Die süße Einsamkeit - Irène Némirovsky - E-Book

Die süße Einsamkeit E-Book

Irène Némirovsky

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Beschreibung

Eine selbstsüchtige Mutter, die auf ihre heranwachsende Tochter eifersüchtig ist; eine bildhübsche Tochter, die sich mit den Waffen, die sie eigentlich verachtet, dafür rächt: Im Mittelpunkt von »Die süße Einsamkeit« steht ein dramatischer Mutter-Tochter-Konflikt. Gleichzeitig ist der erstmals ins Deutsche übersetzte Roman das Porträt einer Gesellschaft im Umbruch und der verführerischen wie gefährlichen Chancen, die daraus erwachsen.

»Zu allem Überfluss wollte ich auch noch geliebt werden!« So fasst die junge Hélène die Realität ihrer Kindheit und Jugend zusammen. Als einziges Kind einer großbürgerlichen Familie wächst sie in schier unvorstellbarem Luxus in St. Petersburg auf – doch ohne Geborgenheit und Liebe. Hélène hasst ihre egozentrische Mutter, die den ewig abwesenden Vater schamlos mit immer jüngeren Liebhabern betrügt. Nur Mademoiselle Rose, die französische Gouvernante, schützt Hélène vor beunruhigenden Träumen und einer beängstigenden Wirklichkeit. Schließlich zwingen Krieg, Revolution und Flucht nach Paris das junge Mädchen, sich von vermeintlichen Sicherheiten zu befreien. Sie gerät in einen Sturm der Gefühle und rächt sich an der Mutter, indem sie deren Liebhaber den Kopf verdreht. Doch am Ende erkennt sie, dass nur Selbstachtung und Mut sie in die ersehnte Freiheit führen.

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Seitenzahl: 312

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Irène Némirovsky

Die süße Einsamkeit

Roman

Aus dem Französischen von Susanne Röckel

Knaus

Die Originalausgabe erschien 1935 unter dem Titel »Le vin de solitude« bei Editions Albin Michel, Paris.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe

Éditions Albin Michel – Paris, 1935, 2004

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Gesetzt aus der Aldus von

Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-14726-6www.knaus-verlag.de

Erster Teil

1

In dem Teil der Welt, in dem Hélène Karol geboren wurde, kündigte sich der Abend durch dichten Staub an, der langsam durch die Luft schwebte und mit der Nachtfeuchte wieder absank. Ein trübes rötliches Licht zuckte am Horizont, und der Wind brachte den Geruch der ukrainischen Ebenen in die Stadt, einen schwachen, herben Duft nach Rauch und der Frische des Wassers und des Röhrichts, das an den Ufern wuchs. Der Wind wehte von Asien her, war zwischen den Bergen des Ural und dem Kaspischen Meer eingedrungen und blies Wogen gelben Staubs vor sich her, der zwischen den Zähnen knirschte. Er war trocken und scharf und füllte die Luft mit einem dumpfen Grollen, das sich langsam entfernte und nach Westen hin verlor. Dann beruhigte sich alles. Die untergehende Sonne versank, von einer fahlen Wolke verhüllt, bleich und kraftlos im Fluß.

Vom Balkon der Karols aus sah man die ganze Stadt, die sich vom Dnjepr bis zu den Bergen in der Ferne erstreckte; die kleinen Lichter der Gaslaternen zeichneten ihre Form nach, und während sie in den verwinkelten Straßen aufflackerten, leuchteten auf dem gegenüberliegenden Ufer die ersten Frühlingsfeuer, die auf den Wiesen entzündet wurden.

Auf dem Balkon standen ringsum Blumenkästen mit Tabak, Reseda und Tuberosen, Pflanzen, die nachts ihre Blüten öffneten. Er war so groß, daß Eßtisch, Stühle, ein mit Coutil bezogenes kleines Sofa und der Sessel des alten Safronow, Hélènes Großvater, darauf Platz fanden.

Die Familie saß um den Tisch und nahm schweigend das Abendessen ein; an der Flamme der Petroleumlampe verbrannten die kleinen, leichten Nachtfalter mit hellbraunen Flügeln. Wenn Hélène sich auf ihrem Stuhl zurücklehnte, konnte sie die Akazien im Hof sehen, die vom Mond beleuchtet wurden. Der Hof war chaotisch und schmutzig, aber er war mit Bäumen und Blumen bepflanzt wie ein Garten. An Sommerabenden hielten sich die Dienstboten dort auf, lachten und unterhielten sich: Manchmal sah man einen weißen Unterrock im Schatten, hörte die Klänge eines Akkordeons und einen erstickten Schrei:

»Laß mich los, du Satansbraten!«

Madame Karol hob den Kopf und sagte: »Sie langweilen sich nicht da unten …«

Hélène schlief schon fast auf ihrem Stuhl. In dieser Jahreszeit aß man spät zu Abend; sie spürte ihre Beine immer noch zittern vom vielen Herumlaufen im Garten; ihre Brust hob sich keuchend bei der Erinnerung an die freudigen Rufe, die ihr, als sie dem Reifen nachlief, unwillkürlich entwichen waren wie einem singenden Vogel. Ihre Hand, klein und fest, betastete mit Wonne den schwarzen Ball, den sie besonders gern mochte; sie hatte ihn in ihrer Tasche versteckt, unter ihrem Unterrock aus grobem Stoff, und spürte, wie er an ihrem Bein rieb. Sie war ein Kind von acht Jahren; sie trug ein besticktes Kleid, das unterhalb der Taille mit einem Gürtel aus weißem Moiré zusammengebunden war, die große Schleife hinten war mit zwei Nadeln festgesteckt. Fledermäuse flatterten in der Luft, und jedesmal, wenn eine von ihnen auf ihrem lautlosen Flug fast ihre Köpfe streifte, stieß Mademoiselle Rose, Hélènes französische Gouvernante, einen kleinen Schrei aus und lachte.

Hélène hielt mühsam die Augen offen und betrachtete ihre Eltern, die in ihrer Nähe saßen. Sie nahm das Gesicht ihres Vaters wahr, das umgeben war von einer Art Dunst, gelblich und zitternd wie eine Gloriole; weil ihre Augen so müde waren, schien der Lampenschein zu schwanken. Aber nein, es war Wirklichkeit, die Lampe rauchte, und Hélènes Großmutter rief dem Dienstmädchen zu:

»Mascha! Dreh die Lampe herunter!«

Hélènes Mutter seufzte, gähnte und blätterte beim Essen die Modejournale durch, die aus Paris gekommen waren. Hélènes Vater schwieg und trommelte mit seinen feinen, mageren Fingern leise auf die Tischplatte.

Hélène sah nur ihm ähnlich; sie war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie hatte seine Augen mit ihrem feurigen Glanz, seinen großen Mund, sein lockiges Haar und seine dunkle Haut, die ins Gelblich-Gallige spielte, wenn sie traurig war oder unter etwas litt. Sie betrachtete ihn voller Zärtlichkeit. Aber er hatte nur Blicke und Liebkosungen für seine Frau, die mit mürrischer und schlechtgelaunter Miene seine Hand wegschob und sagte:

»Laß mich, Boris … Es ist so heiß, laß mich …«

Sie zog die Lampe zu sich und ließ die anderen im Schatten; gelangweilt und voller Überdruß seufzte sie und wickelte sich Strähnen ihres Haars um die Finger. Sie war groß und attraktiv, mit der »Haltung einer Königin«, wie man sagte, und einer Neigung zur Korpulenz, die sie bekämpfte, indem sie jene gepanzerten Korsetts zum Einsatz brachte, die für Frauen jener Zeit üblich waren und bei denen die Brüste in zwei Satinschalen ruhten wie Früchte in einem Korb. Ihre schönen Arme waren weiß und gepudert. Hélène hatte ein seltsames, dem Ekel benachbartes Gefühl, wenn sie diese schneeweiße Haut aus der Nähe sah, diese weißen, müßigen Hände mit den krallenartig spitz gefeilten Nägeln. Und schließlich gab es Hélènes Großvater, der den Kreis der Familie schloß.

Der stille Schein des Mondes fiel auf die Wipfel der Linden; hinter den Hügeln sangen die Nachtigallen. Der Strom des Dnjepr war von gleißender Helligkeit. Das Mondlicht ließ Madame Karols Nacken leuchten, so daß er marmorhaft weiß, hart und fest erschien, und beleuchtete Boris Karols Silberhaar, den kurzen, dünnen Bart des alten Safronow; es hob auch das kleine, runzlige und spitze Gesicht der Großmutter ein wenig hervor, die mit kaum fünfzig Jahren schon so alt war, so müde … Die Stille dieser in Schlaf gesunkenen Provinzstadt, verloren in der Tiefe Rußlands, war lastend, unergründlich und von bedrückender Traurigkeit. Plötzlich wurde sie unterbrochen vom Geräusch eines Wagens, der mit lautem Widerhall über die Pflastersteine des Boulevards holperte. Ein schreckliches Getöse aus Peitschenhieben, Räderrollen, Fluchen, dann entfernte sich der Donner … Nichts … die Stille … ein leichtes Rascheln von Flügeln in den Bäumen … Ein Lied in der Ferne auf einer Landstraße, unvermittelt abbrechend und durch Streitlärm ersetzt, Schreie, das Getrappel von Polizistenstiefeln, das Gebrüll einer Betrunkenen, die man an den Haaren zur Polizeistation schleift … Und wieder die Stille … Hélène zwickte sich leicht in die Arme, um nicht einzuschlafen; ihre Wangen brannten wie Feuer. Ihre schwarzen Locken ließen ihren Hals heiß werden; sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar, hob es hoch. Wütend dachte sie daran, daß sie nur wegen ihrer langen Haare von den Jungen beim Wettlauf geschlagen wurde, weil sie sie festhielten, wenn sie an ihnen vorbeilief. Sie dachte mit einem stolzen Lächeln daran, wie sie auf dem rutschigen Rand des Schwimmbeckens gestanden und das Gleichgewicht gehalten hatte. Ihre Glieder wurden von einer angenehmen und peinigenden Müdigkeit heimgesucht. Heimlich streichelte sie ihre wunden Knie, die immer blaue Flecken und Kratzer aufwiesen. Dumpf schlug das heiße Blut in der Tiefe ihres Körpers; ihre ungeduldigen Tritte hämmerten gegen die Tischbeine und manchmal auch gegen die Beine ihrer Großmutter, die nichts sagte, um ihr das Ausgeschimpftwerden zu ersparen. Madame Karol sagte in schneidendem Ton:

»Leg die Hände auf den Tisch!«

Dann nahm sie ihr Modejournal wieder auf und sagte leiser, seufzend und mit matten Lippenbewegungen:

»Morgenrock aus zitronengelber Seide, Oberteil mit achtzehn Knöpfen besetzt, Knöpfe mit orangefarbenem Seidensamt bezogen …«

Sie hatte eine kleine Strähne ihres schwarzen, glänzenden Haars zum Zopf geflochten und streichelte sich damit träumerisch über die Wangen. Sie langweilte sich: Im Gegensatz zu den anderen Frauen der Stadt, die, wenn sie erst einmal dreißig geworden waren, nichts lieber taten, als sich zu treffen, um Karten zu spielen und zu rauchen, fand sie an diesen Zusammenkünften keinen Gefallen. Sie haßte es, sich um den Haushalt und das Kind kümmern zu müssen. Sie war nur glücklich, wenn sie im Hotel sein konnte, in einem Zimmer mit einem Bett und einem großen Koffer, in Paris …

›Ach, Paris …‹, dachte sie und schloß die Augen. Am Tresen eines Cafés zu essen, an der Seite von Chauffeuren und Kutschern, wenn nötig nächtelang mit der Eisenbahn zu fahren, auf den harten Bänken der Abteile der dritten Klasse, aber allein sein zu können und frei! Hier standen an jedem Fenster Frauen, die sie mit Blicken durchbohrten, ihre Kleider aus Paris musterten, ihre geschminkten Wangen, den Mann, der sie begleitete. Hier hatte jede verheiratete Frau einen Liebhaber, den die Kinder »Onkel« nannten und der mit dem Ehemann Karten spielte. ›Doch wozu ist dann ein Liebhaber gut?‹ dachte sie und sah wieder jene unbekannten Männer in den Straßen von Paris vor sich, die ihr folgten … Das war wenigstens interessant, gefährlich, aufregend … Einen Mann zu umarmen, von dem man nicht wußte, woher er kam, wie er hieß, den man niemals wiedersah, nur das erregte in ihr jenen heftigen Schauder, nach dem es sie so sehr verlangte.

Sie dachte: ›Ach, ich bin einfach nicht dafür geschaffen, eine geruhsame, zufriedene Spießbürgerin zu sein, zwischen Ehemann und Kind.‹

Inzwischen beendete man das Abendessen; Karol schob seinen Teller beiseite und stellte das Roulettespiel vor sich auf, das er im vergangenen Jahr in Nizza gekauft hatte. Alle rückten näher: Er warf mit Ungestüm die Elfenbeinkugel, doch manchmal, wenn der Klang des Akkordeons im Hof anschwoll, hob er seinen langen Zeigefinger und begann, ohne mit dem Spiel aufzuhören, im Takt mitzusummen und dann mit halbgeschlossenen Lippen das Lied weiterzupfeifen.

»Erinnerst du dich an Nizza, Hélène?« sagte Madame Karol.

Hélène erinnerte sich an Nizza.

»Und Paris? Hast du Paris auch nicht vergessen?«

Hélène spürte, wie sie weich wurde bei der Erinnerung an Paris, die Tuilerien … (Die dunklen Eisenbäume vor dem sanften Winterhimmel, der milde Duft des Regens und jener gelbe Mond, der im neblig-bleiernen Dämmerlicht über der Säule auf der Place Vendôme allmählich höherstieg …)

Karol hatte alle vergessen, die mit ihm am Tisch saßen. Er trommelte nervös mit den Fingern und beobachtete die kleine Elfenbeinkugel, die sich rasend drehte. Er dachte: ›Schwarz, rot, die Zwei, die Acht … Ach, ich hätte gewonnen … das Vierundvierzigfache des Einsatzes. Mit nur einem Louisdor.‹

Aber hier ging es fast zu schnell. Man hatte kaum genug Zeit, um die Ungewißheit zu genießen, die Gefahr, hatte nicht die Zeit, um verzweifelt zu sein über einen Verlust oder sich über einen Gewinn zu freuen … Baccara, das war ein Spiel … Er war einfach noch zu unbedeutend, zu arm … Eines Tages vielleicht, wer weiß?

»Ach, mein Gott, mein Gott!« sagte die alte Madame Safronow mechanisch. Sie hinkte ein wenig, rasch, auf einem Bein. Ihre Züge waren verwischt, aufgelöst von vergossenen Tränen wie auf einer sehr alten Photographie; ihr gelber, faltiger Hals ragte aus dem plissierten Kragen ihrer weißen Bluse. Stets hielt sie die Hände über ihrem flachen Oberkörper verschränkt, als ob jedes Wort, das sie sprach, ihr das Herz sprengen könnte, stets war sie traurig, voll Furcht und Jammer, und alles war ihr Vorwand für Seufzer und Wehklagen.

»Ach, das Leben ist schlecht; Gott ist schrecklich. Die Menschen sind hart …«, sagte sie.

Und zu ihrer Tochter: »Du hast ja recht, Bella. Genieß dein Leben, solange du noch gesund bist. Iß … Willst du das? Oder das? Willst du meinen Stuhl, mein Messer, mein Brot, meinen Teil? Nimm alles … Nehmt es, Boris, und du, Bella, und du, Georges, und du, meine kleine Hélène …«

›Nehmt meine Zeit, meine Sorgen, mein Fleisch und Blut …‹, schien sie zu sagen, wenn sie sie mit ihren milden und glanzlosen Augen betrachtete.

Aber jeder wies sie zurück. Dann schüttelte sie nachsichtig den Kopf und bemühte sich zu lächeln.

»Schon gut, schon gut, ich halte den Mund, ich sage nichts mehr …«

Indessen richtete Georges Safronow seinen großen, hageren Körper auf, hob den kahlen Schädel und prüfte aufmerksam seine Fingernägel. Er polierte sie zweimal am Tag, vormittags und nach dem Abendessen. Er verlor das Interesse am Gespräch der Frauen. Boris Karol war ein ungehobelter Mensch. ›Er sollte sich glücklich schätzen, daß er die Tochter Safronows geheiratet hat …‹ Er entfaltete seine Zeitung. Hélène las: »Der Krieg …«

»Wird es Krieg geben, Großvater?« fragte sie.

»Was?«

Als sie den Mund öffnete, sahen alle sie aufmerksam an und warteten einen Augenblick, bevor sie sprachen; zunächst, um die Meinung ihrer Mutter über das, was sie gesagt hatte, in Erfahrung zu bringen, und dann zweifellos auch deshalb, weil sie so weit weg war, so klein, daß man von dem Gebiet aus, in dem sie lebten, geradezu eine Reise unternehmen mußte, um sie zu erreichen.

»Krieg? Wo hast du denn das gehört? … Na, vielleicht, man weiß es nicht …«

»Ich hoffe nicht«, sagte Hélène, weil sie das Gefühl hatte, so etwas sagen zu müssen.

Aber sie sahen sie an und lachten; ihr Vater lächelte voller Zärtlichkeit, Melancholie und Spott.

»Du bist ein kluges Kind«, sagte Bella und hob die Schultern. »Wenn es Krieg gibt, werden die Stoffe teurer … Weißt du nicht, daß Papa eine Stoffabrik hat?«

Sie lachte, doch ohne den Mund dabei zu öffnen. Ihre schmalen Lippen, ein scharfer und harter Strich in ihrem Gesicht, waren immer zusammengepreßt; entweder, weil sie den Eindruck erwecken wollte, ihr Mund sei kleiner, als er war, oder weil sie einen Goldzahn im Kiefer verbergen wollte oder einfach, weil sie sich interessant machen wollte. Sie hob den Kopf, sah, wie spät es war, und sagte:

»Übrigens, Zeit, daß du ins Bett kommst …«

Als Hélène zu ihrer Großmutter kam, wurde sie von deren Arm aufgehalten; bange Blicke aus einem müden Gesicht richteten sich auf sie: »Gib deiner Großmutter einen Kuß …« Und als sich das ungeduldige, undankbare Kind, auf dumpfe Weise gereizt, einen Augenblick lang von der mageren Hand einfangen ließ, drückte die alte Frau Hélène mit aller Macht an ihre Brust.

Der einzige Kuß, den Hélène akzeptierte und den sie gern erwiderte, war der ihres Vaters. Körperlich, seelisch, in ihren Stärken und Schwächen fühlte sie sich ihm allein nah und verbunden. Er wandte sich zu ihr, neigte den Kopf mit dem silberhellen Haar, dessen Widerschein im Mondschein etwas grünlich wirkte; sein Gesicht war noch jung, doch von Falten durchzogen, von Anstrengung gezeichnet, und seine Augen waren einmal unergründlich und traurig, ein andermal verschmitzt und fröhlich glänzend. Lachend zerzauste er ihr das Haar.

»Gute Nacht, Lenussia, meine Kleine …«

Sie verließ sie, und alsbald kehrten reine Heiterkeit, Freude, Zärtlichkeit in ihr Herz zurück, denn sie hielt die Hand von Mademoiselle Rose in der ihren. Sie ging zu Bett, schlief ein. Mademoiselle Rose nähte im goldenen Kreis der Lampe; das Licht fiel auf ihre kleine Hand, die mager und nackt und ohne Ringe war. Durch den weißen, stark gerafften Vorhang fiel ein Mondstrahl. Mademoiselle Rose dachte: ›Hélène braucht Kleider, Kittel, Strümpfe … Hélène wird zu schnell groß …‹

Zuweilen fuhr sie zusammen, wenn ein Geräusch, ein Blitz, ein Schrei, der Schatten einer Fledermaus, eine Küchenschabe auf dem weißen Kamin sie erschreckten. Seufzend sagte sie sich: ›Niemals, nie werde ich mich an dieses Land gewöhnen …‹

2

Hélène saß auf dem Parkettboden in ihrem Zimmer und spielte. Es war ein klarer, milder Frühlingsabend; der blasse Himmel war wie eine Kristallkugel, die tief in ihrem Innern die glühende Spur eines rosafarbenen Feuers bewahrt. Aus der halbgeöffneten Salontür drangen die Klänge und Worte eines französischen Liebeslieds bis zu ihr. Bella sang; wenn sie sich nicht gerade die Nägel feilte oder vor Langeweile und Wehmut seufzte, hingestreckt auf dem alten Kanapee, dessen Werg büschelweise herausquoll, saß sie am Klavier und sang und begleitete sich dabei mit unschlüssigen Akkorden, die sie mit träger Hand anschlug. Wenn sie »Liebe, Geliebter« murmelte, nahm ihre Stimme einen feurigen und unnachgiebigen Ton an. Dann öffnete sie ohne Furcht weit den Mund, preßte nicht mehr die Lippen zusammen, und ihre Stimme, die gewöhnlich scharf oder müde klang, wurde heiser und weich. Hélène hatte sich geräuschlos genähert und beobachtete sie mit offenem Mund von der Schwelle her.

Die Wände des Salons waren mit einem Baumwollstoff bespannt, der wie Seide aussehen sollte, früher fleischfarben, jetzt staubig und farblos. Bei Karol, in der Fabrik, deren Geschäftsführer er war, webte man diesen schweren Stoff, der nach Kleister und Früchten roch und aus dem sich die Bäuerinnen ihre Kleider und ihre Umschlagtücher für den Sonntag schneiderten. Doch die Möbel kamen aus Paris, dem Faubourg Saint-Antoine – grüne und himbeerrote Plüschschemel, Leuchter aus geschnitztem Holz, mit farbigen Perlen gesäumte japanische Lampions. Eine Lampe warf ihr Licht auf die vergessene Feile auf dem Klavierdeckel. Das Licht ließ Bellas Nägel glitzern; sie waren rund und gewölbt und vorn spitz wie Krallen. In den seltenen Momenten von mütterlicher Zärtlichkeit, wenn Bella ihre Tochter an sich drückte, hinterließen ihre Nägel fast immer Kratzer auf Hélènes Gesicht oder bloßem Arm.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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