr Mann konnte endlich nichts mehr von ihr verlangen. Nie mehr! Dies erzeugte ein kurzes Lächeln in ihrem Gesicht und sie schaute durch die offene Tür in das hinfällig gewordene Schlafzimmer. Die Freiheit hier zu bewahren, machte keinen Sinn mehr. Jeder Quadratzentimeter würde sie an die letzten Jahre erinnern, an dieses Geschrei, sein Saufen, seine brutalen Zudringlichkeiten. Und an das, was letzte Woche hatte passieren müssen. Befreien würde das allein nicht. Befreien musste anders geschehen.

Sie öffnete den Schrank und tat die letzten, ohnehin wenigen Kleider und Sachen in den alten Koffer, den schon ihr Großvater hatte, als er von Dorf zu Dorf zog und dort seine Dienste als Schmied anbot. Sein Werkzeug hatte er dann fein säuberlich in Zeitungspapier gewickelt und neben die Wäsche gelegt. Dennoch sah man dem Koffer die jahrzehntelange Aufgabe an. Wie sollte es auch anders sein. Über den Sommer und in Zeiten der Ernte hatte er viel zu tun, nur im Winter war er wie viele nichts anderes als ein Tagelöhner und arbeitete für einen Hungerlohn in einer Köhlerei. Damit konnte man schon lange, auch in seinen Zeiten, im wahrsten Sinne des Wortes, kein Brot mehr verdienen.

Erst ihr Vater ging einer geregelten Arbeit nach und fuhr mit einem Bus tagaus tagein von Palma nach Pollença, Llucmajor oder Port de Sóller. Und ihre Mutter war stolz darauf, eine gitana, eine rakli gewesen zu sein. Ein Dienstmädchen in gutem Hause. Bis zu ihrem Tod – kurz hintereinander vor über zehn Jahren – waren beide ohne Streit in diesem Haus geblieben und ihre Mutter eine stolze Frau. Genau dieser Stolz war ihr im Lauf der Jahre verloren gegangen. Der Stolz, der sie davor bewahrt hätte, geschlagen zu werden, sich dagegen nicht wehren zu können, nicht nur zu widersprechen, sondern sich auch zu verteidigen. Was für ein Erbe. Was für ein Vorbild. Was für eine vertane Chance. Wenn sie jetzt noch eine hatte, würde sie sich diese nicht nehmen lassen. Es konnte nur eine weitere Lösung geben, sie musste hier raus.

Die Schranktür schlug sie mit einer solchen Wucht zu, dass sie auf den Boden krachte. Den Schrank würde sie ohnehin nicht mehr brauchen. Dann hob sie noch einmal das letzte Kleid hoch und hielt es an ihren Körper. Anthrazitfarben mit kurzen Ärmeln und dem auffallenden Paisleymuster, oben eng anliegend, die Figur betonend und unten weich mit einem langen Schlitz an den Beinen auseinanderfallend. Damals ein Zigeunerkleid, wie ihre Freundinnen meinten. Weiß Gott wie viele Jahre her. Weiß Gott wie viele Jahre alt. Und auch vor weiß Gott wie vielen Jahren das letzte Mal getragen. Damals noch mit ebendiesem Stolz und Selbstbewusstsein. Allein schon deshalb packte sie es nun ein. Als Erinnerung an ihre Mutter, die nie lachte, um irgendetwas abzutun oder einfach wegzulachen. An ihre Stärke und Würde. Als Mahnung an ein besseres Leben. An eines mit Stolz und Selbstbewusstsein. An eines als Frau und nicht Leibeigene, Prellbock und Beischläferin.

Llucia legte es wieder zurück, legte das Kissen obenauf und klappte den Koffer zu, schaute sich um und in der nächsten Sekunde hatte sie das Haus, diese Bruchbude verlassen. Das Schreiben der Bank legte sie auf den Tisch. Schon lange bekam sie kein Geld mehr von denen. Sie konnte froh sein, nicht noch dafür zahlen zu müssen. Im nächsten Jahr stünde hier sicher eine Finca mit Stromanschluss, einem richtigen Bad natürlich und im Garten ein Swimmingpool. So war das heutzutage.

28. September, 20 Uhr 05

„Ihr seht aus, als wenn ihr etwas Anständiges zu essen bräuchtet“, analysierte Raul und fügte grinsend hinzu: „Ihr mögt sicher was Scharfes. Das bringt euch auf Trab und in Stimmung. Also bring ich euch grünes Curry, schmeckt wirklich gut. Mach ich selbst.“

Schon schob er ab, ohne ihre Antwort abzuwarten. Das Virus hatte einen nahezu ausgestorbenen Plaza Drassana erschaffen. Nur auf den Steinbänken unter den Bäumen saßen ein paar Jugendliche und reichten eine Flasche herum. Händchenhaltend, nicht wie ein verliebtes Pärchen, sondern wie ein Vater mit seinem Kind, dass dauernd weglaufen wollte, hatten sie beide kurz zuvor den Plaça de la Llotja gequert. Als Elena, aus welchem Grund auch immer, wieder einmal an ihm zog, hielt er sie fest und blieb stehen. Umarmte sie und deutete auf das spätgotische Portal der Llotja, der einstigen Börse, mit dem großen Engel. Er wusste nicht viel über das Gebäude. Nur das, was Inés oder Kollegen hin und wieder als schlaue Erklärung für einen aus Madrid wie ihn fallen ließen, wenn man an diesem vorbeiging.

„Sieht für mich immer wie ein Zuckerschlösschen aus“, meinte Miguel jetzt und lachte, „steht schon seit fast 600 Jahren hier. Unglaublich, oder?“

Und hat schon so viel mitgemacht. So viel überstanden. Mehr als irgendjemand von uns, hätte er noch hinzufügen können und ließ es ungesagt. Stattdessen drückte er sie nochmal an sich.

„Hmh“, machte sie nur und sah eher missmutig hoch in sein Gesicht als interessiert auf das Gebäude mit seinen Türmchen, den in diesem Moment furchterregenden Wasserspeiern und den Spitzbogenfenstern.

„Hmh“, machte sie wieder, hob die Achseln und zog ihn weg, „ich hab’ Hunger.“

Die Elena-Miguel-Packung löste sich auf, sie ließ seine Hände los und wickelte stattdessen die Arme um sich, als würde sie frieren. Mit manchmal zwei Meter Abstand zu ihm ging, nein, stolperte sie weiter und Miguel beobachtete sie und unterdrückte nachzuforschen. Er hoffte, der Abend und die nächsten Tage würden vielleicht noch manches erklären.

Sekunden später betraten sie eine nahezu leere Bar Coto. Nur noch ein weiteres Pärchen saß vorne an der Tür. Auch wenn wieder Normalität angekündigt worden war, misstraute nun jeder dem Frieden. Alles schien infiziert zu sein. Alle gingen sich aus dem Weg. Jeden, der es sich gut gehen ließ, sah man argwöhnisch an. Miguel konnte es recht sein. Früher musste man mindestens einen Tag vorher bei Raul anrufen, jetzt hatte er Glück und sie saßen Augenblicke später am schönsten Platz, wie er fand.

„Ich seh’ echt total beschissen aus“, meinte Elena und sah Raul hinterher, „das hat er doch gemeint mit ihr seht aus, als wenn …, oder?“

Miguel sah sie mit schiefgelegtem Kopf milde lächelnd an und suchte eine passende Antwort, die ihm nicht einfallen wollte. Mit der Karaffe, die Raul vorher auf den Tisch gestellt hatte, goss er die Gläser voll und prostete ihr anschließend zu.

„Bei ihm geht es immer ums Geschäft. Alle sehen so aus, als wenn … Du siehst allerdings gut aus. – Vielleicht ein wenig abgekämpft. Ist ja zu verstehen. Aber deshalb sitzen wir hier und lassen es uns gut gehen.“

Er musterte sie genauer und stellte fest, dass er gelogen hatte. Sie sah ihn an und tat es doch nicht. Als schaute sie durch ihn hindurch. Ihr Blick hatte etwas eigentümlich Abwesendes. Etwas Maskenhaftes. Vielleicht war es zu verstehen, wenn er ihre letzten Stunden betrachtete. Somit ärgerte er sich wieder einmal, nicht genug von Psychologie zu verstehen, vor allem, wenn das Privatleben betroffen war.

„Abgekämpft. – Wenn du wüsstest“, erwiderte sie, lachte heiser auf und trank ihr Glas in einem Zug leer. „Liebe kann manchmal ganz schön doof sein, wenn man es dann auch noch selbst ist. Jetzt hast du mich am Hals und kannst mich nachher höchstens noch vor einem Hotel absetzen.“

„Du meinst bei uns zu Hause“, wieder mit einem Lächeln.

Elena biss sich auf die Unterlippe. Ihr seit der Fahrt abgeschminktes Gesicht verriet nur unvollständig das Tohuwabohu in ihrem Kopf. Miguel wusste, heute Abend gäbe es statt Antworten noch einige Rätselsätze von ihr. Schon folgte der nächste:

„Liebe muss echt schön sein. Vielleicht sollte ich es auch mal versuchen“, zischte sie, ließ sich zurückfallen und sah ihn ernst an. Bevor die Tränen kamen, meinte sie: „Entschuldige! Ich bin eine blöde Gans. Aber das solltest du eigentlich längst wissen.“

Dann stand sie auf, stieß an den Tisch, dass die Gläser wackelten und klirrten, und ging zur Toilette. Miguel schob die Gläser wieder zurecht und starrte auf die schöne, aber ernst schauende Frida Kahlo an der blutroten Wand. Plötzlich stand Raul neben ihm und legte eine Hand auf seine Schulter. Gleich würde er seinen Lebensberatungsautomaten anwerfen, legte ihm aber nur einen Zettel hin. Freundschaft – das ist wie Heimat.

„War heute der Tagesspruch in meinem Kalender. Glaub mir, sie weiß, wo sie hingehört. Aber dort anzukommen, kann nach einer Irrfahrt länger dauern. – Weißt du, was sie hinter sich hat?“

Elena stand derweil vor dem Spiegel im Klo und starrte sich in ihm genauso wie Miguel an und auch wieder nicht. Ihr Kopf war so leer wie ihr Blick. Irgendetwas ganz hinten in ihm machte Klick und sie blinzelte. Mit ihr stimmte was nicht. Es konnte nicht anders sein. Sie war verrückt. Mit Männern pennen und sich erniedrigen, ja sogar quälen lassen. Mit solchen Männern pennen und genau deswegen glücklich sein. Und mit Männern pennen und in ihren Armen sterben wollen. Bei Miguel sogar bis zu dem kleinen Tod. Nebenbei – ohne irgendwelche Gefühle – an tödlichen Viren manipulieren und gleichzeitig in einem Krankenhaus Infizierten helfen. Nannte man das in Kennerkreisen nicht auch dissoziative Identitätsstörung? Jetzt war sie jedenfalls die nicht Glückliche, vor ein paar Tagen noch die bis zur Bewusstlosigkeit Liebende und vor ein paar Stunden die vor allem Fliehende. Sie legte die Stirn an die Fliesen neben dem Spiegel und schlug zackig mit ihr dagegen. Ein kurzer Schmerz. Sie hatte Lust, ihn zu wiederholen, und tat es. Und ein drittes, viertes und fünftes Mal. Wieder der Blick in den Spiegel. Die Stirn war rot und sie verzog zufrieden das Gesicht. Sie liebte Schmerz einfach. Diesen und den der Qualen. Sie liebte Miguel. Und sie liebte nicht. Dann füllte sie ihre Hände mit kaltem Wasser und kühlte damit ihre Stirn. Ein Blick in den Spiegel und sie war weniger rot. Mit einem Stück Klopapier wischte sie sich ab und wartete, bis sie glaubte, wieder unter die Leute gehen zu können.

Miguel las den Spruch ein zweites Mal. Ein Kurt Tucholsky hatte ihn verfasst. Den Namen kannte er nicht. Auf der Rückseite stand: Berlín, 9 de enero de 1890, – Gotemburgo, 21 de diciembre de 1935, escritor, periodista.

Raul hatte wohl eins und eins zusammengezählt. Mit Inés war er das letzte Mal vor Monaten hier gewesen. Jetzt in den letzten Tagen schon zum dritten Mal mit Elena. Es war offensichtlich. Miguel musste eine Neue haben. Und so wie es aussah, hatte die ihre Probleme. Jedes Mal in einer anderen Stimmung. Erst interessiert, dann verknallt, nun verstimmt. Wahrscheinlich mehr. Abwesend. Gab es eine Krise? Die leichte Aggressivität in ihrer Reaktion war natürlich auch ihm aufgefallen. Liebe muss echt schön sein. Unter dem mageren Eintrag des Namens von Tucholsky stand die – weil nur mit einem Wort benannt – lapidar wirkende Erklärung für seinen Tod: Überdosis.