Schlammschlacht - Andreas Heßelmann - E-Book

Schlammschlacht E-Book

Andreas Heßelmann

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  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Abano Terme bei Padua. Ausgerechnet in diesem weltbekannten Kurort wird in einem Hotel Monsignore Tossatello mit einem Eimer Fango umgebracht. Commissario Berlingui hat es nicht nur mit einer ungewöhnlichen Methode von Mord zu tun, sondern auch der Ermordete ist als kirchlicher Würdenträger des Vatikans nicht gerade alltäglich. Aber es bleibt nicht bei dieser Leiche und Berlingui findet sich in einem zunächst unübersichtlichen und viele Jahre zurückreichenden Fall wieder, dessen Ende überrascht.

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Seitenzahl: 410

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piccoli regali cementano l'amicizia. Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.

Inhaltsverzeichnis

15. März

Prolog

15. März, 7 Uhr 25

15. März, 9 Uhr 45

15. März, 9 Uhr 50

15. März, 10 Uhr 10

15. März, 10 Uhr 55

15. März, 12 Uhr 20

15. März, 12 Uhr 35

15. März, 13 Uhr 15

15. März, 14 Uhr 00

15. März, 14 Uhr 25

15. März, 15 Uhr 35

15. März, 17 Uhr 15

15. März, 19 Uhr 00

15. März, 20 Uhr 25

15. März, 20 Uhr 45

15. März, 21 Uhr 15

15. März, 23 Uhr 45

16. und 17. März

16. März, 8 Uhr 20

16. März, 8 Uhr 50

16. März, 9 Uhr 25

16. März, 10 Uhr 05

16. März, 11 Uhr 00

16. März, 11 Uhr 35

16. März, 11 Uhr 50

16. März, 12 Uhr 05

16. März, 12 Uhr 10

16. März, 12 Uhr 15

16. März, 12 Uhr 20

16. März, 16 Uhr 45

16. März, 18 Uhr 35

16. März, 19 Uhr 10

16. März, 23 Uhr 50

17. März, 9 Uhr 20

17. März, 10 Uhr 00

17. März, 11 Uhr 15

17. März, 14 Uhr 10

18., 19. und 20. März

18. März, 10 Uhr 45

18. März, 11 Uhr 10

18. März, 11 Uhr 20

18. März, 14 Uhr 20

18. März, 14 Uhr 25

18. März, 15 Uhr 00

19. März, 9 Uhr 20

19. März, 9 Uhr 35

19. März, 9 Uhr 55

20. März, 10 Uhr 00

20. März, 12 Uhr 25

20. März, 17 Uhr 35

20. März, 18 Uhr 15

21., 22., 23. und 24. März

21. März, 10 Uhr 5

21. März, 10 Uhr 20

21. März, 11 Uhr 25

21. März, 19 Uhr 30

22. März, 7 Uhr 25

22. März, 7 Uhr 45

22. März, 9 Uhr 15

22. März, 10 Uhr 25

22. März, 11 Uhr 35

22. März, 13 Uhr 35

22. März, 23 Uhr 15

23. März, 16 Uhr 00

24. März, 10 Uhr 20

24. März, 11 Uhr 30

24. März, 14 Uhr 45

24. März, 14 Uhr 50

25. März

25. März, 9 Uhr

15. März

Das Gute hat Vorrang vor dem Rechten.

Prolog

Sie waren zu dritt. In einem alten, piekfeinen und chromblitzenden Daimler Sovereign. Was für eine angeberische Karre. Unbezahlbar für ihn. Aber trotzdem ein Traum. Nur deshalb hatte er sie schon am Kreisverkehr beim Abano Ritz bemerkt. Sofort war ihm klar, dass sie ihn die ganze Zeit gesucht und nun gefunden hatten. Und das mit drei Mann. Was für ein Aufgebot. Er trat in die knackenden, wackeligen Pedale und versuchte mit dem verflucht alten Drahtesel schneller zu werden. Gestern wollte er noch die Reifen aufgepumpt haben. Aber er hatte es wieder vergessen. Jetzt waren sie luftleer und breit. Jeder Tritt war wie ein Tritt in Pudding. Ein Tritt ins weiche Wasser auf dem man gehen wollte. Die Pedale widersetzten sich. Die Kraft quoll förmlich aus den Schuhen und ging verloren. Der Daimler war inzwischen mit grellen Scheinwerfern schnell und fast lautlos näher herangekommen. Schnurrend, wie eine riesige, dunkle Katze. Nur wenige Laternen erhellten den noch stockdunklen Morgen. Ihr Licht ließ alle dreißig Meter lediglich die Konturen der Körper auf den beiden Vordersitzen hinter der Frontscheibe für eine kurze Sekunde in ein eigentümliches Orange getaucht sichtbar werden. Auf dem Radweg zwischen den hohen Bordsteinen quälte er sich weiter vorwärts. Hier konnte er nirgendwo abzweigen. Er würde entweder vom Rad stürzen oder sich an den scharfen Kanten der Begrenzung die Reifen vollends kaputtfahren. Trotz der Kühle spürte er den Schweiß den Rücken hinunterrinnen. Jetzt waren sie neben ihm. Er schaute zum Wagen hinüber, suchte ihre Gesichter. Aber es war in dem diffusen Licht der Laternen einfach nichts zu erkennen. Schlagartig kam Panik in ihm hoch. Mit einem Mal war sein Kopf leer und alle Gedanken gelöscht. Seine Bronchien rasselten und er rang nach Luft wie ein gejagtes Stück Wild, das jetzt nur noch seine Instinkte hatte. Sein eigener Atem klang für ihn wie das Getöse eines Sturmes und die Tränen, die aus den Augenwinkeln geblasen wurden, sorgten für einen grausam trüben und widerwärtigen, angstmachenden Schleier. Noch einhundertfünfzig Meter, dann könnte er einfach nach rechts abbiegen und versuchen, sie über den Hof des Hotel Atlantic, an den Fangobecken vorbei und durch die Gärten dahinter abzuhängen. Rechts vor ihm sah er schon die kleine Mauer mit dem Schriftzug und den hohen Bauzaun auf der anderen Straßenseite, dem Hotel fast gegenüber. Jetzt gaben sie Gas. Das Auto wurde schneller und fuhr vorbei, hielt geradewegs vor der Einfahrt des Hotels. Hatte er es sich doch nur eingebildet, dass sie ihn verfolgten? Drei Mann wären auch für den Mist etwas zu viel gewesen. Er wurde langsamer, versuchte sich zu beruhigen. Tief Luft holend wischte er sich mit einer Hand über die Augen. Der Beifahrer, der Typ mit dem Parka, stieg aus und ging ohne große Eile hinten um den Wagen herum. Seine Kapuze hatte er vom Kopf geschoben, darunter kamen lange Haare zum Vorschein, die von einem breiten, grellen und wild gemusterten Band über der Stirn aus dem Gesicht gehalten wurden. Der Kerl schien ihn zu missachten. Auf der Fahrerseite angekommen beugte der Typ sich in den Wagen hinein, während er nun unschlüssig und langsamer geworden heranrollte. Eine gewisse Neugier trieb ihn nun an, eine die ihm alles erklären würde. Noch war es für ihn nicht auszumachen, ob der Langhaarige mit dem Fahrer sprach, um sich zu verabschieden oder etwas aus dem Wagen herausholte. Er rollte weiterhin reglos, wie ein Tier, das hoffte von einem möglichen Jäger noch nicht bemerkt worden zu sein. Bei der Tabaccheria Barison fuhr er durch eine Absenkung des Bordsteins auf die gegenüberliegende Seite der Straße, um vielleicht weiter vorne, links durch die Via Monte Vendevolo abzubiegen. Ernesto, sein ehemaliger Kollege würde ihm helfen. Er wohnte gleich hinter der dann folgenden Rechtskurve. Dann sah er die Bewegung. Gerade wollte er auf Grund einer leisen Ahnung sein Fahrrad wenden, als die Gestalt sich umgedreht hatte, mit einer Hand leise auf das Wagendach klopfte und auf ihn zulief. Wie eine Wildkatze war sie in zwei drei Sprüngen an seinem Hinterrad. Jetzt erst sah er den Knüppel, den Baseballschläger an der Seite. Er starrte ohnmächtig und hypnotisiert in das ausdruckslose Gesicht des jungen Kerls. Unter dem halb geöffneten Parka war selbst in dieser Dunkelheit eine schrecklich glänzende blaue Trainingsjacke zu sehen. Das Fahrrad hob sich am hinteren Gepäckhalter in die Höhe und wurde zum Gehweg hin umgerissen. Er konnte sich nicht halten und fiel vor den Bordstein, rappelte sich wieder auf und begann zu laufen. Jetzt hatte ihn der Horror gepackt. An der Ecke zur Baustelle war eine schmale Lücke zwischen zwei Gittern des Zauns, er schlüpfte durch und hörte das Stakkato der Schritte auf dem Asphalt der Straße, die ihn verfolgten. Warum hatte er sich bloß auf dieses dämliche Geschäft eingelassen? Gleich zu Beginn hatte er ein schlechtes Gefühl gehabt. Er rannte über den Schotter eines neu angelegten Weges und sah vor sich auf dem Hügel das kleine Kloster San Daniele. In einem Fenster brannte Licht. Er dachte daran, zu schreien, um Hilfe zu rufen, die Leute in ihren Häusern aus dem Schlaf zu reißen. San Daniele um Hilfe zu bitten. Che ti chiedono aiuto. Er setzte an, wollte Luft holen und spürte einen harten Schlag in seinen Kniekehlen, der ihn der Länge nach hinfallen ließ. Sostieni chi non accetta il dolore. Wie ein gefällter Baum. Gerade. Ohne die Möglichkeit sich abzufangen. Kein Schrei. Nur ein Pffff, wie aus einer laschen, etwas aufgeplusterten Papiertüte. Ein Reflex bewahrte ihn davor, mit dem Gesicht aufzuschlagen. Sabrina. Wie viel Uhr war es? Wann begann heute ihre Schicht? Vielleicht würde sie gleich hier vorbeifahren. Würde sehen, was da geschieht und alles beenden. Er lief auf Knien und Händen, raffte sich auf, strauchelte, wollte aufstehen und auf seine Armbanduhr schauen, als die Gestalt über ihm nach seinem rechten Arm griff und ihn mit samt seinen Körper brutal auf den Rücken drehte. Einige seiner Gelenke krachten dabei, während der Kerl sich auf sein linkes Handgelenk gestellt hatte. Jetzt endlich entfuhr ihm ein Schrei, der mit einem Faustschlag in sein Gesicht zu Ende gebracht wurde. Als er die Augen öffnete, war plötzlich alles, was nun an Schlägen, Pein und Schmerz noch folgen sollte, für ihn mit einem Mal klar. Er fühlte wie Tränen in ihm hochstiegen und ließ sie, jetzt schon halb gestorben, zu. Zwanzig Meter hinter seinem Peiniger sah er die zweite Gestalt mit ihrem Hut und langem schwarzen Mantel durch die Lücke des Bauzauns kommen. Gelangweilt. Fehlte nur noch, dass er sich die Hände sauber klopfte. Während der Dritte, der vom Rücksitz, das Fahrrad aufhob. Im Korb am Lenker lag immer noch die kleine Tasche mit dem Hausschlüssel und seiner Geldbörse. Der Kerl sah irgendwie sonderbar aus. Ein steifer Lackel. Der warf das Rad, nachdem er auf dem Weg den dampfenden und ewig nach Unrat und Fango stinkenden Bach enervierend langsam entlang gegangen war, nach wenigen Dutzend Metern an dessen Ufer. Er bückte sich und durchsuchte den Inhalt der Geldbörse. Irgendetwas steckte er in seine Taschen. Dann flog das Rad auf die gegenüberliegende Böschung. Jetzt kam der Mann mit dem Mantel langsam auf ihn und diesen Typ mit dem Parka zu. Warum war kein Mensch außer ihnen hier? Musste tatsächlich noch keiner zur Arbeit fahren? In den Stockwerken über dem Schuhladen der Fratelli Castaldello waren doch Wohnungen. In den Gebäuden dahinter auch. War das Atlantic so weit entfernt? Hörte keiner das Gescheppere und ihr Getrappel? Keiner seinen Schrei? Hatte er so leise geschrien? Hatte er überhaupt geschrien? Er spürte jetzt keinen Schmerz mehr, obwohl der linke Arm unter seinem Rücken wie aus der Schulter gerissen auf der scharfen Kante eines Steins lag und er ihn nicht bewegen konnte. Chi soffre nell’anima e nel corpo. Der Mantelmann war nun fast bei ihm und kam ihm plötzlich bekannt vor, sehr bekannt sogar, doch sein Kopf war zu sehr damit beschäftigt, noch einen letzten Ausweg zu suchen, als dass er ihn unter den vielen bekannten Menschen, denen er bisher begegnet war, hätte einsortieren können. Er muss sie ablenken, muss Stärke beweisen, muss etwas sagen. Irgendwas. Versuchen, sie hinzuhalten. Die einzige Möglichkeit. Er muss versuchen, mit ihnen zu verhandeln. „Ich kann...” Der Mantel hatte sich blitzschnell gebückt und ihm etwas in den Mund geschoben. Stoff. Er würgte. Sabrina müsste jetzt unterwegs sein. Sie war sicher noch nicht vorbeigefahren. Sie muss noch kommen. Es war sicher noch keine halb sechs. Er sah sie plötzlich vor seinen Augen, auf ihn zukommend und wollte sich schon freuen, als er merkte, dass ihm seine Fantasie einen Streich gespielt hatte. Der nächste Faustschlag betäubte ihn. Eine Hand fuhr unter seinen Kopf und hielt seinen Kragen fest, noch benebelt von dem Schlag fühlte er, wie er über den Boden geschleift wurde. Der Kerl hatte keine Mühe. Er war nur ein Sack Altpapier, der zum Container gezerrt wurde. Weiter weg von der Straße. Steinplatten. Bordstein. Erde und Gras. Bordstein. Steinplatten. Wieder ein Bordstein und Erde. Als er mit seinen Füßen um sich treten wollte, warf man ihn auf den Boden und er schlug mit seinem Hinterkopf auf etwas Hartes auf. Ihm wurde speiübel. Er sehnte sich nach Sabrinas Körper. Überlegte, wie er ihr alles erklären würde. Sie hatten doch so viele Pläne geschmiedet. Zu Hause lag in der Schublade unter dem Tisch in der Küche der Umschlag mit der letzten Rate für ihre Schulden. Geld, das er dafür bekommen hatte. Sabrina war so stolz auf ihn, als er ihr das Geld gezeigt hatte, er hatte ihr allerdings nicht erzählt, woher er es hatte, sondern ihr nur gesagt, er hätte eine neue Stelle. Die Stunden danach waren die schönsten, die er je in ihren Armen verbracht hatte. Seine Hand fühlte einen Stein und er griff nach ihm. Hielt ihn fest. Beide Arme waren nun frei, er fasste über sich und suchte einen ihrer Körper. Er fühlte Stoff in seiner Hand, den er versuchte, mit dem darin steckenden Körper zu sich herunter zu ziehen. Jedoch wurde sie durch einen Fuß von dem teuren Kaschmir-Mantel weggetreten. Mit dem Arm und dem Stein zwischen seinen Fingern versuchte er, Schwung zu holen. Als er sich aufrichten wollte, war der Fuß auf seiner Kehle und drückte ihn wieder auf den Boden. Sein Kopf knallte dabei wieder auf die harte Stelle und der Stein kullerte aus der Hand heraus. Die plötzliche Atemnot und sein eigenes Röcheln potenzierten die Panik und er fühlte sich selbst einnässen. Irgendwo in seinem Kopf entstand ein Ton, ein wirrer Akkord, ein orgelndes Getöse. Neben dem dampfenden Bach stand immer noch der Sonderling wie erstarrt. Ein Heiliger vorm Altar. Dann hörte er ein Zischen in der Luft und der Fuß war vom Hals verschwunden. Für einen winzigen Bruchteil einer Sekunde war er entspannt, dann sah er den Schläger auf sich herabsausen. Er kippte den Kopf und wollte zur Seite rollen. Der Schläger sauste an ihm vorbei und krachte rechts zwischen Hals und Schulter auf seine Brust. Als wenn ihm ein Pfahl durch den Körper getrieben wurde, durchraste ihn ein Tosen und unfassbarer Schmerz und sein Körper bog sich durch wie ein vibrierendes Brett. Er bekam keine Luft und fühlte, wie er fast das Bewusstsein verlor. ...e forza per camminare... Wieder sah er Sabrina, nun aber nicht mehr neben sich im Bett liegen, sondern von der letzten Stufe einer dünnen Leiter, die in einem schwarzen Nichts endete. Sie war so schön. Sie war nackt. Ihre Haut hatte die Farbe glänzenden Honigs und war zart wie ein Pfirsich aus ihrem eigenen kleinen Garten. Sie winkte mit ihrer rechten Hand und ging eine weitere Sprosse nach oben. Er hob schwerfällig seinen Kopf. Doch Tränen trübten immer mehr das Bild. ...sulla strada della vita... Wieder das Zischen, das nun aus einer unbestimmbaren Richtung zu kommen schien. Als er glaubte, zu wissen, wie er sich rettend bewegen müsste, traf ihn der Schläger wieder neben dem Hals, nun auf der linken Seite. Alles um ihn herum war nun hell erleuchtet. Das Getöse in seinem Kopf klang nach Applaus, nach einer tobenden Menge. Es war wohl Sonntag, sie waren im Stadion und er war gefoult worden. Rüde und unfair. Von drei Mann gleichzeitig. Lag nun auf dem Rücken am Strafraum des Fußballfeldes und das Flutlicht blendete ihn. Der Scheinwerfer und Greifer eines Räumfahrzeuges hatten ihn erfasst und zog ihn, begleitet von diesem ohrenbetäubenden Gebrüll in seinem Kopf, unter einer stechenden Sonne an den Rand eines eher zäh plätschernden Gewässers. Ein Wasserfall? Das Meer? Er versank kopfüber und der Länge nach darin. Obwohl das Wasser sehr warm war und eigenartig nach Schweiß und Abort roch, fühlte er sich im ersten Moment erfrischt und er atmete deshalb, so tief der Schmerz in seiner Brust es zuließ, durch. Ein Schwall Wasser flutete seine Lungen und das Gefühl, husten zu müssen, übermannte ihn. Mit einem Mal war er wieder zu sich gekommen. Die Arme wollten ihn noch einmal aufrichten und versagten kraftlos. Begleitet von brüllendem Schmerz. Das dröhnende Instrument zwischen den Ohren schien zu explodieren. Überall in seinem Körper war ein Inferno entfacht worden und hinten an seinem Kopf spürte er auf dem Bauch im Wasser liegend einen harten Gegenstand, der ihn vollends bewegungslos machte. Seine Augen wurden blind und machten ihn orientierungslos. Der Husten pumpte währenddessen unentwegt weiteres Wasser in seine Brust. Von einem Augenblick zum andern spürte er keine Schmerzen mehr. Das Glucksen des Baches wurde zu einem süßen, wohlbekannten Kichern. ...incontro a Christo... Er wollte sich noch einmal umdrehen und sehen, ob Sabrina noch dort lag und ihr zuwinken. Dann verlor er endgültig sein Bewusstsein. Amen.

15. März, 7 Uhr 25

Verhandlungen sind zwecklos. Der Tod ist ein schlechter Partner in solchen Fällen. Betritt er den Raum, erzeugt er kein Leuchten in Augen. Im Gegenteil. Der matte Schimmer der Reißnägelköpfe, in eine Landkarte der Umgebung gesteckt, reicht für den Beweis seiner Heimsuchungen. Jeder eine weitere Marke, eine weitere Erfolgsmeldung. In diesem speziellen Fall gekennzeichnet von erstarrter Angst, von den Lidern wächsern, glänzend umfasst. Das aufgedunsene und verschmutzt wirkende Gesicht war dadurch zu einer unbeweglichen und steifen Maske geworden, die Commissario Berlingui schielend anstarrte. Auf groteske Art schien sie den inzwischen erkalteten und fest gewordenen, matt grauen Schlamm in seinem Mund noch ausspucken zu wollen, denn der Kopf war eigentümlich schräg hinter das Kissen gekippt, so, als wenn er für dieses Vorhaben Schwung hatte holen wollen. Eine Hand des Toten lag nach einem verzweifelten und erfolglosen Versuch sich des Angreifers zu erwehren, verrenkt auf seinem nun zum Teil entblößten Körper, dem man ansah, dass er in den vielen Jahren zuvor keinen Hunger hatte aushalten müssen. Die ganze Haltung wirkte eigentümlich lebendig. Doch der herbeigerufene Arzt hatte bereits vor nahezu anderthalb Stunden den unumkehrbaren Tod von Monsignore Tossatello festgestellt.

Piero Berlingui stand ein wenig in die Knie gegangen. Gebückt und vornübergebeugt. Wie ein leicht auseinandergezogenes Leporello neben der Liege. Nur so war es ihm möglich, trotz seiner Einszweiundneunzig alles aus der Nähe zu betrachten. Die linke Hand hatte er dabei in seiner Hosentasche vergraben und mit der rechten balancierte er eine Tasse Espresso, von deren Inhalt er eigentlich erhofft hatte, wach zu werden. Doch die Plörre war lediglich gefärbtes Wasser. Filippo sollte in seiner Bar Kurse für stümperhaft arbeitende Baristas anbieten. Selbst in einem Hotel mit vorwiegend alten Leuten als Gäste sollte wenigstens der Espresso Lebensgeister wecken können. Die Güte der angeblich gesunden Tees und Säfte wäre ihm egal.

Mit schief gelegtem Kopf musterte er die Leiche, fuhr er mit seinen Augen wie ein Scanner an ihr entlang, als suche er in dem, was er sah, eine verborgene Nachricht, ein Zeichen, das ihm den Täter nennen oder zumindest den Hergang schildern könnte. Blitzlichter erhellten zuckend wie in einer Disco die Szenerie. Was mochte der Ermordete in der Sekunde des Todes noch gesehen, an was gedacht haben? Konnte er an dem Blick, den nun fahlen Augen erkennen, ob er den Mörder gekannt hatte? Nein! Wirkte er angewidert oder überrascht? Weder noch. Warum hinterließ die Haltung der Leiche den Eindruck einer nur eher schwachen Gegenwehr? War der Schock größer als die Angst? Oder hatte dieser Monsignore im Moment des Überfalls geschlafen? Als er sah, dass er nichts von alledem in den Gesichtszügen erkennen konnte, war ihm klar, dies würde ein ganz und gar vertrackter Fall werden.

Enttäuscht blickte er auf. Denn in den vergangenen Jahren hatte er schon öfter aus den Gesichtern der Opfer manchen kleinen Hinweis auf diese Art herausgelesen, der ihn den einen, wenn auch kleinen, aber entscheidend schnellen Schritt vorwärtsgebracht hatte. So verkürzte sich häufig und viel zu flott der vermeintliche Vorsprung des Täters. Der Commissario schüttelte den Kopf, trank angewidert den letzten Schluck aus der kleinen Tasse und stellte sie weg. Fast hätte er sie dabei zu Boden fallen lassen. Er nahm die Hand aus der Hosentasche und massierte sich Achseln zuckend die Stirn.

Diesmal hatte er nicht die Verwunderung gesehen, keine nahezu taxierend schmalen Augen, wie vor sechs Wochen im erstaunten Gesicht des toten Severin Aldò. Der in der Szene bekannt war wie ein bunter Hund. Der hatte genug Neider und Feinde. Der hätte sich mit den Errungenschaften aus seinen kriminellen Machenschaften vorher schon längst absetzen müssen. Doch war er so arrogant, dass es für ihn noch Erfolg versprechender war, das Schicksal ein weiteres, ein letztes Mal herauszufordern. Deshalb wäre es für Berlingui allzu verständlich gewesen den Ärger in dessen Blick zu erkennen, den richtigen Zeitpunkt für die Flucht auf eine ferne tropische Insel nun doch verpasst zu haben. So aber sah Berlingui vor Wochen eine offensichtliche Überraschung in den Zügen des Toten, als er das stumme Gesicht der Leiche an der Böschung des Canale Piovego in der Nähe der Autostrada betrachtet hatte. Ein leichtes Runzeln auf der Stirn. Augenbrauen die sich verwundert über der Nase fast berührten. Tage später nahm der Commissario den Sohn Aldòs fest, von dem es immer geheißen hatte, dass er seinen Vater abgöttisch geliebt hätte. Doch brauchte es nur einen Tag in den Händen von Collasso und seinen Kollegen, bis seine Aussage nur noch aus Widersprüchen bestand.

So in Gedanken blickte er noch einmal forschend auf Tossatello und drehte sich anschließend um. Vielleicht würde ihm später ein übersehenes Detail einfallen und weiterhelfen. Auch wenn ihm jetzt nichts verdächtig genug erscheinen wollte. Vielleicht lag es an der Müdigkeit, die von der Häufung wunderlicher Todesfälle in den letzten Wochen herrührte und die nun ihren Tribut zollte. Kaum einen Abend war er zu Hause gewesen. Kaum ein Wochenende hatte für etwas Ruhe gesorgt. Das Tagesgeschehen hatte ihn zum Dezimieren privater Ansprüche verpflichtet.

Währenddessen wartete auf ihn nur wenige Schritte entfernt Umberto Garatta, der im Hotel Colli Euganei für die Fangopackungen zuständig war. Mit starrem Blick und vollkommen bewegungslos saß er in einem Stuhl links neben der Tür zu dem Raum, in dem er vor nicht einmal drei Stunden den Monsignore morgens um halb fünf in Fango und Tücher eingepackt hatte.

„Es waren maximal sechs oder acht Minuten, bis ich wieder bei ihm drin war. Höchstens acht Minuten“, murmelte er immer wieder kopfschüttelnd vor sich hin. „Wirklich nicht mehr.”

Die letzten drei Worte, die er ständig wiederholte, klangen von Mal zu Mal beschwörender und flehender. Doch der Tote zeigte trotzdem keine Anstalten, seinen Zustand zu überdenken.

Berlingui warf noch einmal einen Blick durch die offenstehende Tür, auf den etwas verrenkten Leib der Leiche, beugte den Kopf und schloss abwechselnd das linke und rechte Auge. Dann stellte er die nächste Espressotasse auf den Sockelrand einer der ockergelben Säulen, die dem Raum eine antike, aber absolut künstliche Atmosphäre gaben. Es war der Moment, in dem die Routine begann. Er atmete tief durch und es klang wie ein Seufzer, in dem ein Fluchen versteckt war. Mit beiden Handflächen rubbelte er sich über das Gesicht, als wenn er die Folgen der Routine damit abwaschen könnte. Ab jetzt wurden Hunderte von Fragen gestellt, wurden diese weiß Gott wie oft wiederholt, Widersprüche zur Kenntnis genommen und wieder gefragt, nachgefragt, Erkundigungen eingeholt und nochmals Befragungen durchgeführt. Währenddessen versuchten die Kollegen, eventuelle Spuren zu sichern und auszuwerten. Jedes Fitzelchen wurde aufgehoben, jede verdächtige Unterlage beschlagnahmt. Von nun an glichen sich alle Fälle. Mord, schwerer Raub, Entführung, Vergewaltigung, es war egal. Es glich einer Formel, die es aufzudröseln galt. Ein solcher Automatismus könnte wirklich Abwechslung vertragen. Es gab genug krumme Typen, die man verhaften könnte. Irgendwann würde sich die Bagage untereinander ausschalten. Berlingui seufzte ein weiteres Mal. Weniger Hektik wäre ja auch schon ein Anfang. Denn von nun an lief die Zeit gegen die Ermittlungen, um vor allem frische, einwandfreie Fakten herzubekommen. Handwerkliche Praxis war ohnehin nicht Berlinguis Metier. Lupe und Pinzette verabscheute er. Genauso wie den Verdächtigen, der ihm gegenübersaß. Er war eher der Theoretiker und einer, der sich auf seine Intuition verlassen wollte. Und es meist auch konnte.

Berlingui kannte diese Situation in allen Variationen. Plötzlich hatte jemand aus Versehen den einzigen tauglichen Fingerabdruck mit einem Ärmel verwischt, war der Zeuge, der angeblich alles von Anfang an gesehen hatte, wie vom Erdboden verschwunden oder von einer starken Amnesie befallen, die Tatwaffe nicht auffindbar, der Erschossene erwürgt oder das vorher so bekannte Opfer nicht identifizierbar. Und wenn alles schön einfach erschien, widersprachen sich alle vorhandenen Details.

Er überlegte. Die Gästeliste des Hotels zu bekommen war für ihn kein Problem. Zeugen, die zum entscheidenden Zeitpunkt wenigstens in der Nähe waren, gab es, so hoffte er, genug und trotzdem beschlich ihn das Gefühl, diesmal einen stinkenden Fisch vorgesetzt bekommen zu haben. Er hatte still dem Getuschel gelauscht und wusste, hier waren ihm zu viele Wissende, Kommentierende und vor allem ganz Schlaue. Doppelt so viele Stammtische wie Personen. Fragend blickte er Dottore Alfonso Pantatti an. Er war einer der Wenigen, dem er nach dem Fund einer Leiche vertraute. Sofern es möglich war, war er mit ihm als Erstes am Tatort, damit dieser als Arzt eine Einschätzung geben konnte. Pantatti zuckte mit der Schulter und seinen Augenbrauen, schaute ebenso zur Leiche, inspizierte sie mit den gleichen Kopfbewegungen und entgegnete dabei in seinem typischen hackenden und kauenden Venezianisch:

„Sa vàrdito ti? Was guckst du so? Da reichen schon weniger als fünf Minuten. Der Monsignore ist – scusa! – war nicht mehr der Jüngste. Atemnot tritt in einer solchen Situation ...”, nun schaute er Berlingui in die Augen und ahmte den Sterbenden mit Gesten und Lauten nach, „... bereits nach einer halben Minute ein. Denk an die Panik, die ihn sofort erfasst, Piero. Der ganze Körper reagiert angespannt, die Atmung wird flach, der Kreislauf reagiert, der Schock tritt ein und – wupps – sinkt die Pulsfrequenz.”

„Aber wie kommt der Schlamm in seinen Mund? Ich hätte gedacht, dass man in so einem Moment alles versucht ihn zu schließen oder das Zeug versucht auszuspucken.”

„Der Täter hat ihm wahrscheinlich erst die Nase zugehalten und dann, als er Luft holen wollte, das heiße Zeug auf's Gesicht und in den Mund gekippt. So dass er, als er schreien wollte, quasi als Reflex einen Teil des Schlammes geschluckt hatte. Er brauchte ihm nur noch die Hand auf den Mund pressen und ein wenig warten, bevor er ihm dann noch den Eimer mit dieser noch heißen und verflucht schweren Fango auf das Gesicht gestürzt hatte ...”

„Was? Einen Eimer? Mit diesem Zeug?”

„Invesse sì, ja doch, den hatte Garatta vorhin ... natürlich ... er wollte ja helfen, als er wieder reinkam, mit der ganzen Fango weggenommen. Aber da war’s natürlich schon zu spät. In dem sind sicher fast zwanzig Kilo von dem Zeug drin gewesen.”

Pantatti blickte wieder durch die Tür, hob abermals seine Schultern und wedelte mit seinen ausgestreckten Armen wie eine gestutzte Gans. Aber der Spuk war nicht zu vertreiben.

„Der Täter musste den Eimer dann höchstens noch zwei Minuten gut festhalten, damit er nicht durch die letzten, wie soll ich sagen - Zuckungen heruntergeworfen wird. Dabei hat er sich womöglich noch auf Tossatellos Bauch gelegt und schon hatte der keine Chance mehr. Du musst bedenken, dass er ja auch noch in diesen Tüchern eingewickelt war. Er hatte also keinen Arm frei und war damit vollends unbeweglich. Da kannst du dich wirklich nicht mehr rühren. Glaub mir, dann geht alles ganz schnell. – Und hören tut dich mit einer solchen Gesichtspackung auch keiner.”

Berlingui griff sich unbewusst an seinen Hemdkragen und öffnete einen weiteren Knopf. Der weiße Kragen seines Hemdes war jetzt schon durch die Hitze, die aus den immer noch warmen Räumen strahlte, durchgeschwitzt und wurde von weiteren Tropfen seines rinnenden Schweißes noch nasser. Mit einem auseinandergefalteten Taschentuch trocknete er sich das Gesicht, dann zog er endlich die für diese Umgebung viel zu warme Jacke seines nicht ganz billigen Anzugs aus und warf sie achtlos zu seiner Lederjacke, die bereits über einem Stuhl neben ihm lag. Sein Hemd war unter den Achseln ebenso sichtbar schweißgetränkt. Noch ein Grund, solche Arbeiten zu hassen. Er missachtete die potenziellen Zeugen und ging Maße abschätzend durch den Raum. Der Täter hatte in der Tat sauber recherchiert. Die Wege waren so kurz, dass er, auch durch die Anordnung der Räume, nur kurz zu sehen gewesen wäre, bevor er zu Tossatello gelangte. Dann blickte er kurz in den Vorraum. Ein römischer Tempel mit Säulen und durch das Licht der Neonröhren doch nur ein Wartezimmer eines OPs im Krankenhaus.

Die Vorstellung, dieses Jahr im Sommer einige Tage mit Carla, seiner Frau fast zu Hause im Nachbarort Montegrotto verbringen zu wollen und dabei in einer Fangopackung zu liegen und leise vor sich hin zu garen, während der heiße Schlamm ihm im flimmernden Licht des Leuchtgases den Atem nahm, ließ ihn nun seine Pläne überdenken. Er drehte sich um, nun mit der nötigen Laune ausgerüstet. Sauer, verärgert und geladen. Zeugen dürfen nur sachlich relevante Fragen gestellt werden, Die gesamte Aussage ist zu protokollieren, dem Zeugen vorzulesen und von ihm zu genehmigen. Ihr könnt mich mal!

„Mannaggia la Madonna! Verdammt noch mal! Garatta! Haben Sie wirklich nichts mitbekommen? Geräusche? Schritte? Ein Ächzen? Irgendetwas, das Sie hätte wundern müssen? Nein? Das gibt’s doch nicht. Sie sind ja nicht alleine hier und die Räume sind keine Ballsäle. Nirgendwo steht eine Kapelle, die ablenkt. Da können Sie sich sogar mal unterhalten. Wie viele seid ihr hier unten?”

„Heute nur zwei. Nein, Signor Commissario, es hat doch höchstens sechs oder sieben Minuten gedauert. Wirklich nicht mehr. Wirklich.”

Auch ihm lief der Schweiß über sein erschrecktes, blasses Gesicht. Wieder folgte die inzwischen bekannte Litanei:

„Wir wickeln die Herrschaften ein, schauen in die Gesichter, nicht dass ihnen schon währenddessen schlecht geworden ist oder der Kreislauf einen Streich spielt, dann gehen wir in den nächsten Raum. Wir zwei haben jeder gerade nur vier Gäste. Das Haus ist noch nicht so voll wie später in der Saison. Dann sind wir oft zu dritt und haben jeder sechs, der Ein oder Andere sogar sieben.”

„Selbst sechs Minuten kommen mir lang vor. Da kann doch in der Zwischenzeit jede Menge passieren. Kontrollieren sie nicht, was mit ihren Patienten sein könnte?”

„Natürlich, aber ... Die Leute heute ... Das sind alles Gäste, die wir kennen ... Da erzählt man in der nächsten Kabine etwas länger ... Bisher ist noch nie ...“, er zuckte resignierend mit den Achseln.

„Sie packen die Leute also in den Fango ein, schlagen Wolltücher um sie herum und zurren sie ...“, Berlingui schaute ungläubig wieder zu dem leblosen Körper Tossatellos, der an den Beinen immer noch wie eine Mumie eingewickelt war, „... fest?”

„Nein, ich habe es doch schon dem Herrn Ispettore dort gesagt, das Tuch wird nicht allzu fest über den Körper geschlagen und nur an einer Seite etwas unter ihn geschoben, damit die Wärme nicht entweicht. Darüber legen wir lose eine weitere Decke und mancher von uns zusätzlich ein Handtuch mit dem wir dann ab und zu Schweiß vom Gesicht der Gäste abtupfen.”

Berlingui spürte eine Hand auf seiner Schulter und wandte seinen Kopf. Ispettore Benito Collasso stand neben ihm. Seine Uniform war nach wie vor hoch geschlossen. Lediglich die Mütze hatte er sich unter seine Achsel geklemmt. Berlingui fragte sich, bei welchen Temperaturen und Gelegenheiten sich der viel zu dürre und immer kränklich wirkende Collasso wohl jemals die Knöpfe seiner Jacke öffnen würde. Selbst im letzten, an manchen Tagen viel zu heißen Sommer hatte er entweder seine Uniform oder einen korrekten Anzug an.

Für den bisher noch nicht erlebten Zeitpunkt gab es in der Questura einige herbe Gerüchte. Irgendwann hatten ein paar Kollegen nämlich passende und pikante Lebensdetails herausgefunden und dem Ispettore deswegen den Spitznamen Nuttolini verpasst. Sein Vorname passte einfach zu gut auf das, was man sich untereinander erzählte. Als Collasso von diesen Neckereien erfuhr und gleichzeitig seine Karriere ins Stocken geriet, wollte er seinem Chef alles erklären, denn obwohl er seit bald acht Jahren in dessen Abteilung arbeitete, hatte der Commissario keine Ahnung von seinem Leben. Um Berlingui einen Einblick zu geben, wählte Collasso die direkte Form und lud ihn ein. Berlingui dankte und ging mit ihm ins „Chez Silvia”, dem Benito allwöchentlich einen Besuch abstattete, um – Glauben Sie mir! Ich schwöre es! – höchstens etwas zu trinken und jemanden zu treffen, den es nun galt vorzustellen. Das Glas, mit dem sie anstoßen wollten, hielt dem Commissario dabei eine praktisch nackte Schönheit hin, die dafür prädestiniert war, jede weitere, kaum auszusprechende Hitze zu erzeugen. Berlingui hatte so etwas schon vor dem Eintritt geahnt, kein Wunder, nachdem er den ersten Meter des Ganges sah, in dem er dann stand. Aber statt umzukehren, machte er das Spiel mit. Allerdings hatte er den wahren Grund an diesem Abend dann doch nicht kennengelernt. Sie war mit einem Anderen beschäftigt. Am Ende waren sie beide auch zu angesäuselt, als dass eine Erklärung noch alles hätte zurechtrücken können.

Der Blick des Ispettore verriet von da an nichts von dessen Gefühlen. Nicht einmal Berlingui. Die Aktion war danebengegangen. Danach war Collasso klar, dass er zwar einen Mitwisser, aber keinen Verbündeten gefunden hatte. Um dies auszugleichen hatte er seine Persönlichkeit seitdem durch unentbehrliche Dienstlichkeit ersetzt. Auch jetzt setzte er, wie immer seit dieser Zeit und in solchen Situationen, nichts anderes als eine übertrieben wichtig gemachte Miene auf, von der er glaubte, dass sie ihn genug von üblen Behauptungen und Fehleinschätzungen distanzieren würde. Mit diesem Gesichtsausdruck also deutete er nun hinter sich. Dort standen fünf Personen der Größe nach aufgereiht vor einer der Terracotta-Nymphen, die den Commissario am Morgen noch an eine der Najaden in Caserta erinnerte.

„Was soll das, Collasso?”, zischte Berlingui ungehalten, „sind wir jetzt schon bei der Gegenüberstellung angelangt?”

„Signor Frantelli, der Eigentümer ...”, der Inspektor blieb auch jetzt unerschüttert und zog den Commissario wie ein kleines Kind am Arm, den Berlingui ihm mit einer ebenso kindlichen, unwilligen Bewegung entriss. „... Ludovico Spazzatto der zweite Fanghino hier, Paolo Ruffo ein Masseur, Anna Scarpa ein Zimmermädchen...”, Berlingui guckte auf die sowohl sehr kleine und als auch sehr untersetzte Frau hinunter und fragte sich, ob Collasso noch alle Tassen im Schrank hatte, Zimmermädchen, doch dieser hatte sich schon einem noch kleineren und noch dickeren Mann zugewandt, „... Luigiano Zabborra vom Empfang. Ich habe gedacht, dass es vielleicht wichtig ist, sie alle hier zu haben, bevor ...“, Collasso drehte den Fünfen seinen Rücken zu und näherte sich mit schützenden Händen und flüsternd dem rechten Ohr des Commissarios, „... die ganzen Straßen hier Bescheid wissen.”

Der Commissario hob beide Hände vor die Brust und wippte mit den Fingerspitzen nach oben vor seinen vornübergebeugten Körper, als wenn er tropfende Oliven in seinen Mund schieben wollte. Die typischste aller italienischen Handbewegungen. Manchmal trieb ihn die Art des Ispettores einfach zur Weißglut.

„Collasso! Ich bitte Sie! Inständig! Sie müssen heute ihren Namen nicht unbedingt an mir verwirklichen“, stieß er aus einem Mundwinkel in das Ohr des Inspektors, der still in sich hineinlächelte, weil er diese Attacken nur zu gut kannte und Berlingui sie am nächsten Tag durch sein Verhalten erkennbar bereute.

Berlingui riss sich zusammen und reichte Frantelli mit einem eingeübten, aber eindeutig kalten Lächeln seine rechte Hand. Ohne eine Frage gestellt zu haben, kannte der Commissario bereits sämtliche Antworten, alle Variationen von Ausflüchten. Denn sicher folgte nun die Erklärung, dass es doch eigentlich keinen Ermordeten gab. Sondern eher ein Unglück. Der Ruf, die Geschäfte, die ganze Reputation des Hauses waren nun von einer Person abhängig, die – nun – ja gut – vielleicht nicht ganz freiwillig – aber lediglich – gestorben war. Egal wie wichtig sie zuvor gewesen war, nun konnte sie nichts mehr bewegen, verändern und beeinflussen. Alles würde sich eh als Unfall oder ähnliches herausstellen, schlimmstenfalls als unvorhersehbares Malheur.

Frantelli antwortete mit einem laschen Händedruck und musterte den Commissario mit blassen Gesichtszügen.

„Ich weiß“, setzte Frantelli mit leise fiepender Stimme an, „es ist vielleicht nicht der richtige Augenblick, aber im Hotel ist bereits eine ...”, Frantelli hüstelte, „... Unruhe entstanden. Natürlich ist das ein ungeheuerlicher und unglaublich schrecklicher Vorfall, man denke allein an den Rang der Person, seiner Funktion und die Hinterbliebenen. Ich werde selbstverständlich alles tun, um die Aufklärung so schnell wie möglich zum Erfolg kommen zu lassen, aber können wir den Gästen gegenüber... nun... ja gut... ich meine... was ich sagen will... nicht behaupten, dass es ein unglücklicher Todesfall gewesen ist, sozusagen ein Infarkt, und die Anwendungen noch heute fortsetzen? Es soll ja nicht Ihre Arbeit einschränken, aber wissen Sie, der Ruf des Hauses...”

Berlingui winkte unwirsch mit einem fliegenden Handrücken ab. Die Worte Frantellis waren nichts anderes als lästige Fliegen, die seine Ohren umschwirrten. Waren der erwartete ständige Blödsinn. Passten zu diesem unsäglichen Tag. Seine Ahnung hatte ihn wieder mal nicht im Stich gelassen. Frantelli durfte deshalb ruhig die volle Breitseite seiner Autorität abbekommen. Diese emotionslosen Weisen der Wirtschaft, die in allen Lebenslagen glaubten, den Staatsapparat mit ihren nicht gezahlten Steuergeldern bestechen und abhängig machen zu können, waren ihm seit jeher zuwider. Reine Geschichtenerzähler. Der Eine so schlimm wie der Andere. Die Wut ihn ihm war jetzt schon kaum bezähmbar. Darum hatte er auch keine Lust, sich zu beherrschen und entgegnete mit fast bebendem und drohendem Ton, dem sofort jeglicher höfliche Klang abhandengekommen war:

„Geht es Ihnen gut? Oder wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Frantelli? Erstens wird von Ihnen heute kaum jemand so schnell das Haus verlassen, zweitens wird hier so lange und so viel Material wie möglich gesammelt, und wenn ich jeden Zwischenraum der Fliesen auskratzen lasse – und drittens handelt es sich hier offensichtlich um einen Mord, der sowieso morgen von jedem Gast in der lokalen Presse bis ins letzte Detail nachgelesen werden kann.”

Damit war dieses Gespräch für Berlingui beendet. Wenn je noch eines folgen sollte, würde Frantelli keine Chance mehr haben, Konditionen aushandeln zu können. Der Commissario wendete sich abrupt und ostentativ dem kleinen Mann von der Rezeption zu, verbarg hinter einer Hand einen Gähner und fragte sich, wie dieser Winzling seine Arbeit hinter der Theke verrichten konnte ohne dort übersehen zu werden. Er konnte sich gerade noch zurückhalten ihm über den Kopf zu streicheln, als er ihn zur Seite nahm und mit einer Hand auf dessen Rücken von den Übrigen wegschob.

„Signor Zabborra, trägt nicht eine Villa in der Nähe ihren Namen?”

Zabborra senkte seinen Blick sichtlich geschmeichelt zu Boden und wackelte dabei mit seinem Kopf. Dann schaute er an dem deutlich größeren und auch wesentlich schlankeren Commissario empor.

„Nein, die Villa Zaborra schreibt sich nur mit einem B. Unser Name leitet sich vermutlich leider von einer Verballhornung ab: Zappare, was ja so viel heißt wie im Garten rumhacken. Meine Vorfahren waren in ihrem eigentlichen Beruf wohl sehr schlecht“, Zabborra lachte glucksend, „und deshalb habe ich auch einen ganz anderen gewählt – Beruf meine ich.”

Berlingui nahm fast regungslos und etwas unaufmerksam den kleinen Sprachunterricht entgegen. Stattdessen sehnte er sich nach einer endlich guten Tasse Espresso, die seine Sinne schärfte. Er lächelte Zabborra steif an:

„Sie können sich vielleicht denken, was ich Sie fragen möchte. Ist Ihnen vielleicht heute Morgen oder in den letzten Tagen im Vorfeld irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?”

„Heute Morgen? Nein. Bisher nicht. Mein Dienst beginnt immer erst um sieben und da war der Monsignore ja bereits – äh – verschieden.”

Berlingui stutzte. Das Bisher nicht hielt er ja noch für einen misslungenen Scherz und schaute daher Zabborra wenig amüsiert an. Aber hatte er recht gehört? Bereits verschieden? Brauchte man heute am Empfang eines Hotels Witzbolde und Lyriker in Personalunion?

„Gibt es keine Übergabe? Der Nachtportier müsste Sie doch eigentlich schon längst verständigt oder ihnen wenigstens etwas erzählt haben?”

„In der Vor- und Nachsaison beschäftigen wir noch keinen Nachtportier. Signor Frantelli wohnt hier im Haus und hatte aus verständlichen Gründen nicht die Zeit gehabt... Auf jeden Fall steht er bei Bedarf zur Verfügung, damit er auf irgendeine Art eingreifen kann. Doch das ist eher selten der Fall. Nur in den Wochen über Ostern und im Mai bis Ende August arbeiten Studenten als Nachtwache bei uns, dann sind so viele Gäste da, dass fast jede Nacht ein Problem auftaucht, für das dann auch eine Lösung gefunden wird. Irgendjemand hat dann plötzlich Durst, verspürt Hunger oder möchte...”

Der Commissario beendete die Aufzählung mit einer Handbewegung.

„Das bedeutet, das Hotel ist über Nacht nicht bewacht und abgeschlossen? Bis um wie viel Uhr?”

„Gegen sechs Uhr morgens schließt einer der Masseure, Fanghinos oder jemand vom Frühstücksservice auf. Es gibt tatsächlich einige Gäste, die vor dem Frühstück noch einen kleinen Spaziergang machen, wenn es das Wetter erlaubt.”

„Nun, sei’s drum, Monsignore Tossatello, was können Sie mir über ihn erzählen? War er ein Stammgast ihres Hauses, kannten Sie...”

„Monsignore Tossatello“, Frantelli schaltete sich mit einem hörbar beleidigten Ton ein, womöglich hatte ihn die andauernde verbale Übereignung des Hotels an Zabborra durch den Commissario gestört, „...kam seit nun fast fünfzehn Jahren hierher, um sich von seinen schweren Aufgaben in Rom zu erholen. Ein sehr angenehmer, gut gekleideter und ruhiger, aber auch eloquenter Herr von ausgesprochen honoriger Höflichkeit. Hin und wieder setzte er sich mit Gästen in der Bar an einen Tisch und diskutierte auf höchstem Niveau mit ihnen über das Weltgeschehen.”

Der prosaische Ton schien Bestandteil des Hauses zu sein.

„Konnte er sich den hier frei genug bewegen ohne gleich Aufsehen zu erregen? Immerhin war er doch eine Person des, man würde sagen, öffentlichen Lebens in entsprechender Kleidung.”

„Natürlich, auch wenn er in Rom höhere Aufgaben zu erfüllen hatte, gaben ihm die Tage in unserem Haus, auf Grund unserer Organisation und baulichen Gegebenheiten, die Möglichkeiten sich hier unbedrängt zu entspannen und auch nach Belieben anders zu kleiden.”

„Tragen diese Herren nicht immer ihre Soutane mit einem – äh – violetten Zingulum?”

Der Commissario bemerkte widerwillig, dass er bereits den geschwollenen Ton des Hauses nachahmte.

„Selbstverständlich, wenn er zu den Mahlzeiten kam, aber auch diese war immer sehr gepflegt.”

Berlingui betrachtete den graugewordenen Bademantel, den er von seinem Standpunkt hinter der Tür des kleinen Raumes immer noch hängen sah und zog seine Augenbrauen hoch. Vielleicht hatte er durch seine schlechte Laune heute verlernt, Fragen zu stellen. Kein Wunder, jede Leiche ist hässlich und der Espresso glich einem Attentat. Vielleicht war das hier aber auch eine verlogene Bande, von der die richtigen Antworten schlichtweg verheimlicht wurden. Normalerweise hatte jeder bei so viel Beteiligten immer eine komplette Anekdotensammlung parat. Aber jetzt gab es irgendwie keine brauchbare Ernte. In genau diesem Moment kam die Scarpa auf ihn zu:

„Ich möchte nicht unhöflich sein“, sie nickte, sich entschuldigend, Signor Frantelli zu, „aber der Monsignore trug abends häufig auch einen Anzug, wenn er nach dem Essen von seinem Zimmer zurückkehrte und noch einen kleinen Spaziergang machte. Ich habe ihn ab und zu auf dem Flur getroffen, weil ich während der Tischzeit die Betten für die Nacht vorbereite und auf ihnen die Nachtgewänder der Gäste lege. Er war wirklich immer sehr nett und grüßte mich jedes Mal mit einem Handschlag.”

„Haben Sie dabei erfahren, was er dann an diesen Abenden vorhatte?”

„Nein, wo denken Sie hin“, die Scarpa entrüstete sich unnötig, „so was frage ich die Gäste doch nicht. Ich habe ihm höchstens einen guten Abend, einen schönen Spaziergang oder eine angenehme Nacht gewünscht.“

Sie unterbrach sich. Plötzlich wurde ihr Mund spitz und der Kopf wackelte wie das Pendel eines Metronoms hin und her. Es sollte eine bedeutende Äußerung folgen:

„Vor ein paar Tagen hat er allerdings mal erwähnt, dass er bei Antonio Olivero vorbeischauen wollte, das ist der Inhaber eines Antiquitätengeschäftes in der Fußgängerzone der Viale delle Terme, der hat an manchen Abenden, vor allem an den Wochenenden, wenn es warm ist, fast bis Mitternacht auf. Das hat er immer wieder ausgenützt. Dort wollte er vorbeischauen, denn er sammelte alte chinesische Knöpfe, Nephen...”

Berlingui kannte den Laden gut. An Abenden und Sonntagen, an denen er seine viel zu selten freie Zeit etwas genießen konnte, fuhren er und Carla häufiger die im Grunde genommen kurze Strecke von Padua nach Abano hinüber, um bei schönem Wetter durch den Ort zu bummeln. Dabei trieb es ihn immer wieder in diese Schatzkammer angeblich alter und originaler Dinge, während sich Carla von den bunten Eistürmen beim Caffè Fontana verführen ließ und sich eine Waffel voller bunter Bälle zusammenstellte. Immer wieder versuchte er dabei, hinter das System Oliveros zu kommen, mit dem er seine Bilder, Teppiche, Gläser, Pokale und andere antiken Stücke auspreiste. Glaubte er den an römische Zahlen erinnernden Code geknackt zu haben, musste er feststellen, dass der Preis ein vollkommen anderer war, wenn er die Summe hörte, die Olivero dann von einem Interessenten verlangte. Wahrscheinlich gab es irgendwo zwischen den Zeichen versteckt noch einen Code für die Anwendung einer Formel für Wochenende, Touristen und Kuraufschläge. Auch war ihm nicht immer klar, ob all die Bilder und Exponate, die auf der Vorderseite häufig bedeutende Künstlernamen trugen, auch von diesen stammten. Er lächelte die kleine Frau fast schon zu sanft an und meinte:

„Netsuken! Und die kommen schon immer aus Japan.”

„... sag ich doch, von denen hat er mir einmal zwei gezeigt. Komische Dinger, der eine sah aus wie ein dicker Mönch mit einem Tier im Arm und die andere war eine kleine, genauso dicke, splitterfasernackte Frau. Mein Gott, war die nackt! Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Diese Teile waren auch viel zu groß für einen Knopf. Sie können sie sich anschauen. Er hat sie alle schön eingepackt in einem Kelch auf seinem Zimmer gesammelt. Dinge gibt’s.”

Berlingui schaute sie belustigt an. Er überlegte ob auch die Scarpa zum Ausgleich als Netsuke zu gebrauchen wäre und versprühte sein Kunstwissen:

„Das sind auch keine üblichen Hemd- oder Hosenknöpfe, wie wir sie verwenden würden, sondern Gürtelknöpfe mit denen man zum Beispiel Geldbörsen an diesem befestigte“, Berlingui schaute nach rechts, „Spazzatto, wo waren Sie in dem Moment?”

„Als der Monsignore bei Olivero war?”

„Nein, mein Lieber, als man neben Ihren Augen ihn mit Fango zum Schweigen brachte“, entgegnete Berlingui gereizt. Inzwischen war er von dem ganzen wichtigtuerischen Geschwätz wach geworden.

„Sie glauben doch nicht ...”

„Noch glaube ich gar nichts, wo waren Sie also?”

„In Kammer Drei. Bei Signora Mistretti. – Sie braucht zwei Stöcke, um sich auf den Beinen zu halten und laufen zu können. Ich muss ihr helfen, damit sie sich hinlegen kann. Sie braucht dafür eine kleine Trittleiter. Die Liegen sind höher als ein Bett.”

„Wie ist es mit Ihnen, haben Sie etwas wahrgenommen, Geräusche, ein Auto, Schritte, die Sie nicht kannten, oder ein Licht, das grundlos an- oder ausging? – Verdammt nochmal, es braucht sich hier keiner zu schämen, wenn er etwas mitbekommen und es falsch gedeutet hat.”

Berlingui erhielt ein süffisantes Kopfschütteln und eine deutlich missbilligende Antwort.

„Wenn wir in die Kammern gehen, schließen wir die Tür, sonst kann ja jeder zusehen wie die Herrschaften sich entkleiden. Dann drehe ich das Wasser für das anschließende Sitzbad auf. Es läuft auch Musik die ganze Zeit und ...“, Spazzattos Ton wurde noch spitzer, „... es kommt durchaus vor, dass ich mit Gästen spreche. Da höre ich nicht, was draußen passiert, außer jemand drückt den Notknopf oder zieht an der Schnur der Alarmglocke. Und ich brauche bei Signora Mistretti gute fünf Minuten bis ich wieder herauskomme. Sie braucht bei allem Hilfe ...”, Spazzatto lehnte sich etwas nach vorne, sah dabei mit schielenden Augen schnell nach links und rechts und flüsterte: „... sie ist nicht gerade schlank.”

„Und anschließend gehen Sie zum nächsten Patienten?”

„Gast! Die Leute hier sind Gäste. Wir sind keine Klinik, sondern ein Hotel. Nein, nach Signora Mistretti war ich heute mit dem Einpacken fertig. Danach schaue ich immer noch einmal kurz durch die Türen zu den anderen Gästen. Falls etwas gemacht werden müsste. Wissen Sie, einige Leute haben Schwierigkeiten, wenn der Fango etwas zu warm ist, richtig Luft zu bekommen und dann lockere ich die Tücher ein wenig und tupfe ihnen den Schweiß mit einem kühlen feuchten Handtuch ab.”

„Können Sie sich vorstellen, woher der Täter den Fango hatte?”

Spazzatto lachte provozierend frech und sein Blick verriet unverblümt, dass er diese Frage des Commissarios erst recht für vollkommen albern und dilettantisch hielt. Hatte man bei der italienischen Polizei keine anständigen Kommissare mehr? Oder tarnte man dort untere Ränge einfach mit höheren Dienstgraden? Auf jeden Fall schienen sich die Detektive in den Romanen, die er bisweilen in seinen Mittagspausen las, beim Befragen ihrer Zeugen um Einiges intelligenter anzustellen, nachdem sie zuvor am Tatort wenigstens gründlich recherchiert hatten.

„Davon haben wir doch wirklich genug hier. Draußen im Hof in den Reifebecken liegen Tonnen davon.

Da braucht man sich nur einen Eimer voll zu nehmen und ...“

„Spazzatto“, Berlingui wedelte mit einem unsichtbaren, großen Wasserball zwischen seinen Händen, „Sie werden es kaum glauben, aber das habe ich auch schon gesehen“, dann verschränkte er mit zurückgelegtem Kopf die Arme vor seinem Körper und imitierte Spazzattos Tonfall, „doch wenn der Täter in diesem Fall nur wenige Minuten Zeit hat, dann muss er sich wirklich sputen, um nicht entdeckt zu werden. Je länger er nämlich dort draußen um die Becken rennt und in ihnen rumgräbt, steigt die Gefahr, dabei beobachtet zu werden! Deshalb bin ich davon überzeugt, dass der Fango nicht aus diesen Reifebecken stammt.”

Mit diesen Worten schenkte er Spazzatto einen letzten stechenden Blick und ging auf Paolo Ruffo zu. Die ganze Zeit hatte sich dieser lässig an eine Säule gelehnt, seine Fingernägel mit einem Zahnstocher gesäubert und den Eindruck hinterlassen, dies alles hier ginge ihn nichts an. Spazzatto schaute dem Commissario beleidigt hinterher und machte eine wegwerfende Handbewegung. Zur Scarpa gewendet flüsterte er: „Was der von dem jetzt wohl noch wissen will?”

Die machte einen Schritt zur Seite und zuckte gleichgültig mit den Schultern.

„Was hatten Sie eigentlich um diese Zeit hier unten zu tun, Ruffo?”

„Ich war gerade eine Minute, bevor Umberto um Hilfe geschrien hatte, zum Arbeiten gekommen und war genau deswegen hier.”

„Die Massageräume sind doch in einem ganz anderen Gang weiter oben im Gebäude, haben Sie dann nicht auch schon Dienst gehabt?”