Die einsame Schlossherrin - Gisela Heimburg - E-Book

Die einsame Schlossherrin E-Book

Gisela Heimburg

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Beschreibung

Nun gibt es eine exklusive Sonderausgabe – Fürstenkrone Classic In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkrone" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Romane aus dem Hochadel, die die Herzen der Leserinnen höherschlagen lassen. Wer möchte nicht wissen, welche geheimen Wünsche die Adelswelt bewegen? Die Leserschaft ist fasziniert und genießt "diese" Wirklichkeit. Leer ist das Schloß, gespenstisch leer, dachte Ilke, während sie die steinernen Stufen ins Kellergewölbe hinabstieg. Sie hielt einen fünfarmigen Kerzenleuchter in der Hand, und die Flammen warfen ihr Schattenbild bizarr an die Wand. Dieser Schatten war der einzige Gefährte der jungen Schloßherrin. Von fern hörte sie das Rauschen des Windes in den alten Park- und Waldbäumen – das einzige Geräusch ringsum. Ilke von Süderhoff war allein, wie so oft, und manchmal hatte sie das Gefühl, als bestehe ihre Ehe nur noch auf dem Papier. Georg ging seine eigenen Wege. Heute war er ausgeritten, ohne ihr zu sagen, wohin. Aus Verzweiflung hatte Ilke beschlossen, allein ein Glas Wein zu trinken, oder auch zwei, es sich behaglich zu machen – trotz allem. Sie erreichte den Weinkeller. Ihr Gesicht schimmerte im Kerzenlicht weich und gelöst. Während Ilke gedankenversunken an den Regalen entlangging, in denen unzählige Flaschen lagerten, bemerkte sie plötzlich, daß die Kerzenflammen aus unerklärlichem Grund heftig flackerten. Zugluft? Woher kam sie? Die Kellerfenster waren verschlossen. Jetzt brannten die Lichter wieder völlig ruhig. Ilke ging ein paar Schritte zurück – da! Die Flammen wurden zur Seite gebogen und erloschen fast, als die Schloßherrin sie näher ans Regal hielt. Jetzt spürte sie die Zugluft sogar schon auf den Wangen. Hatten die meterdicken Mauern einen Spalt? Das Schloß, obwohl über vierhundert Jahre alt, zeigte noch keine Spuren von Verfall, wirkte wuchtig und uneinnehmbar wie am ersten Tag.

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Fürstenkrone Classic – 43 –

Die einsame Schlossherrin

Als llke ein aufregendes Geheimnis entdeckte

Gisela Heimburg

Leer ist das Schloß, gespenstisch leer, dachte Ilke, während sie die steinernen Stufen ins Kellergewölbe hinabstieg. Sie hielt einen fünfarmigen Kerzenleuchter in der Hand, und die Flammen warfen ihr Schattenbild bizarr an die Wand. Dieser Schatten war der einzige Gefährte der jungen Schloßherrin.

Von fern hörte sie das Rauschen des Windes in den alten Park- und Waldbäumen – das einzige Geräusch ringsum.

Ilke von Süderhoff war allein, wie so oft, und manchmal hatte sie das Gefühl, als bestehe ihre Ehe nur noch auf dem Papier. Georg ging seine eigenen Wege. Heute war er ausgeritten, ohne ihr zu sagen, wohin.

Aus Verzweiflung hatte Ilke beschlossen, allein ein Glas Wein zu trinken, oder auch zwei, es sich behaglich zu machen – trotz allem.

Sie erreichte den Weinkeller. Ihr Gesicht schimmerte im Kerzenlicht weich und gelöst.

Während Ilke gedankenversunken an den Regalen entlangging, in denen unzählige Flaschen lagerten, bemerkte sie plötzlich, daß die Kerzenflammen aus unerklärlichem Grund heftig flackerten. Zugluft? Woher kam sie? Die Kellerfenster waren verschlossen.

Jetzt brannten die Lichter wieder völlig ruhig.

Ilke ging ein paar Schritte zurück – da! Die Flammen wurden zur Seite gebogen und erloschen fast, als die Schloßherrin sie näher ans Regal hielt.

Jetzt spürte sie die Zugluft sogar schon auf den Wangen. Hatten die meterdicken Mauern einen Spalt? Das Schloß, obwohl über vierhundert Jahre alt, zeigte noch keine Spuren von Verfall, wirkte wuchtig und uneinnehmbar wie am ersten Tag.

Besorgt tastete Ilke hinter das Regal, das wohl auch schon so alt wie das Schloß sein mochte. Das Holz machte einen eisenharten Eindruck.

Ihre Finger fuhren an einem der senkrechten Balken entlang und stießen gegen etwas Metallisches. Im gleichen Moment bemerkte die Schloßherrin, daß sich ein etwa meterbreiter Teil der Regalwand verschob. Sie stieß unwillkürlich dagegen.

Knarrend und ächzend öffnete sich die Holzkonstruktion, und eine schmale schwarze Öffnung kam zum Vorschein.

Ein Geheimgang!

Ilkes Herz begann aufgeregt zu flattern.

Sie umspannte den Leuchter fester und trat dicht an die Öffnung. Kühle Luft wehte ihr entgegen. Im flackernden Kerzenschein sah die junge Schloßherrin, daß eine schmale, sehr steile Treppe nach unten führte.

Aufgeregt, von einer kaum bezähmbaren Neugier geplagt, stieg Ilke die ersten Stufen hinab. Ein halb unheimliches, halb erregend gruseliges Gefühl überlief sie.

Da hörte sie hinter sich Knirschen und Knarren. Erschrocken blickte sie über die Schulter und sah, daß das Regal langsam zuschwang.

Eine Sekunde lang stand Ilke wie erstarrt. Dann drehte sie sich um und hetzte die Stufen wieder hinauf.

Zu spät! Die Geheimtür fiel mit einem Klacken zu.

Nervös tastete die Schloßherrin nach einer Innenklinke. Nichts! Sie leuchtete die Tür ab, sah aber nur festgefügte Holzbohlen, keinen Schlüssel, keinen Riegel, keinen Drücker.

Verzweifelt stemmte sie sich gegen das harte Holz, das nicht einen Millimeter nachgab. Ilke schrie auf. Ihre rechte Faust trommelte an die Tür, während sich die linke um den Leuchter krampfte.

All ihre Bemühungen waren vergeblich. Sie schrie laut um Hilfe, doch unvermittelt verstummte sie. Es war sinnlos. Die Aufwartefrau kam nur am Vormittag, ihre Haushälterin war verreist. Und Georg? Er war sicher noch nicht zurück, und wer weiß, wann er kommen würde!

Ilke fuhr heftig zusammen, als ein neuer Gedanke in ihr aufflammte. Ein panischer Gedanke! Würde man oben im Schloß ihre Schreie überhaupt hören? Diese dicken Mauern! Erstickten sie nicht jeden noch so gellenden Hilferuf?

Ilke spürte, wie es ihr eiskalt über den Rücken lief.

Sie trug ein Hauskleid aus sonnengelbem Samt mit großzügigem Dekolleté. Ein Kleid, um gemütlich am Kamin zu sitzen und ein Glas Wein zu genießen. Hier unten aber herrschte, obwohl im Park schon die Bäume blühten, eisige Kälte.

Fröstelnd zog Ilke das Kleid enger zusammen. Mit schreckgeweiteten Augen blickte sie in die Tiefe. Die Stufen verloren sich in der Finsternis.

Langsam setzte sich die Schloßherrin in Bewegung. Stufe für Stufe stieg sie abwärts, den Leuchter hoch erhoben.

Wohin mochte dieser Gang führen? Ins Freie? Ilke klammerte sich an diese Hoffnung. Sie ahnte nicht, daß sie einem Geheimnis auf der Spur war – einem seltsamen Geheimnis.

*

Georg von Süderhoff, Ilkes Ehemann, ritt mit hängenden Zügeln den Weg entlang, der sich unterhalb des Schlosses durch die weiten Wälder schlängelte.

Es war eine herrliche laue Mainacht. Die Sterne glänzten wie Diamanten, der Mond strahlte silberhell. Doch der Mann hatte keinen Blick für die erhabene Schönheit der Natur.

Plötzlich entdeckte er zu seiner Linken einen Schein. Er zog die Zügel straff und spähte in die Dunkelheit.

Zwischen den schwarzen Stämmen zuckte es rot.

Feuer!

Ein Waldbrand?

Georg von Süderhoff gab seinem Reittier die Sporen und sprengte quer durch den Wald auf das Feuer zu. Ein heftiger Schreck durchfuhr ihn, als er feststellte, daß tatsächlich das Unterholz brannte. Im Schein der Flammen sah er eine dunkle Gestalt, die mit einem großen Tannenast auf das Feuer einschlug, um es zu ersticken.

Eine Frau – eine schwarzgekleidete Frau!

Schwarz war auch ihr langes, offen auf die Schultern hängendes Haar, das ihr Gesicht wie ein Schleier verbarg.

Georg sprang aus dem Sattel und schlang die Zügel um einen in gebührender Entfernung vom Brandherd stehenden Baum. Dann brach er einen tief herabhängenden Ast ab und jagte auf das Feuer zu.

Die Frau blickte kurz auf. Sie mochte Mitte oder Ende der Zwanzig sein. Sie hatte ein interessantes, ein apartes Gesicht. Der Blick ihrer dunklen Augen traf den Mann wie ein Dolchstoß.

Ohne ein Wort zu sagen, begann er ebenfalls, mit großer Verbissenheit auf die Flammen einzudreschen. Eine Feuerzunge nach der anderen erlosch.

Den Zweig noch immer wild schwingend, näherte sich Georg allmählich der jungen Frau. Bald kämpften sie Seite an Seite gegen den wütenden Brand.

Die ausstrahlende Hitze trieb dem Mann den Schweiß aus allen Poren. Er warf der Frau einen Seitenblick zu.

Ihr Gesicht glänzte im roten Widerschein der Flammen.

»Wir schaffen es!« keuchte er. »Nur nicht nachlassen!«

»Ein Glück, daß Sie gekommen sind!« stieß sie hervor und schwang ihre Feuerpatsche noch schneller, noch wilder.

Und sie gewannen den Kampf gegen die gierigen, züngelnden Flammen. Schließlich stoben nur noch Funken, und verkohlte Holzreste rauchten.

»So, wir können wohl erst einmal verschnaufen«, meinte Georg aufatmend.

Die Unbekannte schlug lässig auf die letzten zuckenden Feuerspitzen, dann ließ sie den angesengten Ast fallen.

Langsam wandte sie sich dem Mann zu, mit den Bewegungen einer trägen Katze.

Georg registrierte, daß sie einen schwarzen Rollkragenpullover, eng anliegende Hosen und Lackstiefel trug.

Sie hob die Arme, legte sie mit einer geschmeidigen Bewegung um den Nacken des Mannes und küßte ihn. Küßte ihn mit so verzehrender Leidenschaft und Süße, daß Georg augenblicklich alle Anstrengungen und seine Erschöpfung vergaß. Sein Herz erzitterte, und sein Puls flog fiebrig.

Doch als er die Arme um den Rücken der Unbekannten legen wollte, wich sie zurück.

»Danke«, sagte sie mit dunkler Stimme. »Wenn Sie nicht gekommen wären, ich allein hätte es nie und nimmer geschafft.«

Georg räusperte sich verwirrt. »Wie konnte es denn passieren?«

»Ich hatte ein Lagerfeuer angezündet und bin dann in die Jagdhütte gegangen.« Sie deutete über die Lichtung. Georg erkannte die Umrisse eines kleinen Hauses, über dem sich Tannenwipfel bizarr gegen den mondhellen Himmel abzeichneten.

»Kommen Sie«, lockte die Frau. »Dort ist ein Bach, an dem wir uns waschen können.«

Sie faßte nach seiner Hand und zog ihn über die vom Mondschein gespenstisch erleuchtete Lichtung. Der Druck ihrer Finger wirkte prickelnd und erregend. Georg fühlte sich benommen.

Er hörte das Murmeln eines Baches und erblickte den schmalen Lauf, der über Felsgestein sprudelte. Die Schaumkronen zersplitterten wie pures Silber.

Die Unbekannte beugte sich nieder, schöpfte Wasser mit den hohlen Händen und wusch ihr Gesicht. Georg ging neben ihr in die Knie und tat das gleiche. Das eisige Wasser kühlte angenehm seine brennende Haut.

Die Frau richtete sich wieder auf und fuhr mit allen zehn Fingern ordnend durch ihre Haarmähne, strich sie zurück und schüttelte den Kopf wie ein wildes Pferd. Sie hatte ihr Gesicht dem Mond zugewandt und wirkte in dieser bleichen Beleuchtung noch hexenhafter als vor dem Feuer.

Sie lächelte undurchsichtig. »Wie darf ich mich bei meinem Retter bedanken?«

»Nun, Sie haben es ja schon getan«, erwiderte Georg mit trockenem Mund.

»Der eine Kuß? Sind Sie immer so bescheiden? Kommen Sie in meine Hütte.«

Wieder ergriff sie seine Hand und zog ihn die wenigen Schritte zu dem Holzhäuschen, dessen Fenster anheimelnd schimmerten.

Als sie eintraten, erblickte Georg einen sehr behaglich eingerichteten Raum. Kostbare kleine Wandteppiche hingen an den rohen Holzwänden. Auf dem Tisch brannte eine Petroleumlampe.

»Auf die Errungenschaften der Zivilisation muß man hier leider verzichten«, hörte er die Schwarzhaarige sagen, während sie eine Whiskyflasche und zwei Gläser auf den Tisch stellte. »Aber gerade das einfache Leben inspiriert mich.«

»Gestatten Sie, daß ich mich zunächst einmal vorstelle«, entgegnete der Mann steif. »Mein Name ist von Süderhoff. Georg von Süderhoff.«

»Ich bin Lorissa Frey.«

»Angenehm.«

»Ach, wozu all diese steife Förmlichkeit, Herr von Süderhoff. – Setzen wir uns. Sie sind der Schloßherr von Sternhagen?«

»Schloßherr klingt etwas zu gewaltig. Wir wohnen eben auf Schloß Sternhagen.«

»Sie und Ihre Familie, nicht wahr?« forschte Lorissa Frey.

Wieder räusperte sich der Mann. »Meine Frau und ich, ja.«

Lorissa schenkte Whisky ein. Sie stützte den Kopf auf eine Hand, hob ihr Glas und sagte träge: »Also, auf das Wohl meines Retters.«

»Sie übertreiben. Nicht Retter, sondern Helfer.«

»Was hätte ich schwaches Weib wohl getan, wenn sich das Feuer ausgebreitet hätte, wenn ein richtiger Waldbrand entstanden wäre? Vielleicht wäre ich in den Flammen sogar umgekommen!«

»Das möchte ich bezweifeln. Sie haben lange Beine, auf denen Sie sicher recht gut laufen können.«

»Ah, so gefallen Sie mir schon besser, Georg. Gestatten Sie, daß ich Sie Georg nenne? Ich hasse all diese Förmlichkeiten.«

»Nennen Sie mich ruhig Georg, Lorissa.«

Über ihre Schulter hinweg erblickte er ein Gemälde auf einer Staffelei. Es zeigte eine dunkelhaarige Frau am offenen Kamin – eine Frau, die unverkennbar Ähnlichkeit mit Lorissa Frey hatte. Ein Selbstporträt?

»Sie sind Malerin?«

»Ja, Malerin. Ich versuche wenigstens, eine zu sein. Mit diesem Bild kam ich nicht recht weiter. Vor allem nicht mit dem Feuer. Wir modernen Großstadtmenschen wissen ja gar nicht mehr, wie ein richtiges Feuer aussieht. Darum ging ich hinaus auf die Lichtung, suchte ein paar Zweige zusammen und machte ein Lagerfeuer. Ich studierte das Spiel der Flammen, dann lief ich hinein, um sie auf die Leinwand zu bannen. Als ich nach einiger Zeit wieder hinausging, brannten die Büsche. Das war ein Schreck, wie Sie sich sicher denken können, Georg.«

»Ein bißchen leichtsinnig von Ihnen. Aber Sie als moderner Großstadtmensch ahnten sicher nicht, wie gefährlich ein Feuer im Wald ist, zumal um diese Jahreszeit.«

»Nein, ich weiß nur, wie gefährlich das Feuer der Herzen ist.« Lorissa warf ihm unter halbgesenkten Lidern einen Blick zu, der sein Blut abermals in Wallung brachte.

Flüchtig dachte er an seine Frau, an Ilke, die geborene Gräfin von Sternhagen. Dieses kühle hoheitsvolle Geschöpf. Welch ein Gegensatz zu der dunklen geheimnisvollen ›Hexe‹, die vor ihm saß!

*

Ilke war die steile Treppe hinabgestiegen, zögernd zwar, und doch getrieben von der Hoffnung, einen Ausweg aus der Falle zu finden. Unvermittelt stand sie vor einer schmalen Tür, die durch mächtige Eisenbeschläge gesichert war. Die junge Schloßherrin rüttelte am Riegel, aber es gelang ihr nicht, das verrostete Eisen auch nur um einen Millimeter zu bewegen.

Verzweiflung und Angst griffen wie mit Spinnenfingern nach ihr. Die Kälte wurde immer unerträglicher. Am ganzen Körper zitternd, raffte Ilke den Ausschnitt des Kaminkleides eng um ihren Hals.

Immer wieder versuchte sie, den Riegel aufzustoßen – bis ihr eine Idee kam. Sie nahm die Kerzen aus dem schmiedeeisernen Leuchter, stellte sie vorsichtig auf den Boden und begann, mit dem schweren Stück Kunstschmiedearbeit den Riegel zu behämmern. Tatsächlich, er gab nach! Bei jedem Schlag ruckte er ein winziges Stückchen, und schließlich glitt er aus der Halterung. Die Tür sprang auf.

Ilke blickte in einen kleinen Raum. Sie hielt den Atem an. Ihr Herz schlug dumpf. Der matte Schein der Kerzen reichte nicht aus, um Einzelheiten wahrzunehmen. Doch schon der erste flüchtige Eindruck sagte der jungen Frau, daß es sich nicht um ein feuchtes, modriges Kellergewölbe handelte, sondern um einen trockenen möblierten Raum.

Hastig steckte Ilka die Kerzen in den Leuchter zurück und betrat das geheime Zimmer. Alle Möbel und die Bilder an den Wänden waren von einer dicken Staubschicht bedeckt.

Die Blicke der jungen Frau irrten hin und her. Gab es einen zweiten Ausgang? Nein, offenbar nicht. Sie entdeckte lediglich einen steil in die Höhe führenden Schacht, wahrscheinlich einen Luftschacht. Doch er war viel zu schmal, um als Fluchtweg aus diesem schrecklichen Verlies zu dienen. Verzweifelt ließ sich Ilke in einen der zierlichen Sessel sinken. Staub wirbelte auf.

Ich muß mich gedulden, bis Georg zurückkommt, sagte sie sich immer wieder.

Doch Zweifel deprimierten sie. Das Schloß war groß, das Gewölbe tief, die Mauern für die Ewigkeit errichtet.

Würde Georg sie überhaupt vermissen? Sie besaßen getrennte Schlafzimmer.

Wenn er mich nicht hört, bin ich verloren! schoß es Ilke durch den Sinn.

Fröstelnd sprang sie auf. Hastig eilte sie an den Wänden entlang. Sie starrte auf die staubbedeckten Bilder, nahm schwache Umrisse wahr. Ein Frauenporträt. Ilke wischte mit der Hand über die Leinwand. Prachtvolle Farben kamen zum Vorschein. Klar leuchteten die feinen Gesichtszüge der jungen Frau, die auf die Leinwand gebannt worden war. Sie mochte Anfang Zwanzig sein, wie Ilke. Ihr blondes Haar war kunstvoll frisiert. Kleidung und Haartracht wiesen auf das ausgehende achtzehnte Jahrhundert hin.

Am Rahmen war ein kleines Schild befestigt. Ilke wischte mit dem Zeigefinger den Staub ab und entzifferte die eingravierten altmodischen Buchstaben: Clodhilde, Herrin von Sternhagen.

Es durchfuhr Ilke heiß. Eine ihrer Vorfahrinnen! Doch nie zuvor hatte sie etwas von einer Clodhilde gehört oder gelesen, obwohl es eine alte Familienchronik im Hause gab.

Dicht daneben hing ein zweites Gemälde, von dem Ilke nun ebenfalls den Staub wischte. Dasselbe Gesicht kam zum Vorschein. Clodhildes Züge – unverkennbar. Doch sie glich einer wilden, bezaubernd schönen Zigeunerin. Statt der höfischen Kleidung trug sie eine weit dekolletierte Bluse, die ihre Schultern frei ließ, und einen blutroten wadenlangen Rock. Ihr Haar war nicht kunstvoll aufgetürmt, sondern hing offen und wirr herab. In ihren Ohrläppchen baumelten große gelbe Ringe.

Warum hatte Clodhilde Gräfin von Sternhagen sich als Zigneuerin porträtieren lassen? Hatte sie in dieser Aufmachung ein Maskenfest besucht? War dieses Gemälde eine Erinnerung an einen rauchenden Ball?

Auch an diesem Rahmen entdeckte Ilke ein Schildchen. Sie las: Ariane Stern, die Zigeunerin.

Ariane Stern? Nicht Gräfin von Sternhagen? Eine andere, eine Fremde?

Ilkes Blick ging von einem der Bilder zum anderen. Es war das gleiche Gesicht – unverkennbar! Eine Doppelgängerin?

Dieses Rätsel werde ich wohl nie lösen, dachte die junge Schloßherrin und zog frierend die Schultern zusammen. War es Zufall, daß diese beiden Gemälde im geheimen Gewölbe hingen?

Unter den Bildern stand eine Kommode. Ilke öffnete die obere Schublade. Einige bunte Tücher lagen darin, eine vertrocknete Rose unter einer Glasglocke und ein ledergebundenes Buch.

Sie schlug es auf. Das kostbare glatte Papier war vergilbt und von feinstichiger deutscher Schreibschrift bedeckt. Es kostete Ilke einige Mühe, diese ungewohnte Schrift zu entziffern, doch dann las sie sich fest. Ihre Wangen fingen an zu glühen. Sie las die Geschichte der unheimlichen Schloßherrin Clodhilde Gräfin von Sternhagen:

Clodhilde, geboren am 2. Oktober 1769, war nach dem Tod ihres Vaters Herrin auf Schloß Sternhagen.

Eines Tages lagerten Zigeuner im Tal unterhalb des Schlosses. Der Zufall wollte es, daß Gräfin Sternhagen bei einem ihrer Ausritte einem jungen Zigeuner begegnete, einem außergewöhnlich gut und interessant aussehenden Mann, der sie vom ersten Augenblick an verzauberte. In der folgenden Nacht beobachteten einige Schloßbewohner, daß die Herrin von Sternhagen das Schloß verließ, als Zigeunerin verkleidet, eine Tracht, die sie kürzlich bei einem Maskenfest getragen hatte. Noch befremdlicher war, daß sie sich heimlich durch einen Seitenausgang davonschlich. Einer ihrer Schwäger folgte ihr. Es gelang ihm, ihr unbemerkt auf den Fersen zu bleiben. Clodhilde eilte zum Lagerfeuer der Zigeuner. Dort stellte sie sich laut und unbefangen vor, jedoch nicht als Herrin von Sternhagen, sondern als Ariane Stern.

Sie bewegte sich inmitten der Zigeuner, als gehöre sie zur Sippe. Schließlich begann sie mit dem Burschen, den sie kennengelernt hatte, am Feuer zu tanzen, wild und voller Leidenschaft. War das noch die kühle Gräfin? Die Lady, die sich so vollendet zu beherrschen wußte?

Am nächsten Morgen erschien Clodhilde am Frühstückstisch, als sei nichts geschehen. Sie war wieder die kühle, überlegene Schloßherrin. Als ihr Schwager sie später zur Rede stellte, sah sie ihn an, als zweifele sie an seinem Verstand. Sie leugnete, jemals im Lager der Zigeuner gewesen zu sein.

Ihr Schwager glaubte, daß ihr die ganze Angelegenheit peinlich sei – ein einmaliger Ausrutscher, den sie vertuschen wollte –, darum war er taktvoll genug, nicht weiter in sie zu dringen.

Doch mißtrauisch geworden, beobachtete er, daß sie in der folgenden Nacht das Schloß erneut verließ, wieder als romantische Zigeunerin, mit offen herabhängendem Haar, im roten Rock und einer unglaublich freizügigen Zigeunerbluse.

Ihrem Schwager war klar, daß sie ihren guten Ruf aufs Spiel setzte. Deshalb redete er am nächsten Tag sehr eindringlich mit ihr, versuchte ihr klarzumachen, daß ihr Verhalten unmöglich sei. Clodhilde jedoch erklärte ihn für verrückt. Sie lachte ihn aus, er leide wohl an Halluzinationen!