Ein kleines Mädchen ohne Liebe? - Gisela Heimburg - E-Book

Ein kleines Mädchen ohne Liebe? E-Book

Gisela Heimburg

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Beschreibung

In der völlig neuen Romanreihe "Fürstenkinder" kommt wirklich jeder auf seine Kosten, sowohl die Leserin der Adelsgeschichten als auch jene, die eigentlich die herzerwärmenden Mami-Storys bevorzugt. Ihre Lebensschicksale gehen zu Herzen, ihre erstaunliche Jugend, ihre erste Liebe – ein Leben in Reichtum, in Saus und Braus, aber oft auch in großer, verletzender Einsamkeit. Große Gefühle, zauberhafte Prinzessinnen, edle Prinzen begeistern die Leserinnen dieser einzigartigen Romane und ziehen sie in ihren Bann. Ein kleines Mädchen ohne Liebe?? Angelika ist schon ganz außer Atem, aber sie läuft und stürmt weiter. Sie weiß – heute wird sie ihr Ziel erreichen, heute schafft sie es ganz bestimmt! Da! Plötzlich sieht sie eine lichte Gestalt auf dem Weg – ihre Mutter! Die junge Frau breitet ihre Arme aus, und Angelika fliegt hinein. Die Frau hebt sie empor und umfängt den frierenden kleinen Körper mit ihren Armen. Angelika spürt die Wärme und die Zärtlichkeit, nach der sie sich immer gesehnt hat. »Mami!« bricht es aus ihr heraus. »Endlich!« Sie birgt ihren Kopf am Hals der Frau, und Tränen beginnen zu fließen. In diesem Augenblick lösen sich die Arme, die sie halten, und Angelika fällt – fällt ins Bodenlose. Mit angehaltenem Atem wartet das kleine Mädchen auf den Aufprall, der aber nicht kommt. Es kommt nur das Erwachen – das Erwachen aus einem wunderschönen und sehnsuchtsvollen Traum. Was bleibt, sind die Tränen, das nasse Kopfkissen in einem der vielen Betten des Kinderheims ›Sonnenschein‹. Eine große Verlorenheit steht wie ein sichtbares Gespenst im Halbdunkel des großen Schlafsaales. Dieses grausame Gespenst packt das Kind und schüttelt es unbarmherzig. Angelika vergräbt angstvoll ihr kleines blasses Gesicht im Kissen. Keiner soll ihr Schluchzen hören.

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Fürstenkinder – 59 –

Ein kleines Mädchen ohne Liebe?

Angelika wird sich in alle Herzen schmeicheln

Gisela Heimburg

Angelika ist schon ganz außer Atem, aber sie läuft und stürmt weiter. Sie weiß – heute wird sie ihr Ziel erreichen, heute schafft sie es ganz bestimmt!

Da! Plötzlich sieht sie eine lichte Gestalt auf dem Weg – ihre Mutter!

Die junge Frau breitet ihre Arme aus, und Angelika fliegt hinein. Die Frau hebt sie empor und umfängt den frierenden kleinen Körper mit ihren Armen.

Angelika spürt die Wärme und die Zärtlichkeit, nach der sie sich immer gesehnt hat.

»Mami!« bricht es aus ihr heraus. »Endlich!« Sie birgt ihren Kopf am Hals der Frau, und Tränen beginnen zu fließen.

In diesem Augenblick lösen sich die Arme, die sie halten, und Angelika fällt – fällt ins Bodenlose.

Mit angehaltenem Atem wartet das kleine Mädchen auf den Aufprall, der aber nicht kommt. Es kommt nur das Erwachen – das Erwachen aus einem wunderschönen und sehnsuchtsvollen Traum. Was bleibt, sind die Tränen, das nasse Kopfkissen in einem der vielen Betten des Kinderheims ›Sonnenschein‹.

Eine große Verlorenheit steht wie ein sichtbares Gespenst im Halbdunkel des großen Schlafsaales. Dieses grausame Gespenst packt das Kind und schüttelt es unbarmherzig.

Angelika vergräbt angstvoll ihr kleines blasses Gesicht im Kissen. Keiner soll ihr Schluchzen hören.

Niemand auf der ganzen Welt ist so einsam wie sie.

Das kleine Mädchen richtet sich auf und horcht auf die leise Symphonie der Atemzüge. Alle schlafen – wie immer. Nur sie schreckt fast jede Nacht aus ihrem Traum, in dem sie die Mutter findet.

Das Kind starrt in die Dunkelheit, und ein verzweifelter Entschluß entsteht in dem ratlosen Köpfchen:

Ich muß nur wirklich losrennen, dann werde ich meine Mami finden… Im Traum ruft sie ja immer nach mir… Jedes Kind hat eine Mami, nur manche haben sie durch ein Unglück verlo-
ren.

»Ich werde sie finden! Ich muß
sie finden!« flüstert Angelika beschwörend und schlägt die Decke zurück. Vorsichtig gleitet sie aus dem Bett, schleicht sich an den vielen anderen weißen Betten vorbei. Wie eine Nachtwandlerin geht sie durch das Treppenhaus. Die kleinen nackten Füße verursachen kaum einen Laut. An der großen Eingangstür bleibt sie zögernd stehen.

»Die ist zu«, flüstert sie. »Gar nicht erst probieren, sonst hört es jemand.« Sie steigt noch eine Treppe tiefer und gelangt in den Waschraum. Dort erklimmt sie mit einem Hocker das Fenster, das zur ebenen Erde liegt – und ist draußen.

Einen Augenblick lang steht sie wie erstarrt. Die Kälte greift mit schneidenden Messern nach ihr, und die nackten Füße im Schnee sind sofort gefühllos.

»Kalt!« flüstert sie. Aber das hat sie unzählige Male im Traum erlebt. Ratlos dreht sie das Köpfchen. Wohin soll sie sich wenden? Überall ist weiße Einsamkeit, überall ist das Grauen. Aber am Ende des Weges steht bestimmt die lichte Gestalt der Mutter.

Angelika rennt los. Sie hat das Gefühl, als ob der verharschte Schnee ihre Füße zerfetzt, doch sie läuft weiter. Nach kurzer Zeit beginnen ihre Füße wie Feuer zu brennen. Der eisige Westwind aber zerrt an ihrem Nachthemd, als wolle er ihr diese spärliche Bekleidung auch noch vom Leib reißen.

Das Kind hastet vorwärts. Irgend etwas treibt es weiter, immer weiter. Sein Atem geht keuchend. Kleine weiße Wolken verlassen in ganz kurzen Abständen den kleinen Mund.

Angelikas Kräfte lassen nach. Sie beginnt zu taumeln. Einen Moment bleibt sie stehen. Ihr Blick irrt durch die weiße Wüste. Da entdeckt sie einen hellen Punkt, ein goldenes Viereck auf einem schwarzen Hintergrund.

Licht bedeutet Wärme, vielleicht sogar Geborgenheit! Angelika läuft auf das lockende goldene Viereck zu. Jetzt erkennt sie ein großes Haus. Es hat Türmchen und Erker, die sich gegen den fahlen Nachthimmel abheben. Ein Märchenschloß?

Angelika staunt mit offenem Mund. Aber dann warnt sie etwas in ihrem Innern, dort zu klopfen. Wenn Menschen sie finden, muß sie bestimmt zurück ins Kinderheim. Sie hat es bei anderen Kindern erlebt, die heimlich ausgerissen waren.

Ratlos sieht sie sich um. Sie ist auf einmal so müde, so unendlich müde.

Unweit des Schlosses entdeckt sie ein kleines Haus. Ein Puppenhaus – oder extra für ein Kind gebaut? Angelika läuft über den schneebedeckten Hof. Sie muß einen Riegel aushaken, aber dann läßt sich die Tür leicht öffnen.

Zwei gelbe Lichter glühen vor ihr. Angelika zuckt zurück. Aber dann erkennt sie in der einfallenden Schneehelle, daß es ein Hund ist – kein Gespenst. Sie atmet auf. Hunde sind lieb.

Furchtlos geht sie hinein und zieht die Tür hinter sich zu. Sie streckt ihre kleine Hand aus und sagt: »Mich friert so, laß mich bei dir schlafen, ja?«

Und das Wunder geschieht. Das Tier blinzelt und bleibt völlig ruhig. Angelika legt die Ärmchen um seinen Hals. »Komm, wärme mich ein bißchen.«

Das Tier legt sich gehorsam nieder und spendet dem frierenden Kinderkörper die nötige Wärme. Ganz eng kuschelt sich Angelika in das glatte Fell und legt ihren Kopf in die Halsgrube – genau wie im Traum an den Hals der Mutter. Eine wohlige Geborgenheit umfängt sie, und im Augenblick schläft sie friedlich ein.

*

Friedbert Graf Ragener erhob sich in der Morgendämmerung und trat ans Fenster seines Schlafraums. Obwohl schon in wenigen Tagen der Frühlingsbeginn auf dem Kalender stand, war wieder Neuschnee gefallen. Eine dicke weiße Decke hatte sich über Schloß, Hof und Park gebreitet. Schwarze Vögel hockten unter den Apfelbäumen und suchten nach den vergessenen Früchten des Vorjahres.

Der Mann am Fenster streckte sich. Er ließ seinen Blick schweifen. Ein eigenartiger Zauber lag über dem schneebedeckten Anwesen.

Plötzlich entdeckte Friedbert Graf Ragener Spuren im frischen Schnee. Die Spuren führten quer über den Hof und endeten an der Tür des Raubierzwingers.

Der Graf erschrak. Spuren, die nur hinführten… Und was für Spuren waren es überhaupt? Nackte Fußabdrücke! Oder täuschte er sich?

Friedbert wischte sich unwillkürlich mit dem Handrücken über die Augen. Aber das Bild veränderte sich nicht: nackte kleine Fußspuren im Schnee.

Mit einem Ruck wandte der Graf sich um. Er nahm sich nicht die Zeit, sich anzukleiden. Er zog nur die Stiefel über und schlüpfte in seinen pelzgefütterten Mantel. Dann eilte er mit langen Schritten durch die Korridore, durch die Halle und verließ das Schloß.

Er sah es aus der Nähe jetzt ganz deutlich: Ein Kind war barfuß zum Raubtierzwinger gelaufen. Ein Kind aber gab es in diesem Haus nicht.

Und im Zwinger nächtigte der Gepard.

Friedberts Herz begann wild und angstvoll zu schlagen. Mein Gott, was mochte sich hinter den Mauern des Zwingers abgespielt haben?

Er stürmte über den Hof. Doch dann zwang er sich gewaltsam zur Ruhe. Vorsichtig hob er den Riegel. Millimeter um Millimeter zog er die Tür auf, ohne ein Geräusch zu verursachen.

Die Angst schnürte ihm die Kehle zusammen.

Und dann sah er das Bild vor sich, das er sein Leben lang nie wieder vergessen sollte: Der Gepard und das Kind lagen eng aneinandergeschmiegt auf dem Strohlager. Das kleine Mädchen im weißen Nachthemd hatte beide Arme um den Hals des Tieres geschlungen. Sie schliefen friedlich – alle beide.

Friedbert stand wie erstarrt. Er durfte den Geparden auf keinen Fall erschrecken. Wenn er jäh erwachte, schlug er vielleicht unberechenbar um sich. Vielleicht glaubte er dann an eine Gefahr und benutzte blindlings seine scharfen Zähne und Krallen…

Friedbert wagte den Gedanken nicht zu Ende zu führen.

Geparden waren zwar nicht einmal genehmigungspflichtig, wenn man sie als Haustiere halten wollte. Lediglich die Polizeistation des nahen Ortes hatte er in Kenntnis setzen müssen. Aber immerhin war der Gepard ein Räuber der Steppe…

Schritt um Schritt näherte sich der Graf mit äußerster Vorsicht den Schlummernden. Er hatte die Idee, das Kind ruckartig zu ergreifen und aus dem Bereich des Tieres zu reißen. Der Gepard trug ein Halsband und war an einer Kette festgemacht.

Das kleine Mädchen lächelte im Traum. Friedbert sah es, und er empfand plötzlich eine überströmende Zärtlichkeit für das fremde Kind. Wo mochte es nur hergekommen sein – barfuß und nur mit einem Hemdchen bekleidet.

Die Situation kam dem Mann sehr unwirklich, ja direkt märchenhaft vor.

Er war innerlich so angespannt, daß er die Schritte im Schnee nicht hörte.

Plötzlich stand Welda, die Köchin, in der Tür des Zwingers. In der Hand hielt sie eine Futterschüssel. Ein ungläubiger Ausruf der Verblüffung entschlüpfte ihr, und der Graf zuckte entsetzt zusammen.

*

Angelika fuhr aus dem Schlaf hoch. Es war hell. Sie blinzelte.

»Ich habe den Gong nicht gehört«, murmelte sie schlaftrunken und wie um Entschuldigung bittend. Dann aber sah sie den Hund, und die Ereignisse von gestern nacht fielen ihr blitzartig wieder ein. Sie entdeckte auch den Mann und die Frau. Panik flackerte in ihren Augen auf. Sie wußte, daß ihre Flucht zu Ende war. Ihre Mami würde sie niemals finden!

Und in ihren sich wild überstürzenden Gedanken wurde das Heim ›Sonnenschein‹ zu einem Ungeheuer, das kleine Kinder verschlang und in dessen Bauch sie leben mußte.

»Nein! Nein, ich will nicht zurück!« Es war ein Schrei der Qual.

Jetzt beugte sich der fremde Mann blitzschnell über sie und hob sie auf die Arme. Wortlos und mit weit ausgreifenden Schritten verließ er den Raubtierzwinger und eilte über den Hof.

Angelika hörte noch, wie die Frau hinter ihnen murmelte: »Großer Gott, es geschehen noch Wunder!«

Der Mann öffnete seinen Mantel und schlang ihn um Angelikas Schultern. Sie spürte keine Kälte mehr, und unwillkürlich schmiegte sich sich vertrauensvoll an die Brust des Mannes.

Und das Wunder, auf das sie so lange gewartet hatte, nahm seinen Anfang.

Der Mann trug sie durch nur schwach erleuchtete Korridore und legte sie in ein Bett. Es war so groß wie der Sandkasten des Kinderheimes und außerdem herrlich weich. Die Decke war so merkwürdig leicht, wie Luft, aber sie wärmte wunderbar.

Angelika kuschelte sich hinein und sah den schweigenden Mann neben dem Bett erwartungsvoll an.

Ihre Blicke hielten einander fest, und das Mädchen wartete darauf, daß der düstere Mann etwas sagen sollte. Wenn sein Gesicht auch finster wirkte, so empfand Angelika doch keine Scheu. Sie sah, daß seine Augen gut waren.

Und plötzlich erblühte auf dem blassen Kindergesicht ein Lächeln. Der Mann erwiderte es nicht, aber Angelika spürte ganz deutlich, daß er nicht ihretwegen böse war. Nein, er war traurig und vielleicht auch einsam.

Und weil sie wußte, wie schlimm das ist, richtete sie sich auf und schmiegte die Ärmchen um den Hals des Mannes. Sie legte ihr Gesicht an seine Wange und sagte: »Du mußt nicht mehr traurig sein, ich bleibe bei dir. Ich wollte eigentlich meine Mami suchen, aber das hat Zeit.«

Dann ließ sie den Mann los und sah ihm forschend ins Gesicht. Seine Augen schimmerten so merkwürdig blank, und er räusperte sich umständlich.

»Darf ich bei dir bleiben?« fragte Angelika unsicher. »Oder kannst du mich nicht brauchen?«

Die hellen Kinderaugen forschten ängstlich und gespannt in seinem Mienenspiel. Und da er noch immer schwieg, fügte sie hinzu: »Du kannst dir bestimmt nicht vorstellen, wie schrecklich das im Kinderheim ist, sonst würdest du mich nicht zurückschicken wollen.«

Merkwürdig altklug und resignierend klangen diese Worte.

»Nein, ich schicke dich nicht zurück«, erwiderte Friedbert Graf Ragener mit rauher Stimme. »Du kannst hierbleiben, wenn du es gern möchtest.«

Ein Leuchten flammte in den Augen des kleinen Mädchens auf.

»Oh – wirklich?« Sie konnte noch nicht erfassen, was die Worte des Mannes bedeuten. »Darf ich für immer bleiben? Nicht nur für ein Wochenende?«

»Ich werde sehen, was ich tun kann. Zuerst muß ich natürlich den Heimleiter anrufen und ihm sagen, daß du hier bist.«

»Dann holen sie mich!« stieß Angelika hervor. »Das weiß ich genau!« Panik verzerrte ihr kleines Gesicht.

Beruhigend legte der Graf die Hand auf den Blondkopf. »Wenn ich nicht will, werden sie dich nicht holen. Hab ein bißchen Vertrauen zu mir, ja?«

Angelika nickte stumm – mehrere Male.

»Na, siehst du. Von jetzt an hast du einen, auf den du dich verlassen kannst. Wie heißt du eigentlich?«

»Angelika!«

Der Mann nickte, und der Widerschein des Lächelns huschte über seine ernsten Züge. »Angelika heißt Engelchen, und wie ein Engelchen – barfuß und im Nachthemd – bist du mir ja auch zugeflogen.«

Angelika schüttelte ernsthaft den Kopf. »Nein, nicht geflogen. Gerannt! Du glaubst gar nicht, wie doll ich gerannt bin! Es war kalt, und die Füße brannten wie Feuer. Es war schrecklich.«

Ausdrucksvoll und ernsthaft schilderte sie ihren Traum.

Friedbert Graf Ragener strich ihr liebevoll über die Wangen. »Und nun hast du sie doch nicht gefunden, deine Mami, sondern nur einen Onkel.«

Angelika blickte dem Mann eindringlich und sehr nachdenklich ins Gesicht und fragte zu seiner Verblüffung: »Könntest du denn nicht mein Vater sein?« Erwartungsvoll waren
die hellen Kinderaugen auf ihn gerichtet.

Der Graf stand auf und drehte dem Mädchen abrupt den Rücken zu. Tiefe Bewegung spiegelte sich auf seinen Zügen wider.

Er kämpfte heftig mit sich.

Die Geburt eines Kindes, das nicht lebensfähig war, hatte seiner Frau das Leben gekostet. Seit damals war er einsam. Er haderte mit dem Schicksal und verschloß sich innerlich.

Und jetzt lief ihm ein Kind zu wie ein herrenloses Hündchen und fragte einfach und voller Vertrauen: Könntest du denn nicht mein Vater sein?

Langsam wandte er sich wieder um. Die Kinderaugen sahen noch immer flehend zu ihm auf. Diese Augen erinnerten ihn – an wen nur?

»Bist du mir jetzt böse? Magst du es nicht, wenn ich ›Vater‹ zu dir sage!« Sie klapperte mit den Lidern, und plötzlich wußte der Mann, daß sie ihn an seine verstorbene Frau erinnerte, die kleine Angelika. So mußte sie als Kind ausgesehen haben. Manchmal, wenn sie unsicher gewesen war, hatte sie den gleichen Ausdruck im Gesicht wie dieses kleine Mädchen.

»Nein, ich bin dir nicht böse. Nenn mich nur Vater, wenn du gern möchtest.«

Angelika sprang auf und rannte durchs Zimmer auf ihn zu. Sie umschlang seine Knie, und jubelnd rief sie: »Vati! Ich habe jetzt einen Vati.«

In diesem Augenblick wußte der Graf, daß er dieses Kind auf keinen Fall enttäuschen durfte. Es würde noch einen Kampf mit der Behörde geben – aber er würde ihn gewinnen. Er würde es durchsetzen, daß er das Kind adoptieren konnte, obwohl er nicht verheiratet war. Wege und Auswege würden sich finden lassen.

*

Friedbert Graf Ragener hob das kleine Bündel Mensch zu sich empor. »Gut, dann muß ich dich jetzt ein bißchen allein lassen. Ich muß nämlich ein paar Telefongespräche führen. Das siehst du doch ein, nicht wahr, Engelchen?«

Angelika nickte. Im Hintergrund ihrer Augen lauerte schon wieder die Angst.

Friedbert trug sie zu seinem Bett zurück und ließ sie in die Kissen fallen. Angelika quietschte vor Freude.

»Welda, unsere Köchin, wird dir gleich das Frühstück bringen. Möchtest du Milch oder Kakao und vielleicht Rosinenbrot oder Brötchen?«

»Ja, bitte!« sagte Angelika beeindruckt. Ihre Augen wurden groß und hungrig.

»Also alles zusammen!« stellte Friedbert fest.

Er verließ das Zimmer und bestellte das Frühstück. Dann eilte er in sein Arbeitszimmer und blieb nachdenklich vor dem Bild seiner verstorbenen Frau stehen. Fünf Jahre hatte er benötigt, um das Leben neu zu entdecken, um die Einsamkeit abzuschütteln. – Seltsam, diese Ähnlichkeit der Augen mit denen des Kindes! Es war mehr der Ausdruck als der Schnitt. Und doch war der Mann ganz seltsam berührt. Völlig undenkbar, dieses kleine, verängstigte schutzsuchende Wesen einfach wieder fortzuschicken!

Ihm war, als riefe ihm seine Frau zu: »Es ist genug – genug der Trauer! Es gibt Menschen, die deine Liebe brauchen!«

Friedbert ging zum Schreibtisch. Nachdenklich hob er den Hörer ab.

Dalarna – was würde Dalarna dazu sagen?

Er machte eine ungeduldigte Handbewegung. Was schon? Sie würde ihm recht geben. Man jagte ja nicht einmal einen herrenlosen Hund vor die Tür.

Friedbert blätterte gedankenverloren im Telefonbuch. Er fand die Nummer des nahegelegenen Kinderheimes und wählte.

Der Heimleiter meldete sich mißgestimmt.

»Hier ist Ragener«, antwortete Friedbert.

»Ah, guten Morgen, Herr Graf! Was steht zu Diensten?«

Friedbert sah förmlich, wie der Mann am anderen Ende der Leitung Haltung annahm. Ein verächtliches Lächeln zuckte um den Mund des Grafen. Er mochte keine Liebedienerei. Aber diesmal mochte die Unterwürfigkeit des anderen gut ins Konzept passen.

»Vermissen Sie ein Kind?« fragte Friedbert. Er hörte ein Geräusch, als wäre dem Heimleiter der Hörer aus der Hand gefallen.

»Hallo! Ich fragte, ob Sie ein kleines Mädchen vermissen!«

»Ja, Herr Graf. Die kleine Angelika Borsdorf. Aber ich verstehe nicht… Woher wissen Herr Graf davon?«

»Die Kleine ist bei mir.«

»Oh…«

»Ja, bei mir im Bett, denn sie ist nur mit einem Nachthemd bekleidet.«

»Ich bitte tausendmal um Entschuldigung, Herr Graf. Wir haben keine Ahnung, wie das Kind überhaupt aus dem Haus kommen konnte. Ich werde Sie sofort von dem Kind befreien. Ich schicke gleich jemand hinüber.«

»Nein, gerade das will ich nicht. Die Kleine möchte auf keinen Fall ins Heim zurück.«

»Aber – aber bei uns werden alle Kinder gerecht behandelt. Wenn sie sich beklagt haben sollte…«

Der Graf unterbrach den Redefluß des Heimleiters energisch: »Sie hat sich nicht beklagt. Jedenfalls über nichts Konkretes. Aber sie möchte bei mir bleiben, und diesen Wunsch werde ich ihr erfüllen.«