Lisa und ihre Kinder - Gisela Heimburg - E-Book

Lisa und ihre Kinder E-Book

Gisela Heimburg

0,0

Beschreibung

Große Schriftstellerinnen wie Patricia Vandenberg, Gisela Reutling, Isabell Rohde, Susanne Svanberg und viele mehr erzählen in ergreifenden Romanen von rührenden Kinderschicksalen, von Mutterliebe und der Sehnsucht nach unbeschwertem Kinderglück, von sinnvollen Werten, die das Verhältnis zwischen den Generationen, den Charakter der Familie prägen und gefühlvoll gestalten. Mami ist als Familienroman-Reihe erfolgreich wie keine andere! Seit über 40 Jahren ist Mami die erfolgreichste Mutter-Kind-Reihe auf dem deutschen Markt! Die Glocken läuteten. Die weite grüne Landschaft unter dem klarblauen Frühsommerhimmel schien plötzlich ein feiertägliches Kleid zu tragen. Unwillkürlich drosselte Lisa Cornelius den Motor ihres Wagens und rollte im Schrittempo ins Dorf. Eine Hochzeit? Eine Taufe? Ein Begräbnis? Die Glocken klangen freudig oder traurig, je nachdem, ob ihr Geläute in ein glückliches oder in ein verstörtes und verängstigtes Herz drang. Lisa war von gemischten Gefühlen erfüllt. Ein Brief hatte sie zu ihrer erkrankten Tante Leonarda gerufen, die am Dorfrand einen Geflügelhof besaß, und bei der die Sechsund­zwanzig­jährige als Kind so manches Mal die Sommerferien verbracht hatte. Plötzlich entdeckte Lisa vor sich zwei Kinder, die wie in panischer Flucht über eine Parkmauer kletterten. Blindlings wären sie um ein Haar vor das Auto gestürmt. Lisa trat hart auf die Bremse. Über der Mauer erschien das zorngerötete Gesicht eines gutaussehenden dunkelhaarigen Mannes von Anfang oder Mitte Dreißig. Er drohte den Kindern mit der Faust: »Wenn ich euch noch ein einziges Mal in meinen Kirschbäumen erwische, dann macht euch auf einiges gefaßt!« Das Mädchen hatte den kleineren Jungen bei der Hand gepackt und wollte mit wirbelnden Beinchen das Weite suchen. Doch unvermittelt griff es in die Tasche seines einfachen roten Kleidchens, stutzte und blieb jäh stehen, als sei es gegen eine unsichtbare Wand geprallt. Lisa sprang erschrocken aus dem Wagen, denn sie glaubte, das Kind habe sich weh getan, den Fußknöchel verknackst oder etwas Ähnliches. Sie hörte, wie das braunhaarige Mädchen entgeistert flüsterte: »Meine Geldbörse! Meine Geldbörse ist weg, Dirk! Ich hab' sie bestimmt im Garten verloren!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 137

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mami Bestseller – 58 –

Lisa und ihre Kinder

Jetzt fehlt nur noch der Vater!

Gisela Heimburg

Die Glocken läuteten. Die weite grüne Landschaft unter dem klarblauen Frühsommerhimmel schien plötzlich ein feiertägliches Kleid zu tragen. Unwillkürlich drosselte Lisa Cornelius den Motor ihres Wagens und rollte im Schrittempo ins Dorf. Eine Hochzeit? Eine Taufe? Ein Begräbnis? Die Glocken klangen freudig oder traurig, je nachdem, ob ihr Geläute in ein glückliches oder in ein verstörtes und verängstigtes Herz drang.

Lisa war von gemischten Gefühlen erfüllt. Ein Brief hatte sie zu ihrer erkrankten Tante Leonarda gerufen, die am Dorfrand einen Geflügelhof besaß, und bei der die Sechsund­zwanzig­jährige als Kind so manches Mal die Sommerferien verbracht hatte.

Plötzlich entdeckte Lisa vor sich zwei Kinder, die wie in panischer Flucht über eine Parkmauer kletterten. Blindlings wären sie um ein Haar vor das Auto gestürmt. Lisa trat hart auf die Bremse.

Über der Mauer erschien das zorngerötete Gesicht eines gutaussehenden dunkelhaarigen Mannes von Anfang oder Mitte Dreißig. Er drohte den Kindern mit der Faust: »Wenn ich euch noch ein einziges Mal in meinen Kirschbäumen erwische, dann macht euch auf einiges gefaßt!«

Das Mädchen hatte den kleineren Jungen bei der Hand gepackt und wollte mit wirbelnden Beinchen das Weite suchen. Doch unvermittelt griff es in die Tasche seines einfachen roten Kleidchens, stutzte und blieb jäh stehen, als sei es gegen eine unsichtbare Wand geprallt.

Lisa sprang erschrocken aus dem Wagen, denn sie glaubte, das Kind habe sich weh getan, den Fußknöchel verknackst oder etwas Ähnliches. Sie hörte, wie das braunhaarige Mädchen entgeistert flüsterte: »Meine Geldbörse! Meine Geldbörse ist weg, Dirk! Ich hab’ sie bestimmt im Garten verloren! Komm schnell, wir müssen suchen.«

Die Kleine zog ihren Bruder, der völlig verstört wirkte, hastig zur Mauer und begann, daran in die Höhe zu klettern. Sie wäre beinahe rückwärts heruntergefallen, als das Gesicht des dunkelhaarigen Fremden wieder auftauchte. »Ihr unverschämte Bande!« schimpfte er aufgebracht. »Kaum dreht man euch den Rücken zu, da kriecht dieses Ungeziefer schon wieder über die Mauer! Das ist doch nicht zu glauben! Verschwindet, aber ein bißchen plötzlich!«

Das Kind ließ sich entsetzt zu Boden gleiten und ging einige Schritte rückwärts. Es stammelte hilflos irgend etwas, doch bevor es sich gefaßt hatte, war der Besitzer des Parks bereits wieder verschwunden.

»Komm, wir gehen zum Opa und sagen ihm alles, Ninchen«, flüsterte der Junge.

Doch Ninchen schüttelte wild den Kopf. »Wir müssen suchen!«

»Ich trau’ mich nicht.«

»Aber wir müssen!«

»Er verhaut uns bestimmt.«

»Das ist egal!« Die Kleine warf mit einer trotzigen Bewegung den Kopf in den Nacken.

Inzwischen hatte sich Lisa den Kindern genähert. Sie lächelte gewinnend. »Na, ihr? Ihr habt euch wohl schon öfter in den Kirschbäumen erwischen lassen?«

Ninchen sah zu der fremden jungen Frau empor und musterte sie mißtrauisch. Sie sah ein freundliches, hübsches Gesicht, das von braunen Locken umschmeichelt wurde. Sie blickte in Augen, die sanft und in einem goldenen Bernsteinton schimmerten. Offenbar faßte sie Zutrauen, denn sie schluckte aufgeregt und erwiderte: »Bloß zweimal.«

»Na, das geht ja noch. Und ihr habt die Kirschen sicher nicht zentnerweise fortgeschleppt, oder?«

»Bloß, was in unsere Bäuche hineinging«, antwortete Dirk mit schöner Offenheit.

»Dann begreife ich nicht, warum sich der Herr der Kirschbäume so fürchterlich aufgeregt hat.«

»Ich glaube«, murmelte Ninchen und senkte den Kopf, »ich bin zu frech gewesen. Ich hab’ – ich hab’ vom Baum aus mit einem Kirschkern nach ihm gespuckt.«

»Und getroffen?«

Die Kleine nickte heftig.

»O weh, jetzt hat er sicher eine Beule.« Lisa spähte über die Mauer. »Er ist nicht mehr zu sehen. Kommt, ich helfe euch, nach der verlorenen Börse zu suchen.«

»Warum?« erkundigte sich Ninchen mißtrauisch.

»Weil sechs Augen mehr sehen als vier.«

Lisa hob beide Kinder rasch auf die Mauer und kletterte selbst in die Höhe. Sie hatte plötzlich das Gefühl, als habe sich das Rad der Zeit um zwanzig Jahre zurückgedreht. Auch sie hatte manchmal, wenn sie bei der Tante zu Besuch war, mit den Dorfkindern Äpfel und Birnen geklaut. Auch sie war von den Bauern oft genug mit Schimpfen und Lamentieren in die Flucht geschlagen worden.

Geduckt schlichen Lisa und die fremden Kinder unter den hohen Eichen und Platanen des Parks dahin, bis sie in den Obstgarten gelangten. Die Kirschbäume bogen sich fast unter der Last der Früchte.

»Hier ist es gewesen«, flüsterte das kleine Mädchen. »Auf diesem Baum sind wir gewesen. Guck hier, wo das Gras so verdrückt ist, sind wir runtergesprungen. Hier muß mein Geldtäschchen liegen, hier irgendwo.«

Aber so sehr sie auch suchten, die Börse fanden sie nicht.

Dafür jagte ihnen der Besitzer des Gartens einen heftigen Schrecken ein, als er sich lauthals schimpfend mit langen Sätzen näherte. »Das schlägt doch dem Faß den Boden aus! Ihr werdet ja immer mehr! Jetzt seid ihr schon drei! Ich bin mit meiner Geduld am Ende! Jetzt setzt es was, darauf könnt ihr euch verlassen!«

Die beiden Kinder standen stocksteif wie gelähmt. Lisa richtete sich langsam auf und drehte sich um.

Die Augen des Fremden waren direkt auf sie gerichtet.

Augen, in denen sie zu versinken glaubte.

Sie standen sich gegenüber, einige Schritte voneinander entfernt, doch Lisa war es, als sei sie in das körpernahe Kraftfeld dieses Mannes geraten. Ihre Nackenhaare schienen sich aufzurichten. Ein Signal für Gefahr? Oder ein süßer Schauder, der ihr jeden Moment die Vernunft rauben konnte? Lisa wußte es nicht.

»Pardon«, murmelte der Mann verwirrt. »Ich wußte nicht… Ich ahnte nicht… Ich hielt sie auch für ein Kind.«

»So klein komme ich mir gar nicht mehr vor«, lächelte Lisa.

»Nein, sicher nicht. Aber Sie standen gebückt…«

»Die Kleine hat ihr Geld verloren«, erklärte Lisa. »Wenn Sie vielleicht helfen würden, noch einmal gründlich alles abzusuchen?«

»Geld verloren? Das kommt davon, wenn man auf fremde Obstbäume klettert! Das ist die gerechte Strafe!«

»Th, th, th, gerechte Strafe!« Lisa musterte ihr Gegenüber herausfordernd. »Sie sind als Junge wohl nie über fremde Zäune gestiegen, wie?«

»Nein!«

»Sie leiden an Gedächtnisschwäche, nehme ich an.«

Er wollte auffahren, doch er beherrschte sich, und ein spöttisches Lächeln zuckte um seinen gutgeschnittenen Mund. »Ich sehe nicht ein, warum ich mich mit Ihnen auf eine Debatte einlassen sollte. In welchem Verhältnis stehen Sie zu diesen Gören? Sind Sie eine Tante? Dann würde ich Ihnen dringend raten, sich ein wenig intensiver um die Miguleit’schen Sprößlinge zu kümmern, die unter der fragwürdigen Obhut des Großvaters offenbar völlig verwildern.«

»Nein, ich bin mitnichten die Tante. Ich habe diese beiden – Gören – soeben erst kennengelernt. Aber wer hier mehr verwildert ist, das bleibt vorerst noch dahingestellt.«

In den dunklen Augen des Mannes blitzte es zornig auf. »Eben! Wenn Sie eine gesittete Person wären, dann hätten Sie den offiziellen Weg gewählt, hätten an meiner Tür geklingelt und mich gebeten, im Garten nach dem Geld suchen zu dürfen. Statt dessen klettern Sie über die Mauer, der Miguleit’schen Brut völlig ebenbürtig!«

Lisa straffte die Schultern. »Und wenn Sie die Kinder nicht wie ein Berserker erschreckt und in die Flucht geschlagen hätten, wäre die Geldbörse der Kleinen überhaupt nicht verlorengegangen!«

»Ach! Das ist ja interessant! Jetzt schieben Sie mir auch noch den Verlust des Geldes in die Schuhe!«

»Das habe ich nicht behauptet. Aber ein gewisser Zusammenhang besteht, jawohl!«

»Sie machen mir Spaß!«

»Es freut mich, daß Sie so leicht zu erheitern sind.« Lisa bemerkte, daß das kleine Mädchen bereits mit den Tränen kämpfte. Sie beugte sich zu dem Kind nieder. »Wieviel Geld war es denn?«

Ninchen schluchzte aufgeregt. »Zweiundzwanzig Euro fünfzig. Opa hatte mir aufgeschrieben, was ich alles dafür kaufen sollte. Jetzt wird er bestimmt furchtbar böse.«

»Nun, deine Mami und dein Vati werden sicher verstehen, daß jeder einmal etwas verlieren kann.«

Daraufhin begann das kleine Mädchen wild zu schluchzen. Es lehnte sich an einen Baum und preßte die nicht mehr ganz sauberen Händchen vor das Gesicht.

»Die Kinder haben keine Eltern mehr«, murmelte der Mann. »Sie leben beim Großvater.«

Eine Woge des Mitleids überflutete Lisas Herz. Spontan umarmte sie das kleine braunhaarige Mädchen, drückte es an sich und streichelte die tränennasse Wange. »Ach, mein armes Kleines! Aber weine doch nicht. So verständnislos kann dein Opa doch gar nicht sein.«

Ninchen schluchzte mehrere Male auf, bevor sie endlich hervorbrachte: »Neulich, da sollte ich einkaufen gehen, da habe ich sooo eine schöne Puppe gesehen und von dem Geld gekauft. Da war Opa böse. Und jetzt denkt er bestimmt, ich habe das wieder getan.« Ihre Tränen strömten von neuem.

»Möglicherweise ist es ja auch tatsächlich so«, ließ sich der Besitzer des Obstgartens vernehmen. »Vielleicht hast du das Geld gar nicht verloren.«

»Nein!« schluchzte Ninchen verzweifelt auf, und ihr kleiner Bruder schüttelte wild den Kopf.

Lisa umarmte das Kind abermals. »Sei doch nicht so verzweifelt. Paß auf, ich schenke dir die zweiundzwanzig Euro fünfzig. Komm mit zu meinem Auto, da gebe ich dir das Geld.«

Ninchen hob den Kopf, und ein ungläubiger Ausdruck erschien auf ihrem tränenverschmierten Gesichtchen.

Der Fremde räusperte sich. »Sind Sie immer so leichtgläubig und mildtätig, mein Fräulein?«

Lisa warf ihm nur einen kurzen Blick zu.

»Bei Männern wie Ihnen ganz gewiß nicht.« Sie faßte beide Kinder an der Hand. »Kommt.«

So verließ sie das Anwesen, ohne sich noch einmal umzuschauen. Insgeheim mußte sie sich eingestehen, daß dieser dunkelhaarige Mann sie im ersten Moment tief beeindruckt hatte. Und hätte er geschwiegen, sie würde ihn auch jetzt noch für einen faszinierenden Mann halten. Leider hatten seine Äußerungen den ersten guten Eindruck völlig zerstört.

Männer! dachte Lisa mit einer gewissen Bitterkeit. Der Lack blättert meistens schon ab, wenn man nur ein bißchen daran kratzt!

Als sie über die Mauer kletterte, schrammte sie sich noch das Knie auf und zerriß sich die Strumpfhosen.

Ein Glück, daß dieser Kerl sie jetzt nicht beobachtete! Sie war wütend.

Doch als sie die erwartungsvollen Gesichter der Kinder sah, schmolz ihr Zorn dahin wie Schnee in der Sonne. Sie holte ihre Umhängetasche aus dem Wagen und zählte die versprochene Summe ab. Dann legte sie noch ein Zweieurostück darauf. »Dafür kauft ihr euch ein Eis. Das heißt, wenn es sich mit den Kirschen verträgt.« Lisa zauste den Blondschopf des Jungen. »Oder wenn ihr es überhaupt noch schafft.«

»Oooch, in uns geht alles rein«, erwiderte Dirk treuherzig.

Ninchen schlang mit einem scheuen Lächeln die Arme um die Hüften der jungen Frau. »Danke.«

»Schon gut. Jeder kann einmal Pech haben.«

»Ich spare jede Woche etwas von meinem Taschengeld, und dann gebe ich es dir zurück.«

»Das ist lieb von dir. Aber ich sagte doch, daß es ein Geschenk ist. Schau, ich habe keine eigenen Kinder, auch keine Neffen und Nichten, da kann ich doch einmal einem so netten kleinen Mädchen wie dir etwas schenken.«

Ninchen sah die junge Frau lange und nachdenklich an, bevor sie leise erwiderte: »Du bist so lieb.«

»So, nun muß ich mich aber verabschieden. Tschüs, ihr beiden.« Lisa schwang sich in ihren Wagen. Die beiden Kinder winkten ihr eifrig nach, bis sie um die Straßenecke bog.

Das Anwesen, das ihrer Tante Leonarda gehörte, hatte Lisa schon von je her mit Entzücken erfüllt. Das mittelgroße alte Bauernhaus mit dem dunklen Fachwerk, den grünen Fensterläden und dem bemoosten Dach wirkte ausgesprochen behaglich. Knorrige Obstbäume standen ringsum, und die Äste ragten fast bis an die oberen Fenster. Man brauchte sich im Herbst nur hinauszubeugen, um die saftigsten Äpfel und Birnen zu pflücken.

Hinter dem Haus dehnten sich Wiesen, durch die ein Bach floß – das Paradies der Gänse und Enten. In un­übersehbarer Zahl schnatterte das Federvieh umher, rupfte Gras, schwamm an den tiefen Stellen des Bachs oder ruhte sich zufrieden unter den mächtigen alten Weidenbäumchen aus.

Durch einen Zaun von der Gänsewiese getrennt, befand sich der Hühnerhof mit seinen Ausläufen. Viele hundert Hühner und etliche stolze Hähne führten hier ein Leben wie in Urgroßvaters Tagen.

Lisa sprang aus dem Wagen, sah sich nach allen Seiten um und atmete unvermittelt tief auf. Seit mindestens drei Jahren war sie nicht mehr hier gewesen, und sie hatte plötzlich das Gefühl, als sei sie nach Hause gekommen. So hoch und klar war der Himmel über der Stadt nie!

Lisa arbeitete als Sekretärin und war in ihrem Beruf außerordentlich erfolgreich. Trotzdem hatte sie oft das Gefühl gehabt, daß ihr irgend etwas fehlte. Was es war, darüber hatte sie sich nie Rechenschaft abgelegt.

Lisa gab sich einen Ruck, durchquerte den Vorgarten und betrat das Haus. In der Diele fand sie noch alles unverändert vor. Auf einem der altersdunklen Stühle lag Tina, die schwarz-weiße Katze ihrer Tante. Als sich die junge Frau dem Tierchen mit zärtlich ausgestreckter Hand näherte, sprang es vom Stuhl und verschwand unter einer Bauerntruhe. Mißtrauisch blinzelte es hervor.

»Du kennst mich nicht mehr«, sagte Lisa ein wenig enttäuscht. »Kein Wunder, drei Jahre sind eine lange Zeit. Ich hätte öfter herkommen sollen. Ich begreife selbst nicht mehr, warum ich es nicht getan habe.« Sie schaute rasch in die Küche, die aber leer war. »Hallo, Tante Leonarda!«

»Hier, mein Kind«, ertönte eine matte Stimme. »Im Wohnzimmer.«

Lisa öffnete die Tür und erschrak. Ihre einst so energievolle Tante saß zusammengesunken in einem Sessel, die Beine in eine Wolldecke gehüllt. Doch ihre Augen blickten und funkelten noch immer hellwach. »Lisa, mein Kind.« Freudig streckte sie die welke, zitternde Hand aus.

Lisa griff danach, umarmte die alte Frau behutsam und drückte einen Kuß auf die runzelige Wange. »Tante Leonarda, wie geht es dir? Ich habe einen ganz schönen Schrecken bekommen, als ich deinen Brief erhielt. Es ist hoffentlich nichts Ernstes?«

»Schön, daß du gleich gekommen bist, Lisa, mein Kleines. Ich danke dir sehr.«

»Aber das war doch selbstverständlich!« Lisa rückte einen Stuhl näher und setzte sich. »Ich mache mir jetzt sogar Vorwürfe, daß ich nicht eher einmal nach dir geschaut habe. Weißt du, ich hatte fast ein bißchen vergessen, wie schön es hier ist.«

»Ja, ein junger Mensch vergißt schnell, vor allem, wenn viel Neues auf ihn einstürzt. Später kommen dann all die schönen Erinnerungen wieder.«

Lisa nickte eifrig. »Ja, mit dir und deinem Hof verbinden sich für mich viele herrliche Erinnerungen. Wenn ich daran denke, wie ich hier als kleines Mädchen mit den Dorfkindern gespielt habe, am Bach und in den Wäldern. Und die phantastisch schme­ckenden Obstkuchen, die du immer gebacken hast! Und das selbstausgelassene Gänseschmalz mit viel Zwiebeln, Äpfeln und Majoran!«

Die alte Frau lächelte versonnen. »Wie du dich doch freuen kannst, Kind! Schön! Um so leichter fällt es mir, mit dir etwas Wichtiges zu besprechen. Ich muß es sofort tun, Lisa. Morgen ist es vielleicht schon zu spät.«

Die junge Frau wurde blaß. »Zu spät? Wie meinst du das?«

»Kind, es hat keinen Zweck, vor den Tatsachen die Augen zuzumachen. Unser Doktor meint, daß es jeden Tag zu Ende gehen kann mit mir.«

»Aber der Doktor ist nicht der liebe Gott! Wie kann er so etwas sagen?«

»Laß nur, Lisa. Ich spüre es ja selbst. Es geht nun um meinen Hof. Du weißt, daß du meine einzige Verwandte bist. Es ist also ganz natürlich, daß ich dir meinen ganzen Besitz hinterlasse.«

»Aber Tante Leonarda, davon wollten wir doch nicht sprechen! Du wirst sehen, du kommst bald wieder auf die Beine!«

»Doch, mein Kleines, davon wollen wir sprechen. Ich habe meinen Besitz neulich schätzen lassen. Er hat einen Wert von mindestens einer dreiviertel Million Euro, mit all dem Land, das dazugehört. Ich habe jetzt nur noch einen einzigen Wunsch, Lisa.« Etwas Flehendes trat in die Augen der kranken alten Frau.

»Ja?«

Lisa beugte sich nach vorn und legte die Finger auf die welke Hand der Tante.

»Ich möchte nicht, daß du das Anwesen verkaufst. Ich möchte, daß du es behältst und eines Tages an deine eigenen Kinder weitergibst.«

»Tante Leonarda, ich finde es sehr lieb von dir, daß du mich als deine Erbin einsetzen willst, aber…«

»Willst du das Erbe denn nicht haben?« fiel ihr Leonarda Jeschke bekümmert, fast ängstlich ins Wort.

»O doch, ja. Ich meine nur, es ist viel zu früh, um darüber zu reden.«

»Nein, Kind, es ist genau der richtige Zeitpunkt, eher zu spät als zu früh. Sag mir, würdest du den Hof behalten? Könntest du mir das versprechen?«

»Aber ja, natürlich!«

Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sich die Tante zurücksinken. »Dann ist alles gut. Nur noch eines, Lisa. Meine Tiere, die Gänse, Enten und Hühner, du darfst sie auf keinen Fall einem anderen Züchter überlassen, der sie in enge Kästen sperrt. Der Gedanke wäre mir allzu schrecklich.«