Radsaison - Herbert Friedrich - E-Book

Radsaison E-Book

Herbert Friedrich

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Beschreibung

Wie lange dauert eine Gehirnerschütterung? Wie rasch heilt ein Schlüsselbeinbruch? Ein junger Radsportler liegt im Krankenhaus, nachdem er bei einem Ausscheidungsrennen auf unfaire Weise zu Fall gebracht wurde. Dabei waren doch Hans-Peter Klawun und Gerd Hille einst gute Freunde gewesen. Sie hatten sich in der Schule geholfen, jedenfalls der eine dem anderen. Sie hatten gemeinsam trainiert und wollten Wettkämpfe gewinnen – ebenfalls gemeinsam. Doch dann beschließt einer der beiden, die Schule zu schmeißen und zu einem anderen Sportklub in eine andere Stadt zu wechseln. Doch dort wird er weder richtig glücklich noch sportlich so erfolgreich wie gehofft. Dann treffen die beiden früheren Freunde in einem Wettkampf wieder aufeinander. Da passiert es. Danach liegt Klawun schwer verletzt im Krankenhaus. Und er erinnert sich an die zurückliegende Radsaison, an das ganze letzte verrückte Jahr, an eine merkwürdige Ansichtskarte, die einige Verwirrung stiftet. Und an Silvia und an Renate, die ihn so fotografiert hatte, dass er in der Zeitung fast wie ein Sieger aussah. Wie wird es weitergehen?

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Impressum

Herbert Friedrich

Radsaison

ISBN 978-3-96521-552-8 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch erschien 1966 im Verlag Neues Leben Berlin.

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

Den Radsportlern der Heidenauer Bahn

1

Hille hat mich am Sonntag zu Fall gebracht.

Auf dem Neuenburger Beton.

Seitdem liege ich in diesem Bett und schaue zum Fenster. Oder ich höre auf das Geschwätz des „Autounfalls“. Zum Glück befindet sich nur noch der Autounfall im Zimmer; der Chefarzt scheint ein Herz für Sportler zu haben.

Zur Radrennbahn ist es einen Katzensprung von hier. Sie haben mich bereits nach zwanzig Minuten im Hause gehabt; ich war kaum bei Bewusstsein. Der Chefarzt gefällt mir, schlohweiß, hochgewachsen. Vielleicht war er Boxer. Oder Schachspieler. Und bestimmt hat er in seinen langen Dienstjahren hier in der Nähe der Rennbahn eine Menge solcher Jungen wie mich zusammengeflickt. Bei mir ist es Schlüsselbeinbruch und Gehirnerschütterung, wovon ich auch die rasenden Kopfschmerzen habe. Das zwickt und sticht im Schädel, besonders abends und wenn ich mich über das Gewäsch des Autounfalls ärgere.

Wenn ich den Kopf in den Nacken drücke, kann ich die Tafel am Kopfende meines Bettes erkennen. Die Fieberkurve scheint gemäßigt zu sein. Aber das kann ich aus meiner Perspektive schlecht beurteilen. Außerdem steht dort mein Name, Hans-Peter Klawun, geboren am … und so weiter, woraus man ersehen kann, dass ich im Januar achtzehn Jahre alt geworden bin.

Jetzt ist Juni. Das Fenster liegt im Schatten der Kastanien. Aber beim Training werden sie schwitzen.

Hille besucht mich jeden Tag. Zweimal habe ich ihn abgewiesen. Heute saß er da, hat die Oberlippe hochgezogen und starrte auf die Finger. Ich habe mit ihm nichts zu reden.

Heimtückisch hat er mich zu Fall gebracht. Soll ich mich bedanken?

In vierzehn Tagen, zum Abschlussball, muss ich fit sein. Ein Glück, dass ich das Abi unter Dach und Fach gebracht habe vor diesem verdammten Sturz auf der Neuenburger Betonbahn. Es wäre schrecklich, wenn man sich mit dem Brummschädel in das ganze Zeug hineinknien müsste.

Silvia hat es schwerer gehabt als ich: Berufsausbildung und Abitur. Der Flieder dort in der Einweckglasvase ist von Silvia. Sie kam kurz nach Hilles Weggang, und der Autounfall hat unter seinem Kopfverband hervorgeglupscht. Sie hat auch eine gute Figur.

Silvia war sehr mütterlich zu mir. Dabei wirkt ihr Gesicht wie das eines Schulmädchens. Aber sie ist von kräftiger Gestalt. So muss eine Schwimmerin aussehen, habe ich gedacht, als ich sie zum ersten Mal sah. Silvia bewegte sich ohne Verlegenheit, obwohl sie doch die Blicke des Autounfalls spüren musste und obwohl wir uns Hilles wegen heftig gestritten hatten, bevor ich in dieses herrliche Neuenburg zum Rennen gefahren bin. Silvia redete nicht viel. Sie zog die Bettdecke zurecht, mit Händen, denen man nicht ansieht, dass sie sich auf Bohren und Gewindeschneiden verstehen. Sie merkte wohl, mich strengte alles maßlos an. Sie ging noch vor der Zeit, die ihr der Chefarzt für den Besuch bewilligt hatte.

Sie hat Hille mit keinem Wort erwähnt. Es scheint alles in schönster Ordnung und Logik: dass ich mit angeschlagenem Schädel hierliege, weil Hille mich aufs Kreuz gelegt hat.

Natürlich fragte der Autounfall nach Silvia. Doch ein Mann mit einem Brummschädel wie dem meinen ist nicht zum Reden aufgelegt, am allerwenigsten über solche Dinge.

Als ich wieder auftauchte aus meiner Bewusstlosigkeit, nach einem Jahr oder nach einer Viertelstunde, saß eine Schwester neben mir und schaute mich aufmerksam an. Ich habe sie für Renate gehalten. Seitdem habe ich mich oft gefragt, wie ich sie gerade mit Renate verwechseln konnte. Renate ist nicht groß und blond und hat weder das kurz geschnittene Haar noch die breite Nase.

Zum Abschlussball will ich tanzen. Mit Silvia und Renate. Vor Hille.

Mein alter Herr kam einen Tag nach dem Unfall, die Stirn gefurcht, das dünne Haar noch unordentlich von dem Sturzhelm. Mit der vorsintflutlichen TRIUMPH (Baujahr 36) war er die hundertzwanzig Kilometer von Dresden nach Neuenburg gefahren. Er setzte sich, als sei es das Selbstverständlichste, dass ich hier liege. Wie immer, berichtete er tausend Neuigkeiten. Die Sowjetunion und die USA beabsichtigten, das Problem der Meerwasserentsalzung gemeinsam zu lösen. Er wusste, was mich interessierte. Ich quetschte ihn aus, um zu vergessen, dass ich gezwungen war, das Problem Hille-Klawun allein anzugehen.

Hauptsächlich wegen Mutter war mein alter Herr so schnell hier. Jeder weiß, dass Mütter vor Angst sterben, wenn sie nicht haargenau wissen, wo sich ihr Junge den Schädel eingerannt hat. Sie bäckt eine Torte, wenn ich heimkomme. Und solange ich hier bin, steppt sie Schuhe. Und macht sich dumme Gedanken. Hoffentlich bin ich dann die verdammten Kopfschmerzen los, damit ich ein richtiges Lächeln zustande bringe.

Im Gesicht sehe ich aus wie Braunbier mit Spucke. Um meinen Adamsapfel kratzen die Stoppeln, und meine Boxerbrauen zucken unaufhörlich. Renate hat mich vor langer Zeit – tausend Jahre oder so – als Titelbild in eine Zeitung gebracht, Tatsache: Klawun mit Blumen nach dem Finale eines Sprints. Foto: Renate Seidel. Jetzt kann man nicht viel Staat mit mir machen.

Ich bin ein interessanter Mann für den Autounfall. Mit einem Radrennfahrer hat er noch nichts zu tun gehabt, und außerdem bringe ich Leben in die Bude hier. Trainer Sieber besuchte mich mit drei, vier Jungen noch am Sonntag, bevor der Zug nach Dresden zurückfuhr.

Sie waren sich einig: Hille muss gesperrt werden. Für alle Rennen! Man muss die Bahn vor solchen Typen bewahren.

Es tat mir wohl. Ich lächelte.

Pollmer hat sich um meine Maschine gekümmert, die nach dem Sturz nur mehr Schrottwert haben konnte. Brillenwolfgang lief auf den Händen vom Waschbecken zum Fenster. Er hätte es eine Stunde getrieben, wenn nicht die Schwester Frau Hille hereingeführt hätte.

Konfekt als Ersatz für die Siegerblumen … Ihr Erscheinen ließ alle verstummen, weil sie Gerds Mutter war. Auch sie schien sehr befangen.

Ich bin gewiss, sie hatte sich den Wochenendbesuch in Neuenburg anders vorgestellt.

Lords Talent Frauen gegenüber brachte bald zutage, dass Frau Hille nach Dresden zurückreisen musste – sechs Stunden Unterricht am Montag –, und er lud sie ein, im gleichen Abteil mit ihnen zu fahren.

Sie hatten zu tun, dass sie den Zug noch kriegten. Sie haben ihn bekommen. Denn Lord hat am gleichen Abend in Dresden Silvia aufgesucht. Er hat sie mit der ihm eigenen Rücksicht vorbereitet.

Silvias Flieder duftet nun auf dem Nachttisch. Sie selbst ist schon wieder weg. Die Zeit schleicht und rast dennoch.

Und Hille kommt Tag für Tag. Er hat es nicht weit. Er wohnt – wie Renate – in Neuenburg. Er soll mit mir im Krankenwagen hergefahren sein an jenem Sonntag, und er hat drei Stunden draußen auf dem Gang gesessen. Er bringt nichts mit, kein Konfekt, keinen Flieder. Er kommt, das ist alles.

Hille fährt für den SC Neuenburg, und ich bin in der guten alten BSG Tabak Dresden. (Ein Widerspruch in sich, eine BSG so zu nennen.)

Ich bin am Sonntag in Hilles Rad hineingerast.

Und einmal waren wir Freunde.

Und das ganze letzte verrückte Jahr über habe ich nie soviel Zeit gehabt wie jetzt. Und die Geschichte mit Hille lässt mir keine Ruhe.

2

Vor einem Jahr, am Himmelfahrtstag, fuhr ich zum ersten Mal in Neuenburg. Das Stadion war wie eine riesige dröhnende Schüssel, fremd und gewaltig, sechstausend Menschen, Männer mit Papphüten und Blasinstrumenten darunter. Die Zementbahn war schwierig zu befahren, steile Kurven mit kleinem Radius, lange, kräftezehrende Gerade.

Als wir die Räder durch den Tunnel schoben, der uns dunkel überfiel nach der Grelle draußen, meinte Lord: „Das kann heiter werden.“

Ich sagte: „Hoffentlich kommt Hille.“

Ich hatte die doppelte Arbeit an jenem Tag. Ich schob zwei Räder durch den Tunnel. Ich schloss vier Reifen an den Kompressor an, um ihnen den nötigen Druck zu geben. Ich lehnte auf dem Innenrasen die Maschinen sorgsam aneinander und bewachte sie argwöhnisch von der verwitterten Bank aus. Ich legte in dem Gedränge meinen Leinenbeutel – Stabtaschenlampe, Ersatzreifen, Werkzeug darin – so neben mich, dass noch Platz blieb zum Sitzen für einen zweiten Mann. Ich ging nicht zum Eintrudeln auf die Bahn, damit mich Hille sofort fände in diesem Kessel hier. Und ich wartete auf ihn seit dem Dresdner Hauptbahnhof.

Eigentlich hatte Hille nur noch eine Chance, zur rechten Zeit einzutreffen: mit Sieber auf dem Motorrad.

Sieber, der Trainer, kam allein, rasch, den Sturzhelm in der Hand, kein Hille dabei. Er entdeckte mich natürlich sofort. „Du bist nicht auf der Bahn?“

„Hille fehlt noch.“

Sieber begriff. „Nicht mitgereist?“

Ich nickte und stand auf. Ich sah zum Tunnel. Aber Hille kam nicht.

„Wenn man euch schon allein fahren lässt …“

Ich sagte: „Er hat nicht den Zug verpasst.“

„Nun pack schon aus. Du gehst doch mit ihm in die gleiche Klasse.“

„In die Parallelklasse.“

Sieber war nicht für die feinen Unterschiede. Die schlechte Laune verdoppelte seine Falten.

Ich erklärte rasch:

„Er sitzt in einer Jugendherberge, seit Montag schon, die ganze 11 b …“

Ich redete schnell weiter, während Sieber sich setzte: „Erst hat er geschrieben: Schick mein Rad mit nach Neuenburg. Dann hat er angerufen. Sie geben ihn nicht frei.“ Sieber fluchte.

Ich entschuldigte mich: „Ich habe das nicht ernst genommen.“

„Nicht ernst genommen“, höhnte Sieber. „Du weißt doch, worum es heute geht.“

Natürlich wusste ich es, und Hille auch, und natürlich brauchte er die Punkte aus diesem Rennen für den Start zur Deutschen Jugendmeisterschaft.

Sieber schimpfte. Der Helm hatte einen Striemen in sein Gesicht gedrückt. Mit Sieber war nun nicht gut Kirschen essen. Eisern hatte er an der Verwirklichung seines Planes gearbeitet, zwei Mann zu den Jugendmeisterschaften an den Start zu bringen. Und nun fehlte schon im Ausscheidungsrennen der bessere. Der zweite war ich!

Sieber erinnerte mich daran, knurrend: „Reiß du dich wenigstens zusammen. Nun liegt es an dir!“

Ich bedankte mich dafür. In mir kam langsam die Wut hoch. „Die Meisterschaften sind erst im August.“

„Wenn du dich jetzt nicht einfährst, kannst du sie dir von draußen angucken.“

Ich ging auf die Bahn. Hier spürte ich, wie heiß der Maitag war. Und ich trug die Pantalons! Ich ärgerte mich über Sieber und Hille und ging eine Weile auf Tempo, schlängelte mich durch einen Schwarm, probierte das Fahren am Teppich in der Kurve und hängte mich dann an Lords Hinterrad. Lords flatternde Rückennummer irritierte mich.

„Ist er da?“, fragte Lord, als er mich bemerkte.

„Nein!“, schrie ich.

Lord ließ sich nicht beeindrucken. „Vielleicht hockt er bei einem Mädel.“

Ich sagte: „Mädel! Er robbt durchs Erzgebirge. Er schießt nach Scheiben. Er glotzt auf den Kompass.“ Ich lachte dann. „Kannst du dir Hille mit einem Mädel vorstellen?“

„Warum nicht?“ Er grinste hinterhältig und trat zu einem Spurt an. Ich ließ ihn ziehen.

Und ich verwünschte jene, die Hille vom Rennen ausgeschlossen hatten.

In diesem Kessel von Neuenburg sollte ich gegen die gewieften Fahrer der Südbezirke antreten. Und vor allem gegen die ausgekochten Neuenburger selbst. Der Bessere fehlte. Und nun lag die doppelte Arbeit auf mir.

Im Wettkampf standen sich nur zwei Gegner gegenüber, allein auf der unbarmherzigen Bahn, unter den kritischen Blicken der Menge, unter Beifall und Johlen und dem Gröhlen der Lautsprecher. Da gab es keine Sekundanten, keine Hilfe von außerhalb. Da entschied die eigene Leistung. Kein Mensch kann ermessen, wie es mir geholfen hätte, wenn noch ein anderer von unserer BSG im Neuenburger Rennen reale Chancen gehabt und Trainer Siebers ganze Hoffnung nicht nur auf mir gelastet hätte.

Ich war warm. Ich ging ungeduldig von der Bahn. Natürlich war Hille nicht da. Sein Rad lag im Gras. Ameisen sonnten sich auf dem Brookssattel; meinetwegen konnte alles verdrecken. Pollmer rekelte sich auf der Bank. Meinen Leinenbeutel hatte er ans Geländer gehängt. Die rote Inschrift, die ich vor Jahren mit unverwüstlicher Wäschefarbe daraufgepinselt hatte, flammte mir entgegen. AVANTI!

Avanti. Es half nichts. Die Glocke bimmelte zum ersten Rennen. Nun konnte Hille nicht mehr starten, selbst wenn er noch käme. Ich war die ganze Hoffnung des Trainers.

Neuenburg (sechzigtausend Einwohner) schien mir eine grässliche Stadt, schon als wir nach dreistündiger Fahrt in den kleinen, verrußten Bahnhof hineinrumpelten. Mietshäuser der Jahrhundertwende, Balkongeschachtel und bröckliger Putz, wehende Wäsche im Rußwind. Aber Städte bieten vom Schienengelände aus nie den besten Anblick. Als Städteplaner würde ich vor die Augen der Reisenden die schönsten Gebäude hinsetzen.

Als Signaltechniker der Reichsbahn werde ich später diesen Anblick noch oft ertragen müssen.

Ich ging an die Arbeit und gewann den ersten Vorlauf im Sprint der Jugend gegen drei ausgefuchste Jungen. Da gefiel mir Neuenburg schon besser. (Damals wusste ich nicht, dass ich einmal hier im Krankenhaus landen würde.) Ich war nicht irgendwer, wenn es auch noch Hille gab. Ich kannte die Bahnen von Riesa, Dresden, Cottbus und hatte dort Leuten wie Möbius und Kalle das Hinterrad gezeigt.

Ich schlug im Viertelfinale einen, den alle für den Sieger angesehen hatten. Mit etwas zu viel Kraft vielleicht erkaufte ich diesen Sieg.

Ich rappelte mich hoch, gehätschelt von der ganzen Mannschaft und mit einem Happen Weißbrot und den Ratschlägen des Trainers gefüttert und nunmehr gewillt, auf dieser fremden Bahn vor dem Himmelfahrtspublikum noch weiter vorzudringen. Ich gewann den ersten Lauf des Halbfinales gegen einen aus Cottbus und war dann im zweiten ein wenig zu sorglos in den steilen Kurven. Ich streckte mich zu spät, ernüchtert, wie schnell ein Lauf verloren gehen konnte. Ich zwang mich zur Ruhe vor dem notwendig gewordenen Entscheidungslauf zu der Zeit, da Hille im Erzgebirge fluchen würde über die verdammte Himmelfahrt, schluckte die Wortpillen des Trainers und fuhr das dritte Mal gegen den Cottbusser, zog auch den Spurt früh genug an, was mir einen Vorsprung sicherte, der für einen Sieg genügte.

Und hatte das Finale erreicht.

Steif stieg ich vom Rad und überließ es Pollmer. Pollmer nahm jedem von uns, der von der Bahn kam, das Rad ab. Er lief um einen herum wie ein Manager. Dabei wollte er nichts anderes als sich nützlich machen, weil er immer der erste war, der aus dem Rennen flog. Er war ein Fuchs, kannte alles, wusste alles, Dreher von Beruf, ein Junge, dem nichts entging. In Riesa hatte er entdeckt, wer Lords Vorderrad abmontiert hatte. In der Pretschendorfer Dürre, als kein Tropfen Feuchtigkeit mehr in uns war nach den sieben Runden Achterbahn, nach siebenundsiebzig Kilometern Stampferei auf Straßen, die noch der Frost aufgerissen hatte, da stand Pollmer da mit einem Kasten Limonade.

Pollmer gratulierte mir, grinsend, mit seiner ewig heiseren Stimme. Die Zuschauer klatschten. Ich hob grüßend den Arm. Ein paar riefen meinen Namen, den sie wohl dem Programmheft entnommen hatten. Klawun, he, Klawun! Es machte sich gut. Der Lautsprecher schrie etwas Unverständliches. Es hallte im Rund. Jemand klopfte mir auf die Schulter. Es war immer noch Pollmer. Er nahm das Rad, mit dem ich den Sieg herausgefahren hatte. Ich lächelte und ging hinterher.

Ich war froh über diesen Sieg. Die Beine waren mir ungelenk, das Herz pumpte zu hastig. Ich war viel zu sehr in Schweiß geraten in diesen lächerlichen zwei Minuten, die höchstens zwischen Start und Sieg liegen konnten und von denen ich nur den zehnten Teil wirklich gekämpft hatte. Es war nicht zu leugnen: Der Cottbusser hatte mir zu schaffen gemacht.

Die Jungen an den Bänken stürzten sich auf mich, knufften, drückten mir die Hand. „Siehst noch frisch aus“, meinte Brillenwolfgang.

Ich wehrte ab, hörte sie lachen, loben, hatte plötzlich Magendrücken und hätte mich gern gewaschen. Trainer Sieber stand natürlich dabei, entschädigt für Hilles Ausbleiben. „Was gratuliert ihr denn?“, fragte er. Ich habe noch kein Rennen erlebt, in dem Sieber ein Wort des Lobes gesprochen hätte, bevor es zu Ende war. Das Schwerste stand noch bevor.

Auf einmal hatte ich den Eindruck, dass keiner mehr Hille vermisse, wiewohl sie stundenlang nichts anderes zu reden gehabt hatten, die lange Bahnfahrt über und die Zeit im Stadion vor dem Start. Ich löste die Aufgabe, die sie Hille zugedacht hatten. Ich war der Ehrenretter der BSG.

Ich war glücklich und zufrieden. Ich lachte und rieb mich trocken und war scharf darauf, mir in diesem Neuenburger Rennen auch den endgültigen Sieg zu holen. Ich wechselte das Trikot und fuhr in die Pantalons. Dann stand Wolfgang mit zwei Flaschen Selters da. „Sekt auf den Sieg.“

„Nicht vorher beschreien“, sagte ich und trank.

Sie feierten mich, als habe ich die Friedensfahrt gewonnen. Aber Sieber ließ mich nicht aus den Augen. So gab ich die Flasche bald weiter.

Sieber brummte: „Warum bist du das Rennen nicht von der Spitze gefahren? Lässt ihn erst kommen und hast dann Mühe, ihn wieder zu fangen.“

Sieber, dieser Mann mit den scharfen Gesichtszügen, von einer gesunden Bräune, war in den Dreißigerjahren ein populärer, gefragter Profi gewesen, kannte die Bahnen Deutschlands, kannte die Taktik der Großen, Merkens und Metze und wie sie alle hießen, war Steherrennen gefahren und Sechstagerennen, hatte alles durchkostet, die Leiden eines Mannes, der sich von dem ernähren muss, was er sich zusammenfährt, die Freuden über Kränze, Schleifen, Siege.

Diesem Mann konnte keiner ein X für ein U vormachen. Er hatte meine Schwäche erspäht, mein Zaudern, im rechten Moment anzugreifen, den Versuch, mit plumper Kraft den Fehler auszumerzen. Sieber sprach schnell und mit Gesten, die den Ablauf des Rennens demonstrierten. Endlich schloss er, ich solle mich im Finale klüger anstellen.

Der zweite Halbfinalkampf war noch im Gange. Das andere Paar fuhr, zweimal zwei Minuten Köpfchen und zweimal zwölf Sekunden Kraft. Und zweimal ein Besserer, wenn sie nicht einen dritten Lauf brauchten wie gerade ich. Und gegen den Sieger hatte ich anzutreten.

Die beiden Sprinter huschten unter der Schrift Alles fährt KOWALIT an der Bande entlang, hinein in die letzte Runde, zwei Jungen aus dieser schönen Stadt Neuenburg. Das Publikum schrie. Es war ja auch tragisch, dass sie sich gegenseitig aus dem Rennen werfen mussten. Mit den Namen der beiden verbanden sich bei mir weder Erinnerung noch Erfahrung. Es war mir ziemlich egal, welcher mein Gegner werden würde. Den Cottbusser hatte ich eingeschätzt vorher, und ich hatte mich verrechnet. Ich spürte meinen Magen jetzt noch von der Anstrengung; es hätte ins Auge gehen können.

Ich war völlig erledigt, trotz aller Freude. Ich hockte mich auf die Ecke der wackligen Bank und hatte zähen Speichel im Mund. Ich hörte sie schwatzen; Wolfgang, der Vermutungen anstellte, wer die Friedensfahrtetappe gewänne, die mich einen Dreck interessierte an diesem Himmelfahrtstag, die maulfaulen Erwiderungen Pollmers.

Der Trainer war nicht zu erblicken. Er redete dem Lord am Start ins Gewissen. Die Jungen sollten sich Zeit lassen mit ihrem Dreißig-Runden-Punkte-Fahren. Ich konnte Ruhe gebrauchen. Ich streckte mich lang aus auf der harten, rissigen Bank und gähnte.

Ich schaute hinauf in den Himmel, als ob ich Cooper entdecken könnte, der doch schon vor einer Woche wieder gelandet war, oder LUNA 4, die doch längst zerschellt war, oder MARINER 2 auf dem Weg zur Venus oder EXPLORER 17 oder dieses telefonierende, rundfunkhörende, fernschreibende SYNCOM. – Der Himmel war so vollgestopft, dass man Gefahr lief, einen kleinen Satelliten ins Auge zu bekommen, wenn man lange hinaufschaute. – Im Zeitalter der Weltraumfahrt trat man das Fahrrad und war erpicht auf einen Sieg. Es war komisch.

Wolfgang holte mich in die Gegenwart. „Lass dich nicht abhängen, Lord!“, brüllte er neben mir. Lord war unser bester Junior auf der Bahn, zweiundzwanzig Jahre alt. Er hatte ein Gesicht wie ein Schauspieler, war fast ein südländischer Typ, mit schwarzem, gescheiteltem Haar, eine Tolle über der Stirn. Er war sehr fotogen. Die Mädchen flogen auf ihn.

Ihm gegenüber wirke ich mit meiner grobporigen Haut wie ein Pockennarbiger. Meine Nase ist zu fleischig, und an meinem Hals steht der Kehlkopf vor. Ich habe borstige Augenbrauen und starke Jochbögen und ein breites Kinn. Mein Rücken ist leicht gebeugt, ein jugendlicher Rundrücken, wie die Mediziner sagen. Ich will mich nicht schlechter machen, als ich bin. Ich will nicht gerade behaupten, dass man an mir die Abstammung des Menschen vom Affen beweisen könne. Ich habe noch nie an Minderwertigkeitskomplexen gelitten. Aber gegen Lord falle ich ab, Tatsache.

Im verräucherten Neuenburger Wartesaal am Vormittag, als wir uns auffrischten nach dreistündiger Bahnfahrt, hatte Lord seine Künste spielen lassen. Am Nebentisch saßen zwei Mädchen, blond und jung alle beide. Sie hatten die Nägel lackiert und rauchten, was mich fuchste, obwohl unsere BSG Tabak heißt.

Sie sprachen über einen Film und stritten ein bisschen; es ödete mich an. Lord konnte nicht eingreifen, so gern er gewollt hätte, weil er den Film nicht kannte.

Ich hielt nichts von Mädchen. Ich war siebzehn Jahre alt damals, und es war mir ziemlich egal, dass Menschen zweierlei Geschlechts auf der Welt herumliefen. Es gab Opium und Haschisch, Kokain und. Koffein und das verdammte Nikotin (man müsste unsere BSG umbenennen), und keiner, der jemals damit angefangen hatte, kam wieder los.

Und es gab Mädchen.

Ich wollte gern noch eine Weile Rennen fahren. –

Als die Glocke zur Wertung läutete, richtete ich mich auf.

Pollmer geriet in mein Gesichtsfeld.

„Noch fünfzehn Runden.“ Er schien den Katarrh nicht mehr loszuwerden, was Wunder, wenn ihm im Rennen die Luft knapp wurde. „Willst du noch trinken?“

Ich nahm die Flasche, trank, schluckte langsam.

Er lümmelte sich ins Gras. „Dein Gegner heißt Teichert. Hat klug gewonnen, der Knabe. Aber der kocht auch bloß mit Wasser.“

Ohne abzusetzen, spähte ich nach Sieber, trank den Rest und wischte mir den Mund ab.

„Mit 12,8 hat er gewonnen. Nichts Besonderes. Den schaffst du im Finstern.“

Ich gab die Flasche zurück. Wenn es auf Schnelligkeit ankäme, ich war schon 12,4 gefahren. Aber die Zeit war belanglos. Die Achtelfinalkämpfe fuhr man oft in schnellerem Tempo, weil man da frischer war. Auch der Gegner zwang einem die Zeit auf. Fuhr er schneller, musste man selber zulegen, um zu gewinnen.

Ich hütete mich, Schlussfolgerungen aus der Zeit dieses Teichert zu ziehen.

Noch etwas wusste Pollmer. „Mit einem Mädchen ist er da. Das wäre etwas für Lord.“

Ich. lächelte. Teichert fuhr noch in der Jugendklasse und brachte schon eine Freundin mit auf die Bahn. Plötzlich wusste ich, ich würde ihn schlagen.

„Wenn du dich warmfahren willst, dann nimm mein Rad.“

„Bist ein prima Kumpel.“

Dann fuhren sie schon die letzte Runde. Die Räder sirrten wahnwitzig. Die Fahrer buckelten noch einmal los, Lord mit vier anderen vorn. Pollmer sprang auf die Bank. Ich hatte wieder einen trockenen Mund. „Hat keiner mehr etwas zu trinken?“ Ich wartete keine Antwort ab, stieg auf Pollmers Rad.

Der Rasen war kurz geschnitten und weich. Langsam klang die Unruhe ab. Das Rad unter mir gab mir Sicherheit. Ich drehte einige Achten, kurvte zwischen Decken und Beuteln und Rennmaschinen.

An Hille dachte ich nicht.

Der Lärm war entsetzlich, Zuschauergebrüll und Glocke, Lautsprecher und Lachen. Das Punktefahren war zu Ende.

Lord wackelte von der Bahn, schwitzend und fluchend. Das Rad ließ er auf den Rasen fallen. „Viecherei“, brummte er.

Als ich aus den Pantalons fuhr, kam Sieber. „Hast du ihn dir angeschaut?“

„Wen?“

„Deinen Gegner. Teichert."

Ich stand, die Pantalons in der Hand. „Nein.“

Sieber fluchte nicht, wie ich es erwartet hatte. Sieber schwieg. Dann nörgelte er: „Zurr dir die Sturzkappe fest. Das Ding ist kein Sonntagshut.“

Ich nestelte am Riemen. Die Sturzkappe war Siebers Lieblingsrequisit. In Hagenwerder auf der Straße hatte er einmal einen aus dem Rennen genommen, nur weil der die Sturzkappe gelockert hatte.

Die Kappe klebte mir jetzt schon am Schädel, obwohl ich mich noch einmal abgetrocknet hatte.

Sieber streckte plötzlich den Arm vor. „Dort in der Kurve, präg dir das ein, Klawun, alles fährt KOWALIT. Wenn du an dem ,K‘ bist, dann mach dich gefasst. Dann zieht Teichert den Spurt an.“

Ich warf einen Blick auf die schwarzen Buchstaben an der Bande, dann in das Gesicht des Trainers.

„Wenn du dich vorhin nicht auf die Bärenhaut gelegt hättest, dann hättest du das beobachten können, gleich zweimal hintereinander.“

Siebers Rede klang nun doch ein wenig spöttisch, und ich ärgerte mich, weil die anderen grienten.

Die Sieger des Punktefahrens zuckelten die Ehrenrunde.

Sieber war noch nicht fertig mit seinen Ratschlägen. „Fahre von der Spitze ab. Versuche nicht erst, hinten zu fahren. Lass dich nicht auf Stehversuche ein. Und an dem ,K‘ musst du schon in Schwung sein.“

So ruhig wie jetzt war ich den ganzen Tag nicht gewesen. Es war gerade, als müsste ich nicht allein gegen den Neuenburger kämpfen. Die Zuschauer würden selbstverständlich für ihren Mann brüllen. Aber ich konnte den Krach ebensogut auf mich beziehen. Vielleicht war auch Teicherts Mädchen mein Bundesgenosse. Ungewollt. Ich musste schmunzeln. „Du lachst ja sogar“, sagte Wolfgang.

Ich ging zum Start. Pollmer trug mir das Rad. Teichert, in gelbem Trikot, saß bereits auf der Maschine, mit aufrechtem Oberkörper, die Hände in die Seiten gestützt. Wer die stärkeren Nerven hatte, war der Sieger. „Schnell“, drängte der Starter.

Teichert hatte ein flaches Gesicht. Ich fand es nicht besonders anziehend. Die blassen Augen lagen zwischen Wülsten. Ein scharfer und zugleich listiger Blick traf mich.

Ich schob die Füße in die Rennhaken und befestigte sie mit gewohntem Griff. Dann saß ich, von Pollmer gehalten, jene unerträglich endlose Zeit neben dem Gegner, die vor jedem Start liegt. Einmal noch streifte ich Teichert, die gedrungene Gestalt, die massigen Oberschenkel. Dann richtete ich die Augen auf die Bahn. Wie hinter dickem Nebel wusste ich das Publikum, das merkwürdige tausendköpfige Wesen, das all meine Bewegungen belauerte.

Endlich kam das Kommando. Ich spürte den Druck von Pollmers Hand. Schnell trat ich an, ging sogar fünf, sechs Takte aus dem Sattel, was diesem tausendköpfigen Wesen dünnstimmiges Gelächter ablockte. Ich schaute mich nicht einmal nach Teichert um. Die Kurve durchfuhr ich nahe der Bewehrung, so hoch es ging, war schon an der Schrift KOWALIT, rollte das Wort von hinten auf, sah die Buchstaben weichen, kam an das „K“.

Aber jetzt galt es noch nicht. Jetzt hatte ich noch Zeit, konnte einigen Spaß machen, konnte am Ausgang der Kurve steil nach unten kippen, bis zum Teppich hinunter, als wolle ich hier schon entfliehen. Ich konnte den Spaß noch weiter treiben, wieder zurückkurven an die endlose beschriftete Wand, so nahe, dass die Zuschauer erschrocken die Hände mit den Programmen zurückzogen.

Die Gerade hinunter fuhr ich ein wenig Tempo, um zu sehen, wie locker die Gelenke noch waren, wie fest ich im Sattel saß, wie die Arme mitmachten am Lenker. Und noch immer schaute ich mich nicht nach Teichert um. Aber ich spürte ihn. Ich spürte ihn folgen wie einen Schatten. Ich spürte, es war kein Fuß Abstand zwischen unseren Rädern.

Aus dem Lautsprecher zitterte ein Schlager. Eine dunkle Frauenstimme besang die Freuden der Liebe. Ehe der Schlager zu Ende ging, war das Rennen gelaufen. Ich trat ein wenig langsamer, um aus dem Schlagerrhythmus herauszukommen.

Dann, in der zweiten Kurve, war es plötzlich aus. Mich überkam die Angst vor der eigenen Courage. Ich schaute nach hinten, der Schatten folgte. Ich spürte den scharfen, listigen Blick, obwohl ich Teicherts Gesicht nicht gesehen hatte.

Ausgangs der zweiten Kurve stand ich bald, so langsam fuhr ich.

Wieder hörte ich es lachen, hier und da Zurufe, die Gelächter auslösten. Ich hörte die Tuten. Himmelfahrt, dachte ich. Wie hätte Hille den Gegner genommen?

Der Schatten blieb hinter mir. Der Schatten kam nicht vor, zeigte sich nicht. Mein Nacken wurde feucht. Die Sturzkappe war wie ein Gitter um meinen Schädel. Nun, auf der anderen Geraden sah ich mich häufiger um, sah das gelbe Trikot leuchten, vernahm das leise Knacken der Kette. Dann kam die Glocke.

Eine Runde noch zeigte die Tafel an. Wieder stieg ich hinauf in die Kurve, der Schatten folgte. Unmerklich trat ich schneller, voll gespannter Aufmerksamkeit. Die Inschrift kam erschreckend näher. Alles fährt KOWALIT. Das „T“, das „I“.

Am „L“ stellte ich mich in die Pedale und kippte nach unten, war schon am roten Strich, gejagt von Brüllen, Pfiffen, Lachen. Nichts war mehr zu hören vom Schlager. Nichts war mehr da von dem gelben Schatten.

Die lange Gerade war da, die endlose. Weit weg waren die Hände mit den flatternden Programmen. Ich hetzte, ich wirbelte, ich keuchte. Einen Augenblick ließ ich nach, um am Ende noch etwas drin zu haben.

„Teichert! Teichert!“ Das Geschrei schwoll an.

Dann schien ich wieder den Blick zu spüren, listig und scharf. Mein Schatten war da.

In der Kurve lag Teichert schon neben mir. Aber ich hatte den kürzeren Weg. Teichert ging noch einmal nach unten, lauerte. Ich hatte ihn gesehen, für einen Augenblick, das gelbe Trikot. Hatte ihn gehört, das Keuchen, das Knacken der Kette. Ich schoss in die Gerade. Und wieder schob sich Teichert nach vorn, Stück um Stück kam er, rollte mich auf von hinten, wie ich das Wort KOWALIT aufgerollt hatte. Schon war Teicherts Lenker auf meiner Höhe. Die Gerade nahm kein Ende. Nebeneinander flogen wir auf das Ziel zu. Mit einem letzten Ruck warf ich den Oberkörper vor und rettete mich über den Strich.

Weit rollte ich. Der Schwung der Pedale ließ die Füße noch wirbeln. Ich hörte die Leute klatschen. Pollmer rannte neben mir her, bremste mich und hielt mich dann. „Das war knapp.“

Ich zuckte mit den Schultern. Langsam ließ ich die Griffe los und bewegte die Finger.

Mein Gesichtsfeld war klein gewesen im Endspurt. Nur das winzige Stück Bahn vor mir hatte ich gesehen. Nur die Linie, die auf kürzestem Weg zum Zielstrich führt. Meinen Gegner hatte ich nicht gesehen. Wer hatte diesen Strich zuerst überfahren? Der Lautsprecher schwieg. Kein Schlager von Liebesfreuden, keine Bekanntgabe des Wettkampfgerichts.

Sieber brachte mir die Trainingsjacke. „Nun weißt du, wie er fährt“, sagte er. Und nach einer Pause: „Du warst auch nicht schlecht.“ Ich schluckte, dann fuhr ich in die Jacke. Das Urteil des Wettkampfausschusses kam. Ich hatte den Lauf verloren.

Pollmer redete auf mich ein, mit belegter Stimme, ununterbrochen, rieb sich die Nase und gestikulierte. Er zweifelte das Urteil an. Hatten sie etwa eine Zielkamera hier? Wer hatte denn so haargenau gesehen, wer zuerst über den Strich fuhr? Man wusste ja schließlich, woher der bevorteilte Fahrer kam und auf welcher Bahn das Rennen ausgetragen wurde.

Der eigene Mann muss gewinnen, das ist die Masche. Und im Lautsprecher sagt man: Klawun wurde um Reifenstärke geschlagen. Reifenstärke – ein Trostpflästerchen, wacker, wacker, der Klawun. Von welcher BSG kam er doch?

Ich sah Pollmers Mund sich bewegen, aufgesprungene Lippen über einem spitzen Kinn.

Er ging mir ziemlich auf die Nerven.

Ich hockte auf dem Rasen und begann meine Waden zu klopfen. Auf der Bahn fuhren sie den zweiten Lauf um Platz drei und vier. Pollmer redete und redete und schwieg erst, als Sieber brüllte: „Jetzt halt den Mund! Du machst ihn noch verrückt!“

Reifenstärke – das waren winzige Zentimeter …

Ich sah Teichert drüben auf dem Geländer sitzen, wo es die Stufen zur Unterführung hinabging. Fahrer in Trainingshosen umstanden ihn. Darunter leuchtete auch das Kleid des Mädchens.

Teichert wollte der Freundin zeigen, wie man Siege fährt. Noch war nicht aller Tage Abend. Ich stand auf, bevor der Lautsprecher rief.

Wieder die Wartezeit nebeneinander auf dem Rad. Teichert nickte mir zu, es war glatter Hohn. Unwillkürlich lächelte ich. Dann konzentrierte ich mich. Das Kommando kam und damit die erste Überraschung: Teichert nahm ohne Zögern die Spitze. Ich war voll gespannter Hoffnung. Jetzt hatte ich das gelbe Trikot vor mir. Teicherts Nummer wippte. Das Hinterrad schnurrte. Teichert stieg hinauf, stürzte hinunter, spähte nach mir. Alle Wendungen Teicherts fuhr ich mit. Alles fährt KOWALIT. Die lange Gerade, wieder etwas Tempo. Das ewig Gleiche, das unwiederholbar Neue.

Teichert empfing Beifall. Ich fuhr sicher. Ich hatte Teichert zum Ändern der Taktik gezwungen.

Bis zur Kurve gab es Schlager. Dann schlug die Glocke an. Fette, massige Buchstaben schossen auf mich zu. Alles fährt KOWALIT.

Teichert fuhr an der Bewehrung vor mir. Das „T“, das „I“, das „L“. Ich kippte ab. Schrei der Menge! Teichert verlegte mir den Weg. Ich stieg. Teichert klomm zur Bewehrung. Das Tempo hatte sich gesteigert. Die Reaktion des Publikums verriet jedes Manöver, bevor es wirksam werden konnte. Spurt auf der Geraden, vor mir das gelbe Trikot.

KOWALIT und Schlager!

Treten, treten, treten!

Die neue Kurve, die letzte vor der Zielgeraden!

Ich lag immer noch hinter Teichert. Ich lauerte auf die Gelegenheit und hatte kaum noch eine Chance.

Dann trat ich an. Ausgangs der Kurve lag ich neben Teicherts Hinterrad, schob mich in die Gerade. „Alles!“, brüllte einer am Rande. „Klawun, alleees!“ Ich rückte auf, den Blick auf der Bahn.

Ich weiß nicht, wie es geschah. Plötzlich war Teicherts wirbelndes Pedal handbreit vor mir. Grelles Gelb! Die Menge schrie. Ich riss den Lenker nach rechts, schoss jählings auf die Bewehrung zu. Mit Mühe fing ich die Maschine ab. Buh-Rufe hallten, Pfiffe. Zehn Meter vor mir schoss Teichert durchs Ziel.

Die Hände zitterten mir, als ich vom Rad stieg. Nun hörte ich den Beifall, der mich trunken machte, den Lautsprecher mit dem Krakeel. Ich keuchte, das Herz schlug wild. Die Lederkappe hängte ich an den Lenker.

Pollmer stürzte auf mich zu. „Warum hast du nicht den Arm gehoben, Mann? Du musst doch protestieren!“

Ich blieb erstaunt stehen, erfasste es nicht im Augenblick. Plötzlich überkam mich die Wut. Die heisere Stimme, das spitze Gesicht, das ewige Gewäsch, die körperliche Schwäche. Hatte es immer noch nicht gelangt, was ich gebracht hatte? „Geh mir vom Halse!“, brüllte ich.

Wolfgang und Lord liefen herbei. Er wandte sich hilfesuchend an sie. „Aber er muss doch protestieren. Das war doch glatte Behinderung.“

Ich schluckte. Ich hatte alles gegeben und sollte noch einmal von vorn anfangen. Ich hätte alle umbringen können.

Auf einmal war auch Sieber da. „Was war denn los?“

Ich fing an zu erklären, stockte. Ich wusste es selber nicht. „Er war plötzlich so dicht vor mir“, erklärte ich, noch immer ohne Atem. „Ich habe gedacht, ich ramme ihn. Ich sah mich schon fliegen.“

„Er hat ihn glatt behindert!“, schrie Pollmer von hinten. „Er hat die Fahrtrichtung verlassen. Klawun muss zum Sieger erklärt werden!“

Ich sah Pollmer an wie einen Irren. Sieber drehte sich wortlos um und ging zum Kampfgericht. Nun steckten sie dort die Köpfe zusammen. Drei Funktionäre standen auf der Bahn an der Bewehrung und redeten auf die Kampfrichter ein.

„Teichert war mir plötzlich so nahe“, sagte ich wieder, obwohl es keiner wissen wollte. Sie wollten nur ihren Protest.

Lord tippte sich an die Stirn, den Mund spöttisch verzogen. „Nun geh! Mit dem Protest kommst du durch.“

Da ging ich. Ich ging wirklich, so fertig war ich. Mit zitternden Knien ging ich auf die Kampfrichter zu. Sie wussten nicht, was sie verlangten. Sie verlangten nicht mehr und nicht weniger als einen dritten Lauf gegen Teichert.

Ich konnte den dritten Lauf nicht fahren. Ich hätte ihn verloren wie keinen anderen zuvor, unter dem Gelächter des ganzen Stadions. Sie waren irr, dass sie das von mir forderten. Und ich war irr, weil ich zu den Kampfrichtern ging.

Ich zwang mich, ruhig zu atmen.

Es wurde kühl. Wind blies. Ich ging wie ein Automat. Ich fror. Am Rundenanzeiger lag meine Trainingsjacke. Ich bückte mich. Streifte sie über, gönnte denen hinter mir die Spannung: Wird er protestieren?

Als ich mich aufrichtete, sah ich keine zehn Schritt vor mir Teichert stehen. In einer Gruppe. Alle schauten her. Ich zupfte die Ärmel glatt, dann ging ich entschlossen auf das Neuenburger Lager zu. Mit verschränkten Armen wartete Teichert.

Ich streckte ihm die Hand hin. Ich beendete die Auseinandersetzung, noch ehe sie begonnen hatte.

Er hatte einen Griff, der mir den Atem nahm. Nun lachte er leise, was sein flaches Gesicht verschönte.

Neben ihm stand das Mädchen, mit einem Fotoapparat am Handgelenk.

„Ich dachte schon, du willst Krach schlagen“, witzelte einer.

Teichert stieß mich an. „Du hättest mich bald geschafft.“

Das Mädchen lachte hell. „Eine Niederlage hätte ihm nichts geschadet.“ Sie schwatzte eine ganze Weile. Dann sprach sie mich an: „Auf dieser Bahn bist du wohl noch nicht gefahren?“

Ich betrachtete sie mit gemischten Gefühlen. Sie sagte „du“.

„Nein. Die Bahn kenne ich nicht.“

Sie lachte wieder. „Das nächste Mal geht es dir schlecht, Fritz.“

Sie war ein süßer Fratz und wusste das. Ihre R-Laute rollten. Sie legte es darauf an, mir zu imponieren. Sie schien dem drohenden Protest mit ihren Mitteln begegnen zu wollen. Sie hatte große, dunkle Augen, die mich anfunkelten. Das schwarze Haar verdeckte die Stirn völlig und fiel dicht und lang nach hinten. Ich verspürte Lust, ihre kleine spitze Nase zu berühren und den lebhaften Mund.

Renate hieß sie. Ich hörte es, als die anderen sie anredeten. Ich wollte es nicht wissen. Ich ungewaschener, verschwitzter, ausgelaugter Kerl wollte ihre gepflegten Hände mit den farblos lackierten spitzen Nägeln nicht sehen, die mit dem Fotoapparat spielten. Ich wollte diese ganze verdammte Kokettiererei nicht. Ich verfluchte mich, dass ich mich geschlagen gab, dass ich nicht die Kraft aufbrachte zum Protest gegen die fein eingefädelte Teichertsche Welle, die mir den Weg verlegt hatte. Nicht einmal ein Witz fiel mir ein, mit dem ich mir hätte einen guten Abgang verschaffen können.

Ich brauchte den Witz nicht mehr. Einer sagte: „Hast du ihnen was geflüstert?“ Hinter mir stand Lord.

„Was will der Jüngling?“, fragte Teichert rau.

Lord war Bootsmann auf einem Elbdampfer. Ein Bootsmann ist kein Jüngling. Lord drückte die Schultern vor. Ich kannte diese Geste zur Genüge. Wenn er auf jemand so zuging wie jetzt auf Teichert, stand der nicht mehr lange auf den Beinen.

„Komm weg hier“, drängte ich.

Es half. Lord blieb stehen. Doch fuhr er Teichert an: „Was ich will? Ich will dir sagen, was das für eine Schweinerei ist, eine Welle zu fahren, dass der andere bald auf der Schnauze liegt.“

Teichert zischte gefährlich:

„Du, sei vorsichtig.“

Ich riss Lord am Ärmel. „Lass gut sein. Ich habe das geregelt.“

Lord lachte verächtlich.

„Also doch Krawall“, meinte jemand. Ich hatte es satt, dazustehen und dumme Reden anzuhören. „Komm, Lord!“

Teichert bückte sich nach seinem Rad.

Das Mädchen redete mich an. „Ihr müsst zur Siegerehrung.“ Lord hob die Arme seitlich und ließ sie an den Körper fallen. Er drehte sich um und ging. Er verschwendete keinen Atemzug an eine Sache, die nicht zu retten war. Ich biss mir auf die Lippen. Die BSG Tabak sah nicht sehr gut aus in dieser letzten Viertelstunde.

Auf dem Weg zum Rundenanzeiger sprach mich einer an. Ein alter Herr war es, im Trainingsanzug, mit grau meliertem Haar, das an den Ohren in Koteletten auslief. „War das dein Kumpel?“, fragte er und zeigte auf Lord. „Wie heißt er?“ – Er trug ein Bärtchen unter der scharf vorspringenden Nase und sächselte stark. Ich ließ ihn stehen. „Wie heißt er?“, rief er mir nach.

Endlich stand ich auf der Bahn. Der Graumelierte gab Teichert Schleife und Nelken. Mir gab er die Hand. Sein Bärtchen über der Oberlippe hüpfte. Teichert hob den Arm mit der Schleife. Auf dem Rasen standen schon die Schrittmacher neben ihren Maschinen.

„Nimm“, sagte Teichert zufrieden und drückte mir die Nelken in die Hand. Er war froh, dass der Streit so glimpflich abgegangen war. Ich nahm die Blumen hoch. Dann legte ich die Hand mit den Nelken auf Teicherts Schulter.

Es war alles in bester Ordnung. Der Walzer erklang, das Publikum pfiff mit, dreimal kurz. Alles fährt KOWALIT. Hinter Teichert ging ich in die Kurve. Langsam fuhr ich, kostete sie aus, meine Ehrenrunde. Fünf Bahnrennen war ich in jener Saison gefahren bis zur Neuenburger Himmelfahrt. Nur in diesem hatte ich das Finale erreicht. Ich fuhr die Gerade, fuhr die andere Kurve; Beifall, wo ich vorüberradelte. Alle hatten sie gesehen: Ich hatte mich nicht leicht geschlagen gegeben. Ich hatte gekämpft. Und ich war fair gefahren.

Drei kurze Pfiffe aus dem Publikum, die flotte Musik, Beifall.

Ich war versöhnt mit Neuenburg.

Und dann, am Ziel, stand sie auf der Bahn, schlank und schmal in ihrem durchgeknöpften leuchtenden Kleide. Sie nahm den Fotoapparat vor die Augen und lachte.

Teichert hielt mich fest. „Nun lächle, Mann!“ Er legte den Arm um meine Schulter. So standen wir einen Augenblick vor Renate auf der Bahn. Ich lächelte über die Nelken hinweg in den Fotoapparat hinein.

Hinter uns wurden knatternd die Schrittmachermaschinen angeschoben. Ich stieg ab. Renate funkelte mich wieder an. Sie verstand es, Musik mit den Augen zu machen. „Wenn du ein Foto davon haben willst, dann schicke ich es dir.“

Sie war ausgeruht, zu Witzen aufgelegt. „Sehr nett“, wehrte ich ab. „Es ist aber nicht nötig.“

Sie kniff die Augen zusammen, bekam ein anderes Gesicht. „Ich bettele niemanden.“ Dann war sie weg.

So schnell hätte sie nicht zu gehen brauchen. Ich besaß wenig Bilder, die mich als Rennfahrer zeigten.

Zum Glück kam Sieber. „Erkälte dich nicht, Klawun.“

Das Kommando für die Steher dröhnte. Endlich konnte ich mich waschen gehen.

Der Trainer blieb neben mir. „Nun hast du wieder sieben Punkte auf deinem Konto.“ An die verdammte Punktesammelei hatte ich nicht mehr gedacht. Sieber entwickelte eine kleine Mathematik. Achtzehn durften starten zu den Deutschen Jugendmeisterschaften. Durch diesen Himmelfahrtsritt hatte ich mich auf Platz acht vorgearbeitet. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn ich in den noch kommenden Auswahlrennen wieder hinausflöge. Ich trug das Rad die Stufen zum Tunnel hinunter.

„Du hattest eine Form wie sonst nur Hille“, sagte Sieber.

Jetzt war das Rennen zu Ende, jetzt konnte er loben.

Hilles Rad stand auch noch irgendwo herum.

Ich fragte: „Und wie viel Punkte hat Hille?“

3

Das Neuenburger Himmelfahrtsrennen war der Auftakt des ganzen letzten verrückten Jahres. Das Theater mit Hille begann am Montag darauf. Schneller hatte die Deutsche Post nicht gearbeitet. Eher kreuzte Gerd Hille auch nicht in der Schule auf.

Vor der Sportstunde am frühen Nachmittag kam ich mit dem Ball aus der Turnhalle, da rief mir ein Mitschüler – Koch – zu: „Menzel will was von dir.“

Ich blieb stehen. „Menzel?“

„Der Alte.“

Einer versuchte mir den Ball wegzuschlagen. Ich wehrte ihn ab.

„Glaub es nur“, sagte Koch. „Dort steht er.“

Ich schaute hoch. Am Fenster des Mitteltraktes im ersten Stock stand wirklich der Direktor. Ich tippte fragend an meine Brust. Direktor Menzel nickte und winkte mir.

Ärgerlich lachte ich. Den Ball warf ich Koch zu, dann rannte ich los. „Was wird mit dem Spiel?“, fragte einer. Ich war ihr bester Schmetterer.

Am Eingang stieß ich auf Sportlehrer Göldner. Rundköpfig, braun gebrannt, stand er vor mir. „Ich muss zum Direktor“, sagte ich.

Und er: „Ich weiß. Ziehen Sie sich aber vorher an.“

Ich schaute verdutzt, allein Göldner ging schon auf die Jungen zu. Er konnte schnell gehen. Er war einmal bei den Deutschen Meisterschaften im Gehen gestartet. Ich zog mich an.

Die Sekretärin wies mich in Menzels Zimmer. Ich erwartete, dass er bereits neben dem Schreibtisch stünde. Im ganzen weiträumigen Zimmer aber befand sich kein anderer als Hille.

„Gerd!“, rief ich, lachte und lief mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. „Zweiter in Neuenburg! Was sagst du nun?“

„Gratuliere“, sagte Hille.

Ich zwängte mich neben ihn auf die Eckbank, stieß mir die Knie am Tisch blau und schob das darauf liegende Schreibzeug beiseite. „Der Menzel holt mich vom Volleyball weg“, sagte ich aufgeräumt, „ich komme mit einer Mordswut hier hoch. Und finde dich. Das ist eine Überraschung.“

„Es kommt noch besser“, prophezeite Hille. Er zog einen Kamm hervor und begann sein kurzes Haar schräg in die Stirn zu kämmen.

„Siehst gut aus“, spöttelte ich. „Wie war es in der Jugendherberge?“

Er fing natürlich beim Wetter an.

Ich ließ mir den Kamm geben. „Schade, dass du nicht nach Neuenburg konntest.“ Er schwieg, ich kämmte mich. Er steckte stumm den Kamm wieder ein. Seine Lippen waren etwas aufgeworfen, und wer ihn nicht kannte, der hätte einen verächtlichen Zug herausgelesen.

Ich erzählte drauflos. „An Coopers Raumschiff hat man jetzt den Defekt ermittelt. Ein elektrischer Verstärker ist ausgefallen. Aber er hat den Apparat auch ganz gut mit der Hand zur Erde zurückgekriegt.“

„So so“, sagte Hille, und ich fand, dass er nicht sehr gesprächig war.

Ich räsonierte: „Was will nun der Menzel eigentlich. Holt uns Rennfahrer hierher. Und jetzt sitzen wir da. Eine ‚Kleine Friedensfahrt‘ wird er kaum organisieren wollen.“

„Kaum“, sagte Hille. Da öffnete sich die Tür. Frau Künne (Deutsch) trat ein, das toupierte Haar von einem Blond, das nicht auf ihrem Kopf gewachsen war. Herr Schneider (Chemie) folgte ihr auf dem Fuße. Dann kam noch eine Frau, eine gepflegte Erscheinung.

Ich stand auf, streifte Hille mit misstrauischem Blick. Herr Menzel geleitete die Dame vor unsere Eckbank. Er sagte ihr meinen Namen, und dann: „Das ist Frau Hille, Gerds Mutter.“

Ich gab ihr die Hand. „Wir kennen uns“, verriet ich voreilig.

Da lächelte Frau Hille, etwas bitter, etwas nachdenklich. Sie sagte, was Herr Menzel hätte sagen müssen: „Ich freue mich, Hans-Peter, dass Sie hier sind.“

Dann saßen wir alle um den Tisch. Im kleinen Kreis, wie Herr Menzel betonte. Der Schüler Klawun auf Wunsch der Frau Hille, wie er sich nicht verkneifen konnte mitzuteilen.