Heimatkinder 11 – Heimatroman - Gisela Heimburg - E-Book

Heimatkinder 11 – Heimatroman E-Book

Gisela Heimburg

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Beschreibung

Die Heimatkinder verkörpern einen neuen Romantypus, der seinesgleichen sucht. Zugleich Liebesroman, Heimatroman, Familienroman – geschildert auf eine bezaubernde, herzerfrischende Weise, wie wir alle sie schon immer ersehnt haben. Mit verhängten Zügeln sprengte Ulrich Warner auf den Hof seines Elternhauses, einer Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende, geheimnisvoll in dunkelgrüne Efeuschleier gehüllt. Ulrich glitt aus dem Sattel. Liebevoll tätschelte er den Hals seines vierbeinigen Kameraden. "Brav, mein Schöner! Jetzt nur noch rasch abzäumen und trockenreiben, dann machen wir es uns gemütlich, du an der Haferkrippe und ich vor dem Kamin." Er führte das temperamentvolle Pferd in den Stall und zuckte zusammen, als es unvermittelt den Kopf in den Nacken warf und unwillig wieherte. "Warum denn so nervös, Prinz? Was hast du? Was hat dich so erschreckt? Eine Maus, die im Stroh raschelt? Schauen wir doch einmal nach."

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Heimatkinder –11–

Sein Wunschkind

Tobias findet wieder ein Zuhause

Roman von Gisela Heimburg

Mit verhängten Zügeln sprengte Ulrich Warner auf den Hof seines Elternhauses, einer Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende, geheimnisvoll in dunkelgrüne Efeuschleier gehüllt.

Ulrich glitt aus dem Sattel. Liebevoll tätschelte er den Hals seines vierbeinigen Kameraden. »Brav, mein Schöner! Jetzt nur noch rasch abzäumen und trockenreiben, dann machen wir es uns gemütlich, du an der Haferkrippe und ich vor dem Kamin.« Er führte das temperamentvolle Pferd in den Stall und zuckte zusammen, als es unvermittelt den Kopf in den Nacken warf und unwillig wieherte. »Warum denn so nervös, Prinz? Was hast du? Was hat dich so erschreckt? Eine Maus, die im Stroh raschelt? Schauen wir doch einmal nach.«

Der dreißigjährige Junggeselle hatte ein leises Geräusch wahrgenommen. Vorsichtig näherte er sich dem Strohhaufen, der lose in einer Ecke lag. Da, irgendetwas rührte sich! Energisch griff Ulrich hinein.

»Aua!«, ertönte eine helle Stimme.

Der Mann wich unwillkürlich zurück, als habe ihn eine Viper gestochen.

»Wer versteckt sich denn da?« Mit schnellen Handbewegungen warf er das Stroh beiseite. Ein kleiner Junge war es, der sich im hintersten Winkel zu verbergen suchte. »He, Freundchen, was treibst du denn hier?« Ulrich packte das Kind am Arm und zog es in die Höhe. »Dich habe ich noch nie gesehen – wer bist du?«

Das hübsche Gesicht des etwa achtjährigen blonden Jungen verschloss sich. Der Mund wurde zum Strich. In den auffallend blauen Augen mischten sich Angst und Trotz zu einem Ausdruck, der Ulrich Warner ans Herz griff.

»Du brauchst dich doch vor mir nicht zu fürchten, mein Kleiner. Du wolltest dich hier bestimmt nur einmal umschauen und hast dich versteckt, als du hörtest, dass einer kam. Habe ich recht?«

Das fremde Kind schwieg verbissen.

»Zu klauen gibt es hier nichts«, lächelte der Besitzer des Anwesens.

»Nicht einmal Äpfel. Höchstens ein paar Händevoll Hafer.«

»Ich klaue nicht!«

»Weiß ich doch.«

Die Augen des Jungen wurden schmal. »Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich sehe dir an, dass du ein feiner Kerl bist. Hast du Lust, mir zu helfen?«

»Was denn?«

Ulrich drückte dem Kleinen eine Handvoll Stroh in die Hand und stellte ihn mit Schwung auf eine Kiste.

»Du hilfst mir, Prinz trockenzureiben. Ich stelle dich meinem Freund jetzt vor, dann wird er dir nichts tun. – Also, Prinz, das ist … Ich kenne leider seinen Namen nicht.«

»Tobias.«

»Tobias also. Ein schöner Name. Hast du gehört, Prinz? Gut! – Das machst du sehr gut, Tobias, ausgezeichnet. Schade, dass du nicht ein bisschen älter bist.«

»Ja, ich möchte auch viel lieber älter sein! Aber wieso ist das schade, was meinen Sie?«

»Ich suche einen jungen Mann, der mein Pferd täglich regelmäßig ausreitet, um es zu bewegen.«

»Warum machen Sie das denn nicht selbst? Verstehe ich nicht.«

»Weil ich leider so wenig Zeit habe.«

»Kenne ich.« Tobias nickte altklug. »Alle Erwachsenen haben nie Zeit.«

»Möglicherweise ist es der allergrößte Fehler der Menschen, keine Zeit mehr zu haben. Aber ich bin zurzeit wirklich sehr eingespannt. Mir wächst die Arbeit förmlich über den Kopf.«

»Was machen Sie denn?«

»Ich leite eine Marmeladen-Fabrik.«

»Eine – waaaas?«

Tobias beugte sich mit geweiteten Augen über den Pferderücken.

»Ja, ja, du hast richtig verstanden. Ich habe das Unternehmen von meinem leider schon verstorbenen Vater geerbt. Momentan versuche ich unser Sortiment zu erweitern und auf dem Markt durchzusetzen.«

»Mann, wenn ich eine Marmeladen-Fabrik hätte!« Tobias leckte sich unwillkürlich genießerisch über die Lippen. »Marmelade ist nämlich mein Lieblingsessen. Ein ganzes Glas könnte ich mit einem Male aufessen, aber wir bekommen immer bloß einen kleinen Klacks!«

»Ich glaube, ich habe gerade keine im Hause, aber wenn du mich wieder einmal besuchen kommst, steht ein Glas für dich parat. Welche Sorte magst du denn am liebsten?«

»Am liebsten mag ich Aprikosen und Schattenmorellen und Johannisbeeren und Erdbeeren.«

»Okay, das werde ich mir merken!«, schmunzelte Ulrich. »So, wir sind fertig. Danke für deine Hilfe. Hier, dein Lohn.« Er drückte dem Jungen ein Zweieurostück in die Hand.

»Danke! Vielleicht – vielleicht bin ich doch nicht zu klein, um Prinz zu reiten! Sie müssen es mir bloß beibringen. Und füttern kann ich ihn auch! Und den Stall ausmisten! Können Sie mich nicht behalten?«

»Das ist ja ein tolles Angebot, das du mir machst! Aber bei allem guten Willen, ich fürchte, es wird nicht gehen.«

»Schade.« Tobias senkte bedrückt den Kopf.

Ulrich zauste den Blondschopf des Jungen.

»Nicht traurig sein, Tobias. Vielleicht kommen wir eines Tages doch noch ins Geschäft, wir beide, wenn du ein paar Jährchen älter geworden bist. Wohnst du in der Nähe?«

»Ein Stück weg.«

»Nun, du weißt ja, wo ich zu finden bin. So, jetzt lauf nach Hause. Es regnet nicht mehr.«

Langsam und zögernd näherte sich Tobias der offenen Stalltür. Er setzte zum Sprechen an, senkte den Kopf, druckste herum und lehnte sich schließlich an den Türrahmen.

»Nun, was hast du denn noch auf dem Herzen?«, erkundigte sich Ulrich Warner.

Der Junge hob den Kopf. In seinen Augen war ein Flehen, das einen Stein erweichen konnte.

»Darf ich – darf ich vielleicht heute Nacht im Stroh schlafen?«, fragte er gepresst.

»Wie bitte?« Mit einem Sprung war Ulrich bei ihm. »Traust du dich nicht nach Hause? Hast du etwas ausgefressen?«

Tobias schüttelte den Kopf. Noch kämpfte er mannhaft mit den Tränen.

»Die wollen mich holen«, flüsterte er angsterfüllt.

»Wer denn? Wer will dich holen?«

»Die Leute. Ich weiß nicht, wie sie heißen. Hab’ es vergessen. Aber ich will da nicht hin! Lieber im Wald verhungern!«

»Moment mal! Moment mal! Das hört sich ja schlimm an!« Ulrich nahm den Jungen spontan auf den Arm. »Was sind das für schreckliche Leute? Und was sagen deine Eltern dazu?«

»Ich – ich hab’ doch keine mehr.«

»Bist du etwa aus dem Kinderheim ausgebüxt?«, fragte Ulrich Warner ahnungsvoll.

Tobias nickte zögernd. Und plötzlich schlang er beide Arme um den Hals des Mannes und flüsterte heiß:

»Du musst mich verstecken! Bitte! Kein Mensch hat mich gesehen. Dann bin ich eben weg, und die können mich suchen, bis sie schwarz werden!«

Das Vertrauen des Jungen, der ihn flehend und mit Verschwörermiene ansah, rührte den Mann. Er fühlte sich unwillkürlich in seine eigene Kinderzeit zurückversetzt, als er gemeinsam mit seinen Freunden Streiche ausheckte, um die Erwachsenen anzuschmieren. Einfach weglaufen und untertauchen – welcher richtige Junge hatte diesen Traum nie geträumt!

»Ja?«, fragte Tobias drängend und mit hoffnungsvoll leuchtenden Augen.

Ulrich seufzte. »Das ist leider ausgeschlossen, Tobias. Wir leben nicht im Wilden Westen.«

Noch nie hatte Ulrich beobachtet, wie alle Hoffnung auf dem Gesicht eines Menschenkindes jäh erlosch und tieftrauriger Verzweiflung Raum machte. Tröstend drückte er den Jungen an sich.

»Du, Tobias, ich habe eine Idee! Den Leiter eures Heimes, Herrn Neumann, kenne ich ziemlich gut. Wir sind nämlich zusammen zur Schule gegangen. Ich werde mich mit ihm unterhalten und ihm auseinandersetzen, dass du deine zukünftigen Adoptiveltern nicht leiden kannst.«

»Hab’ ich ihm doch schon gesagt, schon hundertmal«, flüsterte das Kind mit gesenktem Kopf.

»Wahrscheinlich handelt es sich um eine ausgezeichnete Familie, in die man dich vermitteln möchte. Aber ich finde, ein Junge deines Alters sollte schon ein gewisses Einspruchsrecht haben. Am besten, ich rede sofort mit Olaf Neumann, was meinst du?«

»Und ich warte hier so lange!«

Ulrich kam sich in diesem Moment wie ein Schuft und Verräter vor. Er war überzeugt, in ihm einen Freund und Verbündeten gefunden zu haben. Und doch musste er den Jungen enttäuschen, so schwer es ihm auch fiel.

»Tobias, ich verspreche dir, alles für dich zu tun, was in meiner Macht steht.«

Aus großen wundergläubigen Augen sah der blonde Junge ihn an. Ulrich spürte förmlich, dass die Bande von Sekunde zu Sekunde enger und fester wurden. Hatte er sich nicht immer einen Sohn wie Tobias erträumt? Einen aufgeweckten, offenherzigen Jungen, der ihm sein Vertrauen schenkte?

Sie fuhren zum Kinderheim hinaus. Mit dem Auto waren es nur wenige Minuten. Tobias versuchte sich auf dem Beifahrersitz unsichtbar zu machen, rutschte mehr und mehr in sich zusammen. Ulrichs Fragen beantwortete er einsilbig.

Hand in Hand betraten sie das Büro des Heimleiters. Olaf Neumann, ein blonder bärtiger Sozialarbeiter, schnellte von seinem Schreibtischstuhl. »Tobias! Du kostest mich allmählich meine letzten Nerven! Gerade war ich im Begriff, die Polizei anzurufen. – Hallo, Ulrich!« Jetzt erst war sein Blick auf den Begleiter des Jungen gefallen. »Bist du es wirklich, altes Haus? Ich traue meinen Augen nicht!«

»Hallo, Olaf. Tja, weißt du, ich bin mitgekommen, um dir zu erklären, dass Tobias mir im Stall geholfen hat. Deshalb die Verspätung. Ich bin schuld, denn ich ahnte nicht, dass Tobias aus deiner Kükenschar stammt, ich hielt ihn für einen Jungen aus der Nachbarschaft, sonst hätte ich ihn selbstredend früher heimgeschickt.«

»So ist das«, entgegnete der Heimleiter mit leisem Misstrauen. »Na, da hast du ja noch einmal Glück gehabt, mein Lieber.« Er zauste das blonde Haar seines Schützlings. »Troll dich.«

Tobias warf seinem neuen großen Freund noch einen Blick zu, einen Blick voller Sehnsucht und Verzweiflung, der Ulrich mitten ins Herz traf. Er schluckte aufgeregt und musste sich Mühe geben, seiner Verwirrung Herr zu werden, während Olaf Neumann ihm Platz anbot und von alten Zeiten zu plaudern begann.

Schließlich lenkte er die Unterhaltung auf das Problem, das ihm unter den Nägeln brannte: »Tobias erzählte mir, dass er adoptiert werden soll.«

»Ja, stell dir vor, der Junge hat wirklich Glück!«

»Glück?«

Olaf Neumann nickte strahlend. »Ein verständnisvolles, wohlhabendes Ehepaar. Die Frau kann keine Kinder bekommen. Den Jungen mögen sie, obwohl er zu unseren Sorgenkindern gehört. Ich habe die Angelegenheit jetzt beschleunigt, um diese Adoption rasch unter Dach und Fach zu bringen.«

»Und Tobias wird überhaupt nicht gefragt?«, erkundigte sich Ulrich düster.

»Hat er sich bei dir beklagt? Das darfst du nicht zu ernst nehmen. Tobias gehört zu denen, die immer und überall ein Haar in der Suppe finden. Dabei habe ich ihm gesagt, wie schwer es ist, für ihn geeignete Adoptiveltern zu finden!«

»Habe ich nicht neulich gelesen, dass es viel mehr adoptivwillige Paare gibt, als Kinder zur Verfügung stehen?«

»Tja, mein Lieber, mit Kindern könntest du einen schwunghaften Handel aufziehen, aber klein müssen sie sein! Im Kinderwagen müssen sie krähen! Achtjährige Buben kannst du bereits anpreisen wie Sauerbier. Wenn sie noch älter werden, will sie überhaupt keiner mehr, dann sind sie dazu verurteilt, bis zu ihrem achtzehnten Jahr in Heimen zu verbringen. Du siehst also ein, dass ich sehr froh sein muss, Tobias unterzubringen.«

Ulrich Warner senkte betreten den Kopf.

*

Vierzehn Tage später saß Ulrich wieder im Büro des Heimleiters. Olaf Neumann hatte den ehemaligen Schulfreund hereingebeten. Er verschanzte sich hinter seinem Schreibtisch und versuchte, dem Gespräch einen offiziellen Anstrich zu geben.

»Ulrich, ich finde es ganz rührend, wie du dich um Tobias kümmerst, wie viel Zeit du dem Jungen opferst, dass du ihn fast jeden Tag besuchst oder zu dir einlädst oder Ausflüge mit ihm unternimmst …« Er stockte.

»Aber?«, fragte Ulrich ahnungsvoll.

Olaf Neumann räusperte sich. »Ich muss dich leider bitten, den Kontakt zu dem Jungen einzuschränken, beziehungsweise – um ganz offen zu sein – abzubrechen.«

»Wie bitte? Das kann doch nicht dein Ernst sein! Tobias und ich, wir sind Freunde geworden!«

»Eben darum. Der Junge begeistert sich für dich und schwärmt von dir, dass man meinen könnte, du kämst in der Rangordnung nicht weit hinter dem Herrgott persönlich.«

»Du übertreibst, mein Lieber. Tobias und ich mögen uns, das ist alles.«

»Streiten wir nicht um Worte. Tatsache ist, dass du Tobias seinen zukünftigen Adoptiveltern mehr und mehr entfremdest. So geht es nicht weiter. Es geht schließlich um die Zukunft des Jungen, die du ihm doch nicht verbauen möchtest.«

»Auf keinen Fall! Ich weiß nur nicht, ob Tobias mit ungeliebten Eltern wirklich eine so rosige Zukunft hat, wie du sie siehst.«

»Um es kurz zu machen, ich bitte dich, einen Schlussstrich zu ziehen und dich fernerhin nicht mehr mit Tobias zu treffen, auch nicht heimlich hinter meinem Rücken.«

»Sag mal, ist dir eigentlich klar, was du von mir verlangst, Olaf? Ich habe Tobias inzwischen lieb, als ob er mein eigener Sohn wäre!«

Der Heimleiter seufzte. »Schön und gut, aber du kannst ihn nicht adoptieren, und wenn du ihn noch so gern hast.«

»Warum eigentlich nicht? Es gibt heutzutage schon viele Väter, die allein für ihre Kinder sorgen! Außerdem würde ich eine nette Haushälterin engagieren! Das wäre doch die Lösung!«

Olaf Neumann schüttelte lächelnd den Kopf. »Du bist schon ein komischer Heiliger. Du musst wirklich einen Narren an Tobias gefressen haben. Denn bisher warst du doch, wie man hörte, alles andere als der Typ eines treusorgenden Familienvaters.«

»Mein lieber Freund, ich bin ein hart arbeitender Unternehmer, und die Klischees, die dir im Kopf herumspuken, stammen offenbar aus der Mottenkiste. Sicher, ich habe nicht wie ein Mönch gelebt, das hat auch niemand von mir verlangt. Es gab ein paar mehr oder weniger unbedeutende Abenteuer. Aber daraus kannst du doch unmöglich schließen, dass ich für den Jungen nicht anständig sorgen würde. Also, was ist, stellst du dich hinter mich, wenn ich eine Adoption beantrage?«

»Ulrich, das wäre reine Zeitverschwendung. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Junggeselle …«

»Ja, zum Teufel, dann muss ich eben heiraten!«, entfuhr es Ulrich. Seine Wangen röteten sich. Seine dunklen Augen blitzten.

»Ach, da ist etwas im Busch? Eines von deinen Abenteuern?«

Ulrich Warner winkte verächtlich ab. »Natürlich nicht. Ich habe nicht die Absicht, meinem Tobias eine flotte Biene als Mutter unterzujubeln. Es müsste ein nettes Mädchen sein, eines zum Liebhaben und zum Heiraten.«

»Vielleicht versuchst du es mit einer Annonce?« Der Heimleiter lächelte spöttisch.

»Viel zu riskant und zeitraubend. Weißt du, es müsste ein Mädchen sein, von dem man weiß, dass es Kinder gernhat zum Beispiel eine von diesen Helferinnen, die hin und wieder freiwillig bei euch im Heim Dienst tun. Ich habe nämlich davon gehört. Wenn ich nicht irre, handelt es sich dabei um junge Mädchen, die vor der Berufsausbildung oder dem Studium ein Jahr oder auch nur ein halbes überbrücken möchten und im Kinderheim oder in anderen sozialen Einrichtungen einspringen, für ein Taschengeld oder auch ganz ohne Bezahlung. Das finde ich fantastisch! So ein Mädchen wäre die Richtige!«

Olaf Neumann nickte. »Du bist gut informiert. Ja, es sind die nettesten und patentesten Mädchen, die zu uns kommen.«

Ulrich war plötzlich wie elektrisiert. »Und sie sind durchweg unverheiratet, nicht war? Wie kann ich sie kennenlernen?«

»In den letzten Jahren waren zwar etliche Helferinnen bei uns, im Moment haben wir jedoch keine Einzige.« Olaf Neumann kramte in den Schubladen seines Schreibtisches, zog einen Aktendeckel hervor und schlug ihn auf. »Hier habe ich die Namen und Adressen …« Er unterbrach sich selbst, knallte den Ordner zu und meinte: »Das ist doch Unsinn! Bin ich Heiratsvermittler?«

Ulrich beugte sich erregt über den Schreibtisch. »Olaf, ich flehe dich an, gib Tobias und mir eine Chance! Sag mir, wer die Mädchen sind!«

»Ich weiß nicht einmal, ob ich das darf, ob es korrekt wäre.«

»Aber ich bitte dich! Was soll denn daran nicht korrekt sein! Ich will doch dieses oder jenes Mädchen nicht entführen, sondern nur kennenlernen, um eine gute Mutti für Tobias zu finden! Hätte ich denn eine echte Chance, Tobias zu bekommen, wenn ich verheiratet wäre?«

»Wenn sich zwei Paare, die beide die Voraussetzungen erfüllen, um ein Kind bewerben, würden wir selbstverständlich jenen Eltern den Vorzug geben, zu denen sich das betreffende Kind am meisten hingezogen fühlt.«

»Ich bin dreißig Jahre alt. Es ist sowieso die höchste Zeit zu heiraten! Olaf, ich bitte dich, schau dir die Liste der Mädchen einmal in Ruhe an und sage mir, welche nach deiner Meinung am ehesten infrage käme! Für mich und Tobias.«

Ulrich Warner sprach so beschwörend auf den Heimleiter ein, dass der den Aktendeckel tatsächlich wieder öffnete und mit gerunzelter Stirn die Namen und Adressen durchzugehen begann.

»Tja, ich weiß nicht«, meinte er nach einer Weile. »Sie waren alle nett, sympathisch und hübsch. Kinderlieb sowieso, sonst hätten sie bei uns gar nicht angefangen.«

»Alle durch die Bank?«, rief Ulrich aufgeregt. »Ja, weißt du was?« Er griff nach den Notizzetteln, die in einem Behälter auf dem Schreibtisch standen. »Dann lassen wir doch einfach das Los entscheiden! Wir schreiben auf jeden Zettel einen Namen nebst Adresse. Und dann soll mir die Glücksgöttin beistehen!«

»Bitte!« Ulrich drehte den Aktendeckel halb herum und begann hektisch, die Namen auf die Zettelchen zu schreiben.

Olaf lehnte sich zurück. »Wenn du unbedingt willst, aber ich wasche meine Hände in Unschuld.«

»Sicher! Wenn du schweigst, wird kein Mensch jemals erfahren, wie ich die Bekanntschaft des betreffenden Mädchens gemacht habe. Alles muss wie Zufall aussehen, das ist sogar sehr wichtig!«