Die Reise nach dem Rosenstern - Herbert Friedrich - E-Book

Die Reise nach dem Rosenstern E-Book

Herbert Friedrich

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Beschreibung

Der Stern des Drachen soll das Ziel der internationalen Raketenexpedition sein, die sieben mutige Wissenschaftler und Forscher aus sieben verschiedenen Ländern der Erde unternehmen wollen. Zehn Jahre sind eine lange Zeit, deshalb soll jeder eine Geschichte zum Besten geben, damit sie sich besser kennenlernen. Unvorhergesehene Dinge komplizieren die Reise: Der sowjetische Wissenschaftler erkrankt, das Raumschiff weicht aus geheimnisvollen Gründen vom Kurs ab, und ein blinder Passagier taucht auf. Doch alles nimmt ein gutes Ende. Für Kinder ab 10 Jahren

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Impressum

Herbert Friedrich

Die Reise nach dem Rosenstern

Ein Märchenbuch

ISBN 978-3-96521-524-5 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch erschien 1963 in Der Kinderbuchverlag Berlin.

Für Leser von 10 Jahren an

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

Die Reise nach dem Rosenstern

Wer von den Lesern kennt nicht jenes Gefühl, das sich einstellt, wenn man sich auf eine längere Reise begibt: das Gemisch aus Abenteuerlust und Erwartung, durchdrungen von dem Bedauern, liebe Menschen zurücklassen zu müssen, und von der Angst, etwas Entscheidendes vergessen zu haben. Die Bahnhöfe der Welt wissen ein Lied davon zu singen, und dies ist sehr lang und abwechslungsreich.

Der Bahnhof, auf dem sich der Kasache Ali Kassim von Frau und Kind verabschiedete, war der Himmelsbahnhof in der Wüste Gobi, und seine Reise sollte nicht mehr und nicht weniger als zehn Jahre dauern. Sein Sohn, der wenige Wochen vorher die ersten Schulbücher bekommen hatte, würde bei seiner Rückkehr das Fest der Schulentlassung begehen. Während Ali Kassim dem Jungen übers Haar strich, dachte er weniger daran, vielmehr dachte er an die Expedition, denn er war deren Leiter. Die Expedition sollte geradewegs zum Stern des Drachen im tiefschwarzen All führen, und ihre Rakete würde so schnell fliegen, dass sie mit jedem Augenzwinker tausend Meilen vorankam, fünfmal zwölf Monate lang. Und die Wissenschaftler hofften, dass sich nach dieser Zeit die Beobachtungen bestätigten, nämlich dass der Stern des Drachen von menschlichen Wesen bewohnt sei. Was für Wunderdinge, die reinsten Märchen, hatte man in den letzten Jahren von jenem Stern geschrieben, gemalt, behauptet und erfunden. Ali Kassims Expedition war dazu ausersehen, die Wahrheit zu ergründen.

Nicht zu übersehen war die Menschenmenge, die den Startplatz vor der turmhohen Rakete Fliegender Drache belebte. Alle Sprachen der Erde konnte man hier vernehmen. Scheinwerfer zuckten, Lautsprecher brüllten, Zeitungsreporter, Radioreporter, Fernsehreporter hasteten, redeten, notierten. Ein warmer Regen fiel sacht, als wollte er die Menschen erfrischen, damit sie umso mehr jubeln, schreien, lachen konnten.

Inmitten dieses Menschenwirbels gab es eine ruhige Insel. Dort standen jene Männer, die die Reise antreten wollten, sieben an der Zahl und ausgerüstet mit dem höchsten Wissen, das ihnen die Erde zu geben vermocht hatte. Ein jeder zählte für fünf, so vielseitig waren sie. Ein jeder stand für zehn, die die Aufgaben genauso gut wie sie gemeistert hätten.

Ali Kassim, der Leiter, Chemiker aus der Stadt Karaganda, winkte ihnen, und sie traten von ihren Familien zurück. Der türkische Astronom Tschelebi küsste seinen Sohn, den siebenjährigen Ahmed, und streichelte den weißgefiederten Hund Miramara, der sich an den Beinen des Knaben rieb.

Der Filmoperateur Dolezal aus Praha machte die letzten Aufnahmen von seiner jungen Frau Jana. Er schwenkte mit der Kamera über Frau Tschelebi und Ahmed und den wolfsstarken Federhund Miramara und hielt noch einmal auf dem Filmstreifen fest für die langen Tage im Fliegenden Drachen, für die zehnjährige Reise: die Eltern des jungen Konstrukteurs und Mechanikers Fischer aus Dresden, die wunderschöne Mona, Frau des Biologen Molo aus dem Kongo, und ebenso die Frau des Arztes Matsumoto aus Tokio, deren Söhne ihr schon bis zur Schulter reichten.

Einzig und allein der Moskauer Boris Stepanowitsch Minajew stand ohne Angehörige auf dem Feld. Es schien Kassim, da er so seine Freunde musterte, als fühle sich der russische Geologe einsam. Zehntausend Menschen hier, doch niemand gehört zu Boris, begleitet ihn zum Abschied – ja, das kann man wohl Einsamkeit nennen.

Mit schnellem Schritt ging Kassim auf Minajew zu und hakte den Freund unter. „Komm, Boris, die Sterne warten!“

Ein Mikrofon wurde ihnen vorgehalten, und ein Reporter keuchte: „Schnell noch einige Worte für die Hörer des Weltfunks.“

Und Ali Kassim sagte, ruhig, wie es seine Art war: „Wir werden den Menschen, gleich wo wir sie im All treffen mögen, eure Grüße und eure Geschenke bringen; und mitbringen werden wir euch ihre Freundschaft.“

Und Boris, der Einsame, rief in das Mikrofon: „Ich grüße Lida und die kleine Galotschka.“ Dann zog ihn Kassim zum Fahrstuhl.

Jeder der sieben wandte sich noch einmal um auf dem erhöhten Podest, bevor er den Fahrstuhl betrat, und grüßte die Menge.

Als der Astronom Tschelebi winkte, geschah ein Zwischenfall. Sein Sohn Ahmed winkte selbstvergessen zurück, da riss sich plötzlich der Federhund Miramara los, so dass der Junge zu Boden geschleudert wurde. Der Hund bellte sein hohes Bellen und stand mit einem Sprung auf dem Podest. Durch den Anprall verlor Vaclav Dolezal den Boden unter den Füßen, und über ihn hinweg huschte das Tier in den Fahrstuhl.

Ahmed weinte, das Knie böse zerschrammt, doch umso mehr, da er den Hund nicht hatte halten können. Die Menge schrie auf.

„Noch fünf Minuten bis zum Start!“, schnarrte der Lautsprecher. Der Absperrdienst drängte die Menschen zurück. Ahmed schaute sich schluchzend nach dem Podest um, wo sich sein Vater befand und sein Hund.

Tschelebi sprang in den Fahrstuhl, um den Hund herauszuzerren, flog aber selber heraus, da sich das Tier wehrte. Dolezal rappelte sich hoch, schaute nach der empfindlichen Kamera und hoffte, dass der Film nicht verdorben sei.

„Noch drei Minuten bis zum Start!“, dröhnte der Lautsprecher.

Kassim schrie: „Einsteigen in den Fahrstuhl!“

Mit vereinten Kräften versuchten sie, den Hund hinauszuwerfen. Der fletschte die Zähne und knurrte und sträubte die Federn. Es war ein sonderbares Schauspiel. Minajew riss einen Riemen aus der Tasche. Kameraleute aller Erdteile filmten mit Teleobjektiven aus der Ferne den Kampf.

Ein Zweirad durchbrach die Absperrkette. Im Nu stand es vor der Plattform. „Telegramm für Boris Minajew!“

Betroffen ließ der Russe den Hund fahren und hetzte die Treppe hinunter.

„Noch zwei Minuten bis zum Start!“, tönte die Stimme unbarmherzig aus dem Lautsprecher. Desungeachtet riss am Fuß der Treppe Boris Minajew den Umschlag auf. Er erbleichte, wankte. Der riesige Kongolese Molo schleppte ihn in den Fahrstuhl.

„Alles da!“, schrie Kassim. „Ab!!“

In der Ecke saß Tschelebi und klopfte den Hals des Hundes. Sekunden später erreichten sie die Rakete.

Alle stiegen sofort durch die Schleuse, während der Türke seinen Hund hielt und liebkoste. „Es hat keinen Zweck, Miramara, du treues Tier. Es hat keinen Zweck, du musst zurückbleiben. Achte auf Ahmed, Miramara, und auf seine Mutter Fatma.“ Verständnisvoll blickten ihn die Hundeaugen an. Das Tier schlug mit der Rute, doch entging ihm keine Bewegung. Als Tschelebi tollkühn aus dem schon abwärts sinkenden Fahrstuhl in die Rakete springen wollte, war der Hund schneller. Tschelebi fiel zurück, fluchte auf türkisch und sauste mit dem Fahrstuhl nach unten, indes der Federhund Miramara zwischen den Männern durch in den Steuerraum der Rakete stob.

Sofort wurde Tschelebi wieder nach oben gefahren. Als er zu seinem Platz wankte, blinzelte der Hund listig.

„Fünf … vier … drei …“, zählte Kassim. Tschelebi blickte den Hund grimmig an, während er sich festschnallte.

„… zwei … eins … los!“ Eine ungeheure Faust schien sie in die Sitze zu pressen.

Draußen zuckten die Triebwerke, die Menschen winkten und schrien, die Kameras hielten jeden Augenblick des Starts für kommende Zeitalter fest. Dann war der Fliegende Drache in den Wolken verschwunden.

Als sie ruhig flogen, als der Blauhimmel der Weltraumnacht gewichen war, schnallten sie sich los und schauten nach dem Hund. Miramara lag zufrieden hingestreckt. Keiner Mücke schien er ein Leid zufügen zu können, nun, da er seinen Willen durchgesetzt hatte. Und er lag zu Minajews Füßen, als wolle er ihn wegen der zerbissenen Hand um Entschuldigung bitten. Jetzt erst entdeckten die anderen, dass die Hand des Geologen blutete. Er hatte es wohl selbst kaum bemerkt, da er wie abwesend schien, nachdem er das Telegramm gelesen hatte.

Der Astronom Tschelebi tadelte seinen Hund heftig, was dieser zähneknirschend über sich ergehen ließ. Die beste japanische Heilsalbe trug der Arzt Matsumoto herbei, um Minajews Schmerzen zu lindern.

„Das war ein überstürzter Aufbruch“, sagte Ali Kassim in seiner weichen Sprache. „Wir haben einen Mitreisenden mehr an Bord. Das soll uns nicht stören. Stärken wir uns in den langen Monaten, die vor uns liegen, für die Aufgaben auf dem fremden Stern.“

Sie nickten freudig, und der lustige Vaclav Dolezal erzählte einen Witz, worüber alle lachten. Allein Boris Minajew saß bleich und nachdenklich mit verbundener Hand, wie er von Anbeginn gesessen hatte.

Langsam gewöhnten sie sich an das Leben im Fliegenden Drachen, und sie arbeiteten wie besessen. Fischer kontrollierte die Geräte, Kassim saß im Laboratorium. Der Kongolese Molo betreute den botanischen Garten, der Türke Tschelebi durchforschte die schweigende Sternenwelt, in die sie sich hineinbohrten.

Eine lange Woche flogen sie bereits, als Dolezal sie in den Klubraum bat, und während die Steuermaschine den Fliegenden Drachen auf dem richtigen Kurs hielt, schaltete der Filmoperateur aus Praha geheimnisvoll lächelnd das Licht aus.

Auf einmal schwebten vor der getönten Wand greifbar nahe die schöne Jana und Fatma Tschelebi aus Istanbul mit dem kleinen Ahmed, der den Federhund Miramara hielt. Mona, die Kongolesin, lächelte, und Fischers Eltern winkten. All dies war so getreu in Farbe und Ton, so plastisch und lebendig, dass es schien, als befänden sich jene Personen unter ihnen.

Sie saßen stumm, als Dolezals Zauberfilm erlosch, und Minajew seufzte. Keine Frau, kein Kind waren in diesem Zauberspiegel aufgetaucht, die sich von ihm verabschiedet hätten.

In die Stille hinein sprach Kassim: „Vor langer, langer Zeit, da meine Väterväter als Nomaden durch jene Hungersteppe zogen, die heute längst blühendes Gefilde ist, als die Karawanen aus Persien nach Taschkent und Buchara wanderten, monatelang, da pflegten die Männer am abendlichen Lagerfeuer ihre Kinnbärte zu streichen und Geschichten zu erzählen.

So überstanden sie besser die Plagen und Entbehrungen, und die Reise verging ihnen wie im Flug. Auch wir sollten es so halten. Lasst uns erzählen! Wir erfreuen uns an den Geschichten und lernen uns kennen, und wenn die Zeit unsere Kraft braucht, werden wir stark sein.“

Die Männer bekräftigten die Worte des Kasachen Ali Kassim, und sie beschlossen, regelmäßig in freien Stunden zusammenzukommen und reihum zu erzählen. Und mit jeder ihrer Erzählungen verstrichen auf Erden sechs Monate.

„Sicher“, begann Murad Tschelebi, der Astronom aus Istanbul, „begehrt ihr zu hören vom Hund Miramara, der bei uns eingedrungen ist. Ihr habt gesehen, meine Freunde, er ist klug und stark. Ich wusste von vornherein, dass es vergeblich sei, ihn aus dem Fahrstuhl zu werfen. Es hätte nur ein Mittel gegeben, ihn zurückzuhalten, nämlich ihn zu töten. Ja, ich hätte ihn töten müssen, um die Expedition nicht mit ihm zu belasten. Aber ihr wisst nicht, was Miramara für mich getan hat. Darum lasst euch erzählen.“

Da setzten sich die Männer zurecht, zündeten Zigaretten an und lauschten der Geschichte …

Der Hund Miramara

„Als mein Söhnchen Ahmed fünf Jahre zählte, erhielt ich den Auftrag, das Gelände für eine neue Sonnenbeobachtungsstation zu erkunden. Da die Ärzte der Ansicht waren, ein wenig Hochgebirgsluft und Höhensonne würden Ahmeds Gesundheit zuträglich sein, nahm ich ihn mit. Ahmed sang mit drei Jahren bereits die alten Lieder vom ersten Kosmonauten und kratzte dazu auf einer Geige herum, die wir eigens für ihn anfertigen ließen. Mit vier Jahren las er auf der Wiese seinen Spielgefährten von Nassr ed-din vor. Sosehr uns das als Eltern freute, sosehr besorgte uns seine zarte Gesundheit. So kam denn die Reise zustande, die Ahmed begeistert aufnahm.

Das Hochgebirgsdörflein lag malerisch in einem Tal. Hinter ihm reckte sich eine der unwirtlichsten und einsamsten Gegenden des Gebirges. Jedes Haus mochte einige hundert Jahre auf dem Dach haben. Wären nicht die Antennen gewesen, das Heizwerk und der Hubschrauberlandeplatz, man hätte meinen können, man wäre in Urgroßvaters Zeiten zurückversetzt.

Noch älter freilich als die Häuser waren die Berge, Millionen Jahre alt.

,Dort hinauf möchte ich‘, sagte Ahmed bewundernd. ,Da würde ich den Bergen von Nassr ed-din vorlesen, und sie würden mir zuhören.'

,Dort hinauf kommst du nicht', sagte unser Gastgeber, Ingenieur Izzi, in dessen Hause wir lebten. ‚Dort hinauf sind nur wenige Mutige gelangt, nicht einmal der Hirte Omar, der die Rinder auf die Bergwiesen treibt, und der hat doch so manche Ziege vor dem Abgrund gerettet.'

Damit gab sich der kleine Ahmed zufrieden, aber am nächsten Morgen, als die Sonne die Felsspitzen rötete, begann er von neuem: ‚Dort hinauf möchte ich. Die Felsen werden vor Freude alle Farben des Malkastens annehmen, wenn ich ihnen von Nassr ed-din vorlese.‘

Und abermals musste Ingenieur Izzi dämpfen. ‚Oben gibt es den Wildenturmgletscher und Wetterstürze und Steinschläge. Und in Höhlen hausen Bären und in Hochtälern Wölfe und in den Nebelwäldern Wildkatzen. Nur der Adler steigt mühelos hinauf in jene Höhen.‘

,Und der Hubschrauber und der Vater, wenn er den Platz für die Sonnenbeobachtungsstation erkundet', sagte Ahmed und schmiegte sich an mich.

Jeden Tag erzählte er vom Wildenturmgletscher und von wilden Tieren, denen er die Geschichten von Nassr ed-din vorlesen wollte. Nachts schreckte er aus dem Schlaf, schweißnass. Da wusste ich, dass er auch noch davon geträumt hatte. Mehr und mehr erfüllte mich das mit Besorgnis. Ich sagte mir, dass die Bergwelt unheilvoll auf einen fantasiebegabten, kränklichen Knaben einwirken musste, der bis dahin nur die Meeresküste kennengelernt hatte.

Lange Monate blieben wir in jenem Dorf, bis in den Hochsommer hinein. Denn wir fanden nicht den richtigen Platz für die Beobachtungsstation, soviel wir auch im Gebirge herumstiegen.

Auch Ahmed, der Fünfjährige, stieg herum, hatte er sich doch in jener Zeit, da ich mich so wenig um ihn kümmern konnte, einem Jungen im Alter von zehn, elf Jahren angeschlossen. Dieser zählte zu den verwegensten und schalkhaftesten, die ich je kennengelernt habe. Sein Name war Sari. Alle Dorfkinder scharten sich um ihn, und Ahmed sah wohl in Sari so etwas wie seinen Nassr ed-din.

Wie dem auch sei, er trennte sich kaum zu den Mahlzeiten von ihm, und bei ihren Spielen, auf der Bergwiese am Teufelshorn, hielt er sich immer an seiner Seite.

Eines Abends, als die erste Dämmerung über die Häuser fiel, bereitete ich eine Sendung von seltenen Pflanzen für unseren Biologen in der Hauptstadt vor. Wir fanden doch auf unseren Streifzügen viele Gewächse, die wir bisher in der Türkei nicht vermutet hatten. Von manchen wussten wir gar nicht, dass sie existierten.

Da wälzte sich ein Tumult die Straße herunter, die Stimmen dröhnten durcheinander, wurden lauter. Ausgerechnet unter meinem Fenster hielt der Zug.

Was hat der Sari jetzt wieder ausgefressen, zusammen mit meinem Ahmed, so dachte ich. Noch ehe ich den Gedanken vollendet hatte, stürmte Sari ins Zimmer, ungeachtet der wertvollen Pflanzen. Er schrie: ,Ahmed ist weg!' Verstört blickte er um sich.

Jetzt trampelte ich selbst über die Pflanzen, da ich auf den Jungen zusprang, kreideweiß im Gesicht. Er musste es mir zweimal sagen, ehe ich es fassen konnte. Dann erzählte er die ganze Geschichte.

Auf der Bergwiese am Teufelshorn habe Ahmed, der Kleine, gesagt: ,Ich steige zur Quelle hinab, denn ich habe Durst.' Sari bat ihn, Wasser mitzubringen, damit auch er trinken könne. Er gab ihm einen Becher mit.

Als dann Ahmed nicht zurückkehrte, war die ganze Schar losgestürmt, aber die Quelle hatte verlassen dagelegen. Zuerst nahmen sie an, Ahmed habe sich versteckt und versuche, sie zu narren. Sie schrien seinen Namen und blickten hinter Felstrümmer und ins Gestrüpp.

Nicht ein Haar von Ahmed fanden sie. Und da es dunkelte, liefen sie ins Dorf.

Schnell alarmierten wir die Männer und stiegen mit Handscheinwerfern zur Bergwiese hinauf. Gleichzeitig starteten fünf Hubschrauber, die mit Leuchtkörpern den Tag ins Gebirge zurückholten.

Scharfe Schlagschatten warfen die Felsen. Fremdartiges Getier trieben wir aus Verstecken. Von Ahmed fanden wir nichts. Kalter Schweiß trat auf meine Stirn. An Fatma, Ahmeds Mutter, durfte ich gar nicht denken. Kühl musste ich bleiben, obwohl es mir das Herz abpresste. Sonst fände ich Ahmed nie und nimmer.

Als ich am Bächlein entlang zur Quelle hinaufstieg, schimmerte es im Lichtstrahl weiß auf. Ich beugte mich übers Wasser, in das an dieser Stelle ein Zweig tauchte, und sah – es stockte mir der Atem – Ahmeds weißes Halstuch. Geschwind griff ich ins Wasser. Es war nicht Ahmeds Tuch, es waren zwei große Federn, deren Anblick mich zu jeder anderen Zeit zum Entzücken gebracht hätte. Jetzt war ich nicht entzückt, sondern enttäuscht, grausam genarrt worden.

‚Sieht aus wie Adlerfedern‘, vermutete der greise Hirt Omar, der sie mir aus der Hand nahm. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes. An der Quelle musterten wir schweigend jeden Zentimeter Boden, und auch hier war es der Hirt, der auf einem Felsblock die feinen, frischen Kratzer fand. ‚Hier hatte sich der Adler niedergelassen‘, sagte er nachdenklich.

Andere widersprachen, glaubten an ein Raubtier, das von dem Block herunter auf das Kind an der Quelle gesprungen sei. Spuren eines Kampfes fanden sich nicht.

Schweren Herzens stiegen wir hinab ins Dorf, und mein Leid war unsäglich. Seilmannschaften wurden aufgestellt. Jeder einzelnen wurde ein fest umrissener Geländeabschnitt zugewiesen. Ebenso erfolgte der Einsatz der Hubschrauber. In dieser Nacht schliefen im Dorf außer den Kindern nur die Männer und Frauen, die für den Tageseinsatz vorgesehen waren.

Erfahrene Bergsteiger, Funkerinnen, Ärztinnen, Hubschrauberkapitäne, die ganze Besatzung des Flugplatzes waren im Einsatz.

Ich kam mir untätig vor und hilflos. Man zwang mich zu schlafen, da ich am Tag mit den Hubschraubern fliegen sollte.

Das Morgenlicht blendete eben erst auf hinter den Bergspitzen, als wir vor dem Abflug noch einmal zur Bergwiese hinaufstiegen, wo die verhängnisvolle Quelle lag. Mit uns waren sechs, acht Kinder, die am Vorabend hier oben getollt hatten, begleitet von ihren Vätern, allen voran Sari.

Jeder musste sich an seinen Platz stellen und spielen, wie er gestern gespielt hatte. Wir jedoch kletterten hinunter zur Quelle und spähten von dort zu den Kindern. Sie waren unseren Blicken entzogen. Nur ihre Lieder tönten durch die Bergfichten.

Wenn wir sie hören, fand ich, müssten sie einen Schrei von der Quelle her vernommen haben.

Omar, der Hirt, widersprach. ,Sie sangen auch gestern, sie tollten dazu. Sie können einen Schrei wohl überhört haben.'

Sari murmelte: ‚Keinen Ton haben wir gehört.' Ingenieur Izzi ergänzte: ‚Ebenso können sie im Spieleifer übersehen haben, dass sich ein Raubvogel näherte.'

Ich musste ihnen recht geben.

‚Steigt hinauf', riet ich, ‚und lauscht, ob ihr einen Schrei hört. Beobachtet auch, von welcher Seite ein Raubvogel herangeflogen sein kann!'

Der Ingenieur und der Hirt hießen den Plan gut, denn aus diesen Wahrnehmungen konnten sich Anhaltspunkte ergeben über den Fluchtweg des Räubers. Schließlich war ein fünfjähriges Kind eine Last, die getragen sein wollte. Ich wollte nicht denken, dass dieser Fünfjährige mein Ahmed war.

Als ich dem Ingenieur und dem Hirten nachschaute, wie sie sich den jungen Fichten näherten, um zur Matte zu gelangen, dachte ich: Vielleicht ist gar kein Räuber dagewesen. Vielleicht hat sich Ahmed nur verstiegen. Wollte er etwa einen unbewachten Augenblick benutzen, um hinauf zu den Gipfeln zu gelangen? In ihm brannte doch der Wunsch, die Geschichten um Nassr ed-din den steinernen Häuptern zu erzählen. Aber wie weit kam ein Fünfjähriger, bergan, kurz vor der Nacht? Schon die erste Streife hätte ihn finden müssen, trotz des Gerölls, des Knieholzes und der Schluchten.

Ich strich Sari übers Haar, der bei mir auf einem grasüberwachsenen Stein saß, und es war mir, als berührte ich meinen Knaben.

Nach einer Zeit der Stille, in der wir nur die Quelle hörten und die Vögel drüben vom Wald, meinte Sari: Jetzt müssten sie bei den Kindern sein.

So bat ich ihn, zur Quelle zu gehen, eben dorthin, wo Ahmed gestanden haben konnte.

Bereitwillig lief Sari die wenigen Schritte bis zum Wasser und stellte sich auf die Felsplatte, in Erwartung, dass ich ihm das Zeichen gäbe, einen Schrei auszustoßen. Ich konnte ihm aber das Zeichen nicht geben, ich saß wie gelähmt.

Hinter Sari, hinter dem Felsblock hervor, auf dem der Adler gesessen haben sollte, strich ein Tier, wie ich es noch nie gesehen hatte und wie auch ihr es wohl erst seit unserem Abflug kennt. Es schien ein Hund zu sein, groß und stark, doch statt eines Felles besaß er ein dichtes Federkleid, weiß, an der Brust und auf der Stirn schwarz gezeichnet.

Keine zwanzig Meter vor mir stand der Hund, und zwischen mir und ihm stand Sari und schaute verwundert auf mich, und der Hund schaute auf Sari und klopfte mit der Rute.

Ich entsicherte, mich zur Ruhe zwingend, meinen Revolver. ,Komm langsam zu mir, Sari. Keine hastige Bewegung‘, sagte ich beherrscht, aber so, dass der Junge unverzüglich auf mich zuging.

Bei meinen Worten sprang der Federhund mit einer unglaublich leichten Bewegung hinter den Felsblock.

Sari zitterte, als er den Revolver sah. ,Gefahr?‘, fragte er.

,Ein Hund, ganz absonderlich‘, sagte ich. ,Ein Hund mit einem Federkleid, dort hinter dem Felsblock.‘Sari fiel neben mir nieder. Ich flüsterte: ,Keine Angst. Vielleicht erinnerst du dich, dass ich bei den Olympischen Spielen vor drei Jahren die Goldmedaille im Pistolenschießen erkämpft habe.‘

‚Ich habe keine Angst‘, sagte Sari.

Ich überlegte. ‚Dann wirst du auch aufstehen können. Stell dich auf den Stein vor mich.‘

Ein wenig zögerte Sari, dann tat er es. Er schaute sich nicht nach mir um, er sah nach dem Felsblock. Dort tauchte der Kopf des Hundes auf, der eher edel als bösartig aussah. Dann sprang der Hund geschmeidig hervor. Sari konnte einen Schrei nicht unterdrücken, aber er schrie nicht aus Furcht. Der ungewohnte Anblick der Federn bei einem Hund hatte ihn überrascht. Während der Hund auf Sari zulief, langsam, vorsichtig, stets nach mir witternd, jagten sich in mir die Gedanken.

Ich wollte nur schießen, wenn für Sari eine Gefahr bestand. Denn wer auf der Welt kannte diesen Hund! Wie waren seine Lebensgewohnheiten? Was gab es da alles zu erforschen! Es wäre gut, wenn ich ihn nicht zu töten brauchte. Aber wie unwichtig erschien mir der Hund, als ich an meinen kleinen Ahmed dachte.

Der Hund sprang zu Sari auf den Stein. Jeder andere, selbst ein Erwachsener, wäre geflüchtet. Sari schielte nur zu mir, und seine Hände zuckten etwas, dann trat er einen Schritt beiseite. Das war alles. Ein mutiger Junge! Der Hund nützte den neugewonnenen Platz und streckte sich aus und ließ ein Brummen ertönen. Sari rührte sich nicht. Ich beobachtete erstaunt. Nach kurzer Zeit drehte der Hund den Kopf und rieb ihn an Saris Beinen. Der Junge drohte vom Stein zu stürzen, da er zurückwich. Er griff nach einem Halt und fasste den Kopf des Hundes. Das Tier brummte nur, seine Rute schlug unaufhörlich.

Da peitschte ein Schuss auf, ließ alle erschrecken, mich, den tapferen Sari und auch den Hund. Sein Federkleid sträubte sich, so dass er sich im Umfang verdoppelte. Unter den Federn zeigten sich andere, purpurrot und meeresblau. Es war eine Pracht, ihn anzusehen. Aber es währte nur einige Augenblicke. Dann sprang der Hund davon. Er verschwand hinter dem Felsblock und brach zwischen den jungen Fichten durch.

Oberhalb der Quelle traten aus dem Jungholz Omar und Izzi. Sie spähten kurz, dann stürmten sie herab. ‚Seid ihr verletzt?‘

Ich schüttelte unwillig den Kopf.

,Ein einmaliges Tier', lobte Omar.

‚Ja, einmalig!', bestätigte ich. ,Und warum schießt ihr?'

Der Ingenieur Izzi erklärte: ,Euer Leben geht über alles. Wir glaubten euch in Gefahr, denn Sari gab nicht das Zeichen.'

Dann berichtete der Hirt. Die Mannschaften, die während der Nacht gesucht hatten, waren erfolglos zurückgekehrt. Alle Hubschrauber waren bereits gestartet bis auf den, mit dem ich fliegen sollte.

Ich schaute in die Runde. Verwünschte Bergwelt! Jähe, fast senkrechte Wände, Eis, Karseen, filzige Wälder. Die Morgensonne rötete die Spitzen. Ach, Ahmed, erzählst du ihnen von deinem Nassr ed-din?

,Ihr habt den Hund vertrieben', zürnte ich. ,Hat er meinen Jungen geholt, wird er Sari ebenfalls holen wollen. Vielleicht führt er uns zu Ahmed.'

,Er hat mir nichts getan.‘ Sari zeigte seine Hände.

‚Würdest du mit dem Hund gehen?'

,Ja', rief Sari, ,aber er ist weg.'

,Er kommt wieder, sicher wie die Morgensonne.' Und wir funkten Saris Eltern die Bitte, in unser Vorhaben einzuwilligen.

,Wir sind stolz auf dich. Hilf dem kleinen Ahmed', funkten die Eltern.

Dann zogen sich Izzi und der greise Omar in den Jungfichtengürtel zurück. Ich selbst blieb auf meinem Posten wie vordem, und Sari setzte sich auf den Stein, dorthin, wo der Hund gelegen hatte. Die Sonne stieg rasch in der ersten halben Stunde ihres Tageslaufes. Gletscher und Eishauben blinkten herüber. In den Tälern wogte Frühnebel. Und feiner Nebel schob sich auch über den Quellhang. Deshalb sah ich den Hund erst, als er schon bei Sari auf dem Stein stand. Der Junge strich ihm die Federn.

Sprungbereit lag ich da. Bergan wusste ich hinter den Fichten die Freunde. Wieder warf sich der Hund hin, stieß spielerisch mit dem Kopf nach Saris Beinen. Sari kniete sich und klopfte ihm den Hals. Der Hund brummte und rückte an den Jungen heran. Als Sari aufstand, sprang der Hund vom Stein herunter, drehte sich um die Achse, sprang wieder hinauf und legte sich hin. Es waren anmutige Bewegungen.

Vielleicht soll sich Sari setzen, dachte ich. In dem Augenblick setzte sich Sari wirklich, auf den Rücken des Tieres!

Der Hund stand auf und stieg vorsichtig vom Stein. Dann lief er mit sicherem, ruhigem Gang hinein in den Nebel.

Ich hetzte los, ich war gut bei Kräften, so entging mir die Fährte nicht. Izzi wartete an einem Felshang. Der Hirt war schon weiter.

,Bleib hier!‘, schrie mir der Ingenieur zu. ,In zehn Minuten ist der Hubschrauber da!‘ Dann keuchte er weiter, durch Farne und Geröll.

Es wurden die längsten zehn Minuten meines Lebens. Was half es, war es doch das vernünftigste, die Verfolgung mit dem Hubschrauber aufzunehmen. Auf die Dauer konnte selbst der Hirt dem Federhund nicht auf der Spur bleiben.

Mir blieb genug Zeit, über den Hund nachzudenken. Aber er gab mir so viel Rätsel auf, die ich auch in zehn Jahren nicht gelöst hätte. Und ihr wisst alle: Seitdem wir den Hund kennen, sind die zehn Jahre noch nicht zu einem Viertel verstrichen. Dabei war ich doch nicht der einzige, der in der Folgezeit versuchte, den Hund zu ergründen.

Am sonderbarsten erschien mir damals, dass der Kinderräuber bei dem kleinen Ahmed nicht soviel Umstände gemacht haben konnte. Sonst wäre Ahmed nicht so schnell verschwunden.

Ich erklomm einen kleinen Felsen, um mich dem Hubschrauber bemerkbar zu machen, und wenig später fiel sein Schatten auf die Wände. Bald hatte er mich ausfindig gemacht. Auf der Strickleiter stieg ich zu ihm empor.

,Schnell!‘, rief ich. ,Richtung Wildenturmgletscher. Der Hund springt wie eine Bergziege.‘