Heimatkinder 8 – Heimatroman - Gisela Heimburg - E-Book

Heimatkinder 8 – Heimatroman E-Book

Gisela Heimburg

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Beschreibung

Die Heimatkinder verkörpern einen neuen Romantypus, der seinesgleichen sucht. Zugleich Liebesroman, Heimatroman, Familienroman – geschildert auf eine bezaubernde, herzerfrischende Weise, wie wir alle sie schon immer ersehnt haben. Der schlanke dunkelhaarige Mann stand auf der Düne, vom Wind gezaust, den Blick gedankenversunken ins Weite gerichtet. Möwen umflatterten ihn kreischend. Die Brandung rauschte ihr ewiges Lied. Weltschmerz und eine tiefe Melancholie fraßen im Herzen des Mannes – Schmerz und Trauer um eine verlorene Liebe. Langsam ließ Thorsten Herfeldt den Blick schweifen. Diese winzige Insel würde ihm also für die nächsten Monate, vielleicht sogar für Jahre, Heimat sein. Ein von den ehemaligen Bewohnern schon längst verlassenes Fleckchen Erde, verloren in der Unendlichkeit der Wasserwüste, ausgeliefert den Stürmen, den Nebeln und den tief dahinjagenden Wolken. Er und einige Mitarbeiter würden hier auf einer improvisierten Forschungsstation die Pflanzen- und Tierwelt der Nordsee untersuchen.

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Heimatkinder –8–

Lasst uns hier glücklich sein

Das Schicksal zweier elternloser Kinder

Roman von Gisela Heimburg

Der schlanke dunkelhaarige Mann stand auf der Düne, vom Wind gezaust, den Blick gedankenversunken ins Weite gerichtet. Möwen umflatterten ihn kreischend. Die Brandung rauschte ihr ewiges Lied.

Weltschmerz und eine tiefe Melancholie fraßen im Herzen des Mannes – Schmerz und Trauer um eine verlorene Liebe.

Langsam ließ Thorsten Herfeldt den Blick schweifen. Diese winzige Insel würde ihm also für die nächsten Monate, vielleicht sogar für Jahre, Heimat sein. Ein von den ehemaligen Bewohnern schon längst verlassenes Fleckchen Erde, verloren in der Unendlichkeit der Wasserwüste, ausgeliefert den Stürmen, den Nebeln und den tief dahinjagenden Wolken.

Er und einige Mitarbeiter würden hier auf einer improvisierten Forschungsstation die Pflanzen- und Tierwelt der Nordsee untersuchen.

Plötzlich hörte Thorsten Herfeldt ein Geräusch, das ihn aufschrecken ließ, das Knattern eines Motors.

Er starrte hinunter zu den Klippen, an denen er sein Boot festgemacht hatte.

Nein, das war doch unmöglich! Der Meeresforscher fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen, als wolle er eine Vision bannen, denn in dem Boot befanden sich zwei Kinder, ein kleines blondes Mädchen und ein etwas älterer Junge.

Woher kamen diese Kinder? Man hatte ihm doch erklärt, die Hallig sei unbewohnt!

Offenbar hatte der Junge am Armaturenbrett herumgespielt und dabei versehentlich den Motor in Gang gesetzt.

»Lausebengel«, murmelte Thorsten grimmig vor sich hin und eilte die Düne hinunter.

Da sah er zu seinem Entsetzen, dass sich die Leine löste, die er nur lose um einen Felsbrocken geschlungen hatte. Das Boot trieb langsam, aber unaufhaltsam auf das offene Meer hinaus.

Durch das Brandungsrauschen hörte Thorsten Herfeldt den gellenden Angstschrei des kleinen Mädchens, das die Händchen verzweifelt um die Bordwand klammerte. Er sah das schmale, von windzerzausten blonden Locken umrahmte Gesichtchen, und die Qual in den dunklen, weit aufgerissenen Augen schnitt ihm ins Herz.

Er begann zu laufen, stürmte durch den losen Sand, stolperte, rappelte sich keuchend wieder auf, doch als er den felsigen Strand erreichte, war das Motorboot bereits weit draußen. Wie ein Spielball des Schicksals wurde es von den anrollenden Wogen hin und her geschleudert.

»Ihr müsst das Steuerrad packen!«, brüllte Thorsten. »Dreht das Steuerrad!«

Seine Lungen zerbarsten fast, aber der Sturmwind riss ihm die Worte vom Mund und trug sie in die entgegengesetzte Richtung. Die beiden Kinder waren offenbar von Panik erfüllt. Der Junge taumelte hilflos von einer Seite auf die andere – von dem unvermuteten Abenteuer benommen und niedergeschmettert.

Und immer weiter schlingerte das Boot hinaus.

Wenn es in ein Wellental sank, war es Thorsten Herfeldts Blicken bereits entschwunden.

Einen Moment lang verspürte der Meeresforscher den wahnwitzigen Impuls, sich in die Fluten zu stürzen und hinterherzuschwimmen. Doch die Vernunft sagte ihm, dass es sinnlos war, dass er nicht die geringste Chance hätte.

An der Landungsbrücke der Hallig lag der Kutter, der die Bauteile der Forschungsstation hierhergebracht hatte. Wenn überhaupt – dann war das die Rettung! Thorsten machte kehrt und begann mit großen Sätzen quer über die Hallig zu jagen. Bald war er erschöpft, aber Schuldgefühle peitschten ihn immer schneller, immer rasender vorwärts.

Ja, alles war seine Schuld! Er hatte das Boot nicht sicher genug vertäut! Er hatte nicht einmal den Zündschlüssel abgezogen!

Aber wie hatte er auch ahnen können, dass es in dieser grenzenlosen Einsamkeit zwischen Meer, Sand und verhangenem Himmel neugierige, spielende Kinder gab.

*

Das Boot tanzte steuerlos auf den Wellen, stieg auf und nieder wie ein ungezähmtes Pferd.

Die fünfjährige Heidi klammerte sich an die Bank und duckte sich, so tief es ging. Denn über die niedrige Bordwand klatschte das Wasser, spritzte Gischt und vermischte sich auf dem totenbleichen Gesichtchen des kleinen Mädchens mit den strömenden Tränen.

»Mach doch was!«, wimmerte es. »Sven, mach doch was!«

Heidi starrte, halb blind vor Tränen und Seewasser, zu ihrem um ein Jahr älteren Bruder hinüber. Sven kauerte jetzt auf dem Boden. Ihm musste sehr übel sein. Er war fast grün im Gesicht.

»Was soll ich denn machen?« Er schickte einen hilflosen, verzweifelten Blick zu seiner Schwester hinüber. »Ich kann doch nicht …«

»Du musst ans Steuerrad!«

Sven versuchte sich aufzurichten, aber ein Wellenbrecher, der über die Windschutzscheibe des Bootes donnerte, warf ihn wieder zurück. Im letzten Moment krallte sich der Sechsjährige an einem Vorsprung fest. Um ein Haar wäre er über Bord gerissen worden.

Heidi kroch auf allen vieren zu ihrem Bruder, drückte sich eng an ihn, schlang die Ärmchen um seinen Hals und flüsterte erstickt: »Müssen wir jetzt sterben – wie Mami und Papi?«

Sie konnte sich nicht mehr an den schon über zwei Jahre zurückliegenden Tod ihrer Eltern erinnern, aber ihre Großmutter hatte oft davon erzählt. Der Vater der Kinder war als Kapitän auf einem Küstenmotorschiff gefahren. Seine Frau hatte ihn hin und wieder auf einer Reise begleitet, um nicht allzu lange von ihm getrennt zu sein. Eines Tages war das kleine Schiff im Kanal in einen schweren Sturm geraten und gesunken. Der größte Teil der Mannschaft hatte sich retten können, aber für den Kapitän und seine junge Frau war es zu spät gewesen. Sie hatten beide den nassen Tod gefunden.

»Müssen wir jetzt auch ertrinken?«, keuchte Heidi verzweifelt und krallte sich in Todesangst an ihren Bruder.

»Ach, Quatsch«, versuchte Sven seine kleine Schwester zu beruhigen. Obwohl er immer der »Große«, der »Vernünftige« war, klangen seine Worte jetzt nicht sehr überzeugend, sondern kläglich und verloren.

In diesem Moment hörten sie im Rauschen der Wellen und im Heulen des Sturmes ein vertrautes Geräusch – das starke, rhythmische Stampfen eines Kutters. Beide Kinder entdeckten das kleine Schiff gleichzeitig.

»Ich hab’ ja gewusst, dass sie uns holen!«, verkündete Sven – plötzlich wieder selbstbewusst und mutig.

Heidi winkte und schrie, so laut sie konnte. Doch man hatte sie vom Kutter aus längst erblickt.

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die Matrosen das Motorboot eingefangen, ins Schlepptau genommen und die völlig durchnässten Kinder an Bord geholt hatten. Thorsten Herfeldt packte den schlotternden Jungen sofort bei den Schultern und schüttelte ihn wutentbrannt. »Du verdammter Lausebengel, bist du noch zu retten? Wie kommst du dazu, einfach in mein Boot zu steigen, wie? Was habt ihr hier eigentlich zu suchen? Seid ihr allein?«

Sven, der vor Schreck völlig sprachlos war, starrte mit geweiteten Augen zu dem Fremden empor. Wie düster und grimmig der Mann wirkte! Wie zornig seine dunklen Augen funkelten. Sein angespanntes Gesicht verhieß nichts Gutes. Der schwarze Rollkragenpullover, den er trug, verlieh ihm fast etwas Unheimliches.

»Rede, du Nichtsnutz!« Thorsten Herfeldts Hände gruben sich wie Schraubzwingen in die Schultern des Sechsjährigen.

»Wir wohnen doch hier!«, ließ sich jetzt Heidi kläglich vernehmen.

»Ihr wohnt auf der Hallig?« Thorsten Herfeldt musterte die Kleine ungläubig. »Wollt ihr mich auch noch verkohlen? Wo wohnt ihr denn, zum Donnerwetter! Lasst euch nicht jedes Wort einzeln abringen. Redet!«

»Bei unserer Omi wohnen wir«, piepste Heidi völlig verstört.

Der Kutter hatte inzwischen wieder Kurs auf die Insel genommen. Mit voller Fahrt stampfte das kleine Schiff auf die Landungsbrücke zu. Möwen umflatterten es gierig. Aber niemand kam auf die Idee, den Seevögeln einen Brocken zuzuwerfen.

»Ich würde euch am liebsten den Hintern versohlen!«, schäumte Thorsten Herfeldt noch immer. »Und zwar allen beiden!«

»Nein, nicht hauen!« Sven hob unwillkürlich beide Hände über den Kopf.

Der Kapitän des Kutters kam breitbeinig hinzu. »Wenn ich mir mal ein Wort erlauben darf, Herr Professor.«

»Bitte«, erwiderte Thorsten Herfeldt knapp.

»Zunächst gehören die Kinder aus den nassen Klamotten, damit sie sich nicht erkälten.«

»So, ja.« Ratlos sah Thorsten auf den Jungen und das kleine Mädchen herab. Noch immer war er aufgebracht und zornerfüllt.

»Am besten«, fuhr der Kapitän ruhig fort und zog an seiner kalten Stummelpfeife, »am besten, Sie bringen die Gören gleich nach Hause, Herr Professor. Wir laden dann inzwischen weiter aus.«

Das Schiff hatte den Landungssteg erreicht.

Thorsten Herfeldt gab sich einen Ruck.

»Ja, in Ordnung, ich werde die beiden zu Hause abliefern und mit der Großmutter gleich einmal ein energisches Wörtchen reden! Irgendetwas stimmt doch da sowieso nicht. Mir wurde gesagt, dass die Hallig von den Bewohnern geräumt ist, dass hier niemand mehr wohnt. – Los, ihr beiden, vorwärts.« Er schob die verschüchterten Kinder vor sich her über die Gangway.

Als sie den Kamm des Deiches erreichten, lag die flache grüne Insel vor ihnen. Thorsten entdeckte ein unscheinbares Haus mit Reetdach, aus dessen Schornstein Rauch kräuselte. Es lag auf einer Warft, einem künstlich aufgeschütteten Erdhügel gegen Sturmfluten.

»Dort wohnt ihr, nicht wahr?«, knurrte der Meeresforscher.

»Ja, unsere Omi kocht gerade das Mittagessen«, erklärte die kleine Heidi bereitwillig.

»Los, vorwärts.« Thorsten Herfeldt packte die Kinder bei den Händen und zerrte sie den sandigen, ausgefahrenen Weg entlang. Die Fünfjährige stolperte immer wieder, während Sven tapfer Schritt hielt.

Sie erreichten das rote Backsteinhaus mit dem tief herabgezogenen Dach, das unter dem endlosen grauen Himmel winzig klein erschien. Ein paar bescheidene Herbstblumen blühten im Vorgarten neben Kohlköpfen.

Thorsten Herfeldt stieß nach kurzem Klopfen die verwitterte Eingangstür auf – und befand sich bereits in der Küche einer hübschen, altmodischen Küche mit gefliestem Fußboden und einem Herd, in dem ein lustiges Feuer knisterte und knackte.

Am Herd stand eine Frau von etwa siebzig Jahren. Auf den ersten Blick wirkte sie streng, von den Stürmen und Wettern gezeichnet wie diese Insel. Doch sie hatte gütige, warme Augen und ein ungemein sympathisches Lächeln. »Nanu, wir bekommen Besuch?«, wunderte sie sich erfreut. Doch unvermittelt stutzte sie. »Heidilein, Sven, was ist denn passiert? Ihr seid ja durch und durch nass!« Sie stürzte auf die Kinder zu, erstaunlich gelenkig für ihre Jahre. »Schnell, raus aus den nassen Sachen, und dann gleich vors offene Feuer.« Sie riss die Herdklappe auf.

Ein roter lodernder Schein zuckte durch den Raum. Der graue Kater, der auf der Bank neben dem Herd lag, blinzelte verschlafen.

Thorsten Herfeldt stand noch immer an der Tür, ein wenig befremdet, weil er so wenig Beachtung fand. Jetzt stemmte er beide Fäuste in die Hüften. »So, gute Frau, Sie sind also die Großmutter.«

Seine Stimme klang grollend.

Die betagte Frau, die gerade dabei war, der Fünfjährigen das nasse Kleidchen abzustreifen, blickte kurz auf. »Ja, ich bin Gesa Brinkmann. Und Sie? Gehören Sie zu den Arbeitern, die dort draußen herumklabustern? Haben die Kinder irgendwelchen Unsinn angestellt? Ich meine nur, weil Sie so grimmig dreinschauen.«

»Mein Name ist Herfeldt, Professor Herfeldt.«

»Ein Professor sind Sie? Einen Professor habe ich mir eigentlich immer ganz anders vorgestellt.«

»So? Wie denn? Grauhaarig, gebeugt und mit Nickelbrille?«

»Vor allem nicht so jung.«

»Wir kommen vom Thema ab. Sie sind also für die Kinder verantwortlich, wie es scheint, und Sie haben Ihre Aufsichtspflicht gröblichst verletzt.«

»Aufsichtspflicht gröblichst verletzt? Was soll denn das bedeuten, mein Herr?«

Thorsten berichtete kurz den Vorfall.

Seine Stimme klang zunehmend gereizter. Noch jetzt packte ihn kaltes Grauen, wenn er sich vorstellte, was wohl geschehen wäre, wenn es ihnen nicht gelungen wäre, das abtreibende Motorboot einzuholen.

»Oma, wir wollten es ganz bestimmt nicht«, ließ sich der sechsjährige Sven vernehmen. »Das Boot lag da, weißt du, so ein richtiger Renner, und da haben wir gedacht … Wir wollten doch bloß mal so zum Spaß … Plötzlich dampfte es ab …, eigentlich ganz von allein.«

»Ihr habt die Leine also nicht losgemacht?«, forschte die Großmutter streng.

»Nein!«, riefen beide Kinder gleichzeitig.

»Auch nicht daran herumgespielt?«

»Ganz bestimmt nicht, Omi!«

»Dann ist doch wohl alles klar.« Gesa Brinkmann wandte sich langsam dem Meeresforscher zu. »Es war Ihre Schuld. Sie haben das Boot nicht richtig festgemacht.«

»Hören Sie mal, liebe Frau, ich konnte ja nicht ahnen …«

»Sie streiten es also nicht einmal ab.« Gesa Brinkmann richtete sich hoch auf. »Dann begreife ich gar nicht, warum Sie sich so aufregen und den wilden Mann spielen.«

»Werden Sie bloß nicht unverschämt.«

»Wir müssten uns aufregen«, fuhr die alte Frau unbeirrt fort. »Sie haben meine Kinder in Gefahr gebracht, weil Sie so schusselig waren und Ihren Kahn nicht richtig vertäut haben!« Sie griff nach einem Handtuch und begann Heidi, die sich inzwischen ausgezogen hatte, mit schnellen, sicheren Bewegungen abzufrottieren.

Da Thorsten Herfeldt sich getroffen fühlte, reagierte er scharf und heftig. Er ging zum Gegenangriff über: »Sagen Sie mal, liebe Frau, wie kommt es eigentlich, dass Sie und die Kinder noch hier sind? Soviel ich hörte, sind doch alle Bewohner längst evakuiert.«

»Da haben Sie eben falsch gehört, mein lieber Herr.«

»Aber es ist doch geplant, dass …«

»Hier in diesem Haus bin ich geboren, und hier werde ich auch sterben.« Die Worte aus dem Mund der alten Frau klangen sehr ernst, sehr bestimmt, sehr würdig.

Thorsten Herfeldt war einen Moment lang irritiert. Doch er fasste sich schnell und erwiderte spöttisch: »Da bin ich nicht so sicher. Wie stellen Sie sich Ihre Zukunft vor? Sie können doch unmöglich allein hier vegetieren. Schon wegen der Kinder nicht. Wo sind überhaupt die Eltern der beiden?«

Mit einer vagen Armbewegung wies Gesa Brinkmann durch das Fenster in die Unendlichkeit der Wasserwüste. »Dort.«

»Wo – dort? Ausgewandert? Nach Amerika? Haben sie ihre Kinder im Stich gelassen?«

Ein verächtlicher Blick streifte den Mann.

»Mein Sohn und meine Schwiegertochter sind tot.«

Thorsten war betroffen. »Oh, das tut mir leid.«

»Gibt’s noch etwas?« Die Großmutter verschränkte abweisend die Arme über die Brust.

»Ich bin der zukünftige Leiter der Forschungsstation, die hier aufgebaut wird. Sie werden also einsehen, dass ich Ihrer Situation gegenüber nicht einfach die Augen schließen kann, dass mich alle Belange der Insel angehen. Ich werde also dafür sorgen, dass Sie und die Kinder die Hallig baldmöglichst verlassen.«

»Nur über meine Leiche!«

»Ich begreife Sie einfach nicht, Frau Brinkmann. Ich weiß doch, dass allen Halligbewohnern eine gute Entschädigung gezahlt worden ist. Außerdem hat man den Leuten drüben auf dem Festland neue Häuser zur Verfügung gestellt, Häuser mit elektrischem Licht, mit Wasser und Ölheizung. All diesen Komfort haben Sie hier nicht. Sie leben ja tatsächlich noch wie im vorigen Jahrhundert, mit Petroleumlampen und einer Pumpe vor der Tür.«

»Na und?«

»Lockt es Sie denn nicht, auf Ihre alten Tage dieses primitive Dasein aufzugeben? Mit der Zeit zu gehen?«

»Nee, mein Herr, das lockt mich nicht im Geringsten. Denken Sie denn, ich gebe meine Heimat wegen ein bisschen Geld und Luxus auf? Niemals!«

Sie eilte ins Nebenzimmer, kehrte kurz darauf zurück und gab den Kindern trockene Kleider.

»Es geht doch vor allem um die Kinder«, begann Thorsten Herfeldt noch einmal geduldig. »Die beiden müssen doch bald in die Schule.«

»Schön – soll man uns doch eine Lehrerin hierherschicken.«

»Für zwei Kinder?«

»Warum nicht? Auf anderen Halligen gibt es doch auch Schulen mit ein paar Kindern.«

»Beste Frau Brinkmann, wie kann ein Mensch nur so starrsinnig sein! Aber eines kann ich Ihnen schon heute versprechen, damit kommen Sie nicht durch.«

»Das wollen wir doch erst mal sehen!«

Professor Thorsten Herfeldt wandte sich unvermittelt an die Kinder: »Und ihr, was haltet ihr davon? Ihr wollt doch sicher nicht in dieser Einöde leben, ohne Spielgefährten, ohne Fernsehen und Kino, ohne Rummelplatz und was es sonst noch alles für aufregende Dinge gibt, wie?«

»Wir wollen nicht weg von hier«, erklärte der Junge sachlich.

Heidi flüchtete sich zu ihrer Großmutter und umfasste die Hüften der alten Frau. »Wir wollen bei unserer Omi bleiben!«

»So, die Kinder haben Sie also auch schon aufgehetzt!«, knurrte Thorsten Herfeldt.

»Aufgehetzt?«, wiederholte Gesa Brinkmann. »Nun langt’s aber! Gehen Sie! Verlassen Sie mein Haus!«

»Sie wollen mich vor die Tür setzen?«

»Das ist mein gutes Recht.«

»Sie werden sich wundern. So geht es ja nicht. Schließlich leben wir in einem zivilisierten Land.«

»Tatsächlich?« Gesa Brinkmann wandte sich dem Herd zu und nahm einen Topf, der überzukochen drohte, vom Feuer. Die Flammen leckten aus dem offenen Herdloch.

»Wenn Sie nicht vernünftig sind, wird man Sie dazu zwingen, Vernunft anzunehmen.«

»Ich habe schon mal gesagt, jetzt langt’s mir! Machen Sie die Tür von außen zu, und lassen Sie sich hier nie wieder blicken!« Die warmen, gutmütigen Augen der Frau begannen unvermittelt zornig zu flammen.

»Wir sprechen uns wieder, und zwar bald, darauf können Sie sich verlassen!« Thorsten Herfeldt drehte sich um und verließ grußlos das reetgedeckte Haus. Innerlich kochte er. Diese widerborstige Person! Sie hatte ihn regelrecht vor die Tür gesetzt.

Thorsten seufzte schwer. Es schien, als habe sich das Schicksal gegen ihn verschworen. In letzter Zeit ging ihm alles schief, was er auch anpackte. Nicht einmal auf dieser weltabgeschiedenen Insel fand er seine Ruhe. Auch hier kamen Probleme auf ihn zu.

Es war erst wenige Wochen her, seit er sich mit seiner Verlobten entzweit hatte. Eine grässliche Affäre. Er hatte an die große Liebe geglaubt, seine Verlobte aber hatte ihn hintergangen, auf primitive und gemeine Weise hintergangen. Aus, vorbei! Nicht mehr daran denken!

Thorsten blieb stehen und sah sich noch einmal um. Das Haus auf der Warft wirkte unendlich verloren – und doch irgendwie anheimelnd. In einem Winkel seines Herzens verstand er Gesa Brinkmann, die auf diesem kargen Eiland geboren war und mit allen Fasern an diesem Fleckchen Erde hing. Andererseits durfte die gute Frau nicht nur an sich, sie musste auch an die Kinder denken! So viel Starrsinn!

Thorsten stapfte weiter durch den Sand, stemmte sich gegen die Sturmböen und gelangte zur Landungsbrücke. Hinter dem Deich waren einige Zimmerleute damit beschäftigt, die Holzbaracken aufzustellen, in denen die Forschungsstation untergebracht werden sollte.

Der Kapitän kam wiegend näher und meldete: »So, wir haben nun alles aufgeladen, Herr Professor.«

Noch am selben Abend kehrte Thorsten mit dem Kutter nach Hause zurück. Bevor er seine Tätigkeit auf der einsamen Hallig aufnahm, hatte er noch einige Tage im Meeresbiologischen Institut zu tun, dessen Leiter er war.

*