Schneegestöber - oder nach 1 kommt 3 - Andreas Heßelmann - E-Book

Schneegestöber - oder nach 1 kommt 3 E-Book

Andreas Heßelmann

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Beschreibung

Holzbach im Winter. Eine turbulente Gemeinderatssitzung, die im Einsamen Bären noch lange diskutiert wird. Am nächsten Morgen wird der Huber Alois tot auf einem großen Stein im Bachbett gefunden. Noch während Bezirksinspektor Roggmann mit Unterstützung der Kripo aus Innsbruck versucht die Umstände seines Todes zu rekonstruieren, kursieren schon die ersten Verdächtigungen im Dorf. Und es werden immer mehr. Alte und neue Familiengeheimnisse kommen ans Tageslicht, tragen aber nicht viel zur Klärung des Falls bei. Findet Roggmann die Lösung, bevor das einst so beschauliche Dorfleben völlig aus den Fugen gerät? Ein origineller Krimi mit viel Lokalkolorit.

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Es braucht den Mut, Altes zu bewahren und Neuem zu begegnen.

Geschichten sind halt dazu da, erzählt und nicht verschwiegen zu werden.(Michaela Staller)

Inhaltsverzeichnis

I. Kapitel

III. Kapitel

IV. Kapitel

V. Kapitel

VI. Kapitel

VII. Kapitel

VIII. Kapitel

IX. Kapitel

X. Kapitel

XI. Kapitel

XII. Kapitel

XIII. Kapitel

XIV. Kapitel

XV. Kapitel

XVI. Kapitel

XVII. Kapitel

XVIII. Kapitel

XIX. Kapitel

XX. Kapitel

XXI. Kapitel

XXII. Kapitel

XXIII. Kapitel

XXIV. Kapitel

XXV. Kapitel

XXVI. Kapitel

XXVII. Kapitel

XXVIII. Kapitel

XXIX. Kapitel

XXX. Kapitel

XXXI. Kapitel

XXXII. Kapitel

XXXIII. Kapitel

XXXIV. Kapitel

XXXV. Kapitel

XXXVI. Kapitel

XXXVII. Kapitel

II. Kapitel

I. Kapitel

„… und natürlich gelten die zwölf Zantimeter für euer gottverdammtes Schwimmparadies ita!“ Alois Huber drosch mit hochrotem Kopf seine Faust auf den Tisch. Krüge und Gläser klirrten. „Åb’r wenn i mei Werchstått, und des aus wirtschaftliche Gründ, erweitern muaß, dånn liagt dia plötzlich in der gelben Zone – und i derf’s it.“

„Mein Gott, Alois, hån di it so …“, meinte der Zeiner Franz, „dia wera dir scho no wås anbieten.“

„Wås redsch denn du so daher?“, giftete Huber gleich zurück. „Dei Stall håsch jå als Bauer ohne Probleme bauen derfa, od’r etwa it? – Ihr Bauern derfts eh ålles.“

„Des wår oafåch a åndre Zeit. Iatz daat i’s numma.“

„Doch deina Viecher steah iatz dinna.“

„Wenn’s zu oam Hochwasser kinnt, muaß i eh wied’r ålles zåhla. Ålles, wås hi isch. Den ganzen Dreck. Den Stadl. Wia 2005.“

„Red kei Schmarrn“, warf jetzt wieder der Geisler Josef ein, „dr Alois håt recht. Immer gilt nur dem einen das Gesetz. Wenn in tausend Jåhr das nägschte Hochwasser kinnt, stirbst weder du noch dei Grampå drin.“

„Und wenn doch nägschts Jåhr wied’r oans kinnt?“

„Bis dahin kannst åum Zebrastreifen überfåhrn worden od’r vom Haboden åogrumpelt1 sei.“

„Od’r dr Alois.“

„Åb’r it vo deim Haboden!“, bellte Huber ihn an.

„Woaßt du des?“, wendete Geisler belustigt ein.

Im Einsamen Bären, an dem unlängst, also vor drei, fünf oder acht Jahren, wie zwei, drei Jahrhunderte namengebend zuvor, tatsächlich ein einsamer Bär vorbeigestapft war, um dann wenig heldenhaft von einer ganzen Armee Spezialisten und Panikmachern über den Haufen geschossen zu werden, weil angeblich sonst Tausende Kühe und Schafe und nebenbei Hunderte Wanderer um ihr Leben bangen müssten, ging’s heute drunter und drüber. Schon seit bald einer Stunde stritt das Quartett am linken Kopfende wie zuvor im Gemeinderat über das Thema der abendlichen Sitzung: das Schwimmparadies in Holzbach. Die zukünftige Sensation im Tal für jedermann. Mit Drei-Meter-Brett, Dampfbad, Kinderrutsche, Duschpilz, Sommeraußenbecken und – Massageräumen, über die sich jeder Mann im Tal seine eigenen Gedanken machte. Gebaut auf einem künstlichen Damm. Mitten in der Naturschutzzone, weil es nirgendwo sonst dafür einen Platz gehabt hätte.

Am rechten Ende herrschte indes mehr oder weniger Ruhe. Roggmann, der zuständige Bezirksinspektor aus der Kreisstadt, Bauerfeind, der Pfarrer, Leitner, der Bibliothekar, und Klauber, der Lehrer, hörten entweder zu, grinsten sich einen, weil sie lauschten, oder unterhielten sich entspannt über die restlichen Tagesordnungspunkte, die an diesem Abend zur Debatte standen. Wenn es denn die Lautstärke am anderen Ende zuließ. Sie hatten den ziemlich gelangweilten Räten nach Tagesordnungspunkt eins, Begrüßung, eh nur ihre Jahresberichte den Ort betreffend zum Besten gegeben: Drei Einbrüche und weiß Gott wie viele, zum Teil schwere Unfälle – fast ausnahmslos mit jungen Leuten –, achtzehn Beerdigungen und die neun vor kurzer Zeit entstandenen Urnengräber, fast sechstausend Entleihungen und 250 neue Objekte, nebst neunzehn Erstklässlern aus Holzbach und den Nachbargemeinden, die natürlich allesamt vollkommen schlecht erzogen, lernunwillig und schwer erziehbar waren – wie jedes Jahr. Doch als der Punkt Schwimmparadies zur Sprache kam, reichte in dem Kompositum der Begriffe schon das Bestimmungswort Paradies. Bei manchem gingen die Gäule durch, wenn es um die eigene Fantasie bezüglich der Ausgestaltung ging, denn in dem kleinen Sitzungssaal brachen im wahrsten Sinne des Wortes genau dann die Dämme. Und die waren für einen solchen Neubau eigentlich um zwölf Zentimeter zu niedrig.

Paul, der Wirt, schaute schon eine ganze Weile dem mitunter viel zu lauten Treiben zu und überlegte, welchen Beitrag er leisten könnte, um die Gemüter zu beschwichtigen oder zumindest vom Thema abzulenken. Immerhin hatte er noch ein paar andere Gäste und die wollte er nicht vergrätzen. Es war Saison und nach Möglichkeit sollten viele von ihnen morgen wiederkommen. Pro Kopf machte das im Schnitt immerhin fünfzehn Euro. Fürwahr kein schlechter Umsatz in solchen Zeiten! Vor allem, wenn, wie heute, alle Sitzplätze belegt waren. Die Hände an seinem Kittel abputzend, stellte er sich kopfschüttelnd neben den Tisch, hob die Hände, suchte in dem Ramasuri vergeblich nach Worten, um gehört zu werden, kehrte aber unverrichteter Dinge, weil keiner auf ihn achtete, zur Theke zurück und schenkte dort – da ihm nur das einfiel, was schon bei seinem Vater und Großvater immer für eine gewisse Ruhe nach solch aufwühlenden Sitzungen sorgte – für jeden einen Schnaps ein, den er mit einem lauten, knorrigen und keinen Widerspruch duldenden „So, Leit!“ vor ihnen auf den Tisch stellte. Dann meinte er:

„Prost und lasst’s guat sei! Wås soll’s? Das nägschte Jåhr isch no weit. Warum måcht ma aus oar Kloanigkeita a Sensation! Iatz wird gmiatlig g’trunkn und g’gessn.“

Als Antwort erhielt er von allen ein Kopfnicken und ein unverständliches, er hoffte allerdings, dankbares Brummeln. Als er das leere Tablett unter die Achsel klemmte, ergänzte er sein Ablenkungsmanöver:

„I zåhl jedes Jåhr fast 6000 in die Kassa für die paar Hansel, die wir sind. Und hab nix davo. Dürft ich das Geld anders verteilen, kannta sich ålle in Amerika d’ Fußnägel schneiden låssa. Darüber kannt ihr mål mit dem Landeshauptmann reden. Des isch ungrecht! – Manchem von euch derft’s it bess’r gehn, wenn er Leit in Lohn und Brot håt.“

„Und wia viel stecksch selber so in d’ Tåscha?“

Alois Huber war heute nicht zu bremsen. Doch Paul ließ sich nicht provozieren:

„Deine zwanzg Cent Trinkgeld nachher.“

Ferenc, der smarte und, wie ein großer Teil der weiblichen Dorfjugend meinte, obendrein hübscheste Teil der ungarischen Bedienungsinvasion im Tal, die man ja alljährlich brauchte, weil keiner der gleichaltrigen Einheimischen für solch einen Lohn und im Speziellen bei diesen Arbeitszeiten schaffen wollte, sondern lieber das Taschengeld auf der Straße verheizte, servierte derweil wie auf Kommando mit einem unschuldigen Lächeln dem Huber Alois seine Frittaten- und dem Zeiner Franz seine Gerstlsuppe.

„Frag deinen Chef, ob er die Gåzå2-Suppa erschd im Ausland håt melken miaßa, so lång, wia das iatz braucht håt“, schimpfte Zeiner und erhielt dafür ein freundliches Lächeln.

Ferenc war gerade mal sechs Wochen in Holzbach und die eigenwilligen Reaktionen der Gäste und vor allem ihre mit vollem Dialekt dargebotenen Spitzfindigkeiten verstand er Gott sei Dank noch nicht. „Jó étvágyat!“ – „Guten Appetit!“, meinte er denn auch, von einem am Nebentisch wunderfitzigen Touristentrio beobachtet. Mit langen Ohren und bemühtem Blick auf die Teller. Besonders die rot- und wildlockige Oksana, nur deswegen war sie Roggmann aufgefallen und nur deswegen hatte er besonders gelauscht und ihren Namen aufgeschnappt, schien an der eigentümlich folkloristischen Auseinandersetzung interessiert. Ihr Sohn und dessen neuer Vater, der Oksana vor einigen Jahren mitsamt dem damals kleinen Kind von einer Reise mitgebracht hatte und sie seitdem nächtens gegen innerhalb der vorhergehenden Jahre aufgetauchten Defizite vorhielt, stocherten ebenfalls auffällig neugierig in ihrem Gröstl herum und steckten dabei hin und wieder die Köpfe zusammen. Die Mitte Europas unterschied sich in diesem Fall nicht allzu sehr von der alten Heimat. Solche Darbietungen hatte man trotzdem nicht jeden Tag.

„Alois“, unterbrach der Nessler Willi, „du musst schon einsehen, dass deine Werkstatt im Falle eines Hochwassers etwas gefährlicher ist als die Jauche vom Franz. All die Öle, Kraftstoffe und Chemikalien, die du in der Garage hast. Des baut sich nicht ab. Dann wär’s um den Naturschutz hier im Tal geschehen und damit mit der staatlichen Förderung.“

Der bislang stille Turler Egon nickte nun auch ziemlich heftig mit dem Kopf. Doch bevor er den gleichen Senf wie im Rat dazu beitragen konnte, als er meinte, Die Tankstelle hat auch wegmüssen, fuhr Alois dazwischen.

„Hab’ ich den so gewollt? Den Naturschutz! Ich hab’ damals schon gesagt, dass dann alles raus müsste, auch dein Viehzeug mit der Gülle und Jauche. Oder dem Maler Ziefler sein Lager mit all den Farben und was weiß ich. Gerade der steht noch näher am Fluss.“

„Im Rat håsch du seiner Zeit åb’r ’s Maul it aufbråcht“, warf wieder der Zeiner ein, „da håsch o nix g’sågt.“

„Wia o? Es war doch eh alles schon g’red. Was stand in der Kundmachung? Punkt 3, Verabschiedung der neuen Wasserschutzverordnung. Und nicht Beratung. Da wollte koana diskutieren. I hån im Nachhinein für die Kompromisse g’sorgt. Und des isch dr Dank dafür.“ Huber stierte in seine dritte Halbe. Mehr als die Hälfte war noch drin. Er hob den Krug, drehte ihn zwischen seinen Händen, tat, als läse er den Aufdruck der Brauerei darauf und leerte ihn dann in einem Zug. Krachend stellte er den gläsernen Henkelpott zurück. Ein paar Schaumreste flogen dabei durch die Luft.

„I buggl scho mei Leba lång und wås bleibt unterm Strich? Dei Hof kann wåchsa und mei Werchstått steaht. Åb’r als dr Naturpark g’måcht worden isch, håt ma mi und mei Ideen braucht. Und fascht jeder håt davo profitiert.“

Ja, wenn er mit all den asiatischen Firmen konkurrieren wollte, die das Tal seit Jahren wie Ameisen überrannten, musste er vergrößern. Vor allem musste eine größere Halle her. Für die neuen, viel größeren Traktoren und Landmaschinen. Für den riesigen Fendt vom Markus zum Beispiel, die ganzen Ersatzteile, die notwendig gewordene Hebebühne und den stärkeren Flaschenzug. Ansonsten waren seine Tage als unabhängige Werkstatt gezählt, damit dem Toni und Max ihre Arbeitsplätze und seine bislang sichere Rente.

Vor Jahren wurde daher der Kompromiss ausgemacht, kein Neubau in der gelben Zone. Doch schon im Jahr darauf baute zwei Orte flussabwärts der Erwin auf einem künstlichen Damm eine Werkstatt für eine asiatische Automarke und der Ziefler stellte nicht nur Farben, sondern auch Lacke und Holzbeizen in seine Halle. Jetzt lagen auch noch die Pläne für dieses Schwimmparadies parat, das im Falle eines Hochwassers den Fluss und die Auen mit Chlor anreichern würde, mitsamt dem anderen dann sicher auch herausgeschwemmten Zeug, was man zum Betrieb von so etwas brauchte. Alles seit Jahren geplant und missachtet. Weil es ja staatlich war. Und seit genauso vielen Jahren versuchte Alois sich nun zu wehren. Kampflos wollte er nicht aufgeben. Er war erst Ende fünfzig, hatte noch ein paar Jahre zu schaffen, sonst würde es nicht reichen. Gerade wollte er wieder anfangen, schon erhob er einen gestreckten Finger, aber dem Zeiner Franz war’s genug für den Abend. Er stand auf, drückte dem Paul einen Zehner in die Hand und meinte zum Huber Alois:

„Låss guat sei! Is scho schpat! – Mein Schlepper geb i nur dir.“

„Den und die paar andern alten reparier i zu guat.“

„Deshalb kemma mir jå!“ Zeiner stellte sich hinter Alois und schlug ihm kurz auf die Schulter. „I måch Werbung für di. – Ålles klår?“

Huber nickte und lächelte ansatzweise.

„Is scho guat!“, meinte er und: „Åb’r es isch trotzdem wåhr!“

Dann hob er den Kopf und schaute auf die Uhr über der Eingangstür. Kurz vor elf in der Nacht. Ein Bier würde er noch trinken.

1 heruntergefallen

2 Schöpfer, Kelle

III. Kapitel

Schön lag er da, der Huber Alois, als wenn er ein Bad nehmen würde. Das Gesicht wie zum Bräunen dem Himmel zugewandt. Arme und Beine weit auseinandergestreckt. Allerdings in voller Bekleidung, was einerseits, angesichts der Sonne, die gerade über die Tajenspitze in einen stahlblauen Himmel kroch, eigenartig, aber andererseits, wegen der Eisschollen, die um ihn herum bachabwärts trieben, angemessen erschien. Warum machte er dies auch im tiefsten Winter? Da konnte selbst sein dicker Lodenmantel nicht mehr helfen. Roggmann schaute von der Oberen Brücke die knapp viereinhalb Meter hinunter. Eigentlich keine Höhe, um zu Tode zu kommen. Doch wenn der Hinterkopf mitsamt dem Genick bei einem Sturz von heroben auf einen der immer noch genügend spitzen Felssteine trifft, die da im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende aus den Bergen durch das Bachbett angekullert waren, kann einen dieser schon mal ereilen.

Hubers Blick war darob auch nicht sonderlich überrascht. Auch wenn er mit weit aufgerissenen Augen und eher beleidigtem Blick zur Brücke hinaufstarrte. Und das schätzungsweise schon seit circa zwei in der Früh. Denn erst da hatte er den Einsamen Bären wutentbrannt verlassen. I hör auf. I verkauf ålles, mei Werchstått und ’s Haus. Dann … Ach, wås red i denn? Ihr … Mehr war von ihm nicht zu hören. So laut hatte er die Tür zum Schankraum hinter sich zugeknallt. Und das viel später als ursprünglich geplant. Aber der Nessler Willi und der Turler Egon mussten ja unbedingt wieder anfangen, nachdem der Zeiner und die anderen gegangen waren, und ihre Loblieder über das schieche Schwimmparadies anstimmen und das auch noch in den höchsten Tönen.

„So betrunken, wie der war, wenn’s stimmt, was erzählt wird, kein Wunder. Wahrscheinlich ist ihm schlecht g’worn und er håt sei Gleichgewicht verloren“, kommentierte Haselberner, der zuständige Polizist für den Ort, lehnte sich über das Geländer und machte hustend und röchelnd den ersten Teil der Bewegung nach, von der er glaubte, dass diese nötig wäre, um hier hinunterzustürzen, und spie anschließend einen Batzen gelbbraune Raucherspucke hinunter.

„Hmh?!“, antwortete Roggmann, sein Chef aus der Kreisstadt, lediglich, zog den Kopf zwischen die Schultern und den Kragen hoch. Aber es half nichts, der eisige Wind kroch durch jede freie Lücke unter die Jacke. Vorwurfsvoll schaute er in den dafür seiner Meinung nach viel zu blauen Himmel. Wegen dem er seine Mütze im Streifenwagen gelassen hatte.

„Oder es war einer von den anderen dreien“, wieder der Haselberner.

Roggmann sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an und meinte wieder nur:

„Hmh“, und ein paar Sekunden drauf, als er die Höhe des an manchen Stellen vereisten und vollgeschneiten Geländers und mit einem Stoß dessen Festigkeit zu prüfen schien und sich anschließend wegdrehte, „erstens sitzen in einer solchen Sitzung noch ein paar mehr Leute, die alle verdächtig sein könnten, und zweitens macht man wegen zwölf Zentimeter nicht so einen Aufstand und bringt Leute um. In der Verwaltung weiß man auch, dass man ihn nicht übergehen darf.“

Dann ging er um das Ende des Geländers herum und stampfte durch den hohen Schnee das steile Ufer in seinen extra von daheim mitgebrachten Gummistiefeln zum Bach hinunter. Fast wäre er ausgerutscht und den Hang hinabgesaust. Sich an einen nackten Ast eines dürren Buschs klammernd, konnte er den Sturz gerade noch im letzten Moment abfangen. „Sakrament“, fluchte er leise und hielt zwei Schritte später eine Hand in das laut gurgelnde Wasser.

„Und wenn’s ihm nicht das Genick gebrochen hätt’, wär er erfroren“, rief er von unten rauf und betrachtete den toten Huber, der an ihm mit einer gewissen Verachtung absichtlich vorbeizuschauen schien. Leichenstarre. Das Wort erhielt dadurch einen ganz neuen Sinn. „Das Wasser hat höchstens drei oder vier Grad.“

„Weniger!“, meinte Haselberner.

Klugscheißer, dachte Roggmann und schrie:

„Komm doch runter und spring rein! Kannst ja ein paar Runden schwimmen!“

„Ich hab keine solch schönen Stiefel“, erwiderte der Haselberner, der sich schon wieder eine Zigarette ansteckte.

Der Bezirksinspektor schüttelte den Kopf, zog gleichzeitig einen Gummihandschuh über und tauchte mit der so verhüllten Hand im Wasser unter den Nacken des Toten. Ganz vorsichtig tastete er diesen ab, ohne ihn anzuheben. Sollten das doch nachher die Männer aus Innsbruck genauer untersuchen und ihre Kunst beweisen. Aber ein Kabel, Seil oder zusammengedrehtes, dünnen Tuch fand er nicht. Ohnedies wies der Hals solche Spuren schon von außen nicht auf. Es war ja nur ein Verdacht. Aber wer sollte den armen Kerl auch erwürgen wollen? Morgens um zwei. Mitten in der Nacht. Auf einer Brücke. Das gestern Abend war zwar ein lautes, aber doch ganz normales Gespräch zwischen Männern gewesen, die an einem Tag miteinander lachend und feixend Karten spielten und sich am nächsten, zornig aufeinander geworden, am liebsten mit Paintball-Gewehren beschießen würden, um zu zeigen, wer der Stärkere wäre. Und ein wenig von genau diesem Zorn glaubte Roggmann beim Huber auch in dessen starrem Blick noch zu erkennen.

Mit einem quietschenden Ploppen zog er die Handschuhe von den jetzt eisigen Fingern, hauchte sie zu einer Kugel geformt vor seinem Mund warm und musterte noch ein paar Sekunden Hubers Leichnam, bevor er das steile Ufer wieder hinaufkletterte. Wie zum Possen glitt er an derselben Stelle wir zuvor aus und wäre fast rücklings in den Bach gefallen. „Sakrament“, fluchte er wieder und riss dabei fast den Busch aus der Böschung. Haselberner lachte von oben und ließ die nächste Kippe in den Bach fallen.

„Verstehst du das unter Naturschutz?“, fauchte Roggmann.

„Bis die anfängt sich aufzulösen, ist sie längst über die Grenze und macht dort Scherereien. – Tor durch Krankl. Weißt du doch. Der ewige Schmerz.“

„Was hab ich von so einem Wunder? Ausgeschieden sind wir trotzdem.“

„Aber die auch!“

„Und was hab ich jetzt davon?“

„Ein Erfolgserlebnis. – Du bist trocken geblieben.“

IV. Kapitel

Was für ein Aufgebot! Schon vorne an der Bundesstraße, in der Abzweigung zur Straße, die Hunderte von Metern am Bach entlang hinauf zur Oberen Brücke führte, stand das erste Fahrzeug der Kripo mit zuckendem Blaulicht. Dazu jeweils zwei vor und hinter der Brücke und auf der wieder eines. Die Männer aus Innsbruck haben wohl nichts anderes zu tun, dass die es sich leisten können, hier als Rotte aufzutauchen, dachte Roggmann und schaute von oben zu. In dem Bach watete platschend ein halbes Dutzend von dieser Herrschaft wie Enten herum, rutschte auf den glatten Steinen häufiger aus, als ihnen lieb sein konnte, und begutachtete trotzdem wie ein synchrones Ballett den toten Alois. Jeder von ihnen hielt irgendwas wichtigtuerisch in seinen Händen: Funkgerät, Werkzeugkoffer oder eine Art Kombizange mit Drahtschere und Seitenschneider. Ja, sogar eine Schaufel hatte einer von denen dabei. Wofür brauchte man so einen Unfug? Ausgrabungen oder paläobiologische Funde waren hier nicht zu machen, schon gar nicht zu erwarten. Fehlte nur noch einer mit Pinsel und übergroßer Lupe.

Pfitzenmayr, Roggmann war sich immer noch nicht sicher, den Namen des neuen Polizei-Häuptlings aus Innsbruck richtig verstanden zu haben, beugte sich gerade à la Sherlock Holmes über die Leich’, als suche er schon seit Stunden nach einem sichtbaren und daher einleuchtenden Grund für den Tod vom Huber. Frustriert hob der aber die Arme und ließ sie enttäuscht auf seine Schenkel plumpsen. Seit er im kalten Wasser stand und sich dabei vermutlich die kältesten Füße seines Lebens holte, hatte er trotz seines überbordenden Eifers nichts gefunden, was ein Grund hätte sein und daher für einen frühen Feierabend sorgen können.

Auch der nicht mehr ganz junge Amtsarzt an seiner Seite, von dem Roggmann fest überzeugt war, dass dieser, im Gegensatz zu ihm, aufgrund seines fortgeschrittenen Alters den steilen Bichl zwar noch hinunter, aber womöglich nicht mehr hinaufkommen würde, klang grantig und wie ein schlecht eingestellter Radiosender, der jede Stunde die gleichen Lieder spielte, wenn er seine Untersuchungsergebnisse repetierte.

„Keine Würgemale, keine Verletzungen durch Waffen, keine Spuren von einem Kampf“, intonierte er immer wieder geriatrisch fiepend und suchte trotzdem weiter nach einem Stich oder dem berühmten Loch im Bauch. „Mir scheint’s doch eher ein Sturz gewesen zu sein.“

„Und das am Hinterkopf?“, wollte der Pfitzenmayr wissen.

„Nennt man Genickbruch – führt meist unmittelbar zum Tod“, die Antwort des Arztes.

„Vielleicht durch einen Schlag mit einer Stange oder einem Scheit?“

„Na, wie denn? Da sind keine Splitter in der Haut oder an der Kleidung. Und der Kopf liegt in finaler Sturzposition.“

„Und dass ihm einer hier unten den Kopf …“ Er tat, als hielte er einen Ball in Händen, den er auf einen Stein titschen lassen wollte. Spätestens jetzt war Roggmanns Eingreifen nötig:

„Derjenige müsste sich dann abgeseilt haben oder den Bach entlanggeschwommen sein“, meinte er lässig mit einem Lächeln in der Stimme. „Die Spuren im Hang sind von mir und ihren Männern.“

Dass diese Armada von Polizeibeamten nicht einmal die simpelste Spurensicherung beherrschte – Roggmann schüttelte kaum sichtbar den Kopf.

„Aber …“ Pfitzenmayr gab nicht auf.

„… wir haben keine Flößer mehr“, klärte ihn Roggmann auf.

Pfitzenmayr schaute mit einem abfälligen Blick nach oben und dachte sich seinen Teil. Während Roggmann in aller Seelenruhe den Blick aushielt und leise mit rollenden Augen zum Haselberner neben sich sagte:

„Jå, e i o! – Wenn du no amål kimmsch, schlåg i dir mit am Gådalådålaller auf dein Grint.3Dann weißt du, warum du då untå dunta liagsch.“ Und grinste sich einen.

Der Haselberner schnippte derweil seine dritte oder vierte Kippe im hohen Bogen über deren Köpfe ins Wasser und fing sich wieder einen entsprechenden Kommentar von Roggmann ein.

Fünf Minuten später stand Pfitzenmayr neben ihnen auf der Brücke. Sichtlich durchgefroren und mit triefend nassen Schuhen. Blick und Haltung waren wie Eis. Doch war dort zwischen seinen Schultern zu wenig Platz, um den Kopf auf der Suche nach Wärme ganz verschwinden zu lassen.

„Wann haben Sie ihn entdeckt?“, im edelsten Hochdeutsch.

„Ich? – Gar nicht!“

Pfitzenmayr schob seinen Unterkiefer hin und her und walkte anschließend seine Lippen. Er war nicht aus dem fernen Innsbruck gekommen, nicht eineinhalb Stunden im überheizten Einsatzfahrzeug gesessen und langsam fahrenden Touristen hinterhergezuckelt, um von einem kleinen Bezirksinspektor vorgeführt zu werden. Den Zeigefinger der rechten Faust etwas theatralisch wirkend auf die Lippen gelegt, räusperte er sich und wollte daraufhin zu einem Rüffel ansetzen.

„Also hören Sie mal“, fuhr ihm Roggmann alles ahnend dazwischen.

„Frau Anni Seulner, Hinter der Brücke 67, hat uns um circa halb sieben in der Früh verständigt. Sie war gerade auf dem Weg zur Bushaltestelle vorne am Gemeindeamt, als sie ihn hat liegen sehen. Ich war dann mit Haselberner keine halbe Stunde später da. Es fing gerade an zu dämmern. Da haben wir gleich gesehen, dass weder er noch jemand anderes in den Bach gegangen war. Der neue Schnee hat keine Spuren verdeckt. Nicht mal von einem Tier. – Frischer, weißer Schnee. Unberührt. Seit Tagen. – Sauber wie ein unbenutztes Stück Papier. Dafür war an manchen Stellen des Geländers der Schnee heruntergewischt.“

Mein Gott, Roggmann hatte wirklich die Gabe einen triumphierenden Blick höflich erscheinen zu lassen.

„Und wo ist die Dame jetzt?“ Pfitzenmayr machte sich daran den nächsten Minuspunkt zu kassieren – und das mit vollem Erfolg.

„Da! – In ihrem Wagen.“ Roggmann schaute ihn voller Unverständnis an und wies auf das Auto, das links von der Brücke in der Straße stand. „Sie gibt grad alles zu Protokoll und hat ja auf der Arbeit anrufen müssen, dass sie heute wohl später kommen wird.“

Nun gesellte sich auch der Arzt dazu, der sich den Schnee von seiner Hose abklopfte und abwechselnd auf einem Bein stehend erst den linken und dann den rechten Stiefel auszog. Ein gutes Unterfangen, wenn denn die Stiefel nass und die Füße nun auf etwas Trockenem stehen würden – aber es war umgekehrt. Diesen Umstand bemerkte er allerdings um einige Sekunden zu spät. Daher bediente er sich eines verbalen Notausgangs für eine Flucht zu den Einsatzfahrzeugen:

„Ich glaub, ich hab’ alles. – War wohl ein Unfall, wie mir scheint“, wiederholte er seinen Spruch aus dem Bachbett, dabei schaute er auf seine durchweichten Strümpfe und meinte nochmals: „Sicher ein Unfall.“

Oder auch nicht, dachte Pfitzenmayr und sah in das reißende Rinnsal.

„Könnte sein“, sagte Roggmann, mit Blick auf die nassen Socken des Arztes.

„Ich sende Ihnen den Bericht so schnell wie möglich zu“, fügte dieser hinzu.

„Ich bitte darum.“

Hochdeutsch konnte der Pfitzenmayr aber wirklich. „Ihnen auch eine Kopie?“