Im Eis - Herbert Friedrich - E-Book

Im Eis E-Book

Herbert Friedrich

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Beschreibung

Sie sind mit ihrem Hundeschlitten in der Tundra unterwegs. Da überfällt sie ein Schneesturm, wie ihn Jakow noch nicht erlebt hat. Tagelang irren sie hungrig und erschöpft umher. Schnee und Sturm scheinen nie mehr aufzuhören. Auch wenn es so aussieht, als gäbe es keine Rettung mehr: Jakow lässt sich nicht unterkriegen, er trotzt dem Schrecken und der Todesgefahr. Sieben Erzählungen, ob sie vor fast vierhundert Jahren oder in unserem Jahrhundert spielen, ob sie von einer Schiffsmeuterei berichten oder von einer Eskimofrau, die in Notwehr einen verkommenen Pelztierjäger tötet, alle sieben Erzählungen zeigen Menschen, die sich Im Eis, unter den harten Bedingungen der Arktis bewähren.

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Impressum

Herbert Friedrich

Im Eis

Erzählungen

ISBN 978-3-96521-534-4 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

Das Buch erschien 1976 im Verlag Neues Leben Berlin in der Reihe „Spannend erzählt“ (Band 134).

2021 EDITION digital

Pekrul & Sohn GbR

Godern

Alte Dorfstraße 2 b

19065 Pinnow

Tel.: 03860 505788

E-Mail: [email protected]

Internet: http://www.edition-digital.de

DIE TRENNUNG

I

Am 1. Juli 1596 trennten sich die beiden Schiffe. Der Tag war so hell wie die Nächte, die ihn einspannen, und Rijp hätte das andere Schiff noch sehr lange sehen können. Er aber schaute nicht mehr hin. Er blickte auch nicht mehr nach den Felsen der Bäreninsel, die besser den Namen Streitinsel verdiente. Oder Rijp-Insel. Da er sich doch dort gegenüber Barents behauptet hatte. Und das war kein Geringerer als der Leiter der Expedition! Mochte schwimmen, was da schwamm. Rijp spähte voran, den Blick dorthin gewendet, wohin nun die Fahrt gehen sollte. Klar kamen seine Kommandos, Kurs Nordnordost. Er atmete frei, als habe er einen Ring gesprengt, der seine Brust umspannt gehalten hatte. Auch ein kleines Lachen kitzelte ihn in der Kehle, als er über das unruhige, salzige Meer schaute. Wind ging genug für die Segel, und Eis zeigte sich nicht. Seine Lippen verloren den verbissenen Ausdruck, den sie lange Zeit gehabt hatten.

Es war ausgestanden. Das Schiff „Amsterdam“ unterlag nun ausschließlich seinem Willen. Er allein verantwortete, wohin es über die See fuhr, und das konnte er getrost tun. Und „Amsterdam“ war ein guter Name für ein Schiff. Dort, wo es schwamm, da war er daheim. Der Name des anderen Schiffes dagegen – „Eissee“ – war ihm nun fast ein böses Omen.

Froh fühlte der harte Mann den Wind im Gesicht, und er kletterte von der Back hinunter in die Kuhl und von dort zum wuchtigen Halbdeck, sah die Segel sich blähen, berührte den Großmast und stieg dann zum Rudergänger. Es war ihm an diesem frischen Morgen, als habe er erst im Augenblick das Kommando über dieses Schiff erhalten. Dabei lenkte er es bereits sieben volle Wochen durch das Meer.

„Tritt zur Seite“, befahl er dem Rudergänger rau und griff sich den Kolderstock, dessen Bewegungen das Ruder dirigierten. Selbst musste Rijp dieses Holz in der Hand halten und fühlen, wie das Schiff ihm gehorchte.

Erstaunt stand der Rudergänger da, klein, dünn, ein wahrer Hänfling. Joost hieß er, wie Rijp sich entsann, und Rijp musste lachen, weil der Mann so gaffte.

„Wohin will denn das andere Schiff?“, wollte Joost wissen. Das Lachen seines Kapitäns ermutigte ihn offensichtlich.

Ja, wohin will er denn wohl, der Dickschädel Barents. Nach dem Osten. Nach Nowaja Semlja, der Hungerinsel, dem Eisland zu. Ins Nichts will er gewissermaßen. Rijp antwortete nicht.

Den Joost verdross das Schweigen keineswegs; er schob die kälteroten Hände in die Ärmel. „Ich schwimm lieber hier als da“, krächzte er. Und hier, das war die „Amsterdam“, und da, das war die „Eissee“, und dazwischen dehnte sich das Meer, und der Abstand wuchs Meile um Meile …

Rijp hangelte sich zur Staatskajüte durch und ließ sich das Essen bringen. Der Schiffsjunge schaute ihn ehrfürchtig an. Dann schob sich auch der Hochbootsmann herein, krumm und mürrisch, und griff sich wortlos die Schüssel, die ihm sofort der Junge reichte. Schweigend löffelten sie die Fleischsuppe. Das blasse, hagere Gesicht des Hochbootsmanns zeigte einen Ausdruck, als habe er viele Fragen; aber er blieb stumm, blies auf den Löffel und schluckte mit hörbarem Geräusch.

Besser, du schweigst, Hochbootsmann. Rijp verspürte nicht die geringste Lust, sich nach diesem großen Streit an der Bäreninsel erneut in Wortgefechten zu ergehen oder gar noch einmal alles vor dem Hochbootsmann wiederzukauen und abzuwägen.

Finster sah er den Hochbootsmann schlucken. Schluckspecht, du. Da lobte man ihn, aber insgeheim hockte in den Kerlen die Angst. Du musst das doch nicht auslöffeln, Hochbootsmann! Wir liegen richtig. Barents dagegen hat die vorgeschriebene Instruktion verlassen, die da besagt, so nördlich wie möglich haben die Schiffe zu reisen, bis dicht unter den Pol, um endlich ihren Bug China zuzuwenden, was dann im herrlichen Süden läge. Ingwer und Pfeffer und Palmen mit Nüssen, in denen Milch schwimmt, und Vögel, die nach Muskat duften, tausend Herrlichkeiten also, von deren wahrem Ausmaß keiner auf dem Schiff was ahnt.

So nördlich wie möglich, Hochbootsmann, wisch dir das Maul! Du wirst sagen, gerade so ist Barents gefahren, als sich die Schiffe noch nicht getrennt hatten. Gewiss.

Willst du aber auch sagen, nördlicher ist nicht möglich – genau wie Barents es sagt –, weil du so auf deinem Löffel herumkaust, Hochbootsmann? Ich aber sage dir, es ist nördlicher möglich, und nur ein Narr kann nach dem Osten rennen …

Entschlossen schob Rijp die Schüssel beiseite. „Wir stoßen an Spitzbergen vorbei dem Nordpol zu“, sagte er heiser zu dem Hochbootsmann, obwohl er hatte schweigen wollen und auch den Mann endlich gern draußen gehabt hätte.

Als er sich dann auf seine Koje streckte und versuchte, etwas Schlaf zu finden, sah er das andere Schiff durch das Wasser furchen, Nowaja Semlja zu, ostwärts, ostwärts … Lange genug hatte er selber vor diesem Eisriegel Nowaja Semlja gelegen, ein Jahr zuvor auf Barents’ zweiter Nordreise. Da hatte er kennengelernt, was Eis heißt. Ein winziger Untercommis war er da gewesen, auf dem kleinsten von sieben Schiffen. Wahrlich, er hatte seitdem an Stärke gewonnen. Aber auch das Eis war gewachsen!

In diesem Augenblick auf der harten Koje war er es sich gewiss, dass der Osten dem Barents den Hals brechen würde. Und als er so lag, allein und fern den wachen Augen der Mennschaft, und auf den Bartenden kaute, da war es ihm völlig gleichgültig, ob er auf dem Kurs so nördlich wie möglich China fände, wenn er nur für die Kaufleute der Mann war, der ihre Befehle aufs Wort befolgt hatte.

II

So fuhr das Schiff seinen Kurs, drei Masten, fünf Segel und die Blinde vorn am Bug, die schöpfend ins Wasser tauchte, weil die Wellen heranleckten. Die Welt war für das Schiff nun nichts anderes als eine ungeheure Scheibe Meer, um die in steter Höhe die Sonne wanderte, Tag und Nacht Helligkeit verbreitend. Das Wasser gischtete über die Wandung und nässte die Männer, aber Eis war immer noch nicht zu sehen, auch nicht am zweiten Tag nach der Trennung. Und für Spitzbergen war es zu früh, obwohl sie seine Küste kaum gewahren würden, weil sie so weit ausgebogen waren.

Jede Meile, die sie nach dem Norden vordrangen, bestätigte Rijp, recht gehandelt zu haben, dem Barents seine ganze beschissene Reise zu durchkreuzen. Er hielt sich lange an Deck auf und sah zu, wie der Hochbootsmann die Männer kommandierte. Sie stiegen in die Wanten zum Mars empor, um rechtzeitig Eis melden zu können. Oder Land. Sie schrubbten das Deck. Sie zurrten an den Leinen. Aber irgendwie gefielen sie ihm weniger als am Tage vorher. Lasch verrichteten sie alles, wie gelähmt von Kälte, die doch keineswegs zugenommen hatte. Was ist los mit euch, Männer?

In der Kuhl saß die halbe Freiwache herum, der Hänfling Joost war darunter. Gerade ihn nahm Rijp sich vor. „He, was zieht ihr für Fleppen. Singt was!“

Joost sang: „Da hinten, da liegt Amsterdam und vor uns das wilde Meer.“ Alles, was recht war, der Joost hatte nicht die schlechteste Stimme. Die anderen fielen ein. Und es war kein schlechtes Lied, das sie da sangen.

Rijp hockte sich auf eine Stufe zur Back. Er saß unter ihnen, und er wusste, sie gehörten zusammen auf Gedeih und Verderb. Und er hätte gern herausgefunden, ob jene auf dem anderen Schiff jetzt auch sängen. Oder Mäuler zogen. Er dachte überhaupt viel an das andere Schiff an diesem Tag, obwohl dies doch keineswegs mehr seine Hochzeit war. Das machte, weil das andere Schiff nicht nur ein Haufen Holz war, bestückt mit Tuchfetzen und einem Wust von Leinen. Es gab einige Leute auf jenem Kahn, die ihm am Herzen lagen.

„Da hinten, da liegt Amsterdam und vor uns das wilde Meer …“

Vielleicht sangen sie drüben genauso, vom Kapitän bis herunter zum Schiffsjungen, voll beklemmender Angst auf ihrem Weg in das Eis. Und er kannte den Kapitän drüben wie auch den Schiffsjungen. Wahrlich, Kapitän Heemskerck, du kannst dir keinen Kurs aussuchen wie ich, du hast den Obersten Navigator auf dem Halse, Wand an Wand mit dir wohnt er, und du hast es bitter nötig, China zu finden …

Heemskerck von der „Eissee“ hatte sich in einer stillen Stunde und nach reichlich genossenem Wein Rijp gegenüber gerühmt, dass sich etwas anspinne zwischen der Kaufmannstochter Gertrud Hasselaer und ihm, dem armen Schlucker Heemskerck, dem Sohn eines Segelflickers. Liebe also. Hoho, wer wollte das glauben. China war das Heiratsgut, das Heemskerck mitbringen wollte. Da streng dich mal an! Ein königliches Geschenk an einen Kaufmann, der dann keinen Grund mehr sehen würde, die Tochter dem Heemskerck zu verweigern.

„Da hinten, da liegt Amsterdam und vor uns das wilde Meer.

Der Kaufmann will’s so han …“

Der Kaufmann will auch China han. Und Ingwer, Pfeffer, Muskat, Elfenbein will er haben. Und eine Passage in jene reichen Länder, die nur ihm gehört. Und Heemskerck bringt sie ihm. Und verramscht flämische Tuchballen dort. Auch das gibt einen Batzen Geld. Heemskercks Aussichten, Gertrud zu erringen, waren nicht so schlecht, wenn er China fand.

„Da hinten warten Weib und Kind, bis unser Mann das China find’t, setzt die Segel, Jungs, alle ran.“

Verflucht grämlich sangen sie nach Rijps Geschmack. Unangemessene Trauer und Rührung schwang da mit mit diesem „Weib und Kind“, die „da hinten“ warten. Für den Heemskerck vielleicht die schöne Gertrud. Für jeden etwas. Für Rijp nicht viel. Und wer „unser Mann“ war, der China fand, war noch gar nicht heraus.

„Da hinten, da liegt Amsterdam

und vor uns das wilde Meer.

Der Kaufmann will’s so han.

Da hinten warten Weib und Kind,

bis unser Mann das China find’t.

An die Segel, Jungs, alle ran …“

Als sie so sangen mit ihren rauen Stimmen, die gewöhnt waren, den Sturm zu übertönen, glaubte Rijp zu wissen, weshalb sie plötzlich so lasch waren, solche Mäuler zogen. Weil Amsterdam eben da hinten lag und nicht vor ihrem Bug. Weil die Mannschaft geglaubt hatte, nach der Trennung der Schiffe führe Rijp sie stracks in die Heimat.

III

Wieder aß er Suppe. Diesmal holte er sich den Joost dazu, damit er nicht nur die schiefe Visage des Hochbootsmanns anstarren müsse. Er hoffte, dass sich der Hochbootsmann nunmehr mit seinen Fragen zurückhalte. Pieters schluckte denn auch sehr verdrossen an den Bissen, während Joost auf der äußersten Kante des Schemels hockte, mit einer halben Backe gewissermaßen. Er aß aber tapfer.

Der Schiffsjunge schwappte mit der Suppe, was ihm einen Hieb des Hochbootsmanns eintrug. Ein ungelenker, missmutiger Bursche war dieser Schiffsjunge, mit großen Augen und Flaum unter der Nase, und sein pickliges Gesicht reizte nicht gerade, mit Appetit die Suppe zu essen.

Der Mann Rijp hätte gern den anderen Schiffsjungen dagehabt, den von der „Eissee“ nämlich. Sooft er den Pickelkerl sah, fiel ihm ein, dass er es hätte besser haben können. Flinke, saubere Bedienung, ein witziges Wort, Gespräche von Mann zu Mann, obwohl jener andere Schiffsjunge auch erst fünfzehn zählte. Am Ende des großen Streites mit Barents, als schon feststand, dass die Schiffe sich trennen würden, hatte Rijp von Barents jenen anderen Schiffsjungen für sich verlangt. „Jedes Schiff fahre seinen eigenen Kurs. Aber gebt mir den Jungen.“ Eine wahrhaft geringe Forderung. Barents hatte sie zurückgewiesen in einer Art, die Rijp noch jetzt die Wut zu Kopf steigen ließ, wenn er nur daran dachte. Es war gerade, als habe Barents mit der Zurückhaltung jenes Schiffsjungen dem Rijp die Trennung versalzen wollen. Ein Quäntchen Triumph des Navigators auf Kosten des Letzten vom Schiffe „Eissee“. Jener nunmehr so ferne Schiffsjunge Jan Hillebrant, an dem Rijp so viel lag, war der Sohn eines Freundes von Rijp, der im Kampf gegen die Spanier vor Rijps Augen gefallen war … Erstochen auf der Schelde in einem Boot. – Und du, Jan Hillebrant, den ich nicht gekriegt habe für mein Schiff – Pech und Plage, Schlamassel, Sch… Halt dich wacker, dort auf der „Eissee“. Den Kopf werden sie dir schon nicht abreißen. Und grüß China von mir, wenn du es schaffst mit deinen fünfzehn Jahren …

„Wisch den Tisch ab“, knurrte er den Pickligen an. Der Hochbootsmann stieß den Schemel so zurück, dass er gegen das Bein des erschrockenen Jungen schlug. Joost saß endlich richtig am Tisch, so breit er sich nur machen konnte, das aber war nicht gerade viel bei seiner dürftigen Gestalt.

„Red was“, forderte Rijp Joost auf, als der Hochbootsmann hinaus war und Joost schon aufstand und hinterher wollte. „Bist du immer so schweigsam?“

„Wollen wir noch weit nach Norden?“, begehrte Joost zu wissen und setzte sich zaghaft wieder hin.

„Du sollst was erzählen und mich nicht ausquetschen.“

„Der Norden ist nicht gut“, warnte Joost plötzlich. „Vier mächtige Ströme wälzen sich aus allen Himmelsrichtungen nordwärts, und dort, wo sie zusammentreffen, stürzen sie donnernd in die Tiefe. Bei der Schwarzen Klippe ist das, Rupes Nigra, dem Nordpol.“

Rijp musste lachen. „Du redest recht gelehrt.“ Spott war in seiner Stimme.

„Ich habe Mercators Karte studiert. Wenn das Schiff in diesen Höllenschlund gerät …“

Rijp lachte schallend. Ein heiterer Bursche, dieser Joost. „Kerl, du bist gut. Mercator! Wir malen unsere eigene Karte vom Nordpol, und zwar ohne Hölle. War Mercator dort? Du wirst staunen, Joost, und deine Augen verdammt aufreißen müssen, wenn du Mercators Schwarze Klippe sehen willst.“

Die Tür sprang auf, und mit der rauen Luft schob sich der Kopf des Hochbootsmanns herein. „Vor uns liegt Eis.“

IV

Joost hatte ihn erheitert. Das Eis verstimmte ihn. Lange stand er am Bug und schaute auf den weißen Rand, der sich dehnte, so weit das Auge reichte. Er ließ heranfahren und Rinnen suchen. Ein Stück fuhr das Schiff hinein in das Eis wie in einen holländischen Kanal. Fehlte nur noch, dass hier Windmühlen stünden. Vom Eis war nichts in Joosts Rede gewesen.

Eis war tückischer als der Höllenschlund. Mercators Karte hatte kein Eis verzeichnet. Rijp ließ die geografische Breite bestimmen und stellte fest, dass sie nicht nördlicher vorgedrungen waren als damals mit Barents.

Er sagte „damals“. Es lag schon lange zurück für ihn, die Zeit vor der Trennung. Eine ganze Herrgottswoche über führte er das Schiff am Eisrand entlang, ließ es auch geraume Zeit liegen in der Hoffnung, doch eines Tages durchfahren zu können. Die Mannschaft holte sich kalte Füße. Sie sangen nur noch, wenn der Hochbootsmann sie zum Spill trieb, um den Anker wieder einmal aus der Tiefe zu zerren. Der Picklige verschüttete jeden Tag Suppe, und das war in diesem kargen Land nicht gerade die haushälterischste Art, mit Nahrung umzugehen. Manchmal schossen sie Gänse. Er ließ den breiten Bug gegen das Eis rammen, das ihm den Weg nach dem Norden verlegte. Das Eis hielt stand, der Bug trug Schrammen davon, zum Entsetzen des Zimmermanns. Es war nicht möglich, weiter nach dem Norden zu fahren. Nördlicher war nicht möglich.

Nun hatte er es probiert, nach eigenem Willen. Längst kannte er die Instruktion der Amsterdamer Reeder und Räte auswendig. Rijp hatte mehr riskiert, als sie eigentlich erwarten könnten. Wenn er jetzt umkehrte, wer wollte dann einen Stein auf ihn werfen. Die Instruktion war dem Buchstaben nach erfüllt.

Es ging schon in den August, da ließ er abdrehen. Joost, deine Schwarze Klippe, deinen Mahlstrom werden wir nicht zu Gesicht bekommen. Deine Haut ist vor dem Höllenschlund gerettet.

Er machte seine Späße mit Joost, der lachte gutmütig. Er konnte sich nicht helfen, an diesem Joost hatte er allmählich einen Narren gefressen. Es war gerade, als habe er sich den Rudergänger herangezogen, weil er den anderen Schiffsjungen nicht hatte haben können.

Nun hörte er wieder „Da hinten, da liegt Amsterdam“ über das Deck schallen. Süden lag da. Er hatte China nicht so nötig wie Heemskerck …

Die Tage waren angefüllt mit tausend Dingen. Nachts aber blieben leere Stunden, sofern man hier von Tag und Nacht reden konnte. Schlaflos lag er, während sich das Schiff nach Süden trollte. Seine Alleinfahrt, sein eigenmächtiges Suchen des Kurses war nicht von langer Dauer gewesen. Krampfhaft, von sich hetzenden Gedanken gepeinigt, suchte er lange nach dem Ergebnis. Und kam doch nur zu dem einen. Festgestellt hatte er einzig und allein das gleiche wie Barents: Nördlicher war nicht möglich! Warum dann aber der verdammte Streit, der zu nichts anderem geführt hatte als zur Trennung?

Rijp schnaufte auf seiner Koje. Sehr einfach war das nicht, so nach Hause zu gelangen. Böse Fragen hatte er zu erwarten: He, wo ist das andere Schiff? Und dann sagen zu müssen: Der Oberste Navigator ist weitblickender gewesen.

In jenen Augenblicken verfluchte Rijp seinen Starrsinn; das andere Schiff kam davon nicht wieder. Es half nichts, er musste zu Kreuze kriechen. Er setzte sich auf, schwankte, verfiel in sein Grübeln. Die Beine streckte er nach den Stiefeln aus, angelte sie herbei, zog sie über. Noch an der Tür seiner feinen Staatskajüte überlegte er. Dann ging er entschlossen hinaus.

Der Wind stieß ihn fast über eine Nagelbank, so heftig blies es aus dem Westen, vermischt mit Schnee aus einem grauen Himmel.

Der Hänfling Joost hielt den Kolderstock mit einer Kraft, die ihm keiner zugetraut hätte. Deine Schwarze Klippe versinkt endgültig wie der Traum vom Land China. „Geh auf Ostkurs“, befahl da Rijp und schwenkte selber den Kolderstock, bis das Schiff auf neuem Kurs hart vor dem Wind lag.

V

Als sich Felsen aus dem Wasser reckten, nach Tagen, von einem Eisgürtel gesäumt, sprach es sich auch unter der Mannschaft herum, dass dies Nowaja Semlja sei. Dem Schiffsrat hatte er es eher gesagt. Der Hochbootsmann hatte zustimmend genickt: Alte Ordnung würde hergestellt werden, wenn Rijp sich dem Barents wieder anschlösse. Und dem Joost konnte jeder Kurs nur recht sein, der nicht in den Mahlstrom führte. Die anderen im Schiffsrat waren dafür und dagegen, die Mehrheit also dafür. Es wäre auch gelacht gewesen, wenn Rijp nicht seinen Schiffsrat zu beherrschen gewusst hätte, nachdem er sich sogar gegenüber Barents durchgesetzt hatte. Aber daran wollte er keineswegs mehr erinnert werden.

Die Mannschaft verharrte dennoch im Murren, und sehr glücklich war auch Rijp nicht. Was war er denn für ein Schiffer, wenn er jetzt dem Barents nachschlich wie ein geprügelter Hund? Nachdem er sich vorher so aufs hohe Ross geschwungen hatte! Dennoch – es war das kleinere Übel …

Und hatte er erst nicht zurückgeblickt, als sich die Schiffe trennten, so hatte er jetzt in diesem regnerischen Augustwetter in jedem Mast einen Mann, der nach dem anderen Schiff ausschaute. Es schien, als wehre sich die Insel Nowaja Semlja; sie glich der Quelle allen Eises. Krachend brach es von den Felsen ab, zerschlug im Tosen der Wellen, in unaufhörlichem Auf und Ab sägte es am Schiff. Schollengewirr und Eisbrei. Sturm fetzte die Segel los, so rasch konnten sie gar nicht das Tuch bergen. In der Luft war ein unaufhörliches Winseln, ein Singen der Kälte, die einem den Atem ausblies. Die festgebundenen Männer in den Masten erstarrten fast, und ein Tau schlug einem gegen den Kopf, dass er reif war für den Chirurgen. „Anker nieder!“, schrie Rijp. Nun zerrte das Schiff an zwei Ankern, das Tuch war an die Rahen gebunden. Der Bug ächzte unter Wellen und Eis, bäumte sich, ehe er niedergischtete in die Tiefen eines Mahlstroms, den selbst Joost sich so schlimm nicht vorgestellt hatte. Sonne zeigte sich nicht mehr, als sei dies die Stelle der Finsternis, Höllenschlund und Schwarze Klippe in einem. Keiner kam mehr aus den Kleidern. Und tappte Rijp in die Back, starrten die Männer aus tief liegenden Augen von den Kojen herunter. Da kam ihm zum ersten Mal dieser grässliche Gedanke. Wenn er hier sein Schiff verlöre. Hier bleiben müssen für immer und ewig … Er schauderte bis ins Mark.

In einer der kurzen Nächte riss der vordere Anker, das Schiff drehte sich. Der Sturm hatte zugenommen und die Eisfelder zerspellt. Jetzt rückte es aus dem Westen an, aus der Tiefe des Meeres, Flottillen von Eis, die sich krachend gegen das Ufer warfen. Es klemmte das Schiff ein, türmte sich an der Bordwand und brach donnernd in die Kuhl. Den Hochbootsmann erwischte es, als er alarmierend in die Back hatte springen wollen.

Rijp sah vom Halbdeck aus, was das Eis angerichtet hatte. Die Kuhl war unpassierbar geworden, die Reling eingedrückt. Das Beiboot lag seltsam verdreht wie eine verwundete Robbe. Von der verschlossenen Back her schrien sie, was mit dem Hochbootsmann sei. Böse Quetschungen, schickt den Chirurgen! Wer in der Back saß, war wie gefangen.

Der ganze Schiffsleib erzitterte unter den Stößen des Eises, bis er sich auf einmal schräg stellte, so dass das losgerissene Beiboot gegen das Schanzkleid rutschte. Rijp hetzte über das Halbdeck, trommelte Leute zusammen, die er in die Kuhl steckte, damit sie gegen das Eis vorgingen. Sie wuchteten mit Brechstangen. Die schräge Lage des Schiffes erleichterte ihnen die Arbeit, Glück im Unglück. Das Eis rutschte ins Meer zurück. Sie bahnten eine Gasse zur Back, gelangten endlich an die Tür, die sich dann auch öffnen ließ. Dem Hochbootsmann ging es schlecht.

Rijp versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Hierhin und dorthin schickte er die Leute, wo ihm besondere Gefahr zu drohen schien. Mit leisem Schrecken gewahrte er, dass das Schiff nun langsam gegen die Felsen trieb, obwohl es wieder aufrecht im Wasser lag. „Den kleinen Anker, rasch!“ Merkten sie es nicht selber?

Die Mütze hatte er verloren, er spürte es nicht. Er fasste eine Brechstange, der Handschuh blieb kleben. Er sah seine Männer, wasserübersprüht, eisüberzogen. Der kleine Anker schien zu fassen.

Da schrie einer: „Wasser im Schiff!“ Die Männer brüllten. Rijp stand wie erstarrt. Dann drehte er sich um, riss einen von der Tür zum Halbdeck weg. Er stürzte die Leiter hinunter, trat auf Leiber. Drei Mann arbeiteten an der Lenzpumpe. Das Wasser schoss in breitem Strahl durch die Bordwand in der Nähe der Bilge. Wassereinbruch! Nun ade Amsterdam, Schiff und Vaterstadt in einem …

„Werg und Planken!“ Nun lauft um das Leben. Rijp hatte einen beim Kragen, stieß ihn zur Pumpe, riss selber ein Tau weg, stolperte, war durchnässt, ehe er das Leck auch nur richtig gesehen hatte. Die Kälte legte sich wie Blei auf ihn. Alles um ihn war ein unaufhörliches Tosen, stürzendes Wasser und Stimmengebrüll. Die einzige Laterne beleuchtete gespenstisch die hereinstürzenden Fluten.

In diesem Augenblick sah Rijp den Rudergänger Joost, den Hänfling, wie er sich an der Wandung entlangdrückte und dann in den Schwall stellte und das Leck zustopfte mit nichts anderem als seinem schmächtigen Körper. Im Nu war Rijp neben ihm, ächzend presste er sich neben den kleinen Kerl, gegen das zerschrammte Holz, stand wie der andere, schwer atmend, um die Fluten abzuhalten, das feindliche Element, das sie zu vernichten drohte.

Er kam sich vor wie nackt, die Nässe war überall. Über seine Schulter sprühte eine Fontäne. Er wusste nicht, wie viel Wasser nun noch in das Schiff drang. Ja, das war das Eis und die See, die keiner nun deutlicher am eigenen Leib verspüren konnte als Jan Cornelis Rijp. Das war die Eissee. Und die andere „Eissee“, das Schiff, das er wiederzufinden gehofft hatte, lag vielleicht schon auf dem Grund des Meeres. Der rastlose, übermütige Heemskerck, der sich nicht scheute, nach einer Kaufmannstochter zu greifen. Der Junge Jan Hillebrant, der auf der „Amsterdam“ vielleicht genauso verloren wäre wie auf dem fernen Schiff …

Rijp sah viele Leute vor sich, als er neben Joost gegen die Planken gepresst stand. O Amsterdam. Es war ihm nicht mehr kalt. Er stand in Amsterdam an der Oude Kerk, im Windschatten gegen das Gemäuer gepresst. Leises, gurrendes Lachen. Täubchen, du. Catharina … Lange duckte er sich gegen das Wasser, Ewigkeiten. Zuletzt dachte er nichts mehr. Gefühllos stand er, auch für Raum und Zeit.

Endlich war mehr Licht da. Und der Zimmermann. Planken fügten sich in die zerspellte Stelle.

Sie mussten Rijp und Jobst förmlich wegreißen; es dauerte eine Zeit ehe sie ihre ineinandergehakten Arme gelöst hatten.

Drei Tage lag Rijp auf seiner Koje und redete im Fieber. Der Hänfling Joost war eher wieder auf den Beinen. Der Hochbootsmann war gestorben.

Eine volle Woche hielt das Eis sie gegen die Ufer geklemmt, dann trieb es der Wind von Nowaja Semlja weg, gab den Weg frei nach Süden. Nach Norden hin blieb nach wie vor alles verschlossen.

Rijp stand blass und stumm neben Joost auf dem Galion und schaute über die Eisfelder. Da irgendwo hinter der Barriere schwamm die „Eissee“ China zu, und es wäre dem Heemskerck zu gönnen wie auch dem Schiffsjungen.

Aber das war nur ein schwaches Flämmchen Hoffnung in ihm. Sein Verstand dagegen sagte, dass die „Eissee“ mit Mann und Maus verloren war. Da redete er so leise, dass Joost Mühe hatte, es zu verstehen: „Nun fahren wir heim.“

VI

Und dann kam die Heimat. Es traf sich, dass Rijp gerade siebenundzwanzig wurde, als das Schiff wieder in Amsterdam anlangte. Wie unwirklich schimmerten im feinen Septemberdunst die Türme der Stadt über den Wassern des Yj.

Rijp lehnte am Geländer, seinem gewohnten Platz, und sah sie sich nähern und stieß schroff abwehrend etwas heraus, als Joost ihn ansprach. Und dieser Joost war ihm seit der Sache mit dem Leck lieb wie ein Bruder. Rijp hätte gebebt, hätte man ihn je einen Weichling genannt. Doch jetzt würgte es ihn in der Kehle, und er hatte zu tun, die verfluchte Rührung hinunterzuschlucken. Es war ihm, als wäre er zum zweiten Mal geboren worden.

Joost sagte angesichts des Schreierturms an der Buitenkant, der Oude Kerk und der Nieuwe Kerk, dieses dutzendfachen Turmgestachels zwischen Singel und Kloveniersburgwal: „Bei dieser Stadt, Jan Cornelis, so wahr es sie noch gibt auf ihren tausend Pfählen, ich will verrecken, wenn mich je wieder einer dazu bringt, ins Eismeer zu schwimmen.“ Er sprach damit haargenau aus, was auch Rijp empfand.

In der Sonne des späten Septembers, die ihn mit ihrer Wärme wohltuend umflutete, gab Rijp die letzten Befehle. Langsam drehte die „Amsterdam“ ihren stumpfen Bug der Lücke im Pfahlwerk zu, dann fielen Segel und Anker. Das Schiff war daheim.

Die Mannschaft drängte sich nun endlich am Geländer, unterm Möwengeflatter, und schmeckte wohlig-müde den Fischgeruch. Da mochte mancher jubeln und den Kerlen da unten zuwinken, den Segelflickern und Bettlern. Viel Volk staunte herauf. Es war aber mehr eine stille Freude in ihnen, mit einem „Gelobt sei der Herr“. Und das war mehr Rijp für sie als ein anderer.

Ohne Murren gingen die Männer daran, die Segel richtig zu vertäuen und die Kojen zu säubern. Es gab auch keinen Widerspruch, als sie, eingepfercht in die Back, den Befehl des Schiffers hörten, dass bei peinlicher Leibesstrafe keiner von Bord zu gehen habe. Was Rijp auch gefordert hätte, sie wären ihm gefolgt, selbst durchs Feuer, da er sie aus der weißen Wüste zurückgebracht hatte. Die fünfzehn Mann auf dem Schiff hätten alles für ihren Kapitän getan. Sie hatten Amsterdam wieder.

In der Staatskajüte ließ sich Rijp den Bart zurechtstutzen, wobei er sich mit Joost beriet, auf der Hut, dass der Barbier nicht zu viel von dem schwarzen Gewucher wegschneide. Draußen wartete die Stadt. Aber nicht in den „Gouden Leeuw“ würde Rijp zuerst gehen, wo er ein dumpfes, winziges Zimmer bewohnte, und nicht zum Vischmarkt, an dem er ein halbes Jährchen lang seine Nächte verbracht hatte. Angenehme Nächte waren das gewesen, wie er sich jetzt unterm Schabemesser entsann, innerlich lachend, fröhliche Nächte wie vorher in der St. Jan-Straat und noch eher, Jahre zuvor, in seiner Vaterstadt Alkmaar. Er hatte sie geliebt, die bunten Röcke. Die letzte am Vischmarkt freilich hatte auf Heirat gedrängt. Rijp aber war nicht der Mann gewesen, das, was er Freiheit nannte, so rasch aufzugeben. Nicht ungern dachte er an Catharina, jetzt, da er dasaß unter Joosts anhänglichem Blick, unter dem Messer des Barbiers. Catharina musste warten ebenso wie die Schenken, die ganze Stadt.

„Wir gehen zu Os, du und ich, Joost“. Denn wenn er einen dabei haben wollte, dann den Hänfling. Er glaubte nicht, dass sich einer der Kaufleute jetzt in den Hafen verirrte. Also musste man hin!

„Os“, sagte Joost. Ochs also. „Ochsen muss man schön aus dem Wege gehn.“

Es war aber im geräumigen, glanzerfüllten Hause des Os der Abschied gewesen, damals im Mai. Hier wollte er wieder ankommen. Mit seinem Bruder Joost, den er zum Hochbootsmann gemacht hatte. Damals die Festreden, der Wein, die Herren Os, Hasselaer, Warmont, Malson. Davon kannst du nichts wissen, Joost, damals warst du noch zu klein unten. Kaufleute der kaum gegründeten Kompagnie der fernen Lande, Männer vom Amsterdamer Magistrat, Deputierte der Generalstaaten, das häuft sich, was? Da sammelt sich was an, durch Geld und Ämter verschwistert. Alles hatte der junge Kaufmann Os im Auftrag der Admiralität aufgeboten, „um die tapferen Männer zu verabschieden, die zwei Schiffe nach China steuern werden“. Tapfer, Joost. War das Tapferkeit, das an dem Leck? Wein, der fröhlich machte, bei Os, manch schöne Augen da, seidene lange Kleider, Dekolletes. Und der Vorruhm, der einen schier besoffen machte. Das war Glück, Eisbruder!

Joosts Augen glänzten.

Und nun? Was für eine Heimkehr. Wein werden sie uns nicht ans Schiff bringen. Statt zu den Türmen hinüber, bei der Einfahrt, hätten wir nach den Masten der Schiffe spähen sollen, ob wir darunter nicht die „Eissee“ entdecken. Dass sie sich doch durchgeschlagen hätte, gerade wie wir … Was für eine Heimkehr, Joost. Statt zwei Schiffen nur eines.

VII

Rijp hatte seinen Männern nun endlich ruhige Nächte verschafft, die Freuden an Land waren greifbar nahe. Er war nicht unglücklich, als er jetzt zu Os ging, unter Ulmen, deren Blätter sich schon färbten. Die wachsende Zuneigung der Mannschaft hatte ihn entschädigt für das, was er im Eis auf sich genommen hatte. Das fehlende Schiff festigte eher noch seine Position, als dass es schadete. Wer den Hafen erreicht, der hat recht. Er hatte die Hand auf Joosts Schulter liegen, als er die Brückchen überquerte. Os’ Haus lag in der Nähe der Binnenamstel, am Rande des Judenviertels, eingepfercht zwischen Giebeln.

Ein mürrischer Diener meldete sie an. Sie standen in einem Vorzimmer, dessen dunkle Täfelung das Licht wegschluckte. Die Dämmerung ließ ihn Joosts Gesichtsausdruck kaum erkennen, und er hütete sich zu sprechen, weil er nicht wusste, ob einer mithöre. Er hatte auch das verdammte Gefühl, dass es länger dauerte, als nötig war. Sie werden sich von dem Schreck erholen müssen, wer da kommt, von welchem Schiff. Unwillkommen aber werden wir nicht sein. Wenige sind’s, die ausfahren, neue Passagen zu suchen. Rijp legte die Hände vor dem Bauch aufeinander, wie wenn er vor dem Prediger in der Oude Kerk stünde. Er richtete sich auf langes Warten ein. Als endlich der Diener fast widerwillig die Tür öffnete, marschierte Rijp los.

Durch die ganze Tiefe des Raumes eilte Os ihm entgegen. „Mein lieber Jan Cornelis, Sie …?“ Sehr viel glückliche Hoffnung schwang da mit, Verwunderung freilich auch. Des Kaufmanns Hände, die sich auf seine Schultern legten, hatten einen derben Griff. Die „Amsterdam“ habt ihr wohl alle nicht erwartet hier. Ihr Kommen schon bedeutete im Grunde Misserfolg. Aus China kam man nicht zurück nach vier Monaten!

„Gerade festgemacht an der Buitenkant“, sagte Rijp lakonisch.

Natürlich war Os in Gesellschaft; er hätte es sich denken können und fühlte sich plötzlich seltsam belebt. Zeichen und Wunder! Am Kamin lehnte Hasselaer, was freilich kein Grund zum Staunen war. Die beiden Füchse hockten oft genug beisammen. Das Wunder bestand in anderem: Neben dem alternden Kompagnon des Os saß eine Frau. Schau dir die Augen aus, Joost.

Diese schöne weibliche Gestalt erschien Rijp auf einmal nach all der Zeit in der weißen Wüste und auf dem Männerschiff wie ein Urbild von Jugend und Leben. Es war Hasselaers Tochter; er hatte sie beim Abschiedsfest gesehen, und sie hatte ihm da schon gefallen.

Da kannte Rijp einen, der sicher alles dafür gegeben hätte, jetzt an seiner Stelle zu sein. Wirst noch eine Weile warten müssen, Jacob van Heemskerck. Oder nie mehr hier stehen können …

Sie ließen ihm keine Zeit, die Augen umherwandern zu lassen. Ihre Verwunderung verlangte Aufklärung. Hasselaer fragte: „Waren Sie schon in der Admiralität?“

Rijp hob die Brauen. „Nein.“

Rijps Antwort verdross Hasselaer; man sah es dem alten Herrn an, er roch direkt die schlechte Kunde. Der junge Os, rosig, mit prall gespannter Gesichtshaut wie ein Ferkel, drängte ihn zum Reden, während Hasselaers Tochter es direkt herausfragte, ohne weitere Umschweife: „Wo ist das zweite Schiff?“

Da konnte sich Rijp nicht enthalten, ebenso deutlich zu antworten. „Abgesoffen oder in China.“ Das ließ nicht viel Auslegungen zu. Joost neben ihm bekräftigte es mit einem Nicken. Wenn die Kaufleute nicht wussten, wo jener Kahn war, dann konnte man nur noch den Teufel fragen.

Os rollte mit den Äugelchen. Er trug ein wahres Feiertagswams, von dessen Graublau sauber die Spitzen an Handgelenken und Hals abstachen. Das gleiche Gewand hatte er bei ihrer Verabschiedung getragen …

Dieser Rüpel von einem Diener brachte auf Os’ Geheiß eine Stärkung, bevor Ochsen-Os alles aus ihnen herausgeholt hatte. „Sie haben die ,Eissee‘ aus dem Gesicht verloren?“ Die schwere Kette um Os’ Hals schlenkerte, als er sich forschend vorbeugte.

„Die Schiffe haben sich getrennt.“ Rijp konnte eine gewisse Schärfe in der Stimme nicht unterdrücken.

Man sah, wie es sie verblüffte. Hasselaers so gelassen daliegende feine Hand krampfte sich auf einmal um die Armlehne. Gertrud zupfte nervös an der Spitze. Nicht Zufall, Fügung Gottes oder Naturgewalt hatten die Schiffe auseinandergeblasen. Aus eigenen freien Stücken waren sie voneinander geschieden. Das halte man sich vor Augen!

Rijp saß nun selber, neben Joost, und das war allerhand für einen Schiffer und einen Fahrensmann, im Hause des Os zu sitzen und von Os’ ringgeschmückter Hand Tee eingegossen zu bekommen. Nimm das wahr, Eisbruder! Bier und Wein trank man auf den Schiffen. Tee, das war schon was; ein Lob auf den Tee, der in den Laderäumen von Indien herüberschwamm, ein volles Jahr unterwegs, und dort seine letzte Reife empfing oder seine erste Fäulnis. Wenn sie den Tee im Norden von Asien hätten holen können, in kürzerer Zeit, vielleicht wäre dann sein Aroma noch besser …

Os sagte: „Ich erwarte Ihren Bericht.“

Da hatte freilich der Mann Rijp eine Menge zu schildern. Die Trennung. Die beiden Kurse. Norden und Osten geht nicht zusammen!

„Nach Nowaja Semlja ist er?“

Jawohl, Hasselaer, du hast die richtige Nase.

Rijp brachte vor, wie er versucht habe, Barents zu überzeugen, und hoffte zugleich, mit all dem, was er auszupacken hatte, auch dem jungen Herrn Os alle Zweifel zu nehmen und dem alten Herrn Hasselaer und der schönen Gertrud, die schmal und zart und lockend weiblich in einem weich fließenden Gewand im Sessel lehnte. Er hätte die Frau gern erheitert mit dem, was er sagte. Aber es schien ihm, als sei sie von den drei Anwesenden hier am schwersten zu gewinnen.

„Wann trennten sich die Schiffe?“

Er sagte es.

Da machte ihm Hasselaer die Rechnung auf. Ein knappes Vierteljahr war das her!

Drei Monate Eis und Hoffnung und Flüche und Sonne am Himmel … Joost schlürfte hörbar den Tee.

„Zum Teufel mit Barents!“, knirschte Os, während er ihnen Backwerk zuschob. Hasselaer sagte es drastischer: „Jeder, der gegen die Instruktion verstößt, verdiente gehenkt!“ Das waren harte Worte vor der Dame, und Os, schweinsäugig, brachte ein beschwichtigendes „Nun, nun“ an, das aber nicht wegwischen konnte, was dem Navigator Barents im Grunde zugedacht war.

Am gefährlichsten mit ihren Fragen dünkte freilich dem Rijp dieses Wesen in dem weich fließenden lachsroten Gewand. Augen, von denen er an Bord geträumt hatte; Lippen, die er lieber im Kuss erprobt hätte, als dass sie ihm die Leviten lesen sollten.

„Da Sie wieder hier sind, Herr Rijp“, fragte sie direkt hinterhältig, „sind Sie folglich auf dem verlangten Kurs auch nicht nach China gelangt?“

Er setzte das Glas ab. Nein, dieser Tisch hier, das war nicht China, obwohl es hier Tee gab. Er war nirgends anders hingelangt als an seinen Ausgangspunkt. Also auch er war gescheitert.

Die junge Frau zog andere Schlussfolgerungen. Sehr nervös sagte sie: „Also besteht die Möglichkeit, dass die ,Eissee‘ die Passage gefunden hat. Bei Nowaja Semlja nämlich. Auf dem verbotenen Kurs.“

„Da kommt keiner durch.“ Joost lachte auf, und Rijp schüttelte den Kopf. Nein, da in jenem Eis gab es keine Planke mehr und nicht einen Menschen …

Und es rührte ihn, wie ungelenk sie das fremde Wort Nowaja Semlja ausgesprochen hatte und wie da zugleich so viel Hoffnung mitschwang.

Os freilich war tief betroffen, was sein fleischiges Gesicht bullenhaft machte, dass es so gar nicht mehr zu seinem heiteren Aufputz passte. Wie sie sich hätten trennen können, mein Gott! Ja, wenn sie sich getrennt hätten beim Passieren des nördlichsten Kaps von Asien, wenn der Weg stracks nach Süden geht! Wenn dein Schiff gekommen wäre, Rijp, mit der Nachricht: das andere ist auf Südkurs, es gelingt! Aber so …

„Haben Sie Neues entdeckt?“, drängte Hasselaer.

Da war Rijp froh, endlich doch etwas bieten zu können. Ein Eiland nördlich des Nordkaps, Bäreninsel genannt (Streitinsel, besser). Und das neue Land Spitzbergen auf 80 Grad Nord.

Das ließ sie aufhorchen. So hoch im Norden war keiner gewesen. Sie erkannten auch an, dass er noch keine Maus von Bord habe gehen lassen. Und seine Tagebücher und Karten wollten sie schon durchgrasen.

Dann war der Tee getrunken, das Reden verstummt. Gertrud saß bleich, mit gefalteten Händen.

Os war kulant. „Wenn Sie mal was brauchen, für Sie habe ich immer ein Schiff.“

Selbst Hasselaer sagte: „Die Stadt wird Sie ehrlich belohnen.“

VIII

Er nahm Besitz von der Stadt, stand eine Weile auf einer Brücke und starrte in schwarzes, träges Grachtwasser. Joost hatte er neben sich wie einen Schatten. Wenn er aber überdachte, was die Kaufleute gesagt hatten, dann hatte er jetzt keine Sehnsucht nach seinem Schiff, geschweige denn nach jenem im Eis verbliebenen.

Er hatte eher Verlangen nach ein wenig Wärme, nach etwas, was dieser schlanken, schmiegsamen Gestalt an Os’ Kamin glich, von der er so harte Worte hatte einstecken müssen.

Joost schwatzte vom Tee in Ochsen-Os’ Haus; er hätte Os auf dem Schiff sehen wollen, als das Meer zum Leck hereingebrochen war. Die Gracht entlang stakte ein Boot; das Wasser hier roch fauliger als die See. „Eisbruder“, begann da Rijp leise, „geh immer zum Schiff, ich hab noch was vor …“

Joost stutzte zwar anfangs, dann aber lief ein Grinsen über sein Gesicht. Ach, so ist das, Schiffer. Joost ist schon weg, so gut wie gar nicht mehr da. Klein und bescheiden geht er. Die Frau aber dort bei dem Ochs, die war wie Zucker … Der Hänfling spitzte die Lippen wie im Kuss, dann ging er davon, wankend, als liefe er an Deck.

Eine Weile blieb Rijp auf der Brücke stehen, sah dem Joost hinterher, lächelnd und froh, schritt dann bald weiter, zwischen Fischkarren hindurch, die zum Hafen wollten. Ein Zug von Waisenkindern drängte ihn ab; der Vorsänger sang mit Fistelstimme. Lang entbehrte Bilder waren das für Rijp; er schaute lange, er genoss es zu leben.

Noch von der kleinen Kneipe her, in die er sich hockte, hörte er das Singen. Bier ließ er sich bringen. Erstes holländisches Bier wieder … Es hätte auch dem Joost geschmeckt. Der Wirt war fett und schmutzig.

Nach zwei Bechern hatte Rijp sich satt getrunken, da zwängte er sich zwischen Segelmachern und Fischern durch. Dann lief er den Kloveniersburgwal hinunter. Joost hatte nicht so unrecht mit seinem Grinsen …

Der Weg an der Gracht entlang mündete auf den Neuen Markt, den die kräftigen Rundtürme der St.-Anthonies-Waag abschlossen. Er passierte sie und ebenso den schmalen Durchgang zum Vischmarkt. Dann stand er vor Pieter Frankerts Haus. Die Fensterläden im Erdgeschoss waren verschlossen wie auch die von Catharinas Zimmer. Doch saß Griet in der Tür, das war die Magd. Sie war so beschäftigt mit einer Stickerei, dass er noch Zeit hatte zum Überlegen. Er wusste genau, wenn er jetzt hier eintrat, dann legte er sich fester, als er je beabsichtigt hatte.

Das Abendlicht glänzte in den bleigefassten Scheiben des Hauses. Die Mauer bis zur Höhe der Erdgeschossfenster hatte er im Frühjahr weiß gekalkt, bevor er in die weiße Wüste gezogen war. Dieses Weiß hier schimmerte unverfälscht kräftig und hob sich wie ein sauberer Kragen von dem aus Backsteinen gemauerten Treppengiebel ab. Langsam umging Rijp die kreiselnden Kinder, dann sprach er Griet an.

„Rijp …!“

Später saß er bei Catharina im Wohnraum, das Mädchen ging hin und zu, mit Schüsseln und Flaschen. Wein brachte sie ihm und Obst. Ihr Vater saß dabei, Pieter mit Namen wie der Wirt vom „Gouden Leeuw“. Und auch bewirtet wurde Rijp hier. Und dieser Pieter, noch jugendlich im Gesicht, mit vollem, auf die Schultern fallendem Haar, sagte in verstehendem, verschmitztem Lächeln: „Ich habe es gewusst, Jan Cornelis Rijp, du kommst wieder.“ Nicht nur aus dem Eismeer zurück, direkt vom Höllenschlund, nein, er kam vor allem wieder zu Catharina.

Wohlgefällig lag Rijps Auge auf ihr, wie sie hantierte. Er wollte nie vergessen, wie ihre Augen vor Freude aufgegangen waren, als Griet ihn in dieses Zimmer geführt hatte. In einer gewissen Scheu hatte sie ihn an den Händen gefasst. Und er hoffte, sie werde sich nicht gar so sehr erinnern, dass er fast ohne Abschied davongereist war. Sie gefiel ihm nach dieser langen Zeit über alle Maßen, in ihrer blauen Jacke, aus der die Unterarme in einer gesunden Bräune hervorsahen.

Es war ein angenehmeres Sitzen als bei Os. Heiter plauderte Rijp, wobei er Catharina nicht aus den Augen ließ. Er sah sie gewissermaßen neu und erstmals. Das Haar trug sie im Nacken hochgesteckt. Über den Ohren aber fiel es in gelockten Büscheln herab, was ihr Gesicht sehr anmutig machte.

Sie plauderten über belanglose Dinge, während er sich am Schellfisch sättigte, den Griet rasch zubereitet hatte. Vieles, was Catharinas Vater wissen wollte, konnte er nicht beantworten, weil es die Reise ins Eis betraf und ihm unbekannt war, was die Kaufleute davon geheimhalten wollten. Vieles, was er gern gesagt hätte, konnte er nicht mitteilen, weil es für Catharina bestimmt war, leise Worte, ihr ins Ohr geflüstert, dass ihr heiß ums Herz werden sollte. Kleine Plaudereien also gab es nur. Und er dachte an Joost. Und mied es, das von dem Leck zu erzählen.