Tandem mit Kettmann - Herbert Friedrich - E-Book

Tandem mit Kettmann E-Book

Herbert Friedrich

0,0

Beschreibung

Dieser Band präsentiert acht Erzählungen, die unterschiedlicher kaum sein können, aber dennoch eines gemeinsam haben: Sie handeln von Entscheidungen, von Pflichtbewusstsein und Verantwortung, von Schicksal und Moral. Da kommt es in der Titelgeschichte zu einem Streit zwischen zwei Freunden, weil sich der eine mit den Federn des andern schmückt. Und seitdem heißt er für seinen Freund nicht mehr Lutz, sondern nur noch Kettmann. Ein siebzehnter Geburtstag wird auf ganz ungewöhnliche Weise gefeiert. Von einem der erbärmlichsten Radrennen, das der Held je gefahren ist, ist die Rede. Denn er hatte es nicht zu Ende gefahren. Und eine Jungen-Freundschaft hat sich erledigt. Etwas Ungewöhnliches passiert an einem Sonntag auf der Pioniereisenbahn. Und es geht noch einmal gut – wenn auch knapp. Ein Garten wird verkauft. Ein Garten mit vielen Erinnerungen. Eine Straßenkreuzung erzählt Geschichte – deutsche Geschichte und eine ganz persönliche. Ein Großvater beantwortet seinem zehnmal jüngeren Enkel Fragen zu einer berühmten Expedition eines Niederländers und noch manches mehr. Und er baut ihm ein Schiff. Und er hat seinen Enkel ausgerüstet für die tausendtausend Fernen und abertausend Wunder der Welt. Auf einer Urlaubsreise in die Slowakei folgt eine Tochter den Lebenspuren ihres Vaters, die viel mit einem früheren Krieg zu tun haben. Und ein fremdes Land und seine Menschen rücken den Gästen aus der DDR näher.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 266

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impressum

Herbert Friedrich

Tandem mit Kettmann

ISBN 978-3-96521-571-9 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch erschien 1973 in Der Kinderbuchverlag Berlin

Für Leser von 12 Jahren an

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

Tandem mit Kettmann

Heute hat Heidenau seine Sensation; ich fürchte nur, dass es keiner merkt. Sechstausend Besucher fasst die Bahn gut und gern, hundert sind schon da. Es ist ein schöner, direkt sommerlicher Maisonntag, ein Wetter, bei dem ich schon immer gern Rennen gefahren bin. Heute starte ich auf dem Tandem.

Vielleicht, denke ich, während ich mich in dem stickigen Raum unter der Tribüne umkleide, vielleicht wären mehr Zuschauer gekommen, wenn mein Name in Fettdruck auf dem Plakat gestanden hätte: UDO NOACK; das müsste die Leute locken. Natürlich ist das Unsinn, denn keiner kennt mich, ich gehöre gottlob noch zur Jugend, zehnte Klasse einer Oberschule in Dresden, wer es wissen will. Und mit dem gedruckten Namen, das ist eine Flause, weil ich gestern Pech hatte mit so etwas Ähnlichem. Schuld daran trägt Kettmann, der Mann hinter mir auf dem Tandem.

Kettmann, den ich früher Lutz nannte, ist dürr und hakennasig, von sehniger Gestalt, ein richtiger Sprinter. Wenn er lacht, reißt er alle mit. Bei einem Unfall im Bad vor einem Jahr hat er sich zwei Zähne ausgeschlagen. Seitdem wirkt sein Gesicht, als mache er sich über alles lustig. Ich will nicht sagen, dass ich hübscher bin, ich bin etwas zu lang geraten, ebenso meine Nase, und mein Kinn gleicht dem eines Zirkusclowns.

Von Kettmann stammt die Idee mit dem Tandem. Einen Winter über habe ich versucht, ihm diesen Unsinn auszureden. Zwei Mann auf einem Rad, und dann treten. Statt eines „Trabant“ musst du plötzlich einen Fernlaster steuern. Habe ich geredet! Drei Tandems vielleicht in der Kurve in vollem Spurt übereinander, und einer versteuert sich, peng! Es ist nicht auszudenken. Ich kann mir nicht helfen, seit meinem Sturz bin ich empfindlich.

Seit meinem Sturz im Training an einem der ersten Tage, als wir nach dem langen Winter wieder auf die Bahn konnten, hatte es Kettmann allerdings leichter, seinen Plan mit dem Tandem durchzusetzen. Meine Schrammen an Oberschenkel und Ellbogen heilten schnell. Mein Vorderrad aber konnte ich in die Müllgrube werfen. Und hier und da noch etwas verbogen, Pedale, Gabel. Angesichts dieses Wracks lächelte Kettmann nur. „Lass mich nur machen Das kriege ich wieder hin.“

Der Teufel musste mich geritten haben, dass ich Kettmann mit diesem Haufen Draht und Blech davonziehen ließ.

Kettmann grinste. „Jetzt fahren wir Tandem.“ Und jetzt konnte ich aus zwei Gründen nicht mehr ablehnen, sagt selbst: Nun hatte ich kein Rad mehr zum Trainieren, obwohl mir Trainer Jendreck eine Maschine mehr schlecht als recht zusammenschusterte. Und nun hatte ich Kettmann dankbar zu sein, weil jener mir alle Scherereien mit meinem kaputten Schlitten abgenommen hatte.

Natürlich verstand es Kettmann, den ich damals noch Lutz nannte, die Reparatur an meinem Rad so lange hinauszuzögern, bis ich einigermaßen gut Tandem fuhr. Und zwar so gut, dass es sogar Trainer Jendreck begeisterte.

Dort von der Decke herab hängt mein Rad, das dritte von links, wer es wissen will, an so ’nem Metzgerhaken. Kettmann hat gut gearbeitet, alles, was recht ist. Noch ist der Umkleideraum leer, weil ich so zeitig gekommen bin, und ich beeile mich, denn Kettmann zu sehen, verspüre ich wenig Lust.

Einmal habe ich Gedichte geschrieben. Das wissen viel zu viel Leute. Ein schreibender Sportler bin ich sozusagen. Was ich werden will? Sportreporter oder Redakteur oder so etwas, wer mich fragt. Da gibt es schon eine Menge, woran ich Spaß hätte. Auch Sportlehrer. In der siebenten Klasse dichtete ich etwas vom Dresdner Striezelmarkt, was es da alles so gäbe. „Für die Kinder Bilderbücher, für die Alten wollne Tücher …“ und so weiter. Trainer Jendreck hatte einmal eine Sportwerbegruppe auf dem Hals, die rasch noch eine Zugnummer brauchte. Da schrieb ich eine Moritat vom bienenfleißigen „Karlchen Stubenrauch“, der Tod und Teufel wusste und an einem Wort scheiterte, das er nie gehört hatte: Sport. Seitdem hat Trainer Jendreck etwas für mich übrig, und wenn ich mal auf der Bahn kein Bein herumkriege, begnügt er sich mit einem Knurren, wo er jeden anderen weiß Gott wie abgekanzelt hätte.

Vielleicht sind jetzt schon hundertfünfzig Besucher da. Ich nehme mein Rad vom Metzgerhaken und schiebe es an die Bank, auf der meine Sachen liegen. Dann hänge ich den Kompressor ans Ventil und gebe Luft auf die Reifen. Kettmann muss bald kommen.

Selbst dem Kettmann hat mein „Karlchen Stubenrauch“ gefallen, obwohl er vorher nie etwas gesagt hatte. Kettmann geht auch in die zehnte Klasse, allerdings in einem anderen Vorort, ein knappes Dutzend Kilometer von mir entfernt. Er wohnt am „Anker“, wo die Bahn nach Kleinzschachwitz abzweigt, wenn einer mal pfeifen will.

Ich wollte ihn zum Training abholen, mit dem Rad, versteht sich. Bis Heidenau sind es von da vielleicht noch fünf Kilometer. Er aber bugsierte sein Rad durch das Hoftor und stellte es gegen den Zaun, wo er es anschloss. „Komm“, sagte er und zog mich über die Straße; ich huschte gerade noch an dem Linienbus vorbei; der Fahrer drohte mit der Faust. „Was willst du?“, fragte ich.

Kettmann ging mit seinem verdammten Lächeln auf das Eckhaus zu, genauer: auf die Milchbar, aus der ein weiß gekleidetes Mädchen Gartenstühle herausschleppte, weil dieser Apriltag wirklich sehr sonnig war. Kettmann nahm dem Mädchen die Stühle aus der Hand, klappte sie auf, stieß mich auf einen davon, pilgerte hinein, brachte ein rundes Tischchen an, bestellte bei der Weißgekleideten, die sehr nett war, Obsttorte mit Schlagsahne. Ich schaute auf Kettmann. „Hast du Geburtstag?“

Kettmann hat da nie Geburtstag, er hat am Weihnachtsabend Geburtstag, er beklagt sich jedes Jahr darüber. Kettmann, den ich damals noch Lutz nannte, fragte: „Wie geht’s mit deinem Bein?“ Aber zu diesem Zeitpunkt waren wir schon ganze zehnmal mit dem Tandem gefahren!

„Also, Lutz“, bohrte ich, „hast du ’ne Eins in der Mathearbeit?“ Auch dies wäre kein Grund zum Feiern gewesen, denn die hatte Lutz immer. Er träumt von Datenverarbeitung oder so. Vielleicht schafft er’s.

Ich aß jedenfalls erst einmal die Obsttorte – Banane war drin – und die Schlagsahne; ich kann es vertragen, bei mir schlägt so was nicht an. Mutter barmt immer, ich müsste was mehr auf den Rippen haben. Und als ich ziemlich fertig war mit Sahne und Torte und inzwischen bereits der dritte Linienbus gekommen war, der auch jeweils hinaus will nach Heidenau, sagte Kettmann: „Wir müssen mal in Ruhe reden.“

Es war ein Nachmittag, an dem Lutz sogar das Tandem vergessen hatte. Ich sann, was er hatte. Eine Freundin? War er krank?

Lutz begann mich zu loben, besonders „Karlchen Stubenrauch“, der soviel weiß, der so wunderbar glatt gereimt wäre und so witzig. Wie ich das hingekriegt hätte! Kettmann unterbrach seine Lobeshymnen durch ein Seufzen, leckte dann die Spuren der Sahne vom Löffel, blickte nach seinem Rennrad, vor dem Kinder standen; ein Anblick, der ihn sonst wie vom Affen gebissen über die Straße hätte rennen lassen.

„Hör mal, Udo“, sagte er, „auf was für Gedanken die Lehrer manchmal kommen …“

Ich hörte. Speziell meinte er die Gedanken seiner Lehrerin Günzel, die mir ausnehmend gut gefiel; ich hatte sie einmal in der Jugendherberge gesehen.

„Sie will ein Gedicht“, seufzte er. „Von jedem von uns sechsunddreißig in der Klasse, so viel kann doch kein Mensch lesen.“

Ich fragte: „Wozu Gedichte?“

„Als Aufsatz oder so. Als Übung. Vielleicht will sie auch ein Buch herausgeben. Wir haben über DAS GEDICHT gesprochen, Reim, Rhythmus, jetzt sollen wir’s selber probieren.“ Er drang auf mich ein. „Ich sitz in der Klemme.“

Mein Magen rebellierte, wahrscheinlich hatte ich zu hastig gegessen, ich brauchte ein wenig Bewegung. Schon kam der nächste Linienbus. Auf unseren angeschlossenen Rädern turnten die Kinder der ganzen Umgebung. Man hörte durch das Rasseln der Straßenbahnen hindurch unsere Schalthebel krachen. „Also, wie kann ich helfen?“

„Schreib mir das Gedicht!“

Mein erster Auftrag also. Konnte ich abschlagen? Er hatte gerade meine Bahnrennmaschine zur Reparatur übernommen. Er hätte mir noch einmal Schlagsahne bestellt. Ich konnte nicht abschlagen. „Gut“, sagte ich und erhob mich. „Was soll drin stehen?“

Er war sichtlich erleichtert. „Mann, du rettest mich.“ Er stürmte in den Laden, um zu bezahlen, rannte, herausspringend, beinahe einen Herrn an der Tür um, packte mich beim Arm. „Alles kannst du hineinschreiben in das Gedicht, was dich bewegt. Oder was du siehst. Oder etwas vom Frühling.“ Das war freilich alles nicht sehr genau.

Ich bin ein Esel. Zu diesem Zeitpunkt, vor der Milchbar in Leuben, hätte ich es in der Hand gehabt, das Tandem für allezeit zu verbannen. Etwa so: Dein Gedicht kriegst du. Aber auf ein Tandem steige ich nie wieder. Mit dem Gedicht wäre die Radreparatur auch erstklassig bezahlt gewesen, man hätte das Tandem hinwegfegen können. Aber da hatte mich dieses ungefüge Monstrum, dieser lange zweisitzige Schlitten schon selber gepackt. Die ersten aus der Jugend auf dem Tandem, und Trainer Jendrecks glänzende Blicke!

Am nächsten Tag war ich weniger begeistert. Ich lief in meinem winzigen Zimmer auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Von unten hörte ich den Fernsehapparat, vor dem Vater und Mutter saßen. Nichts gegen meinen Vater, dieses Zimmer im Dachboden hat er allein ausgebaut, Zwischenwand eingezogen und so. Wenn ich zum Fenster hinausblicke, sehe ich die Elbe, die Loschwitzer Brücke. Als ich wie eingesperrt in meinem Käfig herumjagte, als ich Russisch hinter mir hatte und Biologie und die ganze Seifenherstellung schon durchgeackert hatte, war es freilich schon viel zu finster, um noch die Elbe erkennen zu können. Und ich hatte noch Lutz’ Gedicht auf dem Halse!

Ich reimte, ich sann, überlegte. Wenn ich zwei Wörter gefunden hatte, die zueinander passten, war ich heilfroh. Ich hörte meinen Vater lachen. Hohoho, ganz tief. Natürlich konnte ich etwas über meinen Vater schreiben, wie der da so in seinem Turmdrehkran hockt und die Häuser hinaufzerrt. Aber mein Vater war nicht Lutz’ Vater. Oder von unserer Katze, die sich mit jedem Köter zankt. Aber Lutz hatte nicht mal ’nen Goldfisch. Ich ging ein Dutzend Möglichkeiten durch und verwarf alle. Nicht Stubenrauch und Striezelmarkt. Zuletzt dachte ich an den Frühling, an die Natur. Vier Wochen vorher war ich mit Lutz, den ich heute Kettmann nenne, in der Sächsischen Schweiz gewesen; ein wunderbares Training im dreißiger Schnitt, und dann von Postelwitz in den Lattengrund zur Schrammsteinaussicht hoch, zwischen Schneefeldern und Sonnenbrand. Stiege um Stiege, wir hatten nicht gejappt, so waren wir in Form.

Aber jetzt rang ich nach Luft, jetzt stöhnte ich wahrhaftig. Und dann bohrte sich in mir fest, dass ich vom Frühling schreiben müsste, weil Lutz da wenigstens dabeigewesen war, als wir die Schrammsteine hochkrochen. Plötzlich lief es von allein, wirklich. Hier habt ihr’s:

„Still liegt die Klamm, im kalten Schatten

der aufgetürmten Sandsteinquader.

Die Sonne trifft die Gipfelplatten,

doch nicht des Grundes Wasserader …“

und so weiter. Dergestalt reimte ich drei Strophen. Als ich es dann durchlas, fand ich es für Lutz viel zu gut, wirklich. Ich hätte ebenso gut vom Tandem schreiben können.

Ich war in Schwung an jenem Abend. Leiser Regen trommelte plötzlich auf das Blech am Fenster. Ich stand da und sah die Lichter von der Loschwitzer Brücke. Und ich fand noch ein Gedicht. Eines vom Herbst.

Vielleicht kam die viel beschäftigte Frau Günzel, die ich mochte, nicht gleich zum Korrigieren, und die Monate vergehen so schnell, und vielleicht gefiel dem Lutz das Frühlingsgedicht nicht, und ich wollte Rennen fahren, endlose Straßen hinuntertigern, um die Bahnen kurven, he, he, heee! Fahr zu, Junge, tritt los! Langsam schneller werden! Udo, Udooo! Kein Mensch, der nicht gefahren ist, weiß, was das für Musik ist. Man möchte sie nie mehr missen. Kurz: Ich wollte das ganze Jahr kein einziges Gedicht mehr schreiben.

Das Herbstgedicht ging so – wer mal eins braucht:

Die Stämme der Bäume

waren die Grabmäler ihrer eigenen Blätter.

Kein Auge hat soviel Tränen

wie der Himmel.

Ein Mann lachte froh.

Wessen Brief las er?

Am nächsten Tag hockte ich auf dem Tourenrad an der Bewehrung in der Tribünenkurve und wartete ungeduldig auf Lutz. Als ich ihn mit geschultertem Rad über die Traversen steigen sah, pfiff ich. Ich holte die Blätter unter dem Trikot hervor und präsentierte sie ihm wie einen Schatz. Natürlich war ich stolz, vor allem, als er beim Lesen schmunzelte. „Mann“, lobte er, „du bist nicht mit Gold zu bezahlen.“

Leider trieb uns dann Trainer Jendreck zum Start. Später stiegen wir auch aufs Tandem.

Meine Bahnrennmaschine ist fertig, Luft, Tretlager, alles okay. Auf ihr werde ich zum Verfolgungsrennen starten. Im darauffolgenden Rennen allerdings … Bäre kommt herein, der meinen Sturz im Training verursacht hat, die ganze Meute, Lärm und Fragen, die letzten Witze. „Wie rollt das Tandem?“ Ich gebe Antwort. Sie werden Augen machen! Ich sitz ja am Lenker! – Ich hocke mich vor dem Umkleideraum ins sonnenwarme Gras.

Ja, und dann kam die Sache mit Hippe. Hippe ist mein Lehrer, müsst ihr wissen, Deutsch und Geschichte. Ein kleiner, gedrungener Mann mit kurz geschorenem Haar und rundem Kopf, ein ehemaliger Boxer, den nichts erschüttern kann – das ist Hippe. Vor allem hat er ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Als er Aufsicht hatte, winkte er mir. Ich schob den letzten Bissen zwischen die Zähne und rieb die Finger am Taschentuch ab, dann rannte ich hin.

„Udo“, sagte Herr Hippe, „was macht der Striezelmarkt?“ Eine solche Frage mitten im April lässt aufhorchen. Nachdem sich Herr Hippe solcherart vorgetastet hatte, ging er zum Angriff über. „Udo, Sie schreiben doch Gedichte. Haben Sie etwas da?“ Herr Hippe überrollte mich, ich kam nicht zum Reden, tatsächlich. „Es läuft ein Leistungsvergleich Junger Künstler. Wir wollen Arbeiten einreichen.“ An dieser Stelle wurde Herr Hippe etwas unruhig, weil die Schulglocke bimmelte; die Schüler jagten zum Hauseingang. Gedehnt fragte Herr Hippe: „Also, Udo …?“ Da ging ich zu Boden. Ich habe ein viel zu schwaches Herz. Ich sagte: „Ich bring morgen was mit.“ Zufrieden schnaufte Herr Hippe davon, um die Zeremonie des Einmarsches in das Schulhaus zu leiten. So kam Herr Hippe zu dem Frühlings- und dem Herbstgedicht.

Habe ich schon gesagt, dass Lutz, den ich heute Kettmann nenne, schon eine geraume Zeit neben mir im Gras in der Sonne vor dem Umkleideraum sitzt? Am Baum steht das Tandem. Na warte.

Vergangenen Mittwoch beim Treffpunkt Olympia auf der Bahn habe ich zu Lutz gesagt: „Lutz. Auch wenn wir am Sonntag unser erstes Rennen auf dem alten Schinken von Tandem fahren wollen, es hilft alles nichts, ich kann am Sonnabend nicht noch einmal trainieren kommen. Meine Eltern, die fressen mich noch, nie bin ich da. Am Sonnabend geht’s nach Bärenburg. Tante Anna hat Silberhochzeit, da muss ich absolut mit.“

Lutz’ Augen hättet ihr sehen sollen, schmal und boshafte Fünkchen darin.

Dann ging die Tirade los. Wie ich mir das dächte, nutzlos herumgehetzt, Erfolg in Frage gestellt, nur diesen Nachmittag noch, fahr später, fahr nach, sei kein Esel. Und dann, endlich einlenkend: Nun ja, wenn es sein muss. Gut in Schwung wären wir ja. Aber keinen Schluck Wein soll ich trinken. Und zeitig ins Bett, so eine Silberhochzeit kostet Kraft, ich soll an das Tandem denken. Ich war heilfroh, als ich Lutz soweit hatte.

Am Sonnabend, also gestern, vor vierundzwanzig Stunden, fuhr ich für Lutz: mit den Eltern nach Bärenburg zur Silberhochzeit, für die Eltern: mit Lutz zum Training auf die Heidenauer Bahn. Selber saß ich allerdings in der Straßenbahn, die mich hinaus nach Radebeul ruckelte. In der Tasche hatte ich eine Einladung zum Bezirksleistungsvergleich Junger Künstler, Sparte Dichtkunst. Kann man so etwas seinen Eltern sagen? Oder dem Lutz? Es konnte in Radebeul alles schiefgehen, nicht wahr?

Lieber hätte ich die zwanzig Kilometer nach Radebeul mit dem Rad heruntergetreten, aber ich trug meine beste Hose. Wie ich die aus dem Haus geschmuggelt hatte, ist eine Geschichte für sich.

Ja, Herr Hippe hatte sich gerührt, hatte meine Gedichte weitergegeben. Da saß ich Junger Künstler nun. Als die Bahn über den Postplatz holperte, suchte ich die Uhr. Es war noch viel zu früh. Ich blickte auf die Straße, auf die Zusteigenden, die Ausflügler, die das herrliche Maiwetter hinauslockte, nach Moritzburg, zu den Waldteichen. Ich hätte sie alle einen Tag später in Heidenau haben wollen, wenn ich auf das verdammte Tandem steige.

Lutz, der jetzt wortlos neben mir sitzt, weiß noch nicht, dass ich einfach nicht treten werde. Mich juckt es zu lachen: Er tritt in die Pedale – ich lass mich spazieren fahren, garantiert!

Ich schaute hinaus aus meiner Straßenbahn, zwischen den Dreckspritzern durch, und kam von Haltestelle zu Haltestelle Radebeul näher. Ein bisschen Herzklopfen hatte ich doch. Und als ich so fuhr auf meinem Sitz hinter der heißen Scheibe, kam mir eine Fabrik ins Blickfeld – irgendwelche Maschinen –, das Tor, das Pförtnerhaus, die lange Fassade, und daran eine Tafel von gewaltigem Ausmaß: „Wir grüßen unsere jungen Pioniere“. Ich drückte die Nase an das Fenster, verrenkte mir den Hals, dann war ich vorbei. Es gab aber keinen Zweifel. In der Schrift auf dem Transparent steckte ein Fehler. Ich schüttelte den Kopf, schob die Manschette von der Uhr. Ich wäre eine Stunde zu früh in Radebeul angekommen. Ich stand auf, drängte mich zum Ausgang, lange hielt die Bahn nicht. Die besagte Maschinenfabrik musste schon am Horizont liegen. Schließlich konnte ich aussteigen. Ich trabte zurück. Nassgeschwitzt – das bügelfreie Hemd – gelangte ich vor Transparent, Fassade, Pförtnerhaus.

„Bitte?“, fragte der Pförtner und strich sich den Schnurrbart.

„Sie haben da ein Transparent.“

„Ah, die Pioniere. Wir erwarten morgen eine Delegation. Torte, Tauziehen, Sie sollten mal sehen, was morgen hier los ist.“

Ich nickte. „Schade. Ich bin schon älter. Aber in Ihrem Transparent, da steckt ein Fehler.“

Der Pförtner äugte mich an, dann schlängelte er sich aus dem Häuschen. Neben mir blickte er zu den Buchstaben hoch. „Tatsächlich“, murmelte er, „wer hat denn das ‚Junge‘ klein geschrieben …?“ Er drückte mir die Hand, ich trabte zufrieden zur Haltestelle, das letzte Stück lief ich mit einer Bahn um die Wette. Lutz hatte keinen Grund, mich zu tadeln: Ich versuchte, in Form zu bleiben.

In letzter Not erreichte ich das Trittbrett, die Bahn ruckte an. Ein Mädchen half mir vollends hinauf. Sie war hübsch, ihr solltet sie sehen.

Lutz hat eine Chance mit dem Tandem. Wenn Anita heute am Ziel sitzt, hier auf der Radrennbahn zu Heidenau, ist alles vergeben und vergessen.

Anita ist klein, dunkel, stupsnäsig und hat Augen, die man nicht beschreiben kann. Zwei Haltestellen weiter stieg sie aus. Wie ich. An der nächsten Ecke bog sie rechts ein, wie ich. Und dann links. Und dann merkte ich, dass sie – wie ich – den kleinen Pappschildern folgte: „Zum Bezirksleistungsvergleich Junger Künstler.“ Daraufhin sprach ich sie an. Sie lächelte. Sie hatte eine dunkle, melodische Stimme. Sie schrieb auch Gedichte. Ich gestehe es nicht gern: Anita gefiel mir außerordentlich.

„Setzen wir uns dort in die Anlage?“

Sie war einverstanden. Mit der Fußspitze zeichnete ich Figuren in den Sand. Später zeigte sie mir ein Gedicht: Warum sie gern lebt, was ihr gefällt. Es war toll gemacht. Man glaubte ihr jedes Wort. Donnerwetter.

„Und deine Gedichte?“ Sie fragte, sie ließ nicht locker, sie war hartnäckig. Und neugierig. Ich ließ mich natürlich gern betteln. Sehr wohl war mir aber nicht, als ich mit meinen Arbeiten herausrückte. „Frühling“ und „Herbst“.

Sie sagte: Sandsteinquader. So ein Wort ist viel zu schwer an dieser Stelle, zu plump, das erschlägt alles. Gipfelplatten, Wasserader –lauter zusammengesetzte Substantive.

Ich spitzte die Ohren.

Und dann das andere, der Herbst: die Grabmäler, kein Auge hat soviel Tränen wie der Himmel. Ob ich ein Trauerkloß sei oder Ärger hätte. Aha, der Schluss. Ein Mann lachte froh. Wessen Brief las er? Sie sah auf mich, lächelnd.

Wessen Brief? Im Zahlenlotto gewonnen, angenommen fürs Studium, vorgesehen für Weltraumflug, im Rennen gesiegt. Freundin gefunden? Ich schielte auf sie.

Sie begann auf einmal hastig, ihre Blätter in eine Mappe zu legen. „Weißt du, wie spät es ist? Vor einer halben Stunde hat es angefangen.“ Wir rannten los, lachend.

Glücklich trat ich in den kleinen Raum, in dessen Stille ein bezopftes Mädchen etwas vortrug. Ich war sehr froh, weil Anita meine Gedichte nicht in Bausch und Bogen verworfen hatte. Neben ihr stand ich an der Tür, hinter dem Rücken von zwei Dutzend anderen.

Ein Herr vom Tisch der Jury – Brille und Halbglatze – blinzelte mich an, als hätte ich es nötig, dass mich einer ermutigte.

Das Zopfmädchen trat ab, man spendete Beifall. Und dann, dann ging alles sehr schnell, dann hätte ich einen Stuhl gebraucht. Dann sagte der mit Brille und Halbglatze: „Und jetzt kommt Lutz Kettmann.“

Es hieb mich um.

Da rekelte sich wirklich ein Rücken hoch aus den Stuhlreihen, da ging der Kettmann vor zum Jurytisch, während ich schluckte. Da drehte er sich um, setzte zur Rede an, erblickte mich an der Tür – immer noch neben Anita – und verstummte. Gallig schlich sich eine Freude in mir hoch, wie er da vorn am Tisch hing und nicht wusste, was er sagen sollte.

„Lutz Kettmann“, erklärte der Bebrillte mit sonorer Stimme, „bringt zwei Gedichte aus ganz verschiedenen Jahreszeiten. Na, wollen wir mal hören.“ Nun nickte er Kettmann zu, der konnte Ermunterung gebrauchen. Schadenfroh spürte ich, wie Kettmann nicht aus noch ein wusste. Und dann fing der Bebrillte an zu lesen, für Kettmann, weil dieser „solches Lampenfieber“ habe. Der Frühling. Die Sandsteinquader, die schweren, wuchtigen Dinger. Der Herbst. Die Stämme der Bäume. Alle Achtung, meine Gedichte klangen; der Bebrillte trug sie ausgezeichnet vor.

Leider spürte ich, wie Anita mit fortschreitendem Vortrag mehr und mehr von mir abrückte. Sie rümpfte die Nase. Ihr Blick, den sie mir zuwarf, war Eis. Sie drehte mir den Rücken zu. Anita! – Ich bekam eine Wut auf den Kettmann. Meine Gedichte! Der Bebrillte sprach dumpf: „Ein Mann lachte froh. Wessen Brief las er?“

Da sagte ich laut in das andächtige Schweigen: „Der las in dem Brief, dass der Udo Noack nie mehr auf ein Tandem steigt.“ Sprach’s und ging. Der Aufruhr war groß. Sie hätten mich ohnehin hinausgeworfen. Den Blick von Anita werde ich nie vergessen. Das war gestern.

Kettmanns Rad stand vor dem Kulturhaus an der Treppe. Ich kenne doch Kettmanns Drahtesel. Dass ich ihn nicht beim Hineingehen gesehen hatte! Es hätte mich gewarnt. Ich marschierte zurück zur Haltestelle. Mit einer Mordswut im Leib wartete ich auf die Straßenbahn. Da preschte Kettmann auf dem Rad heran. „Mann, nun erschlag mich nicht!“ Er rang die Hände.

Nicht zur Silberhochzeit hätte er mich fahren lassen! Ich sagte ihm das. Er hob verzweifelt die Schultern, grinste entsetzlich mit seiner Zahnlücke, beschwor mich. „Udo!“ Er hatte nie sagen wollen, dass die Gedichte von ihm seien; in Vertretung, in Vertretung hatte er sie vorlesen wollen! Ja, glaub ihm das einer. Die Frau Günzel, die ich mochte, die hätte so herzlich darum gebeten. Und noch vieles mehr. Wie der Blinde zur Ohrfeige sei er dazu gekommen! Ich lachte auf. „Such dir ’nen anderen für’s Tandem.“

Es ging ihm an die Nieren. „Als du weg warst: Ich habe gesagt, es sind nicht meine Gedichte, es ist ein Irrtum.“ Stelle sich einer das Gelächter vor. Sie haben sich totgelacht über uns. Vor Anita!

Ich sagte: „Eine Chance hast du, Bursche. Mach das alles Anita klar, neben der ich an der Tür stand. Such sie, finde sie. Schlepp sie an, morgen, auf die Bahn, nach Heidenau. Setz sie ans Ziel, damit ich weiß, dass du ihr alles erklärt hast. Sie soll uns Tandem fahren sehen. Oder ich steig gar nicht erst auf.“

Lutz, den ich seitdem Kettmann nenne, sitzt nicht mehr neben mir im Grase. Die ersten trudeln sich auf der Bahn ein. Ich nehme meine Rennmaschine und hebe sie über die Bande. Eine Runde fahre ich und schaue zum Ziel; ich lege dort sogar einen Stehversuch ein und blicke in die Zuschauer. Anita sehe ich nirgends.

Langsam rolle ich vom Beton, es ist sehr heiß, und Schatten ist rar. Ich stapfe über den Rasen. Aus dem Tunnel, die Stufen herauf, wuchtet Lutz das Tandem. Er schwitzt und ächzt: „Keine Anita zu finden, weiß der Himmel.“ Seit gestern ist Lutz ein geschlagener Mann.

Ich packe das Tandem am Lenker, wo mein Platz ist, und schieb es zum Start. „Lass man, Lutz. Das Mädel find ich schon wieder.“

Zwischen den Brücken

„Um den nördlichsten Punkt des europäisch-asiatischen Festlandes, das Kap Tscheljuskin, leiteten drei Eisbrecher in fünfundsiebzig Stunden einen Schiffskonvoi aus dem sowjetischen Hafen Murmansk“, sagt der Nachrichtensprecher. Er spricht unvollkommen, er sagt: „… ur … ansk“ und „… eter … ickes Packeis  …“

„Wackelkontakt“, stellt der magere, rundrückige Junge auf der Brücke fest, was überflüssig ist, da es sein Freund ohnehin hört. Ganz vorn sitzen sie, auf der Pfeilernase über dem Strom, mit dem Rücken gegen das Gitter.

Der Magere schiebt vorsichtig das schwarze Tragetuch zurück, in dem sein rechter Arm hängt, und packt mit beiden rissigen, hornhautbedeckten Händen das Transistorradio, wobei er leicht gegen dessen Rückwand drückt. „Das hilft immer.“

Der Sprecher ist schon beim Wetterbericht. Trockenheit, Waldbrandgefahr, tropische Temperaturen; ohne Stottern diesmal. Vorsichtig stellt der Junge das grün-beige „Sternchen“ neben sich auf die warmen Steine. Wenn er es zu sehr kippt, ist der Ton weg.

Der Freund zieht die Knie an und spannt seine Arme um die Unterschenkel; er pfeift mit, weil das Radio nun Musik bringt: Mach mich mit dem Schlankheitstee nicht krank …

Eine Stunde schon suchen sie Dietmar. – Der Freund unterbricht das Pfeifen und deutet auf den eingebundenen Arm. „Schmerzen?“ „Warum?“

„Du bist sonst lustiger, aufgekratzt, weiß der Teufel. Du ziehst ein Gesicht …“

Der Junge lacht, es wirkt schwach, Frank heißt er, Frank Reichert, während sie den anderen, der schon wieder beim Pfeifen ist, Spatz nennen; die Familie heißt Sperlich. Hier auf der Brückennase, auf dem Altan über dem Wasser, sitzt Frank Reichert mit dem sorgfältig gekämmten, rundgesichtigen Spatz an seinem siebzehnten Geburtstag, von dem Spatz keine Ahnung hat, von dem keiner was wissen soll, so hat er sich’s ausgedacht. Aber lustig will er doch sein, ein wenig lachen, einen Haufen vergessen, etwas anstellen, auch wenn man krank geschrieben ist. Dietmar hat den Gedanken gehabt, sich einmal auf ganz verrückte Art zu treffen, einen blauen Tag einzuschieben, Frank hat das Datum vorgeschlagen: heute!, um ihn herauszuheben, seinen Geburtstag, aus grauem Einerlei. Allein ist der Mensch nichts. Sein Bier im Mitropakeller kann er auch mit der linken Hand kippen. Dietmar wird sie nicht sitzenlassen, er kennt Dietmar, sie haben einmal in derselben Straße gewohnt. Mit Dietmar wird es lustig, verrückt wird es, er ist sich’s gewiss.

Die Sonne brennt an diesem Julitag schon am zeitigen Vormittag. Die Brücke hat gestöhnt unter der Last des Berufsverkehrs. Wenn die Ampel an ihrem Ende Rot anzeigte, hatten sich die Autos gestaut bis zum höchsten Punkt ihrer Krümmung. Jetzt ist es ruhiger geworden. In den halb leeren Straßenbahnen sitzen schon Leute mit Baderollen.

Frank steht auf, wobei er den schwarz verhüllten Arm von sich abwinkelt. Das Radio spielt zu seinen Füßen. Er hört Spatz von seinen Geschwistern erzählen, sechs sind es insgesamt, was auch kein Zuckerlecken ist, drei unterschlägt Spatz, die schon verheiratet sind, der Kleine hat heute morgen den Kaffee umgeschüttet, Vater erwartet hundert Zentner Briketts und wird froh sein, die Kohlen im Keller zu haben, damit das Archiv, von dem er Hausmeister ist, im Winter nicht zueist. Das alles hört Frank in Spatz’ schneller Redeweise. Spatz hat es verhältnismäßig leicht gehabt, heute davonzukommen, sechs Geschwistern etwas vorlichtern und dem Vater, der auf einen Kohlenschaufler gerechnet hat. Seit drei Tagen hat Spatz die zehnte Klasse hinter sich. Er ist entsprechend glücklich. Frank schaut zum Bauplatz der neuen Brücke hinüber, der fünfhundert Meter stromab liegt. Er hätte das Archiv gern einmal gesehen, was Spatz weiß, aber nicht zustande bringen kann. Archiv – das klingt nach alten Handschriften, Hieroglyphen, nach Landkarten und Abenteuern, obwohl dort nur alte Zeitungsbände der Stadt liegen sollen, wie Spatz gesagt hat.

Die neue Brücke schiebt sich links bereits über das Wasser und bricht vor der Fahrtrinne ab wie ein Sprungbrett. Ein Nadelöhr für die Schiffe der Weißen Flotte, für die Schleppkähne. Zwischen eingerammtem Pfahlwerk und dem einzigen Strompfeiler müssen sie sich hindurchfädeln. Auch vom Strompfeiler aus ist nun ein Teil nach dem rechten Ufer zu betoniert, das Lehrgerüst erstreckt sich viel weiter. Wie viel Meter schaffen sie in der Woche?

Franks dritter Vater hat ihm heute Morgen – auch siebzehn wird man nur einmal – ein Jugendlexikon geschenkt. Wenn man sich eine entsprechende Brille vor die Nase hält, sieht man die abgebildeten Maschinen plastisch. Archiv, Kap Tscheljuskin – er kann viel nachschlagen. Mit Milch haben sie angestoßen, weil Franks dritter Vater Minuten später mit der „Schwalbe“ zum Betonwerk hinaus muss, das am Stadtrand liegt. Ein Stück Torte haben sie verdrückt unter Mutters glücklichen, geröteten Augen.

Franks dritter Vater hat ihm das Transistorradio überlassen, leihweise auf Lebenszeit, wenn man so sagen will, damals, als er Frank kurz entschlossen aus dem Heim geholt hat. Heimkind, Sorgenkind, Aufsässiger, Trotzkopf, Großmaul. Nun ist man siebzehn. Und Lehrling. Auf dem Bau werden sie jetzt Kalk rühren.

Das Radio verrät Winke für die Hausfrau. Spatz Sperlich klopft sich die Hosen sauber, von denen das Gerücht geht, dass sie zwei seiner Brüder schon getragen hätten. Wennschon … „Du wirst sehen, wenn die Neun b kommt auf ihren verdammten Drahteseln, Dietmar ist dabei und fährt stolz vorüber. Der pfeift auf uns, wir sind dem viel zu blöd.“ Das alles sagt Spatz. Frank ist da anderer Meinung.

Auf dem Strompfeiler der neuen Brücke drüben stehen Männer mit bloßem Oberkörper.

Des dritten Vaters Hände mit dem Lexikon …

Der zweite Vater ist Trinker gewesen, da hat Frank Boxer werden wollen, da hat er Milch geschluckert, um Kraft zu kriegen, und die Schläge gezählt, die er hinnehmen musste und die Mutter, zähneknirschend. Abrechnung mit Zins und Zinseszins im Auge, neun Klassen in die Schule gegangen und sieben geschafft, wo lag Kap Tscheljuskin? In Mathematik ein glatter Versager, „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast“ im ersten Heim, weil es eins von der Kirche gewesen war, und zuvor bei der Großmutter gelebt in dem winzigen Dorf, zwischen Misthaufen und Kikeriki, während der erste Vater im Gefängnis gesessen hatte. Mutters Jagd nach ein bisschen Glück auf dem Rücken des Jungen. Nun also siebzehn. Er sagt: „Ich möcht mich besaufen.“

Spatz stößt ungewollt gegen das Radio, bückt sich und hebt es ihm auf. Frank schiebt es unter die schwarze Binde, es schmerzt nicht, es ist nur irgendwie lästig. Gleichwohl lässt er das Radio liegen. „Liebeskummer?“, fragt Spatz mit leiser Ironie.

Einmal, im Freibad, hat eine Schwarze, Süße von ihm wissen wollen, was er von Beruf ist. „Maurer“, hat er gesagt. „Im ersten Lehrjahr“, hat er schon nicht mehr gesagt, es war ihm zu kläglich. Herr Gott, gib mir Mut! Er hat sie bald stehenlassen. Sein dritter Vater hat irgendwann von der Volkshochschule angefangen.

Er legt den gesunden Arm auf das Brückengeländer. „Warum hast du den Feldstecher nicht mitgebracht?“, tadelt er.

Verdrossen – schlepp ihn heimlich raus unter den Augen von einem halben Dutzend Geschwistern! – sagt Spatz: „Auf der Uferstraße stehen die Bäume so dicht. Da nützt dir kein Feldstecher was, wenn du wissen willst, ob sie schon angefahren kommen.“

Frank Reichert winkt ab. Das will er nicht wissen. Wenn sie angefahren kommen, dann ohne Dietmar. Er ist bereit, jede Wette darauf einzugehen. Er nickt nach dem Brückenbau hin. „Ich will wissen, was sie auf dem Pfeiler da machen.“

Um das Rammwerk, in die Fahrtrinne hinein, biegt ein Motorboot und legt sich an den Pfeiler. Die Männer oben lassen ein Tau hinunter. Was für ein Tau? Warum? Er strengt blinzelnd die Augen an.

„Da sind sie!“ Spatz’ plötzliche helle Stimme reißt ihn herum. Verkehr wogt auf dem Brückenfahrdamm. Zwischen Straßenbahn und Möbelwagen sieht er den ersten Radfahrer.

„Künzel“, sagt Spatz. „Beckert“, sagt Spatz. Sie folgen dichtauf in Kette, manchmal verdeckt von einem Laster, der entgegenkommt, den überholenden Autos. Längst nennt Spatz Sperlich keine Namen mehr. „Elf, zwölf, dreizehn“, zählt er. Frank hält nur Ausschau nach Dietmar.

Spatz kennt die meisten aus Dietmars Klasse, obwohl er ein Jahr älter ist. Die Jungen der Neun und Zehn haben gemeinsam die Turnhalle benutzt, während Frank da schon das Abc des Mauerns erlernte, und vorher das Heim, und vorher der Trinker, da war die Schule am Ufer noch gar nicht gebaut, und vorher die Großmutter – ach, hol es der Teufel.

Frank kennt nur Dietmar, er wird ihn doch nicht sitzenlassen, er wird doch nicht mit der Kolonne an den Knappensee zum Zelten fahren. Eine Zugmaschine mit zwei Zementhängern, Frank reckt den Hals, ein Tieflader, Kabelrollen aufgebockt. „Siehst du Dietmar?“

Spatz ist schon bei fünfundzwanzig mit Zählen. Triebwagen, zwei Anhänger – lange verdeckt die Straßenbahn die Radgruppe. Campingbeutel, braune Beine, die Mädchen tragen zu kurze Röcke. Spatz schätzt nur noch, wie viel es gewesen sein können. Der lange, schmale Rücken des Lehrers Kästner beugt sich gleichmäßig beim Treten. Er fährt als letzter.

„Kästi“, sagt Spatz. „Erhol dich gut, Kästi!“ Spatz schreit es gegen den Motorenlärm. Kästner radelt das Gefälle der Brücke hinunter. „Dem wäre es auch lieber, er hätte die ganze Bande mal vom Hals.“ Kästner hat Spatz’ Abschlussaufsatz mit Eins bewertet. „Seht, Großes wird vollbracht.“

Unbeholfen rückt Frank das schwarze Armtuch zurecht, dann schaltet er das „Sternchen“ wieder ein. Eine Sängerin lobt ihren Bräutigam. War Dietmar nun dabeigewesen oder nicht. Frank zieht die Unterlippe ein. „Los, gehen wir.“ Es ist ja schon egal.

„Dietmar!“, sagt Spatz.

Die Hände in den Taschen, einen gestreiften Beutel baumelnd am Arm, schlendert Dietmar am Brückengeländer entlang auf sie zu. Er grinst über das ganze Gesicht. Er sieht aus wie der Kriminalassistent aus der französischen Reihe im Fernsehen. Frank Reichert lacht froh. „Was hab ich gesagt.“

Spatz überfällt Dietmar mit einem Wortschwall. „An der Kastanienallee haben wir gewartet, du bist nicht gekommen, da sind wir zu deiner Mutter, keiner zu Hause, die Nachbarin sagt, du bist mit dem Rad in die Schule, wir haben uns auf der Brücke postiert, eine geschlagene Stunde, wir hängen ihn auf, haben wir gesagt, wenn er mitfährt, nachdem er vorher so den großen Rand gehabt hat.“ Er schaut Frank, Bestätigung hoffend, an, aber der lächelt nur.

„Klapp den Mund zu“, sagt Dietmar und reicht schlaff die Hand. Zu seinem rotgraukarierten Campinghemd trägt er eine blaumelierte Hose, deren Pattentaschen weiß abgesteppt sind. „Tag, Ede.“

Frank schluckt leise wurmenden Ärger Weg. Ede hatten sie ihn im zweiten Heim gerufen. „Modenschau mit uns ist nicht“, sagt er spitzer, als er es beabsichtigt hat. „Wir sind arme Hunde.“ Dietmar Wolf zeigt auf Franks schwarzes Armtragetuch und stellt sich naiv. „Nanu, gebrochen? Oder hast du ausnahmsweise mal zu viel gearbeitet?“

„Sehnenscheidenentzündung.“

„Deinen Haushaltstag hast du heute wohl nicht gekriegt, wie?“