Ich will nicht mehr allein sein - Gisela Heimburg - E-Book

Ich will nicht mehr allein sein E-Book

Gisela Heimburg

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Beschreibung

In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkinder" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Ihre Lebensschicksale gehen zu Herzen, ihre erstaunliche Jugend, ihre erste Liebe – ein Leben in Reichtum, in Saus und Braus, aber oft auch in großer, verletzender Einsamkeit. Große Gefühle, zauberhafte Prinzessinnen, edle Prinzen begeistern die Leserinnen dieser einzigartigen Romane und ziehen sie in ihren Bann. »Schau, Birte, da unten liegt das Haus deiner Tante Juliane. Dort wirst du nun in Zukunft leben.« »Prrrr!« machte Birte, und der Esel, auf dem sie saß, verhielt den Schritt. Das kleine Mädchen starrte in die Richtung, in die ihre alte Tante Dörthe wies. Eigentlich war Dörthe Paulsen ja nicht die richtige Tante, aber Birte kannte die Haushälterin ihres Großvaters, solange sie zurückdenken konnte. »Oh!« Birtes Augen wurden so groß und rund wie der Mund. »Das ist ja ein richtiges Schloß, so weiß, und wie das in der Sonne flimmert! Es ist das Schloß der Schneekönigin und hat goldene Fenster.« Die Sonne ließ die unzähligen Fenster tatsächlich golden aufblitzen. »Ist nicht alles Gold, was glänzt«, murmelte die alte Dörthe Paulsen. »Und überhaupt, Birte, du solltest jetzt aufhören, solche Geschichten zu erzählen. Die Leute denken sonst, daß du spinnst. Oder sie glauben, du willst sie anlügen, denn sie kennen dich ja nicht genau.« »Hm!« machte Birte. Sie war mit ihren Gedanken bereits im Märchenschloß und hatte gar nicht richtig hingehört. Außerdem waren ihr diese Ermahnungen doch sehr geläufig.

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Fürstenkinder – 84 –

Ich will nicht mehr allein sein

Unveröffentlichter Roman

Gisela Heimburg

»Schau, Birte, da unten liegt das Haus deiner Tante Juliane. Dort wirst du nun in Zukunft leben.«

»Prrrr!« machte Birte, und der Esel, auf dem sie saß, verhielt den Schritt.

Das kleine Mädchen starrte in die Richtung, in die ihre alte Tante Dörthe wies. Eigentlich war Dörthe Paulsen ja nicht die richtige Tante, aber Birte kannte die Haushälterin ihres Großvaters, solange sie zurückdenken konnte.

»Oh!« Birtes Augen wurden so groß und rund wie der Mund. »Das ist ja ein richtiges Schloß, so weiß, und wie das in der Sonne flimmert! Es ist das Schloß der Schneekönigin und hat goldene Fenster.«

Die Sonne ließ die unzähligen Fenster tatsächlich golden aufblitzen.

»Ist nicht alles Gold, was glänzt«, murmelte die alte Dörthe Paulsen. »Und überhaupt, Birte, du solltest jetzt aufhören, solche Geschichten zu erzählen. Die Leute denken sonst, daß du spinnst. Oder sie glauben, du willst sie anlügen, denn sie kennen dich ja nicht genau.«

»Hm!« machte Birte. Sie war mit ihren Gedanken bereits im Märchenschloß und hatte gar nicht richtig hingehört. Außerdem waren ihr diese Ermahnungen doch sehr geläufig.

Dörthe Paulsen deutete das Schweigen des Mädchens auf ihre Art. »Sei nicht traurig, Birte. Vielleicht ist sie ja auch sehr nett zu dir.« Sie strich mit ihrer verarbeiteten Hand ein paar lose Haare aus Birtes Stirn –, kleine Locken, die sich trotz der straff geflochtenen Zöpfe immer selbständig machten.

Birte sah erstaunt auf. Warum sollte sie traurig sein, wenn sie in so ein Märchenschloß kam?

»Ich hätte dich ja gern behalten, aber ich…« Dörthe Paulsen fingerte ein blaukariertes Taschentuch aus ihrer unergründlichen Handtasche und fuhr sich über die Augen.

Jetzt fühlte sich Birte verpflichtet, sie ihrerseits zu trösten. »Weine man nicht, Tante Dörthe. Das Haus von deinen Kindern, in das du ziehst, ist sicher auch ganz schön! Und dann kannst du mich im Schloß ja auch mal besuchen.«

»Ach, Kind!« seufzte die alte Frau. Wie gut, daß Birte den großen Wandel gar nicht bgriff, der ihr bevorstand. Ein Schloß, ja, aber hoffentlich wird das Kind nicht darin frieren, Kinder brauchen ein warmes Nest, kein Schloß.

Dörthe Paulsen konnte es nicht ändern. Sie seufzte.

»Komm, wir wollen weiter!« Birte hieb ihrem Esel die Hacken in die Weichen, und sie setzten sich wieder in Bewegung. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Ob das Schloß auch einen Stall hat? grübelte Birte besorgt.

Und Dörthe Paulsen dachte, daß der Großvater Birtes viel zu früh verschieden war. Jetzt hatte das kleine Mädchen außer ihrer Tante Juliane, die sie gar nicht kannte, überhaupt keinen Menschen mehr auf der Welt.

Schweigend erreichten sie das große schmiedeeiserne Tor. Es stand einen Spaltbreit offen.

Birte stieg ab und öffnete es weit, damit Ulli, ihr Esel, bequem hindurch konnte. Dann schloß sie das schwere Tor wieder sorgfältig hinter sich und warf den Zügel des Grautiers lässig über den nächsten Strauch. Der Esel begann sofort auf der großen Rasenfläche zu grasen, während Birte und ihre Tante Dörthe auf das Portal mit den vier weißen Säulen zugingen.

Verschüchtert blieb die alte Frau vor der wuchtigen, mit blitzendem Messing beschlagenen Eichentür stehen. Ratlos blickte sie sich um.

»Mußt klingeln«, sagte Birte.

»Ich sehe keine Klingel.« Dörthe Paulsen klopfte vorsichtig mit dem Fingerknöchel gegen das harte Holz.

»Das ist viel zu leise, das hört keiner!« Birte hatte zwar noch nie einen Türklopfer gesehen, aber ihr fiel auf, daß sich der goldene Löwenknopf bewegen ließ. Sie hob ihn an, und mehr aus versehen glitt er ihr aus den kleinen Fingern.

Dörthe Paulsen fuhr bei dem dumpfen Dröhnen erschreckt zusammen.

»Aber Kind, was machst du denn?« flüsterte sie. »Und nun kommt auch gleich einer. Ach, entschuldigen Sie, das war die Kleine.« Ehrfurchtsvoll sah sie zu dem großen Mann in der goldbetreßten Uniform auf.

Sein unbewegtes Gesicht irritierte die alte Frau. »Es war ein Versehen.«

Als er nun auch noch seine buschigen Augenbrauen in die Höhe zog, geriet sie völlig aus der Fassung und schwieg.

»Sie wünschen bitte?« Der dunkle Baß war nicht unfreundlich, klang aber absolut unpersönlich.

»Ich… wir… Frau von Bahlen…«

»Brauchst keine Angst zu haben«, flüsterte jetzt Birte, die nach der Hand ihrer Tannte Dörthe gefaßt hatte. »Er tut nur so streng.«

Jetzt erst wandte der Butler des großen Schlosses seine Aufmerksamkeit dem kleinen Mädchen zu.

»Los doch, Tante Dörthe!« flüsterte Birte.

Dann gab sie sich einen Ruck und sagte selbst, was sie für nötig hielt: »Wir möchten gern zu meiner Tante Juliane. Sind Sie ihr General?«

Der Butler verzog keine Miene. »Ach, dann ist dies das kleine Fräulein Birte Hansen?«

»Ja, aber sagen Sie einfach Birte, nicht Fräulein!

»Bitte warten Sie hier«, wandte sich der Butler an Dörthe Paulsen. »Ich werde Sie der Frau Gräfin melden.«

Sie traten in die große Diele, aus der viele Türen in alle Richtungen abgingen. Eine breite Treppe schwang sich in kühnem Bogen in die Höhe. Alles war in Weiß, Gold und Rot gehalten und forderte Birtes lebhafte Phantasie geradezu heraus. Der rote Teppich und der dicke rote Läufer auf der Treppe konnten nur eines bedeuten.

»Da oben wohnt ein Prinz«, flüsterte sie ehrfurchtsvoll.

»Ja, ja«, sagte Dörthe Paulsen nervös. »Nun sei mal still.« Ihr war zumute wie im Wartezimmer beim Zahnarzt.

Aber es erschien kein Prinz, sondern Tante Juliane.

Birte hatte genügend Zeit, sie zu begutachten, während sie die lange Treppe herabschritt.

Sie war groß und sehr schlank und hielt sich gerade. Sie hatte silberweiße Löckchen und ein rundes Gesicht mit ernsten, forschenden grauen Augen. Unter ihrem Kinn saß eine Jugendstilbrosche mit Perlen und Rubinen, die Birte ungemein interessierte. Dieses Schmuckstück gab dem schlichten grauen Kleid die entsprechende Vornehmheit.

Birte flüchtete sich wieder zu Dör-the Paulsen. Eine so feiner Tante war ihr unheimlich!

Als Juliane Gräfin Bahlen den beiden Ankömmlingen die Hand reichte, sah Birte einen Brillanten blitzen. Ehrfurchtsvoll versank sie in einen tiefen Knicks.

Ein sparsames Lächeln umspielte für eine Sekunde die dünnen Lippen der Gräfin.

»So, das ist also die Birte! Ich hoffe, es wird dir hier gefallen.«

Birte nickte begeistert. »Bestimmt!« sagte sie im Brustton der Überzeugung. Und sie fügte hinzu: »Wohnt da oben ein Prinz?«

»Aber nein! Wie kommst du da-rauf?« fragte die Gräfin.

»In diesem Haus lebt niemand außer mir.«

»Ganz allein in dem großen Schloß?« staunte Birte. »Und wo wohnt der General?«

»Was für ein General? Du stellst eigenartige Fragen, Kind.«

Dörthe Paulsen drehte nervös an ihrem Mantelknopf. »Birte denkt sich immer Geschichten aus. Na ja, sie hat bisher immer auf einer kleinen Insel gelebt«, setzte sie entschuldigend hinzu, als ob das alles erkläre.

»Du hast jetzt also zum ersten Mal eine größere Reise unternommen, Birte?« fragte die Gräfin.

»Hm!« machte Birte. Sie war viel zu sehr von ihrer Umgebung fasziniert, als daß sie ein Gespräch hätte führen können.

Die Gräfin wandte sich Dörthe Paul-sen zu. »Sie waren die Wirtschafterin meines verstorbenen Bruders, nicht wahr? Leider habe ich nicht zur Beerdigung kommen können, meine Gesundheit ließ es nicht zu.«

Dörthes Augen huschten scheu über die hohe Gestalt. Krank sah die Gräfin eigentlich nicht aus. Aber sie hatte mit ihrem Bruder kaum Verbindung gehabt. Seit sie Gräfin geworden war, konnte ein Kapitän in ihren Augen wohl nicht bestehen…

»Ja, dann will ich mal wieder gehen«, sagte Dörthe und ließ ihren Mantelknopf los. »Ich fahre heute noch weiter zu meinen Kindern.«

»Ach, aber dann lassen Sie sich doch wenigstens in der Küche eine Tasse Kaffee geben.«

»Gibt es Kuchen?« fragte Birte interessiert.

»Ja, Kuchen ist sicher auch da«, erklärte die Gräfin.

»Na, dann komm, Tante Dörthe«, sagte das Mädchen. »Ich habe auch Hunger.«

»Aber nein, Kind!« rief die Gräfin empört. »Du nimmst natürlich mit mir den Tee.«

»Ooooch«, machte Birte gedehnt. »Ich mag aber viel lieber Kaffee! Wenn du nicht allein trinken willst, Tante Juliane, dann komm doch auch mit in die Küche.«

Juliane Gräfin Bahlen lächelte dünn.

Dörthe Paulsen rettete die Situation.

»Ich glaube, ich habe gar keine Zeit mehr. Ich muß unbedingt den nächsten Zug erreichen. Meine Kinder holen mich vom Bahnhof ab.«

»Ja, dann will ich Sie nicht länger aufhalten«, erwiderte die Gräfin erleichtert.

Sie gingen zur Tür, und Birte rief noch: »Besuch mich bald mal, Tante Dörthe!«

Dörthe Paulsen hob die Hand, aber es war ein trauriges Winken. Sie wußte, daß sie bestimmt nicht wieder hierherkommen würde.

Nachdem ihre Tante Dörthe am Parktor verschwunden war, fragte Birte: »Gibt es jetzt Kuchen?«

»Natürlich, mein Kind. Ißt du so gern Kuchen?«

Birte nickte. »Gibt es im Schloß immer Kuchen?« wollte sie wissen.

»Aber ja! Doch nun komm erst einmal mit. Vorher mußt du dir natürlich die Hände waschen. Ich zeige dir jetzt dein Zimmer.«

Die Gräfin führte Birte in ein ehemaliges Gästezimmer, das sie für ihre kleine Nichte extra hatte herrichten lassen.

»Hier soll ich schlafen? Das Zimmer gehört mir ganz allein?« fragte Birte fassungslos.

Möbel aus altrosa Schleiflack, mit ein wenig Gold verziert, verliehen dem riesigen Raum eine heitere Atmosphäre. Den Fußboden bedeckte ein hellgrauer Teppich, und vor dem Bett lag ein kuscheliges Lammfell, schneeweiß! Auf dem Bett hockte ein weißer Hase als Schlaftier.

Birte ging scheu an das Bett, um den Hasen zu berühren. Sie vermied es sorgsam, auf das weiße Fell zu treten. Sie war einfach überwältigt.

»Tante Juliane, bist du sehr reich?« fragte sie leise. »Oder mußt du die Sachen alle noch abbezahlen?«

»Aber Kind!« stieß die Gräfin hervor. Sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. Das konnte ja heiter werden! Sicher würde Birte sie noch oft in Verlegenheit bringen.

»Sind meine Sachen schon angekommen?« fragte Birte. Sie öffnete eine große Schranktür. Da hing zwar ein Teil ihrer alten Kleider, aber die meisten waren neu und für Birtes Begriffe traumhaft schön.

»Darf ich die wirklich alle anziehen, Tante Juliane? So viele Festtage gibt es doch gar nicht.«

»Du wirst sie natürlich auch am Alltag tragen, Kind. Du mußt immer sehr hübsch aussehen.«

Während Birte sich die Hände wusch, bestaunte sie das Bad mit offenem Mund. Sie dachte gar nicht mehr daran, was sie tat, und wusch sich so lange, bis die Gräfin ungeduldig mahnte: »So, nun ist es genug! Jetzt wollen wir Kuchen essen.«

Als sie zurückgingen, warf die Gräfin einen Blick aus dem Fenster und schrie auf:

»Nein, wo kommt denn dieses Vieh her! Das ist ja die Höhe.«

Birte schaute ebenfalls hinaus und sah ihren Esel auf dem Rasen. Sie hatte ihn über all dem Neuen völlig vergessen. Doch sie fand absolut nichts Aufregendes an der Tatsache, daß er im Garten friedlich graste.

»Das ist Ulli, mein Esel! Wenn er das Gras frißt, brauchst du nicht zu mähen«, klärte sie ihre Tante auf.

»Auf meinem englischen Rasen – ein Esel!« stöhnte die Gräfin. »Und verschmutzt hat er ihn auch schon!«

»Dung ist gut für den Garten«, sagte Birte sachlich.

»Das Vieh muß weg!« Die Gräfin hatte sich gefangen und wurde energisch.

»Am besten, ich rufe gleich den Schlachter an!«

»Den Schlachter?« fragte Birte entgeistert. Sie stürzte vom Himmel in die Hölle. Ihr Ulli sollte geschlachtet werden!

»Nein!« stieß sie hervor und hielt mit Gewalt die aufsteigenden Tränen zurück.

Juliane Gräfin Bahlen bemerkte es nicht.

»Bring ihn sofort auf den Hof und binde ihn fest!« befahl sie und eilte zum Telefon.

Birte stand einen Augenblick lang wie gelähmt. Dann aber gab es kein Halten mehr. Sie rannte davon, als wäre der Teufel hinter ihr her.

Sie stürzte aus dem Schloß, und völlig außer Atem schwang sie sich in den kleinen Sattel des Grautiers. »Komm, Ulli! Hier müssen wir so schnell wie möglich weg!«

Sie stieß ihm heftig die Fersen in die Seiten, und der Essel setzte sich vergnügt in Trab.

Während sie aus dem Gartentor ritt, fielen Birte die prächtigen Sachen ein, die sie im Stich ließ.

»Die will ich gar nicht haben, Ulli!« Trotzig schob sie die Unterlippe vor und kämpfte mit den Tränen. Zum ersten Mal in ihrem Leben kam sich die kleine Birte Hansen völlig verlassen vor.

*

Birte war gerade um die Straßenbiegung verschwunden, als aus der anderen Richtung ein himmelblauer offener Sportwagen auftauchte und mit einem geschmeidigen Ruck vor dem schmiedeeisernen Tor hielt.

Eine junge Dame in einem weißen schwingenden Kleid stieg temperamentvoll aus dem Wagen. Mit einer nachdenklichen Bewegung strich sie ihr halblanges weizenblondes Haar zurück, während sie ihre Blicke über die weiße Fassade des Schlosses schweifen ließ. Das große Haus lag wie ausgestorben da. Ob Tante Juliane wirklich krank war?

Mit zielsicheren Bewegungen stieß das Mädchen einen Flügel des Tores weit auf, stieg wieder ins Auto und rollte langsam bis vor das Säulenportal. Dabei drückte sie einmal kurz auf die Hupe.

Wenige Sekunden später erschien Juliane Gräfin Bahlen aufgeregt in der Türöffnung.

»Ach, Helma, da bist du ja! Gut, daß du gekommen bist.«

Helma Hansen stieg die Stufen hinauf und musterte ihre Tante aufmerksam. Hektische rote Flecken brannten auf den sonst so vornehm- blassen Wangen der alten Dame. Die Augen glänzten fiebrig.

Helma gab ihrer Tante einen Kuß auf die Wange und fragte besorgt: »Wie geht es dir? Hast du Fieber? Ich vermutete dich im Bett.«

»Ach, weißt du, Kind, so schlimm ist es wohl nicht. Aber in meinem Alter muß man mit allem rechnen.«

»Aber Tante, du mit deinen zweiundsechzig Jahren! Du siehst eigentlich wie das blühende Leben aus. Es kann sich wohl nur um eine kleine Unpäßlichkeit handeln!«

Die Gräfin lächelte geschmeichelt und gleichzeitig etwas verlegen. Sie hatte ihrer Nichte mehrere dringende Einladungen geschickt und schließlich eine Krankheit vorgeschoben, um zu erreichen, daß Helma sie besuchen kam. Sie hatte sich nämlich vorgenommen, ein wenig Schicksal zu spielen.

Aus dem Hintergrund der weitläufigen Diele tauchte der Butler auf.

»Bitte, Franz, wir nehmen den Tee im gelben Salon«, ordnete die Gräfin an. »Schicken Sie bitte auch Birte herein. Sie muß hinter dem Haus bei ihrem Esel sein.«

»Ach, die kleine Birte ist schon hier?« fragte Helma überrascht. »Und sie hat einen Esel mitgebracht! Das ist aber reizend.«

»Du findest solch ein Vieh reizend?« fragte die Gräfin empört. »Er zerstört und verschmutzt meinen englischen Rasen und frißt die Blumen auf. Nun, beim Tee können wir uns ausführlich über alles unterhalten.«

Im gelben Salon stellte die Gräfin hauchdünne Teetäßchen auf den Tisch und entzündete den Samowar.

»Als ich Birtes Opa letztes Mal auf der Nordseeinsel besucht habe«, sagte Helma, »da war Birte noch sehr klein. Sie kann sich an mich bestimmt nicht mehr erinnern. Jedenfalls freue ich mich, Tante Juliane, daß du dich entschlossen hast, Birte für immer aufzunehmen.«

»Das Kind muß noch sehr viel lernen. Birtes Kinderstube war wohl ein bißchen primitiv. Sie hat ihre Eltern sehr früh verloren, das weißt du ja. Ihr Vater war Hochseefischer, beide blieben auf See. Mein Bruder, dein Onkel, war zu jener Zeit auch schon verwitwet. Er fuhr nicht mehr als Kapitän zur See. Er war als Strandvogt tätig. Damals wehrte er sich mit Händen und Füßen, das Kind mir zu überlassen. Nun ist er auch heimgegangen, viel zu früh.«

Die Gräfin tupfte sich mit dem Spitzentaschentuch die nicht vorhandenen Tränen fort.

»Ich glaubte, in unserer Familie wird keiner alt«, sinnierte sie. »Aber um Birtes willen muß ich wohl noch einige Jahre aufnehmen.«

»Das finde ich wirklich gut, Tante Juliane, daß du der Kleinen hier ein Zuhause gibst. Da ich berufstätig bin, hätte ich ja Birte leider nicht zu mir nehmen können, und das Schicksal eines Heimkindes ist wirklich nicht beneidenswert.«

»Vielleicht heiratest du bald«, sagte die Gräfin mit erhobenem Kopf. »Ich meine, gibt es schon einen, dem dein Herz gehört?«

Helma bemerkte nicht den forschenden Seitenblick, mit dem die Tante sie maß. Sie lachte unbekümmert. »Nein, bestimmt nicht, Tante Juliane, das hat noch Zeit.«

»Ach, das weiß man manchmal nicht«, orakelte die Gräfin.

»Wenn der Richtige auftaucht, geht es manchmal sehr rasch. Aber dann wolltest du die Ehe ja auch nicht gleich mit einem Kind beginnen, nicht wahr?«

»Ach, liebe Tante, die Frage ist müßig. Aber zu gern würde ich jetzt wissen, warum du mich hergelockt hast? Ich meine, welches ist der wahre Grund dafür?«

Die Gräfin zögerte mit der Antwort, suchte nach Worten. Ihre Finger spielten nervös mit dem Teelöffel.

Der Samowar begann zu summen. Es hätte gemütlich sein können, aber es hing etwas in der Luft.

»Helma, es wäre schön«, begann die Gräfin schließlich, »wenn du etwas länger bleiben könntest. Ließe es sich nicht einrichten, daß du…«

»Ich habe ein paar Tage Urlaub«, fiel das Mädchen ihr ins Wort.

»Aber das ist ja wunderbar! Das ist ja…«

In diesem Moment klopfte jemand an die Tür.

»Ja, bitte!« Die Gräfin richtete sich steif und würdevoll auf.

Der Butler trat ins Zimmer und meldete: »Frau Gräfin, ich bitte um Vergebung, das kleine Fräulein Birte ist nirgends aufzufinden!«