Keine Rückkehr - Andreas Heßelmann - E-Book

Keine Rückkehr E-Book

Andreas Heßelmann

4,8

  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Ausgerechnet als er sich auf Mallorca von einem Mordanschlag erholen soll, findet der aus Padua stammende Commissario Berlingui schon nach wenigen Tagen in unmittelbarer Nähe zu einem kleinen Kloster die Leiche einer jungen Frau. Am liebsten würde er sich aus den Untersuchungen heraushalten, doch Inspector Sanchez Olivero bindet ihn in einen immer komplexer werdenden Fall mehr und mehr ein.Ein rasanter, harter, mitunter dunkler und leider immer aktuell bleibender Krimi.„Andreas Heßelmann packt mit einer erstaunlichen Souveränität und großem Können, immer wieder heiße Themen unserer Zeit an.“ (Thomas Fislage)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 411

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
15
3
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Zeit ist eine geräuschlose Feile

(italienisches Sprichwort)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

27. September, 9 Uhr 10

27. September, 11 Uhr 55

27. September 14 Uhr 35

28. September, 10 Uhr 15

28. September, 10 Uhr 20

28. September, 10 Uhr 25

28. September, 10 Uhr 30

28. September, 10 Uhr 45

28. September, 11 Uhr 15

28. September, 11 Uhr 30

28. September, 14 Uhr 10

28. September, 14 Uhr 25

28. September, 15 Uhr 05

29. September, 9 Uhr 10

29. September, 13 Uhr 40

29. September, 15 Uhr 25

29. September, 17 Uhr 10

29. September, 20 Uhr 40

29. September, 21 Uhr 50

30. September, 8 Uhr 35

30. September, 10 Uhr 40

30. September, 16 Uhr 15

30. September, 17 Uhr 55

30. September, 19 Uhr 10

30. September, 21 Uhr 20

30. September, 22 Uhr 05

1. Oktober, 2 Uhr 15

1. Oktober, 9 Uhr 15

1. Oktober, 10 Uhr 35

1. Oktober, 11 Uhr 45

1. Oktober, 16 Uhr 20

1. Oktober, 16 Uhr 35

1. Oktober, 16 Uhr 50

1. Oktober, 17 Uhr 00

1. Oktober, 17 Uhr 15

1. Oktober, 18 Uhr 10

1. Oktober, 21 Uhr 20

2. Oktober, 10 Uhr 10

2. Oktober, 10 Uhr 25

2. Oktober, 10 Uhr 55

2. Oktober, 11 Uhr 20

2. Oktober, 11 Uhr 35

2. Oktober, 11 Uhr 55

2. Oktober, 12 Uhr 25

2. Oktober, 13 Uhr 15

2. Oktober, 13 Uhr 40

2. Oktober, 15 Uhr 35

2. Oktober, 15 Uhr 55

2. Oktober, 16 Uhr 10

2. Oktober, 16 Uhr 15

2. Oktober, 20 Uhr 35

2. Oktober, 22 Uhr 20

2. Oktober, 22 Uhr 35

2. Oktober, 22 Uhr 50

2. Oktober, 23 Uhr 45

3. Oktober, 5 Uhr 15

3. Oktober, 5 Uhr 25

3. Oktober, 8 Uhr 15

3. Oktober, 8 Uhr 25

3. Oktober, 8 Uhr 40

3. Oktober, 8 Uhr 45

3. Oktober, 9 Uhr 00

3. Oktober, gleiche Zeit

3. Oktober, 9 Uhr 05

3. Oktober, 10 Uhr 20

3. Oktober, 12 Uhr 05

3. Oktober, 20 Uhr 30

3. Oktober, 23 Uhr 40

4. Oktober, 17 Uhr 50

5. Oktober, 0 Uhr 40

6. Oktober, 7 Uhr 30

6. Oktober, 8 Uhr 20

Prolog

„Hauen Sie ab“, hatte Sfarzi gesagt und dabei mit seinen Armen gewedelt, „hauen Sie ab! Verschwinden Sie! Von mir aus gleich für drei oder vier Wochen. Und wenn‘s sein muss auch länger. Mir fast egal. Sie müssen raus aus dem Bau. Abstand gewinnen. Diesen ganzen Mist hinter sich lassen und vergessen. Machen Sie mal richtig Urlaub. Ich weiß sowieso nicht, wann Sie das letzte Mal weg waren. Am besten verlassen Sie sogar das Land, statt in Ihrem Garten rumzuhängen. Gehen Sie weit weg, in die Bretagne, Mongolei oder Atacama, nach Schweden, oder ... vollkommen einerlei ...”, er machte noch eine als Witz gedachte Handbewegung dazu, „gehen Sie doch nach Mallorca. - Da ist es ganz besonders schön und vor allem still. Denn sie treffen kaum einen Landsmann.”

Sfarzi lachte bei den letzten Bemerkungen und wackelte auf seinem Stuhl wie ein Kind hin und her.

„Das würde nämlich gerade noch fehlen. Umzingelt von Italienern. Die schöne Ruhe wäre dahin. Mitsamt der Erholung. Und im Übrigen findet Ihre soziale Ader dort auch ihre Ruhe. Sie könnten mit einem Aufenthalt Wiedergutmachung leisten, für die ganzen Gräueltaten, die Mussolini und Co während des Bürgerkrieges dort hinterlassen haben. – Mensch, Piero, ich kann mir keinen seelisch und körperlich ramponierten Commissario leisten. Hauen Sie ab! Tanken Sie auf! Danach sehen wir weiter.”

Drei Monate hatten sie an ihm herumgebastelt. Aufgeschnitten, zugenäht und wieder irgendwo aufgeschnitten. Dann lachten sie und meinten, keine Frau würde für noch so viel Geld so gründlich behandelt und verschönert werden. Ja, bei ihm wäre doch eigentlich nur Arm und Bein wiederherzustellen. Von der ekligen, zu einer wulstig gewordenen Narbe auf seiner Brust sagten sie nichts. Die hatten sie einfach zugeklebt. Aber dieses Gefühl in seinem Kopf konnten sie so nicht reparieren. Mit keinem Pflaster. Dafür fehlte ihnen das Werkzeug. Da half auch kein Verband und keine Schere. Hier ging es nicht einfach um Wunden und nicht um Schmerz. Das war nichts für ihre dämlichen Tabletten. Hier ging es um die Ungeheuerlichkeit, die dahintersteckte. Die er nicht verstand, weil sein Bewusstsein seit dem Moment des Aufpralls nicht die Möglichkeit bekommen hatte, es irgendwie nachzuvollziehen. Als man ihm versprach, das in den Griff zu bekommen, fand er sich in einem weichen Ledersessel wieder. Aber das Gequatsche dieser Psychologin ging ihm bereits nach dem ersten Tag auf die Nerven. Ihr Gesicht passte zu jedem einfachen Berufe-Rate-Quiz im Fernsehen. Selbst ohne hinzugucken hätte er sie als Therapeutin entlarvt. Diese lebende Stereotype. Diese zweibeinige, dozierende Zeile aus dem Lehrbuch im Staatsdienst. Allein schon wie sie sprach, als wenn sie mit ihm ein Rhetoriktraining absolvierte, statt sich in seinen Zustand einzufühlen. Dabei jedes Wort und jede Silbe ü-ber-deut-lich betonend. Vollkommen emotionslos. So könnte man Steine zum Wegrennen bringen, aber nicht Menschen neuen Lebensmut einhauchen. Da war nichts Fürsorgliches, Mütterliches, geschweige Weibliches dran. Man hätte ja wenigstens auf die Optik, ihre Optik, Acht geben können, bevor man ihm so etwas vorsetzte. Carla durfte ja nicht mit. Sie ist befangen, viel zu dicht dran, das müssen Sie doch verstehen, hieß es. Nein, er verstand es nicht. Aber wenigstens so eine wie Vio wäre gut gewesen. Eine mit Witz und Geist - und diesem unnachahmlichen Sex-Appeal, dem jeder Anstand fehlte und der trotzdem so überaus anständig war. Trotz des ständigen Eroberungsfeldzugs mit dünnen Klamotten und schwingendem Hintern. Der allein schon hätte jede Therapie ersetzt. Aber auch diese Ablenkung gestand man ihm nicht zu, denn die Psycho-Tante war klapperdürr wie eine Gottesanbeterin und ihre Armhaltung passte auch irgendwie dazu.

Nachts verfolgte ihn immer noch die Hand mit der Mini-Uzi, dieser kleinen MP, die unaufhörlich den Abzug drückte, die er anstarrte, nachdem die Seitenscheibe schon längst hochgefahren war und der Rest von dem dazugehörigen Körper bereits an der Autotür seines Wagens hing. Dieses enervierende, fast übertrieben und provozierend langsame Tackern der Salve vertonte nahezu live solche Nächte. Und jedes Mal deutlicher und mehr in Zeitlupe sah er den Kugeln dabei zu, wie sie ihm Arm und Bein zerschlugen. Hörte er deren Zischen in der Luft und das ekelige Pflatschen, als sie sein Fleisch mit hässlichen Wunden zerfetzte. Löcher, die Carla nachts in den letzten drei, vier Wochen im Dunkel des Zimmers gnädigerweise dann nicht mehr wahrnahm, wenn sein zerbeultes Ich ein kurzes Vergessen, eine kurze Erlösung in ihrem Körper suchte. Wenn gleichzeitig dieses Fragezeichen in seinem Kopf sich aufplusterte und genau in diesem Moment glaubte, seine Daseinsberechtigung ausspielen zu müssen, damit es sein Glück wieder sabotieren und infrage stellen konnte. Genau in diesem Moment, als auch der Film der Erinnerungen das herausschießende Blut aus Bein und Arm auf seine innere Leinwand projizierte, schleuderte und dieser Film gleich darauf riss.

Er hatte viel Blut verloren, sehr viel. Der Zustand war lang genug kritisch. Sein Wille rang mit der Sehnsucht nach ewiger Ruhe und dem Wunsch, sofort einsatzfähig zu sein. Geheilt zu werden schien in diesem Bestreben nicht vorzukommen. Ein anständiger Mörder hätte seinen Kopf explodieren lassen oder das Herz zersiebt. Und nicht noch versucht, ihn mit dieser scheißgelben Maschine zu überholen. Aber so hatte er sein Leben wieder erhalten und wusste wochenlang nicht, wie er damit umgehen sollte.

Seit vier Tagen war er nun hier, tatsächlich auf dieser Insel, Mallorca, die sonst keiner ihrer Freunde und Bekannten kannte, nicht mal sein treuer Helfer, der schlaue Ispettore Collasso oder dessen viel zu schöne und gleichzeitig irgendwie verruchte Freundin Chiara, die für Berlingui immer noch eher ein zweifelhaftes Animiermädchen als lediglich eine Empfangsdame in einer zugegebener Maßen speziellen Bar war. Seit vier Tagen war er also nun hier und versuchte, Abstand zu gewinnen. Seit vier Tagen fuhren sie mit einem schicken, aber für die meisten kleinen Straßen im Gebirge viel zu großen Renault Laguna durch die Gegend, um nicht nur Kilometer und Sehenswürdigkeiten hinter sich zu lassen. Eher ein Versuch, mit jedem Kilometer auch einen Teil der Festplatte in seinem Kopf zu löschen und die Gebilde seiner Angstträume zum Abbruch freizugeben.

Mit jeder Kurve der Küstenstraßen wurde ihm allmählich darüber hinaus bewusst, dass er in den letzten Monaten viel zu oft der Rückseite seines Lebens, des Ganzen, dieser berühmten Münze begegnet war. Der Rückseite, die man nicht mag, weil kein Wert sichtbar ist. Höchstens für einen Numismatiker, obwohl auch in dessen Katalogen diese vielfach kleiner oder erst an zweiter Stelle abgebildet werden. Aber das Leben ist keine Sammlung, die man großartig gestalten kann, schon gar nicht mit extra dafür erspartem Geld.

Schicksale lassen nämlich kein einheitliches Thema zu, das erfreuen könnte. Es gerät wie so häufig zunächst zu einer Ansammlung von zumeist pointenlosen Erfahrungen. Völlig zusammenhanglos und doch mit fatalistischer Wirkung. Weil man zurück im Alltag aufgegeben hatte, sich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren. Denn von diesem Moment an war man davon überzeugt, man bräuchte sich nicht sonderlich anzustrengen, um seine Sammlung auf Vordermann zu bringen. Angeblich war man ja genesen und wieder der Alte.

Während der letzten Tage im Krankenhaus, anschließend daheim auf der Terrassenliege und nun hier, auf einem Klappstuhl unten am Pool, hatte er sich manchmal totgestellt, bis niemand mehr Notiz von ihm nahm. Auch nicht Carla. Sogar die Natur vergaß ihn, machte eine Pause und legte den Schatten eines Baumes oder einer Mauer auf seinen Körper und wurde deshalb wieder sommerlich alltäglich und normal. Genau das, normal zu werden, das war hier sein Ziel. - Seit gestern hatte er endlich das Gefühl, dass es klappen könnte. Obwohl die Natur ihn nicht vergessen hatte. In diesem Fall Gott sei Dank.

Sie waren am Ende des Ortes neugierig einen schmalen, gefährlich brüchigen Weg hinuntergestolpert. Unten angelangt, endete dieser unspektakulär am Meer. Inmitten von Kieseln, Steinen und Resten einer Mauer. Ein karger Strand. Fast langweilig. Vor ihnen eine Art Mole. Ein langer, steinig schrundiger Finger hinaus ins Wasser. Zwischen ihm und ihnen waren die Wellen einladend glatt. Keine Minute später waren sie hineingesprungen. Mit einem kindlichen Juchzer und nackt. Sie alberten und tollten in dem, trotz des Herbstes, noch warmen und seidigen Wasser herum. Bewarfen sich mit auf der Oberfläche dümpelnden Algenstücken und versuchten einen Fuß, Arm oder Zipfel Haut des anderen zu erwischen, um sich gegenseitig tiefer ins Wasser zu ziehen. Augenblicke später lagen sie auf dem Rücken und ließen sich treiben. Falls es etwas gab, das Schrecken verstummen, Angstträume abschalten und Wunden schlagartig heilen lassen konnte, war es das Geräusch der unauffälligen Gischt, die sich am Ufer zwischen den Steinen im Takt der flachen Wogen zurückzog und Berlingui an Carlas Espressomaschine erinnerte, die sie beim Umzug in das Haus in Brentelle di Sotto in die Küche gestellt hatten. Während diese damals nämlich mit dem gleichen Geräusch die ersten Tassen brühte, lagen sie sich schon in den Armen, küssten sich und wälzten sich nur kurz darauf im Bett. Er lauschte dem Geräusch, erinnerte sich zurück und war mit der nächsten Gischt, die vom Ufer schlürfend aufgesogen wurde, wieder zwischen den Kieseln gelandet. Mit einem Mal um Jahre gereift. Nun Mann und Frau. Er schaute zu ihr hinüber und schämte sich nicht wegen der nun sichtbaren und männlichen Wirkung, die dieser Blick in die Vergangenheit an ihm hinterließ.

So hatten sie sich in dieser einsamen, das heißt, in diesem Moment, menschenleeren Bucht, kaum einen Kilometer vom Hotel, zwischen zwei Felsblöcken auf angeschwemmten Algen geliebt. Und es war ihm dabei tatsächlich keine schießende Hand, keine klaffende Wunde und kein albtraumartiger Schrei in die Quere gekommen. Nur sein anschließendes Lachen war dann dort unten zu hören und hallte von der steilen, grauen Wand zurück. Carlas Umarmung, die in ihren Armen erhaltene Erlösung, die dadurch gewonnene Glückstrophäe hatten mit diesem Tag alle gesteckten Ziele bereits erreicht.

Abends, auf der Dachterrasse ihres Hotels bemerkte er, ausgestattet mit seinem kleinen Opernglas, während er die Umgebung inspizierte, dass man ihnen dabei hätte zusehen können. Die meisten anderen Gäste des Hauses waren Wanderer und die alle hatten mit ziemlicher Sicherheit noch bessere Ferngläser als er. Mit vielleicht zwölffacher oder gar sechzehnfacher Vergrößerung. Mit denen man aus dieser Entfernung sogar das Typenschild eines Bikiniherstellers identifizieren könnte. Gerade auch, weil die tief stehende Sonne wie ein Scheinwerfer die Szene sicher wunderbar beleuchtet hatte. Als er Carla erschreckt darauf aufmerksam machte, bekam sie fast einen Lachkrampf, der ihn wiederum beruhigte.

Jetzt schaute er lächelnd nach rechts zu ihr hinüber. Beobachtete sie, wie sie von blinzelnden Sonnenstrahlen begleitet unter einer Pinie die Reste des Picknicks in eine Tasche tat und sich dabei immer wieder mit einer Hand die Haare nach hinten kämmte. Ein Bild, das so aufreizend war wie ihr von Algenstücken teilweise verklebter, nackter Körper gestern Nachmittag. Dann guckte er an sich herunter, schloss die Hose und sein Blick wanderte die Außenmauer des kleinen Klosters Santuari Santa Maria des Oliver entlang nach links. Genau in der Sekunde als sich sein Reißverschluss verhedderte und er sich einen Daumennagel abbrach, sah er den Fuß.

Und dann das Bein.

Hinter einem Vorsprung der Mauer.

Nackt.

Schmutzig.

Bewegungslos.

Mit rotlackierten Zehennägeln unter einer schwarzen Folie hervorlugend.

27. September, 9 Uhr 10

„Sie müssen entschuldigen, dass die Kollegen der Guardia Civil Sie gestern Abend so hart rangenommen haben. Aber Sie werden das ja aus Italien kennen. Ihre Carabinieri sind ja aus ähnlichem Holz geschnitzt.”

Die verblüffend hellen, eisblauen Augen des Inspector de Policía Miguel Sanchez Olivero betrachteten prüfend Berlingui. Dieser wiederum beobachtete seit einiger Zeit etwas lustlos zuhörend den Inspector und verfolgte dessen Hand, die, wie zur Kontrolle, über den akkurat und allem Anschein nach frisch gestutzten Vollbart rieb. Die Haare waren genauso sorgsam gekürzt worden und ragten in der Mitte des Kopfes wie ein schwarzer Keil fast in die Stirn. Bislang hatte er noch nicht gemerkt, dass dieser Sanchez Olivero, wie man ihm zuvor mitgeteilt hatte, eigentlich ein netter Kerl sein sollte. Und wenn dessen Wortschwall nicht bald aufhörte, könnte er ihm auch den Buckel runterrutschen. Piero Berlingui hatte andere Probleme.

„Unsere beiden Völker sind sich in den letzten Jahrhunderten nicht häufig begegnet, und wenn, haben sie sich in den allermeisten Fällen dabei nicht besonders gut verstanden. Aber die sprachlichen Barrieren sind kleiner als viele denken. - Wir verstehen uns?”

Wieder nickte Berlingui. Stumm. Auch wenn er trotz dieser Behauptung, die ihn an manch staatsanwaltliches Geschwafel erinnerte, nicht alles verstanden hatte. So nah lagen ihrer Sprachen nun doch nicht beisammen. Vielleicht war auch seine Anspannung oder die Nervosität des Inspectors schuld, dass er nicht alles sofort mitbekommen konnte. Aber er hatte sich in der letzten Stunde das Wichtigste zusammengereimt. Nur der Tonfall dabei gefiel ihm nicht. Und was viel schlimmer war: ihm ging es wirklich nicht gut. Die letzte Nacht war ein Sprung zurück. Wirkte fast wie ein Anschlag. Er hatte kaum ein Auge zugetan. Nur kurz, aber viel zu heftig hatte wieder ein Haufen Münzen mit diesen unsäglich wertlosen Rückseiten kalt lächelnd und wieder deutlich sichtbar neben ihm auf dem Nachttisch gelegen. Mit mahnendem Glänzen. Und jetzt ärgerte es ihn, dass er nicht einfach wieder an der Mauer entlang nach rechts geschaut und sich von Carla den Reißverschluss hatte aufdröseln und schließen lassen.

Den gestrigen Abend hatten sie anders geplant. Der sollte nicht mit einer Leiche anfangen. Welcher Abend, außer der vor einem Fernseher oder in einem Kino, hat schon diese Art geplanter Unterhaltung? Ihr Plan sah also anders aus, sie wollten nach dem Essen, wenn es schon längst dunkel geworden war, wieder über den schmalen und mitunter so steilen Cami de sa Galera in die Bucht hinunterlaufen. Und dann ausgestattet mit einer Flasche Wein, zwei Gläsern und einem in Sóller erstandenen Papierbeutel voller Palmeritas, den Wellen des Meeres zuschauen, bis deren Rhythmus sie genügend hypnotisiert und die Natur sie vergessen hätte, um sich einander hinzugeben. Wild und hemmungslos. Mit dem stimulierenden Geräusch der Espressomaschine im Hintergrund. Vor allem in der Dunkelheit unsichtbar für die eventuellen, voyeuristischen Feldstecher auf der Dachterrasse. Berlingui wollte endlich, mit dem neu kennengelernten Reiz des Verruchten, die letzten Gespenster aus seiner Seele treiben, die viel zu häufig, ähnlich den Patronen aus der MP, in den schönsten Momenten auf ihn zujagten. Stattdessen fühlte er sich nun wie ein Phantom. Eines, das einem Teufelsaustreiber gegenübersaß und das wieder einmal Geschichtsunterricht erhielt. Sah er tatsächlich wie ein dummer Bauernjunge aus, den man immer wieder belehren musste? Seine Reaktion war daher nicht nur ein psychologisch motivierter Selbstschutz, sondern er hatte in diesem Moment einfach die Nase voll. Gestrichen voll.

„Mein lieber Signore Olivero”, hob er deshalb an, er hatte keine Ahnung, welcher Name der richtige Nachname war, „wenn Sie wollen, kann ich ihnen eine kleine Geschichte erzählen, die erklärt, warum ich auf dieser Insel bin. Dieser können Sie gerne auf Ihrem Wege nachforschen. Ob mit der Hilfe der Guardia Civil oder anderer Stellen, xe tuto istéso, ist mir vollkommen egal. Über die geschichtliche Vergangenheit unserer Länder habe ich mich informiert. Diese ist mir inzwischen ziemlich genau bekannt, zumal ich als junger Mensch während meines Studiums einige Geschichtsvorlesungen besucht habe. Ich stehe Ihnen also für etwaige Sühneleistungen nicht zur Verfügung, dispiasùo, bedaure!” Berlingui schmunzelte kaum sichtbar. Ihm war aufgefallen, dass der Ärger in ihm einen zwar nur leichten, aber für die Verständigung sicher erschwerenden, wenn nicht gar unverständlichen venezianischen Tonfall erzeugt hatte. Damit sein Gegenüber den lächelnden Mund nicht erkannte, wischte er sich mit einer Hand über die Lippen und beugte sich vor, um aus dem Glas vor sich einen Schluck Wasser zu trinken. Dann stand er auf. Verwundert über die eigene Entschlossenheit, die diesem Inspector nicht verborgen blieb. Berlinguis Redeweise hatte ihn ohnehin schon alarmiert. Bevor er etwas entgegnen konnte, fügte Berlingui jedoch hinzu:

„Sie wissen, dass ich als Verdächtiger oder Mitwisser oder sonst irgendwas in Ihrem Fall nicht tauge. Ich bin auch keiner der italienischen Bomber, der weit vor Ihrer und meiner Zeit, Ihr mit sich selbst und seinem Verständnis kämpfendes Spanien heimgesucht hat. Also halten Sie mich nicht zum Besten und lassen mir meine Ruhe. Ich habe zurzeit andere Probleme als Sie.”

Er war unter Dampf und hatte die Tür erreicht. Keine einzige Erklärung würde er jetzt noch abgeben. Nicht eine, und ob der Inspector etwas von seinem Gesagten begriffen hatte, war ihm egal. So nah lagen ihre Sprachen nämlich nicht beisammen. Wirklich nicht. So nah brauchten sie sich auch nicht zu kommen. Er hatte alles gesagt. In diesem Fall schon viel zu viel. Die Leichen in Padua reichten. Schon hatte er die Klinke in der Hand, als er Sanchez Oliveros - er würde einfach beide Namen hintereinander setzen, wie Dick und Doof, wie Pat und Patachon, für den angeblich netten Kerl und den bis jetzt nur nervenden Typen - Sanchez Oliveros Stimme also plötzlich unerwartet sanft und auch etwas resigniert hinter sich hörte. Berlingui brach seine letzte Bewegung ab und schaute tief durchatmend an die Decke. Dann machte er kehrt und sah, dass sein Gegenüber sich hingesetzt hatte und auf dem Stuhl etwas in sich zusammengesunken war. Es passte überhaupt nicht zu dem Bild vor Sekunden. Eine Hand stützte den Kopf und Sanchez Olivero stierte die Wand an, als er sagte:

„Sie war die Dritte ... innerhalb einer Woche!”

27. September, 11 Uhr 55

Die Terrasse des Bellavista war voller sonnenverbrannter und daher rotglühender, englischer Radfahrer. Berlingui schaute hinüber und fragte sich: Wer sonst gab seinen Körper der Sonne so schonungslos hin? Daheim an der Adria durften die Sanitäter in schönster Regelmäßigkeit junge Engländerinnen, die wie vierbeinige Tomaten aussahen ins Sanatorium schaffen. Alles andere als ein erotischer Anblick. Hier waren es auch noch ausnahmslos Männer mittleren Alters. Natürlich mit entsprechendem Bauch. Nur an wenigen Stellen war an ihnen noch ein Stück vollkommen weiße Haut zu sehen. Die Suche nach wenigstens einer etwas ansehnlicheren Frau, in für das Auge wohltuend knappsitzender sportlicher Kleidung und mit dadurch natürlich entsprechend passender Anziehungskraft, war vergeblich. Der Lärm, den diese Truppe hinterließ, passte auch nicht hierher. Ein viel zu lautes, von jedem besserwisserisch kundgetanes Palaver breitete sich in der sonst hier vorhandenen Stille des bisher beschaulichen Ortes aus. Vor ihnen lagen Landkarten so weit auseinandergefaltet, dass ein Pärchen am Nebentisch seinen Platz regelrecht verteidigen und freikämpfen musste. Auch sie waren vielleicht auf der Suche nach dem anderen Mallorca. Dabei gab es kein anderes als das, was sie dort sahen. Carla und Berlingui saßen unter der Markise und fühlten sich auf Grund des Theaters ein wenig in Italien.

Schon am ersten Tag waren sie hierhergekommen, in der Hoffnung, heimatliche Klänge zu hören, Bellavista klang so herrlich vertraut. Doch das Italienisch des grauhaarigen Patrons ging nicht über Urlaubsfloskeln hinaus. Dafür war der Kaffee und die Tarta di nuezes hervorragend. Und das Schauspiel lohnte sich auch.

Jetzt waren sie nach einem kurzen Spaziergang entlang der Küstenstraße zum Torre des Verger, unentschlossen über ihr heutiges Vorhaben, in den Ort zurückgekehrt und saßen nun vor seinem vierten Espresso und ihrem zweiten Glas Cava. Einträchtig schüttelten sie über die laut diskutierenden Möchtegernsportler den Kopf. Berlingui deutete ungeniert mit einem wedelnden Finger hinüber, seine Sprache wurde ja auch von denen nicht verstanden, während er Carla mit erheiterter Miene anschaute.

„Ich würde allzu gern wissen, was dieser Sanchez Olivero zu denen da sagen täte. Vielleicht würde er sie darauf hinweisen, dass damals außer Orwell und ein paar anderen englischen Prominenten kein Engländer etwas für die Spanier übrig hatte und sie sich somit bitte schön anständig benehmen sollten.”

„Vielleicht sind seine Eltern in diesem Krieg umgekommen.”

„Macché, ach wo, dafür ist der viel zu jung. Jünger als ich. Der ist gerade mal knapp über vierzig, schätz ich, und nicht siebzig Jahre alt. Ein kleiner, drahtiger Spanier.” Er setzte die leere Tasse ab. „Sogar noch unverheiratet. Kapier ich gar nicht. Ist eigentlich ein Frauentyp. Ein richtiger Kerl, der angeblich einen weichen Kern haben soll. Benimmt sich aber wie ein Pitbull. Zynisch und belehrend. Du hättest den mal sehen sollen, Augen wie Eisschollen. Stechend. Spanier haben für mich bis jetzt immer dunkle Augen gehabt und nicht solche Waffen.”

Carla zog die Augenbrauen hoch und legte eine Hand beschwichtigend auf seinen Unterarm.

„Er ist dir ein bisschen ähnlich, macht wie du seinen Job. - Komm, wir gehen irgendwo ans Meer und suchen den Horizont!”

„Da oben toben sie wieder wie vor ein paar Wochen rum”, er klopfte mit den Fingerkuppen auf seinem Kopf herum, „das muss doch mal aufhören. Himmelherrgott! Andere in der Welt hat es doch noch viel schlimmer getroffen. Das junge Ding zum Beispiel ist tot.”

Er lehnte sich in dem weißen Metallstuhl zurück und umklammerte die etwas barock wirkenden Lehnen. Die Knöchel seiner Finger wurden zu bleichen Kuppen unter der Haut.

„Bin ich froh, dass ich nur Fuß und Bein gesehen habe. Das hat mir gereicht. Da brauch ich keine weiteren Bilder oder Erklärungen. Da war mir schon fast klar, was mit ihr passiert war. Missbraucht, grausam gequält und misshandelt. Früher hat mir so was nichts ausgemacht, aber jetzt ...”, er blickte in den azurblauen Himmel, „Olivero hat mir erzählt, aus ihrer Scheide hätte man die Scherben einer kompletten, zertrümmerten Cola-Flasche herausgeholt ...”

Seine leere Espressotasse auf dem Unterteller wie einen Kreisel drehend spürte er wieder den Schauder.

„... sie muss unvorstellbare Schmerzen gehabt haben. Irgendwann später, wie er sagte, Stunden später, haben sie sich ihr grausam einfach entledigt. Erschossen - ich hoffe bei Gott, sie war nicht mehr bei Bewusstsein - mit einer Schrotladung ins Gesicht. Keiner sollte sie mehr erkennen können.”

Carla zuckte und hielt sich eine Hand vor den Mund. Sie, die sonst in jeder Situation cool reagierte, war bei der Vorstellung nun blass geworden.

„Um Gottes Willen, ich möchte nicht wissen, wie die Scherben in ihr zustande kamen.”

„Ich werde es dir auch nicht sagen. Auf jeden Fall hatte Olivero gedacht, er müsste seinen Frust an mir rauslassen. Als ich dann fast schon auf dem Flur stand, entschuldigte er sich hunderttausend Mal für seinen Ton und seine Vorgehensweise. War plötzlich lammfromm. Aber in diesem Fall sei auch er an seinen Grenzen angekommen. Blabla. Und vielleicht ergäbe es sich mal ... Blabla. Und er würde es wieder gut machen ... Und überhaupt. Ich hab nicht alles kapiert.”

Berlingui ließ die Lehnen los und klopfte anschließend mit den Handflächen auf den Tisch.

„Vielleicht muss das Meer ja nicht jetzt sein.” Er lächelte sie an. „Ich blamier mich nur. Lass uns nach Palma oder so fahren, heute Abend machen wir einen neuen Anlauf. Dann schwimm ich rüber. Ok?”

Er zwinkerte ihr zu, aber bevor sie antworten konnte, ertönte in seiner Hemdtasche Adriano Celentanos Azzurro. Der Klingelton seines Mobiltelefons. Ungläubig schaute er auf das Display.

„Das ging jetzt aber schneller, als ich gedacht hätte.” Carla schaute ihn fragend an. Sie hatten ausgemacht, das Ding nur einzuschalten, wenn sie nach Hause telefonieren wollten. Er antwortete mit einer abwiegelnden Handbewegung und:

„Ich habe ihm meine Nummer nur deshalb gegeben, weil er mir hoch und heilig versprach, mich nur dann anzurufen, wenn es etwas wirklich neues zu berichten gäbe.”

Er drückte die grüne Taste.

„Pronto?”

„Welches Hotel hatten Sie nochmal gebucht?”

Berlingui gab ihm etwas zögernd die Antwort, hatte er doch gehofft, Sanchez Olivero hätte in seinem Büro am Ende tatsächlich nur die Adresse in Padua interessiert.

„Ah, das ist ja fast in der Nähe oder sind Sie unterwegs?“

„Nein, wir sind noch nicht weit gekommen heute“, antwortete Berlingui und lehnte sich zu Carla hinüber. Das Telefon hielt er zwischen ihre Köpfe.

„Dann könnten wir uns auf halber Strecke treffen. In Esporlas. 14 Uhr. Im Ca`n Toni. Ein kleines Restaurant. Direkt an der Hauptstraße. Sie werden sich wundern. Dann können wir ein wenig reden. Ich glaub, das wär nicht schlecht. Zumal ich ja nicht alle Tage einen Kollegen aus dem Ausland zu Gast habe. Sie sind dann selbstverständlich auch mein Gast. Mit Ihrer Frau. Sie kommen doch? Oder?”

Carlas und seine Mimik sprachen lautlos ihr Erstaunen über so viel und so plötzliche Höflichkeit aus. Auch wenn sich eine Entschuldigung anders anhören würde. Sie hatte mit einem Ohr an Pieros Mobiltelefon genug mitbekommen. Dann zuckte sie zustimmend mit der Schulter. Auf Palma oder eine andere Stadt hatte sie heute keine Lust. Jetzt war sie neugierig auf den maskulinen Mann mit weicher Seele. Immerhin klang die Stimme schon mal sympathischer als Piero meinte.

„Ist doch egal. Palma oder Esdingsda”, meinte sie lächelnd.

Und Berlingui antwortete:

„Also gut. 14 Uhr.”

27. September 14 Uhr 35

„... viele auf dem Festland mussten sich an diese Insel gewöhnen. Sie war viele Jahre weit weg und schien in vielen Phasen der Geschichte anders als das übrige Spanien zu sein. Erst eroberten spanische Könige die Insel und vertrieben die Mauren, dann kamen Hunderte Jahre später die Bomber von der Insel zum Festland herüber. Auch Ihr Land hat damals von hier aus geholfen, die Republikaner fertig zu machen. Mein Großvater ist durch einen solchen Angriff im April 1938 in Alicante verwundet und sein Bruder getötet worden. Und wenige Jahre darauf begann das ganze damals beteiligte Ausland, ein zweites Mal das Land und diese Insel zu erobern. Entschuldigen Sie bitte diesen sehr familiären Aspekt. Aber nach fast sechs Jahren bin ich zwar hier, aber immer noch nicht richtig angekommen. Als Madrilene tue ich mich in diesem Zusammenhang etwas schwer. Schon viel zu lange. Unsereins macht hier nicht einmal Urlaub. Den verbringen wir auf dem Festland oder wenn, auf anderen Inseln, wie den Kanaren. Die hier leben, also die forasteros, die Fremden, wie man sie hierzulande nennt, sind Gastarbeiter im eigenen Land. Auf Mallorca ziehen sich sogar die Bewohner zurück, die Küsten sind an vielen Stellen nur noch im kleinem Maß ihr Eigentum. Hier ist die Küste entweder Naturschutzgebiet, unzugänglich oder VIP-Land der Investoren.”

Berlingui war noch nicht bereit, sein Urteil über den Inspector zu ändern. Die Aversionen gegen Unterrichte jeglicher Art waren einfach zu groß. Mit einem gestreckten Zeigefinger signalisierte er Carla: Siehste? Und freundlich hatte der bisher auch noch nicht ausgesehen. Deshalb antwortete Berlingui unwirsch:

„Na ja, irgendjemand von den Insulanern muss die Ländereien ja auch verkauft haben, damit die Betonburgen gebaut werden konnten. Und mit dem Geld leben sie sicher nicht schlecht.”

Bevor Sanchez Olivero antworten konnte, drehte sich Berlingui um, bremste ihn damit schon im Ansatz und suchte nach der Bedienung. Schon vor mehr als einer Viertelstunde hatte die Chefin des Hauses die Teller, die vorher mit einem simpel klingenden, aber köstlich schmeckenden Ensalada de Arroz gefüllt waren, fortgeräumt. Eigentlich wollte sie schon Sekunden darauf die Conejos de Cebolla und Berenjenas rellenas servieren, aber Sanchez Olivero hatte ihr mit einem Wink zu verstehen gegeben, dass sie noch warten sollte. Für einen Moment war seine Nervosität durch diese Geste wieder sichtbar. Das Ende des Treffens hier wurde also durch ihn bestimmt und nicht durch das womöglich viel zu schnelle Servieren des letzten Ganges. Der Commissario hatte etwas dagegen und vor allem noch Hunger. Ein gutes Genesungszeichen, wie er fand. Hinter seinem Rücken unterbrach der Spanier seine Suche.

„Keine Sorge ich will Sie nicht belehren, aber ... es ist so ... dieser Mord, diese Morde sind nicht von Einheimischen verübt worden. Mir fehlt die hiesige Handschrift. Das sagt mir mein Bauch und Verstand.”

In Gedanken hatte Berlingui schon wieder die Klinke in der Hand und entgegnete missmutig:

„Aber lieber Inspector Sanchez, ist das nicht eine etwas seltsame Beurteilung eines Falles, wenn Sie Geschichte, aktuelle Politik und ihren Bauch gleichzeitig bemühen?”

„Sie haben vollkommen recht, das klingt für Sie vielleicht komisch, zu persönlich. Nur ... was ich mit alldem erklären wollte ... auf dieser Insel entledigt man sich, auch nach den vielen fremden Einflüssen, störender Personen anders. Alle ermordeten Mädchen, leider auch noch meistens vorher missbraucht, wurden in den letzten Jahren entweder erstochen oder mit einem Kissen erstickt. Eine von ihnen haben wir zwar im letzten Jahr zerschmettert von einem Felsen am Fuß der Steilküste bei Deia herunterziehen müssen. Aber seit ein paar Tagen muss ich dazulernen. Die vorher erfolgten Misshandlungen sind neu. Am Montag haben wir ...”

Carla schaute von dem dreieckigen Haaransatz des Inspectors auf den Teller, den die Wirtin mit einem lächelnden bon provecho ungeachtet Sanchez Oliveros strafenden Blicks nun vor ihr abgestellt hatte. Die gefüllte Aubergine war mit einer dampfenden und tropfenden Tomatensoße überzogen. Dass diese aus keiner Dose stammte, sondern frisch zubereitet war, erkannte sie sofort, doch ihr Duft stieß sie für einen kleinen Moment ab. Die Jahre mit Piero hatten ihr genug Fantasie beigebracht, um Sanchez Oliveros Schilderungen in Bilder umzusetzen. Dieser brach dankenswerterweise seinen begonnenen und wahrscheinlich wieder unheilvollen Satz ab und begutachtete das mitsamt den Knochen in kleine Stücke zerteilte Kaninchen. Nun mit freundlichem Blick. Die Frau sah auf den Inspector eine Weile ernst herunter. Als sie ihm das Besteck neben den Teller legte, sagte sie leise:

„¡No diguis dois, Miguel! ¡Me fa de por1! Vols més vi?” „? “

„Mehr Wein?”

„Nein! Um Gottes Willen! Ich muss nachher noch arbeiten. Aber es sieht wieder ganz lecker aus, Maria.” Dann zu Carla und Berlingui gewandt:

„Ich kann immer noch nicht deren Dialekt ...“

„¡Llengua!”, rief Maria mit strenger Stimme hinter der Theke.

„... vieles versteh ich einfach nicht. Aber sie natürlich jedes Wort! Sie nehmen ihre llengua, Sprache, sehr wichtig. Jedes Ortsschild beweist es. Wie oft hab ich mich am Anfang verfahren, weil ich die Ortsnamen immer falsch gelesen habe. Und jetzt fangen sie auch noch an, in Palma über hundert Plätze, Straßen und Wege wieder mit katalanischen Namen zu versehen. Jetzt, wo ich mich an dieses Franco-Relikt gewöhnt habe. Keine Ahnung, wie ich mich dann in dieser Stadt zurechtfinden soll.“

Mit vollem und leicht schmatzendem Mund wedelte er mit Messer und Gabel in der Luft herum.

„Uns Festländern triezen die Hardcore-Einwohner mit einer besonderen Vorliebe. Wir sind Aussätzige. Bei Ihnen, den Touristen freuen sie sich hingegen über jedes Wort in Mallorqui und sei es noch so falsch ausgesprochen. Ihr sprecht dann bestes Mallorqui und ich? - no som d‘aqui2. Damit ziehen sie mich sogar Tag für Tag auf.”

Der Commissario lächelte. Das erste Mal in Gegenwart des Inspectors. Diesmal hatte er nahezu alles verstanden. Sanchez Olivero hatte, Dank eines vollen Mundes, langsamer gesprochen. Fast hätte er ihm entgegnet, dass es bei den Venetern und Römern traditionell ein ähnliches Verhältnis gab und wenn sich dann noch ein Sizilianer dazu gesellte, entschieden nur wenige Minuten darüber, ob dieses Treffen ein Babel oder eine Party wurde. Sein Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Denn plötzlich an eine vollkommen misslungene Party denkend, fiel ihm das tote Mädchen ein.

„Das Mädchen …?“

Als wenn es ein Stichwort gewesen wäre, antwortete der Inspector sofort.

„... dessen Identität wir bisher nicht haben klären können. Natürlich haben wir alles, auch die Fingerabdrücke, weitergegeben. Aber allein die Gen-Untersuchung wird mindestens Tage dauern. Dafür sind wir nicht gut genug eingerichtet. Gerade wird auch ein Phantom-Foto ihres Gesichts angefertigt. Ich kann mir allerdings kaum denken, dass dies gelingt …“

Sanchez Olivero wendete seinen Blick ab, schüttelte mit geschlossenen Augen den Kopf und atmete tief ein, dann strich er sich mit den Fingerspitzen an der Kante seines Haaransatzes entlang über die gerunzelte Stirn und fuhr fast flüsternd fort,

„… ihr Gesicht war fürchterlich zugerichtet.“

„Und das Blut überall?“

„War ihres. Ausschließlich ihres.“

„Trotz der vielen Jahre in meinem Beruf frage ich mich immer wieder, was für ein Mensch tut so etwas?“

„Das ist, neben dem Wie, was mich auch immer noch interessiert“, erwiderte Sanchez Olivero und schaute Berlingui mit einem gedankenverlorenen Blick an, „und seit diesem Mädchen glauben wir zu wissen, dass dieser Mensch immer derselbe ist. Ich erspare Ihnen eine Beschreibung über den Zustand der Leichen der anderen beiden Mädchen. Von denen wurde keine nur mit einem Kissen erstickt.“

Sie hatten dem Essen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Erst als Sanchez Olivero und der Commissario mit einer Scheibe Brot die Soße auftunkten, bemerkten beide den kleinen Fauxpas. Maria wusste um die Qualitäten ihrer Küche und stand kontrollierend neben Berlingui.

„Vol un poquet més de carn?3”

Berlingui sah hoch. Von seinem Brot tropfte Soße herab. Das allerletzte Stück Kaninchen erinnerte ihn daran, wie gut das Essen, aber auch daran, dass es eigentlich viel zu wenig gewesen war. Den Preis, den er draußen auf der Karte für alles zusammen gelesen hatte, konnte er immer noch nicht glauben. Er kratzte alle in den wenigen Tagen vor dem Urlaub gelernten Vokabeln zusammen und blickte zu Sanchez Olivero hinüber, als er langsam sagte:

„Si, gracies, un poquet més, per favor!4”

1 Erzähl keinen Quatsch, Miguel! Es macht mir Angst!

2 ...bin nicht von hier.

28. September, 10 Uhr 15

Schluss mit dem kriminalistischen Einsatz auf der Insel. Heute sollte es endlich nach Palma gehen. Den Laguna ließen sie stehen. Alle hier hatten ihnen erzählt, wie schwer es sei, in der Ciudad einen Parkplatz zu finden. Und teuer wäre es obendrein. Carla und Berlingui stiegen neben der Kirche in den kleinen roten Bus ein. Es gab sogar ein kurzes Gedrängel. Die Tage zuvor hatten sie nicht einmal so viele Leute im Ort gesehen. Geschweige denn hier an der Haltestelle. Die Buslinie schien bisher mehr Luft als Menschen zu transportieren. Doch jetzt waren es die letzten freien Plätze, die sie ergatterten. Draußen standen noch ein paar Wanderer, ein Mann, den sie schon öfter im Dorf gesehen hatten und ein junges Mädchen, das sich nun zur Tür vorschob und auf den Fahrer einredete, weil dieser ihnen abgewunken hatte.

„Luis, ich muss in die Uni, meine Hausarbeit abgeben. Ich bin total spät dran. Mein Prof würgt mich. Nächste Woche ist es zu spät. Komm mach keinen Scheiß und lass mich mit!”

„Leute, ihr wisst genau, dass ich niemanden im Bus stehen lassen darf. Mein Chef macht mich zur Schnecke. Die Sicherheit während der Fahrt ist ihm sauwichtig. Die kontrollieren alle naslang. In weniger als einer Stunde kommt doch schon der nächste. So lange muss dein Herr Professor noch warten. Der hat doch das ganze Wochenende Zeit, deine süßen Zeilen zu lesen.”

„Bromista!5”

Vor Carla saß ein alter Mann mit einem Schieber auf dem Kopf. Über seinem Oberkörper gestülpt hing ein löchriger und an einigen Stellen durchgewetzter Pullover, aus dessen Halsausschnitt ein ebenso abgewetzter Kragen eines alten Hemdes hervorschaute. Ein paar Haare kringelten sich in seinem Nacken wie Wicken die Mütze empor. Wirkte er nach dem Einsteigen noch teilnahmslos und ältlich, rutschte er plötzlich einem jungen Kerl gleich auf seinem Sitz nach vorne und lehnte sich in den Gang. Dann rief er mit einer trotzdem knorrigen Stimme nach vorne. Seine Zunge klatschte bei jeder zweiten Silbe hörbar an den Gaumen.

„Ach, Luis lass sie doch. Komm, amor meu, setz dich doch auf meinen Schoß.”

„Mein Gott, Toni, du bist mir für so was zu alt!”

Toni deutete auf seinen Schoß und feixte. Das Geräusch aus seinem Mund ähnelte nun eher einem startenden Traktor.

„Dafür ist er ungefährlich und weich geworden.”

Alle im Bus lachten. Nur das Mädchen war außer sich und klopfte wütend mit beiden Händen auf das rotlackierte Metall neben der Tür.

„LUIS! Bitte!”

3 Möchten Sie ein bisschen mehr Fleisch?

4 Ja, danke, ein bisschen mehr, bitte!

5 Spaßvogel!

28. September, 10 Uhr 20

Keine zwanzig Meter hinter dem Bus stand an der hohen Mauer ein Ford Focus Kombi. Durch dessen Frontscheibe wurde die Szene von einem gut gekleideten und gepflegt wirkenden Mann unauffällig, aber sehr genau beobachtet. Als er das Mädchen zur Haltestelle laufen sah, bremste er genauso schnell und quetschte sich in die nächste Parklücke. Er hatte sie sofort wiedererkannt. Nun sah er sie an der Tür stehen und setzte schnell eine Sonnenbrille auf, obwohl er hinter der reflektierenden Windschutzscheibe und im Schatten saß. Doch er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken und tat, als wenn er in Papieren etwas suchte. Durch die dunklen Gläser geschützt schaute er das Mädchen an und ließ die Seitenscheibe halb herunter. Keiner sah, dass er bewundernd beide Augenbrauen nach oben zog. Die war inzwischen ein verdammt süßes Ding. Nicht zu vergleichen mit dem babyspeckigen Girl von vor drei Jahren, als sie noch mit ihren amigas durch die Gegend gezogen war und Geburtstagsfeiern besuchte. Aber jetzt, jetzt war sie genau seine Kragenweite. Er überlegte. Sobald der Bus weg war, würde er neben ihr halten und anbieten, sie mitzunehmen. Sein Outfit war eine gute Verkleidung. Sie dürfte ihn nicht mehr erkennen. Andere Haare, frisch rasiert und mit Sonnenbrille. Aber falls sie doch ablehnen sollte, wollte er ein Andenken von ihr haben, um sie jederzeit bei sich zu haben. Ein paar Tricksereien mit dem Computer und er hätte wenigstens ein in jeder Hinsicht scharfes Foto. Irgendwann würde er das sicher noch gebrauchen können. Er griff in die Innentasche seines Sakkos und zog ein Mobiltelefon heraus. Schnell hatte er die eingebaute Kamera angeschaltet und fotografierte ihr Gesicht. Vollkommen unbemerkt. Es sah wie das Eintippen einer Telefonnummer aus. Als er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, beugte er sich zur Beifahrerseite und fotografierte sie, nun von Kopf bis Fuß auf dem kleinen Monitor sichtbar, mit ausgestrecktem Arm und sah dabei schon das fertige Bild auf dem Bildschirm seines Laptop. Klasse Vorlage!

Luis hatte kein Einsehen und schloss die Tür. Zwei der Wanderer und der Mann wollten auf den nächsten Bus warten. Der Rest trottete von dannen. Carla und Berlingui grinsten sich gut unterhalten an, sie hatten nicht alles, aber den Sinn verstanden. Die anderen Leute im Bus lachten immer noch, schauten zu Toni herüber, der mit seinem Kopf wackelte und amüsierten sich. Der Mann im Ford machte mit der Kamera immer noch Bilder. Das Mädchen hüpfte mitten auf der Straße und ballte eine Faust. Irgendetwas schimpfte sie kaum zu verstehen dem Bus hinterher. Er schaltete die Kamera aus, betrachtete auf dem Display die Bilder und zoomte sie. Leise pfiff er durch die Zähne. Die Kleine sah sogar verflucht gut aus. Richtig gut gebaut. Nicht so eine Dünne. Das hat er noch nie leiden können. Ein leichtes, vielversprechendes Ziehen machte sich in ihm bemerkbar und er legte eine Hand in seinen Schritt. Er brauchte nicht viel Fantasie bei ihrem Aussehen. Wie damals auf der Party, da hat zwar die total abgefahrene Tussi neben ihm gesessen und rumgemacht, aber die da drüben hat ihn mit ihren Blicken richtig angetörnt. Und jetzt tat sie’s wieder, ohne es zu wissen. Diese schwarzen, hautengen und fast transparent wirkenden Leggins verhüllten nur alles eher vage, versprachen und verrieten aber umso mehr. Der Rest ihrer Kleidung war auch keine Spaßbremse. Denn darüber trug sie weiter nichts als einen sehr schmalen hellbraunen Minirock, der bei jedem ihrer Hüpfer einen Blick sehr weit oben zwischen ihre Schenkel gestattete, und wiederum darüber eine weite schwarze Bluse mit einer genauso hellbraunen, flatternden Weste. Ihr dunkles, wildes Haar wurde von einem poppigen Stirnband nach hinten gehalten. Ging man heutzutage so in die Uni? Oder wollte sie jemandem den Kopf verdrehen? Er hatte keine Ahnung, ob es Noten während eines Studiums gab, aber wenn, würde sie so sicher die besten erhalten. Die an der Uni und der Professor mussten doch eine helle Freude an ihr haben. Seine Hand rieb langsam am Reißverschluss entlang. Er spürte einen eifersüchtigen Neid in sich hochkommen. Im Augenwinkel sah er den Bus wegfahren. Schnell schloss er die Jacke über seinem Schoß. Während er losfuhr, drückte er auf den Knopf des CD-Spielers, würgte damit einen seiner Lieblingssongs von La Fuga nach den Zeilen te haré el héroe nacional, que se cuela de noche delante del sofá ab und holte die Scheibe, die vorher auf der Fahrt noch die Lautsprecher wummern ließ, heraus. Der Singsang von Julieta Venegas würde ihr sicher besser gefallen. Dann hupte er kurz und blieb neben ihr stehen.

28. September, 10 Uhr 25

Der Bus brauchte über zehn Minuten bevor er das Ortsende erreichte. An einigen Stellen war die Straße durch parkende Autos so schmal geworden, dass bei Gegenverkehr an ein Vorbeifahren und Weiterkommen nicht zu denken war. Es gab gerade noch so viel Platz, dass er in Lücken ausweichen konnte. Zuerst kam ein Kleinlaster entgegen, mit orangenen Gasflaschen beladen, der dann auch noch vor dem im Sommer neu eröffneten Es Trast anhielt. Der Fahrer zuckte nur lachend mit den Schultern, als er begann in aller Ruhe, ein paar der Gasflaschen abzuladen. Natürlich ging dies nicht ohne Unterhaltungen ab. Man musste sich ja austauschen. Wie geht’s? Was machen die Kinder? Ja, meine auch. Was gibt’s heute als Menu? Klingt gut. Klar, beim nächsten Mal komm ich vorbei. Den Wein hast du schon von der Maische genommen? Nach ein paar Minuten ging es endlich weiter. Doch jetzt, fünfhundert Meter weiter musste Luis schon wieder rangieren. Kurz vor den letzten Häusern wurde gebaut und ein Betonmischer versperrte mehr als die halbe Straße. Opa Toni begann zu lästern:

„Luis, wenn das so weitergeht ist die junge Aina zu Fuß schneller an der Uni als wir in Esporlas und mein Arzt längst beim Mittagessen.”

Luis drehte sich um.

„Du kannst ja aussteigen und versuchen sie einzuholen. Aber denk an dein Herz und lauf nicht so schnell. Und vor allem mach keinen Quatsch. Nicht, dass ich irgendeinen Blödsinn zu hören bekomme. Denk dran, auch wenn die Kleine nicht im Bus sitzt, Sicherheit ist sauwichtig! Und nächste Woche willst du sicher wieder mitfahren, oder?”

Wieder lachte der ganze Bus.

„... oder dein Kollege knutscht dir gleich dein Heck, weil er besser fahren kann als du und uns deshalb eingeholt hat. Dann kann ich ja noch umsteigen“, war die Antwort des Alten.

Luis drehte sich um und griente. Wenn Toni freitags mitfuhr, war jedes Mal für Spaß gesorgt. Trotz seines ärmlichen Äußeren und seines Alters ließ er sich seine Laune nie verderben. Luis nickte ihm zu. Dann schaute er wieder auf die Straße, hatte freie Strecke und gab Gas.

„Mal sehen, von wem wir deinen Arzt runterholen müssen, weil ihm nun langweilig geworden ist“, sagte er ein paar Kurven später und die Mallorquiner im Bus johlten.

28. September, 10 Uhr 30

„Magst Du was trinken?”

Der Mann griff hinter sich und holte zwei kleine Plastikwasserflaschen hinter dem Sitz hervor und stellte sie zwischen seine Beine. Er öffnete beide ohne die Antwort abzuwarten. Die eine hatte einen roten, die andere einen blauen Drehverschluss. Die mit dem roten Deckel zischte. Er hielt sie dem Mädchen hin.

„Ach, danke“, entgegnete das Mädchen emotionslos.

„Wie heißt du?”, fragte er.

„Aina.” War wieder ihre knappe Antwort.

„Bist Du von hier?”, bohrte er weiter, trank einen Schluck von seiner Flasche, während sie nickte, und versuchte, mit einem Blick herauszufinden, ob an dem Bus da vorne vorbeizukommen war. Aber es war aussichtslos. Er schaute in den Rückspiegel. Hinter ihm war alles noch frei. Also Rückwärtsgang rein und einen halben Meter zurück. Genug, um links die steile und enge Carrer Major runterzufahren. Vorne am Hotel käme er dann wieder auf die Hauptstraße.

„Du kennst dich hier gut aus. Von hier bist du aber nicht, oder?”, sagte Aina.

Er stutzte kurz. Das kleine Fahrmanöver drohte ihn zu verraten.

„Nein, eigentlich nicht. Da vorne wohnt nur ein Kunde von uns, den hab ich erst letzte Woche besucht. Deshalb kenne ich die Strecke“, log er und deutete mit einer unbestimmten Fingerbewegung auf ein Haus. Sein Blick streifte ihre Oberschenkel und die Stelle, die der Rock vorher noch spärlich verhüllt hatte.

„Die Valls?” Aina schaute an ihm vorbei auf das Haus.

„Genau, die Valls“, erwiderte er und blickte sie an. Für eine Sekunde war er verwundert; was für schöne Augen sie hat, dachte er. So tiefschwarze. Wie Oliven. Vielleicht sollte ich sie einfach fragen. Vielleicht wäre sie nicht ... Doch sie unterbrach sein Vorhaben mit:

„Was verkaufst du denn, das tust du doch, was verkaufen, oder?”

Ihre Stimme klingt auch nicht mehr wie bei einem Mädchen. Sie hat so was Raues. Nennt man das sinnlich? Wieder dieses Ziehen. Sein Blick rutschte wieder auf einen Schenkel von ihr. Und von da weiter bis zum Saum des hellbraunen Nichts. Mein Gott, darunter schimmert ja ihre Haut hervor, stellte er fest und saugte sich mit seinem Blick für einen kurzen Moment fest. Versuchte geradezu, ihre Haut durch die feinen Löcher des dünnen Gewebes hindurchzuziehen. Während dieses Bruchteils einer Sekunde wurde der dunkle Stoff für gefühlte lange Minuten immer heller, bis er wie ein entblößter Körper wirkte. Wenn er von seinem Zeug getrunken hatte, klappte es immer gut mit solchen Vorstellungen. Gut, dass der Jackenzipfel noch richtig lag. Seine verschiedenen Gebräue funktionierten inzwischen nicht nur, damit er konnte, wenn es soweit war, sondern auch wann immer er wollte. Noch einmal schielte er kurz hin. Ob sie wohl ...? ¡Hombre! Du fährst Auto, beherrsch dich! ermahnte er sich selber. Dann klatschte er mit einer Handfläche auf seinen Anzug.

„Guck mich an. Sieht man doch. Versicherungen.” Besseres war ihm nicht eingefallen. Sie waren nun am Hotel angekommen. Eine kurze Kontrolle. Aber die Straße war frei und er fuhr Richtung Esporlas.

„Versicherungen? Den Valls?”, zweifelte Aina.

„Ja. Warum nicht?” Jeder braucht doch Versicherungen, dachte er, was kann daran falsch sein.

„Magst du kein Wasser?”, schob er nach. „Ich hätte auch ne Cola.”

„Nein, schon gut. Ist ja echt warm heute“, erwiderte das Mädchen und trank einen großen Schluck, „eine Klima hast du wohl nicht?“

„Ach, die ist seit Monaten kaputt. Normal fahre ich immer mit offenen Fenstern.“

Unterdessen musterte er sie wieder und tat als wenn er in seiner Hosentasche kramte. Da unten war schon alles vorbereitet.

„Versicherungen also. Witzig. Hätte ich nie gedacht. Wen will die Vall denn noch versichern? Die ist doch so gut wie allein. Ihr Mann dämmert nur noch vor sich hin.”

Jetzt bloß nicht zu lange drüber reden. Über die Zustände in dem Dorf hatte er nicht den blassesten Schimmer. Er wurde vorsichtig. Die Vall lebt also mehr oder weniger allein. Reine Vermutung. Irgendeine bescheuerte Versicherung braucht sie trotzdem. Er überlegte. Was für Versicherungen hab ich denn, fragte er sich selber. Er hatte nicht die leiseste Ahnung. Du brauchst zu lange, immer bist du mit deinen Gedanken woanders, ermahnte er sich wieder und schaute sie an. Vielmehr ihre Beine. Die Schenkel. Wie die wohl nackt aussehen würden? Jetzt hatte sie diese auf dem Sitz sogar leicht gespreizt.

„Da war was mit einem Wasserschaden.”

„Aber sicher nicht durch Regen. Da war ja nix in letzter Zeit.”

„Nein, war ein Rohrbruch im Bad.”

„Im Bad? Das ist aber ein nobles Wort für den alten Waschraum. Da steht bis heute keine Wanne drin. Nur eine Dusche über'm nackten Boden”

„Der war auf jeden Fall hinüber.”

Aina wischte sich über die Augen und meinte:

„Den rettet eine Versicherung nun auch nicht mehr.” Die Worte klangen seltsam, ihr Mund schien trocken. Sie trank einen weiteren Schluck, stellte ihren rechten Fuß auf das Polster und stützte ihren Kopf mit dem rechten Arm auf dem nun hohen Knie ab. Der Mann blickte dauernd zu ihr herüber. Egal. Soll er doch. Alles eingepackt.