Fritzchen stiftet Verwirrung - Gisela Heimburg - E-Book

Fritzchen stiftet Verwirrung E-Book

Gisela Heimburg

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Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Seit drei Jahrzehnten arbeitete Erna Abromeit nun schon als Hebamme, aber so schwer wie heute war es ihr dabei noch nie ums Herz gewesen. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer des Hausanschlusses. »Herr Oberarzt, bitte kommen Sie!« Ihre Stimme klang brüchig. Sie wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu. Zwei Mütter lagen im Kreißsaal, nur durch einen Wandschirm voneinander getrennt. Antje Sanders, die junge Witwe eines Seemannes, hatte gesunde Zwillinge zur Welt gebracht. Sie lag noch in leichter Narkose, würde aber bald ohne Komplikationen erwachen und sicher ziemlich entgeistert darüber sein, daß ihre vierköpfige Kinderschar nun gleich um doppelten Zuwachs bereichert worden war. Erna Abromeit mußte sich Mühe geben, ein Aufstöhnen zu unterdrücken. Sie hatte mit der Patientin, einer Frau Astrid Lauenstein, die als Feriengast auf der Insel weilte, gesprochen und war erschüttert von der verzweifelten Hoffnung dieser zarten, schönen Frau, nun endlich, nach einigen Fehlgeburten, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen. Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hatte. Noch wußte Frau Lauenstein es nicht. Die Hebamme trat hinter den Wandschirm. Es gelang ihr, das berufsmäßige optimistische Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern. Astrid Lauenstein blickte ihr aus großen schwarzen Augen entgegen, und noch nie zuvor hatte Erna Abromeit so viel Flehen, so viel angstvolle Erwartung im Blick eines Menschen gesehen. Die Hebamme spürte, wie sich ihr Herz vor Mitleid verkrampfte. Wie ungerecht das Schicksal war! Diese Frau, die sich so sehnlichst ein Kind wünschte – ein einziges nur! – würde wohl alle Hoffnung begraben müssen. »Frau Abromeit…«

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Mami Bestseller – 50 –

Fritzchen stiftet Verwirrung

Wer gehört zu wem?

Gisela Heimburg

Seit drei Jahrzehnten arbeitete Erna Abromeit nun schon als Hebamme, aber so schwer wie heute war es ihr dabei noch nie ums Herz gewesen. Sie nahm den Telefonhörer ab und wählte eine Nummer des Hausanschlusses.

»Herr Oberarzt, bitte kommen Sie!« Ihre Stimme klang brüchig.

Sie wandte sich wieder ihrer Aufgabe zu. Zwei Mütter lagen im Kreißsaal, nur durch einen Wandschirm voneinander getrennt.

Antje Sanders, die junge Witwe eines Seemannes, hatte gesunde Zwillinge zur Welt gebracht. Sie lag noch in leichter Narkose, würde aber bald ohne Komplikationen erwachen und sicher ziemlich entgeistert darüber sein, daß ihre vierköpfige Kinderschar nun gleich um doppelten Zuwachs bereichert worden war.

Die zweite junge Frau aber…

Erna Abromeit mußte sich Mühe geben, ein Aufstöhnen zu unterdrücken. Sie hatte mit der Patientin, einer Frau Astrid Lauenstein, die als Feriengast auf der Insel weilte, gesprochen und war erschüttert von der verzweifelten Hoffnung dieser zarten, schönen Frau, nun endlich, nach einigen Fehlgeburten, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen.

Eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hatte.

Noch wußte Frau Lauenstein es nicht.

Die Hebamme trat hinter den Wandschirm. Es gelang ihr, das berufsmäßige optimistische Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern.

Astrid Lauenstein blickte ihr aus großen schwarzen Augen entgegen, und noch nie zuvor hatte Erna Abromeit so viel Flehen, so viel angstvolle Erwartung im Blick eines Menschen gesehen.

Die Hebamme spürte, wie sich ihr Herz vor Mitleid verkrampfte. Wie ungerecht das Schicksal war! Diese Frau, die sich so sehnlichst ein Kind wünschte – ein einziges nur! – würde wohl alle Hoffnung begraben müssen.

»Frau Abromeit…« Es war nur ein Flüstern, das über die blutleeren Lippen der Patientin kam. »Bitte, sagen Sie mir…, es ist doch… mein Kind… Es ist…, bitte!«

In diesem Moment begann eines der neugeborenen Zwillingsmädchen zu schreien.

Und wie ein Echo ertönte ein zweites, recht kraftvolles Krähen, die Schreie des anderen kleinen Zwillings.

Da ging ein unbeschreibliches Leuchten über das Gesicht der jungen Mutter, die vor der Hebamme lag. Astrid Lauenstein streckte sehnsüchtig beide Arme aus und stieß in unfaßbarem Glück hervor: »Es lebt! Mein Kind, es lebt! Bitte, bitte, zeigen Sie es mir! Bringen Sie mir mein Kindchen!«

Erna Abromeit mußte sich abwenden, denn was sie sich sonst nie gestattete, jetzt geschah es: Tränen stürzten ihr in die Augen.

Sie trat vor den Wandschirm und sah mit einem Blick, daß die junge Seemannswitwe die ersten Anzeichen des Erwachens von sich gab.

In dieser Sekunde durchzuckte es die Hebamme wie ein Blitzstrahl der Erkenntnis.

Sie wußte, daß sie ein einziges Mal in ihrem Leben Schicksal spielen mußte, ein einziges Mal nur!

Erna Abromeit blickte zur Tür. Noch war der Doktor nicht eingetreten.

Sie hastete zu den beiden Zwillingsmädchen.

Sie handelte wie in Trance.

Ihre Hand zitterte nicht, als sie mit einer Schere das Bändchen zerschnitt, das sie am winzigen Ärmchen des Neugeborenen befestigt hatte. Ein paar sichere Griffe, und schon war ein neues Bändchen befestigt!

Weiter! Dasselbe noch einmal. Wenige Augenblicke später hatte Erna Abromeit auch am Handgelenk des totgeborenen Kindes, das in einem Nebenraum lag, ein anderes Bändchen befestigt.

Die beiden zerschnittenen Kennzeichen steckte die Hebamme in ihre Schürzentasche. Dann kehrte sie in den Kreißsaal zurück. Sie nahm das falsch gekennzeichnete Zwillingsmädchen und trug es hinter den Wandschirm.

Die Augen der jungen Frau glichen zwei großen schwarzen Edelsteinen.

»Gott hat meine Gebete erhört«, sagte sie mit seltsam schwingender Stimme. »Wenn ich wieder ein totes Kind zur Welt gebracht hätte, ich… ich hätte nicht mehr leben wollen.«

Die Hebamme legte das Kind in die Arme der schwarzhaarigen jungen Mutter.

»Es ist ein kleines Mädchen«, sagte sie mit trockener Kehle.

»Meine kleine Sylvia!« flüsterte Astrid Lauenstein.

In diesem Moment hörte die Hebamme, daß die Tür ging. »Der Doktor«, sagte sie und huschte hinter dem Wandschirm hervor.

Dr. Hornburg, ein junger, gutaussehender Arzt, blickte die Hebamme fragend an.

Sie bedeutete ihm, ihr in den Nebenraum zu folgen, schloß die Tür und deutete auf das leblose Kind. »Es ging so schnell, Herr Doktor. Ich kam nicht mehr dazu, Sie rechtzeitig zu rufen.«

Der Arzt untersuchte den leblosen kleinen Körper. »Kein Zweifel, tot. Es war ja vorauszusehen. Die arme Frau.«

»Nun ja, sie wird es verschmerzen«, erwiderte Erna Abromeit, und sie wunderte sich, wie ruhig und normal ihre Stimme klang.

»Hoffen wir es! Sie hat ja kein Geheimnis daraus gemacht, daß ein Kind das Ziel und der Sinn ihres Lebens ist.«

»Aber sie hat ja schon vier und nun ein fünftes!« lächelte die Hebamme.

Dr. Hornburg sah sie verblüfft an. »Wollen Sie damit sagen, daß es nicht Frau Lauensteins Kind ist?«

»Aber nein, Herr Doktor! Frau Sanders hat Zwillinge geboren, und eines der Kinder war tot.«

»Ach so!« Der Oberarzt eilte mit elastischen Schritten in den Kreißsaal hinüber, beglückwünschte strahlend Frau Lauenstein, griff nach dem Puls der gerade erwachenden Frau Sanders, veranlaßte, daß Frau Lauenstein in ihr Zimmer gebracht wurde, und als er bemerkte, daß die zweite Mutter die Augen aufschlug, warf er der Hebamme einen bedeutungsvollen Blick zu und eilte hinaus.

Erna Abromeit seufzte leise. Das war typisch für den Oberarzt! Vor schlechten Nachrichten drückte er sich gern.

Erna Abromeit näherte sich der Patientin, die ihr aus braunen Augen lächelnd entgegenblickte. Schwarzbraunes Haar wellte sich weich um ihr rührend jung wirkendes Gesicht.

»Nun, Frau Abromeit, was ist es diesmal denn geworden?« erkundigte sich Antje Sanders leichthin.

»Nach vier Jungen nun endlich ein kleines Mädchen«, erwiderte die Hebamme.

»Ein Mädchen! Klaus hatte sich so sehr ein Mädchen gewünscht. Daß er es nicht mehr erleben konnte…« Antja Sanders schloß die Augen. Ihre langen dunklen Wimpern zitterten.

Erna Abromeit musterte die junge Frau. Obwohl Antje nun schon fünfmal geboren hatte, war sie erst vierundzwanzig Jahre alt. Vor etwa einem halben Jahr war ihr Mann von See nicht zurückgekehrt. Ein Schiffszusammenstoß hatte ihn und mehrere seiner Kameraden das Leben gekostet. Es war erstaunlich, wie Antje Sanders nach dem Tod ihres Mannes mit allem fertiggeworden war. Da sie von nun an mit viel bescheideneren finanziellen Mitteln auskommen mußte, hatte sie kurz entschlossen die große teure Neubauwohnung aufgegeben und hatte für sich und ihre Kinder ein abseits gelegenes Haus in den Dünen gemietet. Dort konnten die lebenssprühenden Jungen nach Herzenslust toben, niemand beschwerte sich. Wenn es Antje hin und wieder zuviel wurde, lief sie an den Strand, blickte hinaus auf die weite See, und ihr langes dunkles Haar flatterte im Wind. Dann schien Melancholie ihre schlanke Gestalt einzuhüllen, Melancholie und die Sehnsucht nach dem verlorenen geliebten Mann. Doch nach solchen Augenblicken war sie bald wieder die tatkräftige, unbekümmerte junge Frau, die für ihre Kinder durch dick und dünn ging.

Das wußte die Hebamme. Deshalb fürchtete sie sich auch nicht vor dem, was sie Antje Sanders nun sagen mußte.

»Antje«, begann sie vorsichtig, denn sie kannte ihre Patientin von Kindheit an, »beinahe hätte sich dein Kindergarten auf sechs erweitert.«

Antje Sanders schlug die Augen auf. »Wie meinen Sie das, Frau Abromeit?«

»Du hast Zwillinge geboren. Das eine war tot.«

Antje senkte die Lider, und um ihre Mundwinkel zuckte es. Doch dann ging das unterdrückte Schluchzen in ein schmerzliches Lächeln über, und sie sagte: »Fünf sind auch genug.«

»Du bist eine tapfere Frau, Antje.« Die Hebamme drückte die schmale, kräftige Hand der Jüngeren. »Ich hole dir jetzt dein kleines Mädchen. Das andere, das schaust du dir lieber gar nicht erst an.«

Antje Sanders nickte. Als die Hebamme der jungen Mutter das Kind in den Arm legte, erkundigte sie sich: »Wie willst du es denn nennen?«

»Friderike!« antwortete Antje spontan.

»Friderike? Ist das nicht ein bißchen zu altmodisch?«

»Meine Großmutter hieß so. Ich habe sie sehr, sehr gern gehabt. Und ich habe ihr schon als Kind versprochen, daß ich mein erstes Mädchen Friderike nennen werde. Ein Versprechen muß man doch halten, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Frau Abromeit.

Als sie wenig später durch die Korridore des kleinen Krankenhauses ging, trat ihr ein großer, gutaussehender Mann in den Weg. »Sie sind Frau Abromeit, die Hebamme, nicht wahr?«

Sie nickte und sah ihn fragend an.

»Mein Name ist Lauenstein«, stellte er sich vor.

Er ergriff die Hand der Hebamme. »Frau Abromeit, ich möchte Ihnen danken. Dafür, daß Sie meiner Frau in ihrer schweren Stunde so geholfen haben. Eigentlich hatte ich ja für meine Frau einen Platz in einer berühmten Privatklinik vorbestellt. Sie verstehen, weil sie bisher immer dieses entsetzliche Pech hatte. Wir sind hier auf der Insel ja nur auf Urlaub, aber die Wehen setzten überraschend viel zu früh ein. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, daß alles so gutgegangen ist!«

»Es war eine leichte Geburt, Herr Lauenstein. Und Ihrer kleinen Tochter geht es prächtig, wenn sie auch ein bißchen zu früh geboren und besonders klein und zierlich ist.«

»Sie glauben also, daß das Kind am Leben bleibt?«

»Aber selbstverständlich!« erwiderte Erna Abromeit und dachte an die lebensstarke Antje und ihre prächtigen Kinder.

Später kamen der Hebamme die ersten Zweifel, ob sie richtig gehandelt hatte. Sie hatte in ihrem Leben erfahren müssen, daß es meistens schiefging, wenn die Menschen versuchten, ins Rad des Schicksals zu greifen. Auch die Furcht vor Entdeckung stellte sich ein. Doch niemand schöpfte auch nur den geringsten Verdacht.

*

Fünf Jahre vergingen.

Erna Abromeit dachte kaum noch daran, daß sie einmal zwei Kinder, ein totgeborenes und ein quicklebendiges vertauscht hatte.

Eines Tages aber wurde sie schmerzhaft deutlich daran erinnert. Sie ging arglos durch die Straßen der kleinen Inselstadt, als sie Herrn Lauenstein erblickte. An der Hand führte er ein kleines, etwa fünfjähriges, ganz entzückend anzuschauendes Mädchen. Es konnte nur das Kind von damals sein!

Erna Abromeit erschrak bis ins Mark. Wenn Herr Lauenstein nun zufällig das andere Zwillingsmädchen traf?

Doch dann sagte die Hebamme sich, daß Antje Sanders mit ihren Kinder ja weit draußen wohnte. Es müßte schon ein großer Zufall sein, wenn sie einander über den Weg liefen! Und dann würde die Familie Lauenstein ja nach Beendigung ihres Urlaubs bald wieder abreisen!

Doch schon am nächsten Tag erfuhr Erna Abromeit, daß Thomas Lauenstein, dessen Frau kürzlich verstorben war, hier auf der Nordseeinsel ein Haus gekauft hatte.

Die Angst legte sich wie ein Felsblock auf die Brust der Hebamme. Lauenstein und das kleine Mädchen blieben also hier, für immer!

*

Ein strahlendblauer Sommerhimmel spannte sich von Horizont zu Horizont über die glitzernde Nordsee. Eine erfrischende Brise strich über das Dünengras und kräuselte die Meeresoberfläche. Plätschernd leckten die kleinen Wellen über den Strand.

Die braunlockige Sylvia Lauenstein saß allein in einer flachen Sandkuhle und spielte lustlos mit gesammelten Muscheln.

Sehnsüchtig wanderten die Blicke des fünfjährigen Mädchens immer wieder zu einer Gruppe von Kindern, die mit lebhaftem Kreischen und Jauchzen ganz nackt im flachen Wasser planschten.

Endlich stand Sylvia auf und näherte sich den anderen Kindern unschlüssig. Es mußte herrlich sein, so nackt herumzutoben!

Sylvia warf einen vorsichtigen Blick über die Schulter zurück. Ihr Papi war in seine Zeitung vertieft.

Kurz entschlossen streifte Sylvia ihren Badeanzug ab und ging scheu auf die Kinder zu.

Sie sah ein anderes kleines Mädchen im Wasser und hatte das Gefühl, in den Spiegel zu blicken.

Da wurde das andere Mädchen von einigen Jungen gepackt und unter die Wasseroberfläche gedrückt. Doch es konnte sich befreien und unter lautem Protestgeschrei entfliehen.

»He, Fritz, du bist feige!« schrie einer der Jungen.

Weshalb nannte er das Mädchen ›Fritz‹?

Obwohl die Jungen wild herumtobten, näherte sich Sylvia der Bande fasziniert Schritt für Schritt, und plötzlich war sie in das unbekümmerte Spiel mit einbezogen. Sie fand es herrlich!

Das kleine Mädchen, das der wilden Horde entwischt war, näherte sich unterdessen dem rotleuchtenden Badeanzug mit den hübschen Rüschen, der wie eine exotische Blume auf dem gelben Sand lag.

Die kleine Friderike, die von ihren vier älteren Brüdern ›Fritz‹ genannt wurde, bückte sich danach und betrachtete begeistert die verspielten Rüschen, die sich um Bein- und Halsausschnitte ringelten.

Es müßte hübsch sein, solch einen Badeanzug zu besitzen! In so einem herrlichen Kleidungsstück wäre sie bestimmt nicht mehr der ›Fritz‹, sondern nur noch Rikchen, wie ihre Mutter sie zärtlich rief.

Sie war so ins Schauen und Staunen vertieft, daß sie den Mann, der mit langen Schritten auf sie zukam, gar nicht bemerkte. Sie erschrak heftig, als er unvermittelt vor ihr auftauchte, und wollte davonlaufen. Doch der Mann hielt sie am Arm fest.

»Ich wollte ihn nur mal begucken!« erklärte Rikchen.

»Dazu brauchst du ihn doch nicht auszuziehen!« lächelte Thomas Lauenstein. »Oder wolltest du auch mal ohne ins Wasser? Dafür bist du eigentlich schon zu groß, Sylvia.«

»Aber ich…«

Aber ich bin doch gar nicht Sylvia, wollte sie entgegnen, doch dazu kam sie nicht.

»Wir müssen jetzt nach Hause!« fiel ihr der Mann ins Wort. »Papi hat noch etwas zu erledigen. Bitte, komm!«

Rikchen klappte den Mund zu. Sie begriff. Das mußte der Vater des kleinen Mädchens sein, das ihr, Rikchen, irgendwie ähnlich sah. Sie hatte es vorhin, als die andere Kleine sich zögernd näherte, schon bemerkt.

Der Mann hatte sie verwechselt.

Rikchen hatte ihren Vater nie kennengelernt. Es mußte aufregend sein, so einen Papi zu haben!

Bewundernd blickte sie zu ihm empor. Doch der Mann bemerkte es gar nicht. Er entfaltete einen Bademantel und hängte ihn seiner vermeintlichen kleinen Tochter um.

Rikchen kicherte. Wie lange würde es wohl dauern, bis er merkte, daß er eine Falsche vor sich hatte?

Das Bademäntelchen war genauso schick wie der Badeanzug.

Der Mann nahm Rikchen bei der Hand und ging mit ihr zu einem riesengroßen Wagen, der hinter der Düne am Straßenrand parkte.

»Du kannst dich während der Fahrt anziehen – oder auch erst zu Hause«, meinte er. »Ich hab’ es nämlich eilig.« Er schob sie auf einen der hinteren Sitze.

»Nein, das geht nicht!« kicherte Rik­chen.

»O ja, das geht sehr gut! Bitte, keine Widerrede!«

»Du bist doch gar nicht mein Papi!« erklärte Rikchen forsch.

»Sei nicht so frech! – Oder findest du mich plötzlich so garstig?«

Nein, das konnte Rikchen nun beim besten Willen nicht behaupten. Sie schüttelte energisch den Kopf.

Thomas Lauenstein knallte die Türen zu und setzte sich hinter das Lenkrad. Fast lautlos glitt der Wagen die Straße entlang.

Jetzt wurde es der kleinen Friderike Sanders doch etwas komisch zumute.

Doch dann entdeckte sie die Sachen ihrer Doppelgängerin auf dem Sitz, und ihre braunen Augen wurden groß und rund. Ein weißes Kleid mit roten Rüschen! Rikchen strahlte. Sie mußte meistens mit den mehr oder weniger abgetragenen Jeans und Hemden ihrer Brüder vorliebnehmen. In diesem Kleid aber würde sie wie Dornröschen aussehen!

Plötzlich hatte Rikchen es eilig, das Prachtstück anzuziehen, nur mal so zum Spaß! Wohlgefällig sah sie an sich hinunter. Wunderbar!

Sie schlüpfte in die zierlichen roten Lackschuhe und spann sich in ihr Märchen ein, das sie schon immer so gern geträumt hatte – in das Märchen von Dornröschen, das in seinem Schloß auf den schönen Prinzen wartete.

Rikchen schreckte auf, als der Wagen plötzlich hielt.

Sie blickte aus dem Fenster, und wieder wurden ihre Augen groß und rund, denn sie sah eines der Häuser, die sie manchmal schon von weitem bestaunt hatte. Es war groß, schneeweiß und hatte ein dickes Reetdach.

Als der Mann den Wagenschlag öffnete, fragte das kleine Mädchen tief beeindruckt: »Ist das dein Haus? Wohnst du hier?«

»Ja, und du auch, kleiner Witzbold! Ich habe dir doch erzählt, daß es jetzt unser neues Zuhause ist.«

»Oh!« machte Rikchen und trippelte an der Hand Thomas Lauensteins auf die weiße Luxusvilla zu. Wie viele Fenster es hatte! Und ein rosaberankter Bogengang führte um das Haus! Ein Springbrunnen plätscherte in einem Marmorbecken. Überall wucherten Rosen, Rosen in allen Farben. Das alles erinnerte Rikchen sehr an die Bilder in ihrem dicken Märchenbuch.

Als sie die mit weichem Bodenbelag ausgestattete Diele betraten, zuckte Rikchen unwillkürlich zurück und streifte die Schuhe von den Füßen.

»Was ist denn mit dir los?« fragte Thomas Lauenstein belustigt.

»Man kann doch auf so schönem Stoff nicht herumtrampeln!« meinte das kleine Mädchen empört und ging auf Zehenspitzen über den weichen himmelblauen Teppichboden.

»Wer hat dir denn das beigebracht? – Geh jetzt bitte ins Badezimmer.«

»Was soll ich denn da?« erkundigte sich Rikchen.

»Händewaschen natürlich«, erwiderte Thomas Lauenstein mit leichter Ungeduld. »Wir essen gleich.«

Rikchen drehte ihre Händchen hin und her und betrachtete sie eingehend von allen Seiten. Dann entschied sie: »Händewaschen ist nicht nötig. Die sind doch ganz sauber vom Baden.«

»Wie bitte? Du glaubst wohl, weil dein Kindermädchen Urlaub hat, kannst du auch Ferien von der Hygiene machen? Marsch, marsch ins Bad!« Thomas schob sie durch die Tür.

Das Badezimmer war ein Traum in Nachtblau und Gold.

»Wohnt in diesem Zimmer die Hygiene?« fragte Rikchen ehrfurchtsvoll.

»Das will ich hoffen!« lachte Thomas.

Der Wasserhahn begann zu sprudeln, ohne daß ihn jemand aufgedreht hatte.

Rikchen erschrak, dann wandte sie sich langsam um und fragte mit gedämpfter Stimme und verschwörerischer Miene: »Ist das ein Zauberschloß?«