6,99 €
Die erfolgreiche Witch-Dilogie von Annie Laine endlich im Sammelband! Mit zwielichtigen Kerlen und schrägen Situationen hat Kellnerin Ruby ihre Erfahrungen. Doch als der mysteriöse Caleb in ihrem Diner auftaucht, rechnet sie nicht damit, sich am nächsten Tag mit einer Kuh in ihrer Küche herumschlagen zu müssen. In Rubys Gegenwart häufen sich die seltsamen Vorkommnisse und ihr bleibt nichts anderes übrig, als Calebs Behauptung zu akzeptieren: Sie ist eine Hexe und er wurde geschickt, um sie zu unterrichten. Nicht genug, dass sich Duschen in Wildwasserparks verwandeln und ihr Kleiderschrank Tonnen an Bettwäsche spuckt. Bald muss sie sich auch noch mit dem geheimnisvollen Zirkel herumschlagen, dessen Anführer Pläne schmieden, die die Zukunft der Menschheit aufs Spiel setzen. Ruby bleibt nur Zeit bis zur nächsten Neumondnacht. Doch wem kann sie vertrauen? Diese E-Box erhält beide Bücher der Witch-Dilogie! - How to be a Witch - Never mess with a Witch
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2020
Annie Laine
© 2019/2020 Annie Laine
Anna-Lena Krug
Probstheidaer Straße 69/0201
04277 Leipzig
Lektorat: Klaudia Szabo
Korrektorat: Cara Rogaschewski
Cover: Emily Bähr unter Verwendung von Bildmaterial via Shutterstock und Freepik
ISBN: 9783752113020
www.annie-laine.de
Band 1
Kapitel 1
Es gibt Tage, an denen hasse ich alles und jeden. Heute hasse ich mein Leben, das Schicksal, Karma oder was auch immer dafür verantwortlich ist, dass ich an diesem Nachmittag auf allen Vieren über den Boden des Diners krabbele. In meiner leider viel zu knappen babyblauen und bonbonpinken Uniform. Zwar habe ich mich, seit ich hier als Kellnerin arbeite, schon oft wie ein Fußabtreter gefühlt, aber nachdem ich heute zum ersten Mal einen verdammten Schuh ins Gesicht bekommen habe, hat dieser Zustand ein neues Level erreicht.
»Verflucht!«, murmle ich vor mich hin, während ich meinen Kopf unter die Sitzbank in der hintersten Ecke des Gastraums stecke. Mich begrüßen eine dicke Staubschicht, Spinnenweben und ein alter Kaugummi an der Unterseite der Sitzfläche, aber nicht das, was ich suche.
»Was zum Teufel tust du da?«, höre ich die skeptische Stimme meiner besten Freundin, die vor dem Tisch steht, unter dem ich hocke.
»Ich suche meine Kette«, gebe ich missmutig zurück und steuere nach rechts, um den Rest der Bank zu untersuchen. Als ich dabei mit dem Kopf gegen ein Stützbein knalle, muss ich mir auf die Zunge beißen, um mir einen weiteren Fluch zu verkneifen.
»Da musst du schon etwas spezifischer werden, Ruby.«
»Die süße Kurze mit den blauen und pinken Perlen, die so gut zu unserer Arbeitskleidung passt«, gebe ich zurück und bücke mich an einem zweiten Stützbein vorbei, als ich endlich das schwache Schimmern einer pinken Perle entdecke.
»Ah, die. Wann hast du die verloren?«
»Vor etwa einer halben Stunde, aber ich habe sie gleich. Dann bin ich wieder bei dir«, verspreche ich ihr. Dabei ist das Diner bis jetzt nicht überfüllt und der Andrang für eine kurze Zeit auch allein zu bewältigen.
»Kein Stress. Ich komme klar. Hübsche Unterwäsche übrigens.«
»Georgie!«
»Das war ein Kompliment. Mach dich locker. Außer mir ist hier niemand«, erwidert sie. Die Belustigung höre ich deutlich aus ihrer Stimme heraus.
»Das macht es nicht besser.« Ich widerstehe dem Drang, meinen Rock zu richten, denn ich muss mich darauf konzentrieren, die Kette zu erreichen. Offenbar hat sie ein Gast unabsichtlich in die Ecke gekickt und ich muss mich nun langmachen, damit ich rankomme.
Als meine Fingerspitzen den Verschluss berühren, ziehe ich ihn zu mir und ergreife die Perlen. Mit einem leisen »Endlich!« auf den Lippen trete ich den Rückzug an und kämpfe mich auf die Füße.
Meine Beine und Hände sind schmutzig, aber ich habe, was ich wollte. Wie eine Trophäe halte ich mein Schmuckstück in die Höhe und grinse meine beste Freundin an. Dass mir vermutlich Spinnweben in den roten Haaren hängen, ignoriere ich für den Moment. Dafür ist mein Triumph zu groß.
»Sehr schön. Jetzt geh dich saubermachen, dann lege ich sie dir um«, verspricht sie mir und schiebt sich eine schwarze Strähne hinters Ohr, die sich aus ihrem hohen Pferdeschwanz gelöst hat. Ich husche in den Mitarbeiterbereich und wasche mir im Bad den Staub von den Fingern. Tatsächlich ist mein Haar nur etwas zerzaust, aber ansonsten sauber, sodass ich nach wenigen Minuten arbeitsbereit bin.
Als ich an unserem Tresen vorbeilaufe, wartet Georgia auf mich und streckt auffordernd den Arm aus. »Gib schon her.«
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen und lege ihr die Kette in die Handfläche, damit sie sie in meinem Nacken zwischen all den anderen verschließen kann.
»Das werden auch täglich mehr, oder?«
»Dabei sind es heute nur vier«, antworte ich unschuldig und schiebe meine Mähne über eine Schulter, damit sie meiner besten Freundin nicht im Weg ist. Routiniert klippt sie die Enden des Bandes zusammen und erklärt ihr Werk für erfolgreich beendet.
Gerade rechtzeitig, als ein Geschäftsmann, der seit etwa drei Stunden an einem Tisch neben der Tür unser WLAN anzapft, die Hand hebt, weil er seinen Kaffee bezahlen möchte. Bevor ich Georgia bitten kann, ihn mir abzunehmen, weil er mir vorhin schon höchst unsympathisch war, ist diese auf dem Weg zu einem neuen Gast, um dessen Bestellung aufzunehmen.
Der Geschäftsmann bezahlt, hinterlässt ein mieses Trinkgeld und geht. Trotz meines freundlichen Lächelns und der höflichen Verabschiedung beschließe ich, den Kerl beim nächsten Mal vor die Tür zu setzen, wenn er nicht mindestens einen Kaffee die Stunde bestellt, während er hier arbeitet.
Das rege Treiben im Diner geht weiter und sorgt die nächsten zwei Stunden über dafür, dass sowohl Georgia als auch ich kaum Zeit zum Durchatmen finden. Gäste kommen und gehen, die meisten sind freundlich, ein paar gewohnt griesgrämig oder auf Krawall gebürstet.
Zu einer Verschnaufpause sage ich nicht Nein, als sich die Gelegenheit ergibt, kurz hinter dem Tresen einen Schluck zu trinken, weil alle Menschen im Gastraum versorgt sind.
»Ich wäre jetzt bereit für den Feierabend. Reichst du mir mein Wasser?« Georgia deutet auf die Wasserflasche, die in der Ecke steht und mit einem G samt Herzchen gekennzeichnet ist.
»Und ich erst.« Nach dem turbulenten Wochenende mit dem kurzen Wechsel von Spät- auf Frühschicht und zurück wäre Urlaub echt angebracht. Leider wartet morgen eine weitere Schicht auf mich.
Ich reiche Georgia ihr Wasser und stelle meines zurück. Obwohl der Lautstärkepegel stetig in die Höhe steigt, genieße ich den Moment der Ruhe, in dem niemand etwas von uns möchte, bevor die Tür zum Diner ein weiteres Mal aufgestoßen wird.
Augenblicklich wird es vollkommen still. Nicht einmal meinen eigenen Atem höre ich, als eine dunkle Gestalt aus den abendlichen Schatten tritt und eine unheilvolle Aura hereinbringt.
Nein, keine Gestalt.
Ein junger Mann, Anfang zwanzig, mit kohlrabenschwarzem Haar und stechenden grünen Augen, die mich so intensiv fixieren, dass ich die Luft anhalte. Sein Oberteil wird von einem schwarzen Trenchcoat verdeckt, der seine gefährliche Ausstrahlung untermalt. Er sieht mich grimmig an und lässt nicht von mir ab, während er einen Schritt nach dem anderen in den Raum läuft und sich auf eine freie Bank setzt.
Ein unmerkliches Zittern geht durch meinen Körper, während er mich mit seinen Blicken taxiert. Die feinen Härchen in meinem Nacken stellen sich auf und ich bekomme eine Gänsehaut. Ich fürchte mich nicht, nach der Spätschicht im Dunkeln nach Hause zu laufen, doch dieser Kerl jagt mir eine scheiß Angst ein.
»Heiß«, murmelt Georgia neben mir, stellt ihre Flasche ab und setzt im gleichen Moment ein Grinsen wie eine Löwin beim Beutezug auf. »Den übernehme ich.«
***
»Warum starrt der Kerl mich an?« Es sind vielleicht fünfzehn Minuten seit dem spektakulären Auftritt des unheilvoll aussehenden Typen vergangen, aber ein wenig scheint es mir, als hätte er seitdem noch nicht einmal von mir abgelassen. Wo ich auch hingehe, ob ich Bestellungen aufnehme, Essen und Getränke serviere oder Speisekarten an die Tische bringe, er verfolgt mich mit seinen Blicken.
»Warum nicht?«, schießt Georgia zurück und grinst mich an. »Du bist echt hübsch und das ist bei weitem nicht das erste Mal, dass ein Mann dir nachschaut. Nur machen die meisten es … subtiler. Trotzdem würde ich sagen, entweder er steht auf dich oder er findet, dass deine Haare sich mit der Uniform beißen.«
Ihr letzter Kommentar lässt mich tatsächlich schmunzeln, während ich dem Typ meinen feindseligsten Blick zuwerfe und hoffe, dass er den Wink versteht. Leider ist das nicht der Fall.
»Ich gehe mal kurz ins Bad. Kommst du klar?«
Wortlos nicke ich und beschließe, dass er meine Aufmerksamkeit nicht wert ist. Aus dem Regal unterhalb unserer Registrierkasse ziehe ich mein Notizbuch, das ich kurz nach Beginn meiner Schicht dort deponiert habe, und schlage es an der Stelle auf, wo das rote Fähnchen die aktuelle Woche markiert. Auf der heutigen To-Do-Liste neben dem Punkt »Arbeiten« setze ich fünf kleine Striche, die die fünf vergangenen Stunden symbolisieren.
»Hey.«
Eine unbekannte, jedoch unerwartet sanfte Stimme lässt mich überrascht zusammenzucken. Reflexartig nutze ich meinen Unterarm, um die Seiten zu verdecken, obwohl keinerlei wichtige Informationen draufstehen. Erst dann hebe ich langsam den Kopf und sehe in stechende grüne Augen, die so intensiv leuchten, dass mir für einen Moment die Worte fehlen.
Zum Glück sind es nur Sekunden, ehe ich meine Stimme wiederfinde. Jetzt, da ich ihn aus der Nähe betrachte, fällt mir auf, dass er sicher bloß ein oder zwei Jahre älter ist als ich. Auch die dunkle Aura, die er mitgebracht hat, wirkt nicht mehr ganz so mächtig. Trotzdem trete ich einen bedachten Schritt zurück und lege mein Notizbuch dabei beiläufig in das Regal. »Hey«, erwidere ich misstrauisch. »Kann ich dir irgendwie helfen?«
»Vielleicht kannst du das.«
»Wie darf ich das verstehen?« Nicht überzeugt verschränke ich die Arme und halte seinem Blick stand. Ich bin oft genug von zwielichtigen Typen angemacht worden und weiß genau, wie ich mit ihnen fertigwerde. Sollte es notwendig sein, scheue ich mich auch nicht, die Polizei zu rufen.
Der Kerl lehnt sich lässig an die Theke und hebt die Mundwinkel zu einem entwaffnenden Grinsen, von dem ich mich nicht beeindrucken lasse. »Du bist nicht rein zufällig Ruby, oder?«
Ich zögere einen Sekundenbruchteil zu lang. Woher kennt er meinen Namen? Ich trage nicht einmal ein Namensschild und seit er hier ist, kann er ihn nirgendwo aufgeschnappt haben. Vielleicht sollte ich mir Verstärkung aus der Küche besorgen, bevor mein Gegenüber auf dumme Gedanken kommt.
»Wenn das eine Anmache sein soll, muss ich dich leider enttäuschen. Ich habe heute schon deutlich bessere gehört und außerdem … heiße ich nicht Ruby.«
Der Typ hebt unbeeindruckt eine Braue. Offenbar hat er noch nicht beschlossen, zu gehen. »Ach nein?«
»Nein«, erwidere ich standhaft und beobachte, wie sich die Belustigung immer mehr in seinen Gesichtszügen ausbreitet.
»Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
Durch zusammengebissene Zähne antworte ich ihm. »Mit Felicity.« Wenn wir nächste Woche gemeinsam Schicht haben, muss ich mich bei Feli dafür entschuldigen, dass ich ihren Namen missbraucht habe. Vielleicht sollte ich ihr Cupcakes backen. Hatte sie nicht gerade erst Geburtstag?
»Also, Felicity, arbeitet eine Ruby hier?«
Langsam schüttele ich den Kopf. »Darüber darf ich keine Auskunft geben. Tut mir sehr leid.«
Die Sekunden ziehen sich in die Länge, sodass sich der Zeitraum, in dem er mich anschaut, als könnte er mir die Lüge an der Nasenspitze ansehen, anfühlt wie eine Ewigkeit. Seine Gegenwart löst Unwohlsein bei mir aus und ich bemühe mich, dieses Gefühl nicht nach außen dringen zu lassen.
Schließlich zuckt er mit den Schultern. »Da kann man wohl nichts machen. Wenn dir doch eine Ruby begegnet, richte ihr aus, dass Caleb mit ihr sprechen muss.«
Ich habe den Kerl noch nie gesehen und auch sein Name sagt mir nichts. Caleb. Nein, kenne ich nicht. Ohne eine Miene zu verziehen, nicke ich, obwohl ich kein Interesse an einem weiteren Gespräch mit ihm habe.
»Danke. Übrigens, hübsche Ketten. Aller guten Dinge sind drei, oder?« Mit diesen Worten wendet er sich von mir ab und schlendert gemächlich zu seinem Platz zurück. Währenddessen wandert meine Hand automatisch in mein Dekolleté. Drei Ketten? Dabei sollten es vier sein.
Verdammt, ist schon wieder eine davon abhandengekommen?
Ich ertaste die Perlen, die zu meinem letzten Fundstück gehören, ebenso wie den Herzchenanhänger, den Georgia mir zu meinem letzten Geburtstag geschenkt hat, und auch das dünne Silberkettchen mit dem Anhänger in Form eines Rs …
»Verflucht!«
Nicht nur, dass das R meine Lüge eindeutig enttarnt hat, auch das Fehlen einer ganz besonderen Kette fällt mir jetzt auf. Das gewohnte Gewicht des Schlüssels, der sonst mittig in meinem Ausschnitt liegt, ist verschwunden. Wie lange? Und warum ist mir das nicht aufgefallen?
Panik macht sich in mir breit, ich atme schwerer, weiß nicht, was ich tun soll. Hysterisch sehe ich mich um, mein Blick springt auf der Suche nach meinem kleinen, silbernen Schlüssel von einem Punkt zum nächsten, aber da ist nichts.
Gleichzeitig schießt das Bild meiner Mutter in meinen Kopf, wie sie mir breit grinsend die Kette zum ersten Mal umgelegt hat. Obwohl ich damals sehr jung war und nicht einmal zur Schule ging, ist die Erinnerung so klar, als wäre sie erst gestern entstanden. Jedes Detail habe ich mir eingeprägt, wie in weiser Voraussicht. Als hätte ich gewusst, dass es das letzte Mal sein würde, dass ich meine Mutter zu Gesicht bekomme. Kurz darauf ist sie zur Arbeit gegangen und nie zurückgekehrt.
Wochenlang haben wir nach ihr gesucht, die Polizei miteinbezogen und gehofft, dass ihr nichts Schlimmes passiert ist. Am Ende hat es jedoch nichts gebracht. Keine Hinweise auf ihren Verbleib, keine Nachricht, kein Lebenszeichen. Ich war so jung und habe kaum verstanden, was damals geschah. Meine Wut auf sie schwand mit der Erkenntnis, dass sie nicht zurückkommen würde, und machte einem bitteren Nachgeschmack Platz, den ich bis heute immer wieder auf meiner Zunge spüre, wenn ich an sie und die glücklichen Tage denke.
Meine Kette ist alles, was mir von ihr geblieben ist. Sie hat die Jahre überdauert, um mich daran zu erinnern, dass es egal ist, dass sie Dad und mich verlassen hat. Sie ist nach wie vor meine Mutter und ich darf sie sowohl vermissen, als auch wütend auf sie sein.
Erst als die Tür zum Mitarbeiterbereich aufgestoßen wird, schaffe ich es, die Gedanken in die hinterste Ecke meines Gedächtnisses zu verbannen. Aber, verdammt, ich muss meine Kette suchen. Daran führt kein Weg vorbei.
»Hey, Ruby!«, höre ich auf einmal Georgias Stimme. Sie kommt auf mich zu und hält ihre geschlossene Faust in die Höhe. »Ich glaube, ich habe etwas gefunden, was dir gehört.«
Vor mir angekommen, lässt sie den Arm sinken und enthüllt tatsächlich den kleinen silbernen Schlüssel, dessen Verschwinden mich in Panik versetzt hat. Ohne zu zögern nehme ich ihn an mich und drücke ihn an meine Brust, während die Erleichterung mich durchflutet.
»Sie lag auf der Ablage vom Waschbecken in der Toilette. Vielleicht hast du sie dort liegenlassen, als du dich vorhin sauber gemacht hast.«
Noch ganz aufgewühlt nicke ich langsam. »Das kann sein. Es ist mir gerade erst aufgefallen«, murmle ich und will sie Georgia bereits geben, damit sie sie mir anlegt, als mir auffällt, dass der Verschluss verbogen ist.
»Ich muss wohl einen neuen Verschluss besorgen.«
»Aber das ist ja kein Akt. Freu dich, dass sie wieder aufgetaucht ist. Ich weiß, dass sie dir unendlich viel bedeutet.« Aufmunternd knufft sie mich in die Schulter und macht sich ans Werk. Ich lasse die kaputte Kette in die Tasche meiner Schürze gleiten und notiere »Neuen Verschluss kaufen« auf meiner To-Do-Liste.
Kapitel 2
»Wollen wir noch einmal von vorne anfangen, Ruby?« Es sollte mich nicht wundern, dass Caleb die Gunst der Stunde nutzt, um mich auf meine offensichtliche Lüge anzusprechen, allerdings … saß er nicht gerade noch? Hätte ich nicht sehen müssen, dass er auf mich zukommt? Was zum Teufel ist heute los mit mir? Erst verliere ich die Kette meiner Mutter, ohne es zu merken, dann fällt mir nicht auf, wie der unheimlichste Kerl, der sich aktuell im Diner befindet, sich mir nähert.
Ein Seufzen findet seinen Weg über meine Lippen. »Hör zu, ich finde nett, dass du Konversation betreiben möchtest, aber ich kenne dich nicht, habe keine Ahnung, was du von mir willst, und auch kein Interesse, es herauszufinden.« Nicht einmal einen Hauch Neugier verspüre ich, als ich mich von ihm abwende, um einen Burger mit Pommes aus der Durchreiche zu nehmen.
»Falls ich dir also nicht noch einen Kaffee bringen soll, wäre ich dir sehr verbunden, wenn du mich in Ruhe meiner Arbeit nachgehen lassen könntest.«
Daraufhin lasse ich ihn am Tresen stehen und hoffe, dass der Schlag ins Gesicht mit dem Zaunpfahl ausreicht, damit er geht. Nachdem ich den Burger serviert habe, hat er sich allerdings immer noch nicht vom Fleck bewegt. Nur seine vormals entspannte Miene zeigt, dass er von mir so genervt ist wie ich von ihm.
»Kaffee?«, frage ich in der Hoffnung, er wäre nur deswegen geblieben.
»Ich habe mir das auch nicht ausgesucht, aber es ist dringend. Können wir kurz vor der Tür …«
»Können wir nicht«, unterbreche ich ihn und verschränke die Arme. Zum Glück kommt in dem Augenblick Georgia zurück und positioniert sich neben mir.
»Ist hier alles in Ordnung?«, will sie wissen.
Von mir hört sie ein »Nein«, während der Kerl allen Ernstes mit »Ja« antwortet. Als Erwiderung werfe ich ihm einen bitterbösen Blick zu, den er geflissentlich ignoriert.
Meine beste Freundin fackelt nicht lang. »Hi, ich bin Georgia und du wirst mich als diejenige in Erinnerung behalten, die dir Hausverbot erteilt hat, wenn du nicht auf der Stelle aufhörst, meine Kollegin zu belästigen.« Ihr zuckersüßer und gleichzeitig unnachgiebiger Tonfall lässt keinen Zweifel offen, dass sie es ernst meint.
Caleb schießt ihr einen finsteren Blick zu, taxiert sie regelrecht, bevor er seufzend nachgibt und sich an mich wendet. »Dann hätte ich gerne noch einen Kaffee.«
»Kommt sofort«, erwidere ich tonlos, setze mich aber erst in Richtung Kaffeemaschine in Bewegung, nachdem ich mich davon überzeugt habe, dass er zu seinem Platz zurückgekehrt ist.
»Was für ein Creep. Soll ich mich um ihn kümmern?«, bietet mir Georgia an und schnappt sich bereits ein Tablett, auf dem ich die Tasse abstelle.
»Du bist die Beste.«
»Weiß ich doch.« Sie grinst mich an. »Mach erst mal Pause. Wir haben die Rush Hour hinter uns, eine halbe Stunde komme ich auch allein klar.«
Beste Nachricht seit langem. »Danke, aber wenn du Hilfe brauchst, rufst du, okay?«
»So laut ich kann«, verspricht Georgia mir, woraufhin ich beruhigt nach hinten gehe und mir in der Küche von Mike auf die Schnelle ein Truthahnsandwich machen lasse. Meinen grummelnden Magen habe ich in den letzten Stunden ignoriert, weil keine Zeit zum Essen war. Jetzt tun dreißig Minuten Ruhe wirklich gut. Ich hoffe, dass Caleb verschwunden ist, bis ich weitermachen muss, aber leider habe ich kein Glück.
Kaum betrete ich erneut den Gastraum, erblicke ich ihn am gewohnten Platz, vor sich eine Tasse Kaffee, während er in einem Buch blättert. Es dauert nicht einmal zwei Sekunden, bis er aufschaut, seine Lektüre beiseitelegt und sich mit verschränkten Armen zurücklehnt, als würde er darauf warten, dass ich zu ihm komme.
Aber da hat er sich geschnitten.
Ihn so gut es geht ignorierend, kümmere ich mich um die anderen Gäste und werfe dabei verstohlene Blicke auf die Uhr. Noch zwei Stunden, bis ich ihn und jeden anderen, der sich hier befindet, vor die Tür setzen darf.
Nach einer weiteren Stunde macht sich ein stetes, unangenehmes Pochen in meinem Schädel bemerkbar. Gemischt mit dem Lärm des Gastraums wird es zu einem dumpfen Schmerz, der nicht vergehen will und mir den letzten Rest meiner Konzentration raubt.
»Hey, das habe ich aber nicht bestellt«, ruft mir ein bereits leicht angetrunkener Kerl hinterher, als ich mich gerade auf einen Moment zum Verschnaufen gefreut habe. Ich muss die Zähne aufeinanderbeißen, um nicht schmerzerfüllt aufzustöhnen. Stattdessen drehe ich mich wieder um und nehme den Teller an mich. Er hat genau das bestellt. Unmissverständlich.
»Entschuldigen Sie vielmals. Das war ein Versehen und mein Fehler. Ich sorge dafür, dass Sie direkt die richtige Bestellung bekommen und die geht selbstverständlich aufs Haus«, bete ich trotzdem herunter und hoffe, dass er sich damit zufriedengibt. Der Mann schnaubt grimmig, trinkt einen Schluck von seinem Bier und hat nur ein »Das ist ja wohl das Mindeste« für mich übrig.
Heute ist echt nicht mein Tag.
Dabei wird der Kerl bestimmt keinen Unterschied bemerken, wenn Mike Pommes und Burger anders auf dem Teller arrangiert. Solche Gäste sind mir ja die Liebsten …
Ohne Zeit zu verlieren, eile ich zur Küche, als mich auf halbem Weg ein Schwindelanfall gleich einer Welle überrollt und von den Füßen fegt. Ich stolpere, stürze und nach dem Klirren des Tellers, der auf dem Boden in tausend Stücke zersprungen ist, will ich einfach liegen bleiben und mich im Selbstmitleid suhlen.
»Gott, Ruby, jag uns nicht so einen Schrecken ein!« Georgia geht neben mir in die Hocke und streckt ihre Arme aus, um mir auf die Beine zu helfen. Meine Knie zittern, fühlen sich an wie Wackelpudding und die Aufmerksamkeit unserer Gäste ist mir unangenehm.
Dennoch legt meine beste Freundin vor allen Leuten den Handrücken auf meine Stirn und ein sorgenvoller Glanz schleicht sich in ihre blauen Augen. »Du hast erhöhte Temperatur. Wo kommt die auf einmal her?«
Ich zucke nur ratlos mit den Schultern.
»Okay, keine Sorge. Zum Glück hattest du den Teller vorher abgestellt, also müssen wir keine Sauerei wegputzen. Aber wie wäre es, wenn du nach Hause gehst? Die letzte Stunde packe ich problemlos allein und beim Saubermachen kann Mike mir helfen.«
Während ich ihre Worte verarbeite, fällt mein Blick auf die Bestellung, die auf dem Tresen steht und wunderbar aussieht. Dabei hatte ich deutlich das Klirren gehört. Oder bilde ich mir mittlerweile Dinge ein? Da der Teller dort steht und der Boden sauber ist, trifft anscheinend Letzteres zu.
»Bist du sicher?«, murmle ich schwach.
»Wäre ich es nicht, würde ich es dir nicht anbieten. Mach dir keine Gedanken. Ich lege Chuck einen Zettel hin.« Sie schenkt mir ein Lächeln, das mich schlussendlich überzeugt.
»Okay.«
Mehr bleibt nicht zu sagen. Ich hole meine Sachen, verabschiede mich von Georgia und dem Küchenteam, die mir allesamt gute Besserung wünschen, und verlasse das Diner. Bis die Tür hinter mir ins Schloss fällt, spüre ich Calebs Blicke in meinem Nacken und bete, dass er nicht auf die Idee kommt, mir nachzulaufen.
Die kühle Nachtluft wirkt beruhigend auf mein angeschlagenes Gemüt und sogar mein Kopf hört für ein paar Minuten auf, mich zu quälen. Erleichtert atme ich tief ein und aus, während die einzige Ampel, die mich von meiner Wohnung trennt, in Sichtweite gerät.
Um diese Zeit ist auf den Straßen, die aus dem Zentrum hinausführen, wenig los. Gelegentlich begegnen mir Gruppen von Studenten, die den Abend gemeinsam verbringen, aber im Großen und Ganzen bleibt es still.
Zumindest bis schnelle Schritte hinter mir ertönen und ein lautes »Hey« die nächtliche Idylle unterbricht. Nein, oder? Für ihn habe ich heute leider keine weiteren Nerven mehr.
»Kannst du mich nicht einmal in Frieden lassen, wenn es mir sowieso scheiße geht«, fahre ich ihn an, bevor er mich überhaupt erreicht. Automatisch spanne ich meinen Körper an. Ich balle meine Hände zu Fäusten und gehe trotz allem weiter, als wäre kein nerviger Stalker hinter mir.
»Glaub mir, das würde ich gerne, aber wie ich sagte, es ist dringend.« Calebs Stimme. Natürlich. Wessen sonst? Nicht einmal zwei Sekunden später fällt er neben mir in einen schnellen Gang, um mit mir mitzuhalten.
»Du gibst nicht auf, oder?«
»Wie du siehst, nicht.«
»Falls du es nicht mitbekommen hast, mir geht es nicht gut. Ich habe Kopfschmerzen, mir ist übel und es könnte durchaus sein, dass ich dir jeden Augenblick vor die Füße kotze.«
Es sind noch drei Blocks nach Hause. Drei verdammte Blocks und ich fürchte, er hat keine Hemmungen, mir bis zu meiner Türschwelle zu folgen.
»Ist heute das erste Mal, dass du dich so fühlst?«
»Wüsste nicht, was dich das angeht«, erwidere ich und wende den Blick von ihm ab. »Du hattest sicher viel Spaß dabei, mich zu beobachten, wie ich in meinem Job komplett versage, oder?«
»Ehrlich gesagt, nicht«, widerspricht er nach einer Weile. »Ich habe sogar die Sauerei beseitigt, als du den Teller auf den Boden gedonnert hast. Du brauchst dich übrigens nicht zu bedanken, aber darum geht es nicht, sondern um dich. Wie lange kränkelst du schon?«
Also war es keine Einbildung. Oder? Aber der Teller war heil, wie soll Caleb den kaputten Teller gekittet haben, ohne dass jemand das Chaos mitbekommen hätte?
»Seit einer halben Stunde.«
»Dann hat es gerade erst angefangen. Keine Sorge, es wird sich anfühlen, als würdest du sterben, aber dir wird nichts passieren und es ist schneller vorbei, als du glaubst.«
»Wovon sprichst du?« Sicherheitshalber trete ich einen Schritt zur Seite, um Abstand zwischen uns zu bringen, und versuche, meine Atmung zu kontrollieren. Mit mäßigem Erfolg.
»Du weißt es echt nicht?« Die Überraschung höre ich deutlich aus seinem Tonfall heraus, aber damit wird meine eigene nur größer. Genauso wie meine Angst. Gänsehaut zieht sich bereits über meine Arme und mein Körper zittert unkontrolliert, obwohl ich mein Bestes gebe, es zu unterdrücken. »Hör zu. Das ist nicht gut. Du musst auf der Stelle erfahren, was los ist, aber nicht hier. Wohnst du weit weg?«
Keine Ahnung, ob diese Aussage mich mehr schockiert als die letzte oder ob sich beide die Waage halten, aber eine Sache steht fest. »Du wirst keinen Fuß in meine Wohnung setzen. Keine Chance. Niemals!«
»Ich kann das nicht auf offener Straße besprechen!«, beharrt er.
»Nicht mein Problem! Was soll der Mist, Caleb? Erst musst du dringend mit mir reden, aber jetzt kannst du mir nicht sagen, was für ein Spiel du mit mir spielst?« Von Sekunde zu Sekunde wird das schmerzhafte Pochen in meinem Kopf stärker und es liegt immer noch zu viel Distanz zwischen meiner Wohnung und mir.
»Ich kann bloß nicht riskieren, dass uns jemand belauscht, und ein Schutzbann ist in deinem aktuellen Stadium nicht gut für dich. Lass mich dir alles erklären, sobald wir bei dir angekommen sind …«
Nun bin ich sicher: Der Kerl hat sie nicht mehr alle.
Aus den Augenwinkeln bemerke ich, wie er den Arm nach mir ausstreckt, doch bevor er seine Hand auf meine Schulter legen kann, weiche ich aus und nehme eine Abwehrhaltung ein. Ein Glück ist der letzte Selbstverteidigungskurs nicht lange her.
»Einen Schritt näher und ich rufe die Polizei!«, schreie ich ihn so laut an, dass es selbst meine Nachbarn gehört haben müssen. Endlich versteht er und lässt seinen Arm sinken, dabei ballt er die Hände zu Fäusten. Seinen Gesichtsausdruck kann ich nicht deuten. Eine Mischung aus Wut und Resignation. Er schweigt.
»Ich gehe nach Hause. Wag es nicht, mir zu folgen!«
»Warte!« Nicht einmal einen Schritt habe ich zurückgelegt, als ich wirklich seine Finger um mein Handgelenk spüre und mein Körper sich augenblicklich versteift.
»Ruby, ich will dir nichts Böses«, versichert er mir. »Aber wenn du nicht mit mir reden willst, wirst du es am eigenen Leib erfahren müssen.«
»Lass mich los!«, fauche ich aufgebracht.
»Eins noch. Genauso wie es kurz vor Sonnenaufgang immer am dunkelsten ist, wird es erst schlimmer, bevor es besser werden kann. Wenn du es nicht mehr aushältst, ruf nach mir und ich werde da sein.«
Bevor ich etwas erwidere, löst er seinen Griff. Ich zögere keine Sekunde und laufe los, ohne mich umzudrehen. Mein Herz klopft mir bis zum Hals und meine Lunge fühlt sich an, als hätte ich einen halben Marathon hinter mir. Meine Kehle ist nach der kurzen Distanz zu meiner Straße bereits staubtrocken, sodass ich innehalten und zu Atem kommen muss, bevor ich weitergehe.
Zumindest ist der Gehweg leer und Caleb verschwunden. Ich glaube kaum, dass ich ihn los bin, auch wenn mir seine letzte Aussage nicht aus dem Kopf geht.
Genauso wie es kurz vor Sonnenaufgang immer am dunkelsten ist, wird es erst schlimmer, bevor es besser werden kann. Wenn du es nicht mehr aushältst, ruf nach mir und ich werde da sein.
Was meint er damit?
Zu viele unbeantwortete Fragen schwirren mir durch den Kopf, bis ich erst die Haus- und wenig später meine Wohnungstür aufschließe. Meine Handtasche pfeffere ich in die Ecke, während ich durch den schmalen dunklen Flur in mein Schlafzimmer schlurfe. Nachdem ich mich aus meiner Uniform geschält habe und in meinen Pyjama geschlüpft bin, falle ich nur noch ins Bett und schlafe wie ein Stein.
Kapitel 3
Geweckt werde ich von viel zu hellen Sonnenstrahlen, die durch mein Fenster aufs Bett fallen, weil ich vergessen habe, die Vorhänge zuzuziehen. Stöhnend drehe ich mich auf die Seite und bereue es im nächsten Augenblick.
Alles tut weh.
Mein Körper besteht nur aus Schmerzen, jede noch so unbedeutende Bewegung fühlt sich an, als würden sich tausend glühende Nadeln in meine Arme und Beine bohren, während gleichzeitig eine tonnenschwere Last auf meine Brust drückt und mich schwer atmen lässt. Von den unerklärlichen Qualen, die mein Kopf mir beschert, mal abgesehen.
Ich beiße mir auf die Zunge, um mich von den Schmerzen abzulenken, aber das bringt nichts. Nach wenigen Minuten beginnen meine Augen zu tränen, als könnte das helfen, aber natürlich ist das nicht der Fall.
Es dauert weitere Minuten – vielleicht Stunden –, bis ich die Kraft dazu aufbringe, aus dem Bett zu klettern. Meine Beine tragen mich kaum, so schwach wie ich mich fühle, und ich halte mich an meinem Nachtschränkchen fest, damit meine Knie nicht einknicken.
Langsam lege ich den Weg zu meiner Handtasche zurück und krame nach meinem Handy, mit dem ich den nächsten Stopp in meiner Wohnküche einlege und mich erschöpft an der Spüle abstütze. Ich ringe nach Atem, aber meine Lunge fühlt sich an, als würde sie jeden Moment explodieren. Auch das Glas Wasser, das ich auf ex trinke, hilft nicht, aber danach geht es mir insoweit besser, dass ich eine Stimme habe, mit der ich mich bei der Arbeit krankmelden kann.
Wenn auch krächzend, wie ich nach einem kurzen Test feststelle.
Zuerst rufe ich meinen Chef an und bekomme ihn prompt an den Hörer. »Chucks Diner. Chuck Benson am Apparat. Guten Morgen«, begrüßt er mich, da er sicher nicht auf das Display geschaut und gesehen hat, dass ich anrufe.
»Hallo Chuck, hier ist Ruby«, erwidere ich. »Ich bin heute für die Spätschicht eingeplant, aber mir geht’s nicht gut. Ich bin krank …« Noch nie musste ich mich krankmelden und weiß daher nicht genau, was ich ihm sagen soll. Sollte ich erwähnen, dass ich nachher zum Arzt gehe? Obwohl das etwas ist, was ich in Angriff nehme, wenn ich keine Angst mehr habe, beim Gehen zu kollabieren.
»Du klingst auch nicht gut.« Im Hintergrund höre ich das Rascheln von Papier. Sicher sucht er bereits nach dem Dienstplan, um eine Vertretung für mich zu organisieren. »Das ist deine letzte Schicht diese Woche. Ich notiere mir, dass ich dich nicht kurzfristig anrufe, falls Schichten besetzt werden müssen, und du reichst mir deinen Krankenschein so bald wie möglich ein.«
»Selbstverständlich, Chuck. Danke.«
»Bedank dich nicht. So wie du dich anhörst, vergraulst du nur die Kunden. Wir sehen uns, sobald du wieder gesund bist. Gute Besserung.«
Erneut bedanke ich mich und lege auf. Danach bitte ich Georgia über WhatsApp, dass sie in der Uni für mich mitschreibt. Unsere Vorlesung über mittelalterliche Geschichte hat bereits vor einer halben Stunde begonnen und die Klausur nächsten Februar will ich nicht versauen.
Obwohl ich mich nach meinem Bett sehne, bleibe ich noch auf dem Küchenstuhl sitzen. Die Erschöpfung ist zu groß, der Weg ins Schlafzimmer scheint unendlich weit und nicht zu bewältigen.
Aber da es so auch nicht besser wird, schnappe ich mir mein Handy, fülle mein Wasserglas und setze mich in Bewegung. Jeder Schritt fällt mir schwerer und ich breche in Schweiß aus.
Es ist wie ein Feuer, das meinen Körper von innen heraus verbrennt, lichterloh lodert und mit jedem verstreichenden Atemzug stärker wird. Ich mobilisiere meine letzten Kraftreserven, aber kaum dass die Tür hinter mir ins Schloss fällt, knicken meine Knie ein und ich stürze. Wasserglas und Smartphone rutschen mir aus den Händen. Ersteres geht mit einem gläsernen Klirren zu Bruch, doch ich kann mich nicht darum kümmern.
Blut rauscht in meinen Ohren, während mein Herz rast, als wäre ich einen Marathon gerannt, und ich versuche, mich mit den Armen gegen den Boden zu stemmen. Kurz gelingt es mir, doch die nächste Schmerzwelle, die mich überrollt, gibt mir den Rest.
Bewegungsunfähig bleibe ich auf dem unbequemen Parkett liegen und gebe auf. Ich kann mich nicht gegen die Flammen wehren, die in mir wüten. Tränen sammeln sich in meinen Augenwinkeln. Sie kämpfen sich ihren Weg frei und fließen über meine Wangen, benetzen diese mit Feuchtigkeit, die sofort von der Hitze, die mein Körper ausstrahlt, verschlungen wird.
Was ist das? Noch nie in meinem ganzen Leben ging es mir so hundsmiserabel. Was ist, wenn ich hier und heute auf dem Boden liegend krepiere und sich wochenlang niemand darum schert, es niemand mitbekommt, weil mein Fehlbleiben an der Arbeit und in den Vorlesungen durch mein Kranksein entschuldigt ist?
In mir regt sich der Drang, nach Hilfe zu rufen, aber mehr als ein gequältes Wimmern schaffe ich nicht. Verzweifelt beiße ich mir auf die Unterlippe, um mich von dem Schmerz abzulenken, aber es bringt nichts.
Es tut so weh, fühlt sich an, als würde ich sterben. Wie Caleb vorausgesagt hat.
Es wird erst schlimmer, bevor es besser werden kann.
Aber schlimmer geht es nicht mehr. Und woher wusste er, dass das passieren würde?
Unzählige Gedanken schießen mir durch den Kopf, während ich mit mir ringe – und schließlich gegen mich selbst verliere. Meine Lippen formen ein Wort, doch es kostet mich drei Versuche, seinen Namen auszusprechen.
»Ca…leb.« Ich brauche deine Hilfe. Bitte.
Nichts geschieht.
Je mehr Zeit vergeht, desto schwerer fällt es mir, bei Bewusstsein zu bleiben. Ständig drifte ich weg, um in der nächsten Sekunde vor Schmerzen zu erwachen. Meine Gliedmaßen sind so schwer, ich kann sie nicht mehr bewegen, mich nicht rühren, gar nichts tun, um die Qualen zu lindern. Mein ganzer Körper ist wie paralysiert.
Alles brennt und schmerzt und dann ist da auf einmal nichts mehr. Das Bild vor meinen Augen verschwimmt, wird dunkler und nach einer Weile … schwarz. Ich drifte davon, doch bevor ich mich der Dunkelheit hingebe, höre ich sie. Seine Stimme.
»Ruby!«
Auf einmal legt Caleb eine kühle Hand auf meine glühende Stirn und lässt mich vor Erleichterung seufzen. Wie ist er hier reingekommen? Wäre ich nicht ohnehin wie versteinert, wäre spätestens das der Moment, um in eine Schockstarre zu verfallen.
Er schiebt seine Arme unter meinen Körper, ehe er mich hochhebt und auf dem Rücken auf meinem Bett ablegt. Der kühle Stoff des Bettlakens tut gut. Wenn ich krepiere, muss ich es zumindest nicht auf dem Boden tun.
»Keine Angst, Ruby. Ich tue dir nicht weh«, verspricht er, klingt dabei beruhigend und einen Deut mitleidig. Mit der Handfläche streicht er mir über Stirn, Schläfen und Wangen und befreit mich von Schweiß und Tränen. Er ist sanft und seine Berührung fühlt sich weich und zärtlich an. Für einen Moment lässt sie mich vergessen, dass er mir fremd ist und ich Angst vor ihm haben sollte. Vorsichtig öffne ich die Augen, um ihn anzusehen.
»Was ist mit mir los? Wie bist du hier reingekommen? Und wie soll ich wissen, ob ich dir vertrauen kann?«, krächze ich und blinzle die Überreste des Schleiers weg. Caleb schenkt mir ein einfühlsames Lächeln.
»Das kannst du nicht, aber du solltest es. Den Rest erkläre ich dir, wenn du bei Sinnen bist«, antwortet er und greift mit der freien Hand in die Luft. Wie aus dem Nichts manifestiert sich dort ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit, das er nimmt und mir reicht. »Trink das.«
Ich bin zu schwach, um den Arm zu heben, und der Zaubertrick lässt mich zusätzlich den Atem anhalten. Ein Traum, das muss es sein. Das hier ist nichts weiter als eine Vorstellung im Fieberdelirium. Sicher habe ich schon lange das Bewusstsein verloren.
Caleb nimmt seine Hand von meiner Wange und fasst unter mich, um mir in eine aufrechte Position zu helfen. Dann hält er mir das Glas an die Lippen und kippt es. Gierig stürze ich einen Schluck nach dem anderen hinunter, bis es leer ist. Es ist nur Wasser, aber ein Segen für meine ausgetrocknete Kehle.
»Danke«, murmle ich, während er mir beim Hinlegen hilft. Eine weitere Schmerzwelle bahnt sich an und erschüttert mich Sekunden später. Ich beiße die Zähne zusammen und kneife die Augen zu, aber es bringt nichts. Alles tut weh. Jeder Knochen, jeder Muskel und jede Sehne.
»Dank mir nicht. Es ist noch nicht vorbei.«
»Wie lange dauert das?«
Darauf erhalte ich keine Antwort. Zumindest keine Eindeutige. Wie auch? Es ist ein Traum, den ich erschaffen habe. Da er ein Teil davon ist, kann er nichts wissen, was mir nicht bekannt ist. Ich habe keine Ahnung, wieso ich ihn überhaupt gefragt habe, aber wenn ich mir und meinem Körper nicht trauen kann, dann vielleicht ihm. Vielleicht hätte ich gestern zulassen sollen, dass er mich aufklärt.
»Ich bleibe bei dir, bis es dir besser geht, Ruby.«
Danach legt er seine Hand erneut auf meine Stirn und eine unbezwingbare Trägheit ergreift von mir Besitz. Der Schmerz rückt in den Hintergrund, bis ich ihn nicht mehr spüre. Erlösende Ohnmacht hüllt mich ein und trägt mich davon.
Kapitel 4
Als ich erwache, fühle ich mich … gut. Keine Hitzewallungen, keine Kopfschmerzen und das Gewicht auf meiner Brust, das mir das Atmen erschwert hat, hat sich zurückgezogen. Trotzdem genügen wenige Sekunden, damit ich begreife, dass mein Schlaf nicht so friedlich gewesen ist, wie er mir vorkommt. Meine Gliedmaßen sind schweißnass, ebenso wie meine Stirn. Außerdem sind da Erinnerungen an einen Traum, in dem Caleb aufgetaucht ist. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen, als ich daran denke. Er war nicht wirklich hier und ich kann mir nicht vorstellen, dass er in der Realität ebenso zärtlich und sanft wäre, aber sein Traum-Ich hat mir geholfen, die Nacht zu überstehen.
Langsam richte ich mich in meinem Bett auf und stelle fest, dass mir mein Pyjama am Körper klebt, als wäre ich schwimmen gewesen oder hätte in ihm geduscht.
Mein Haar hängt schlaff und glanzlos an meinem Kopf herunter, einzelne Strähnen kleben an meiner Stirn und mir ist etwas schwindelig, als ich aufstehe. Ich fühle mich nicht mehr elend, sondern als hätte ich zu lang geschlafen. Das schwummrige Gefühl verschwindet nach wenigen Sekunden und dann kann ich mich körperlich nicht mehr beklagen.
Scheint ein Vierundzwanzig-Stunden-Virus gewesen zu sein, dem ich zum Opfer gefallen bin. Erleichterung macht sich in mir breit. Längere Zeit flachzuliegen, hätte mir einige Probleme eingebracht, aber jetzt bin ich fit und hoffe, dass das so bleibt. Um den Arztbesuch komme ich trotzdem nicht herum, schließlich brauche ich eine Krankschreibung für meine Schicht, aber darum kümmere ich mich, wenn ich etwas im Magen habe.
Mit nackten Füßen tapse ich über meinen Fußboden und inspiziere mein Bett. Dort prangt ein großer feuchter Fleck. Während ich auf dem Weg ins Badezimmer bin, fertige ich eine mentale Notiz an, dass ich nachher die Laken wechseln und diesen Punkt auf meiner heutigen To-Do-Liste ergänzen sollte, bevor ich in meine Spätvorlesung muss.
Im Bad schnappe ich mir ein Handtuch, was ich mir ins Waschbecken lege, damit ich nach der verdienten Dusche leichter rankomme, und stelle mich in die Wanne. In Gedanken schon unter dem kühlen Brausestrahl beuge ich mich zum Hahn hinab. Ich berühre ihn nicht einmal mit den Fingerspitzen, als ein Schwall eiskaltes Wasser mich auf den Kopf und im Nacken trifft. Was zum …?
Immer mehr Wasser prasselt gleich einem Starkregenschauer auf mich herab. Nasse Haarsträhnen fallen mir ins Gesicht, versperren meine Sicht. Mit einem Fluch auf den Lippen – schlechte Idee, fast verschlucke ich mich – taste ich halbblind nach dem Hahn und will ihn runterdrücken, aber … ich habe das Wasser nie aufgedreht.
Hä?
Wäre das ein Comic, würden sich drei Fragezeichen über meinem klatschnassen Schädel bilden, um meine Verwirrung zu untermalen.
»Geh aus!«, fahre ich meine Dusche an, die darauf tatsächlich reagiert, indem die Intensität des Strahls schwächer wird, bis sie Nieselregen gleicht. Nachdem ich mich aufgerichtet habe, fällt die Anspannung von mir ab. Ich lasse die Schultern sinken und murmle ein Dankeschön, während ich nach meinem Shampoo greife.
Dieses Mal bücke ich mich vorsichtig, behalte den Brausekopf aber genau im Auge. Er tut nichts, was er nicht soll. Gut.
Trotzdem misstraue ich dem Teil ab sofort. Nachdem ich meine Mähne einshampooniert habe, drehe ich das Wasser auf. Dieses Mal passiert nichts.
»Den Hausmeister muss ich nachher auch anruf…«, murre ich, als mich der nächste Schwall Wasser mitten ins Gesicht trifft.
Vor Schreck stoße ich einen erstickten Schrei aus, mein Mund füllt sich mit Wasser und die Wucht des Strahls raubt mir das Gleichgewicht. Verdammte Scheiße. Was ist los? Inzwischen geht alles als absolute Pechsträhne durch, die mich verfolgt.
Verzweifelt rudere ich mit den Armen. Mit den Fingern bekomme ich den bonbonpinken Duschvorhang zu fassen und kralle mich daran fest wie an einem Rettungsanker. Ein verräterisches Knacken ertönt.
»Oh, nein, nein, nein!« Doch da bricht die Teleskopstange aus dem Ein-Dollar-Laden. Sie verliert den Halt an der Wand und ich damit auch.
Ehe ich mich versehe, sitze ich in der Wanne, eine Hälfte der Stange liegt auf meinem Schoß, die andere ist auf den Badezimmerboden gefallen. Halb vom Duschvorhang bedeckt, werde ich immer noch mit kaltem Wasser abgebraust. Meine schaumigen Haare hängen mir ins Gesicht, aber ich muss nicht sehen können, um zu wissen, dass ich nachher eine große Wasserpfütze auf dem Boden wegputzen darf.
Ein Seufzen kommt über meine Lippen. Schmerzerfüllt verziehe ich das Gesicht und reibe über meinen Hintern, mit dem ich äußerst unsanft aufgekommen bin.
Ich muss mir dringend eine Anti-Rutsch-Matte besorgen. Nur für den Fall der Fälle.
»Okay, offenbar habe ich dem Schicksal was getan«, murre ich leise vor mich hin. »Gestern diese komische Vierundzwanzig-Stunden-Grippe, die mich ausgeknockt hat, und der Tag heute beginnt auch großartig.«
Als hätte ich irgendetwas in meinem letzten Leben falsch gemacht, um jetzt die volle Breitseite zu verdienen. Na, vielen Dank, Karma. Umständlich kämpfe ich mich in eine aufrechte Position und werfe sowohl die Stange als auch den Vorhang aus der Wanne, weil ich mir zumindest den Schweiß ab- und das Shampoo auswaschen muss.
Ich greife durch den kalten Strahl, drehe das Thermostat wärmer und spüre, wie die Wassertemperatur ansteigt. Wohlig seufzend stelle ich mich darunter und freue mich, dass die Dusche sich genug Späße mit mir erlaubt hat.
Fünf Minuten später steige ich klatschnass aus der Wanne, trockne mich ab und hülle mich in das Handtuch, das zum Glück nichts von der Brause abbekommen hat. In Rekordzeit ziehe ich mich an und beseitige die Sauerei im Bad. Dann ist das Bett dran.
Immer noch barfuß gehe ich zu meinem Kleiderschrank, um eine neue Garnitur Bettwäsche herauszusuchen, finde jedoch keine.
»Komisch.« Jedes Teil in diesem Haushalt hat seinen Platz. Und die Laken sind am Boden des Kleiderschranks. Das Bett bezieht sich leider nicht von selbst neu, also muss hier ein Set liegen.
»Blöde Bettwäsche, wo bist du?«, meckere ich vor mich hin, während ich meinen alten Schlafsack aus Kindheitstagen – keine Ahnung, wieso ich den unbedingt mit nach Salem bringen wollte – zur Seite schiebe. »Hätte ich hundert Bettwäschesets, wäre es kein Problem, aber ich bin leider nicht reich und habe nur ein Ersatzpaar. Wo auch immer du bist, komm raus.«
Im nächsten Augenblick fällt mir meine Bettwäsche entgegen. Aus dem Nichts ist sie da und liegt in meinen Armen.
»Okay«, murmle ich irritiert. »Das war seltsam.« Keine Ahnung, wie die Sachen ihren Weg auf die Kleiderstange gefunden haben, aber jetzt habe ich sie und lege los. Dabei höre ich im Minutentakt seltsame Plopp-Geräusche, die sicher von draußen stammen und mich bloß ein wenig ablenken.
Plopp.
Plopp.
Plopp.
Als ich fertig bin, schlägt die Tür zu meinem Kleiderschrank auf und kracht mit einem lauten Knall gegen die Wand, sodass ich wenig später ein lautstarkes »Hey!« aus der Nachbarwohnung höre.
»Entschuldigung!«, rufe ich zurück, kann mich dem jedoch nicht widmen. Mein Blick ist wie festgenagelt auf dem Inhalt meines Schranks. Eine Bettwäschegarnitur nach der anderen purzelt heraus. Verschiedene Farben, Muster und Größen. Dazu verteilen sich einige Kissen auf dem Fußboden und ich … ich glaube, ich träume. Das kann nicht real sein. Wo kommt das Zeug bitte her?
Ohne meinen Kopf von meinen neuen Besitztümern abzuwenden, greife ich nach dem Smartphone auf der Fensterbank. Ich zögere nicht und betätige Georgias Kurzwahl.
Meine beste Freundin geht nach dem zweiten Klingeln dran. »Morgen, Ruby, geht‘s dir besser?«, begrüßt sie mich und gähnt erst einmal ausgiebig in den Hörer. Wenn wir späte Vorlesungen haben, neigt sie dazu, sich vor der Mittagszeit nicht aus dem Bett zu bewegen.
»Kein Fieber mehr oder andere Grippe-Symptome, aber ich glaube, ich werde verrückt«, antworte ich. Noch immer purzelt die Bettwäsche aus meinem Kleiderschrank.
»Sind wir nicht alle ein wenig verrückt?«
»Nein, ich meine wirklich.« Ich mag Georgias Blick auf die Welt, aber jetzt ist definitiv nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze dieser Art. »Hör zu. Ich habe heute Nacht mein ganzes Bett nass …«
»Igitt! Zu viel Information.«
»Fein. Jedenfalls wollte ich es neu beziehen, habe aber die Ersatzgarnitur nicht gefunden …«
»Natürlich nicht. Die habe ich vor zwei Tagen mit Rotwein besudelt und in die Wäsche gepackt«, unterbricht sie mich ein weiteres Mal und auf einmal erinnere ich mich. Genau. Sie hatte sich nicht angekündigt, sondern stand plötzlich mit einer Flasche Rotwein, die sie mit ihren neunzehn Jahren gar nicht kaufen dürfte, vor der Tür.
Im Laufe des Abends haben wir die Flasche geleert – na ja, Georgia hat den Großteil getrunken – und sie hat mir von der letzten Schicht, die sie mit Katrina hatte, erzählt. Dabei hat sie so gelacht, dass sie ihren Wein verschüttet hat. Kein Wunder, dass ich die Sachen sofort in den Waschkorb geworfen habe.
»Aber was ist dann …« Ich halte inne. Das kann nicht sein. Sicher bilde ich mir das nur ein. Aber ich hatte die Sachen in der Hand. Sie waren echt! Sowohl Kissen- als auch Deckenbezug.
»Was ist was?«
»Ich habe die Bettwäsche gesucht, herumgeflucht, weil sie nicht auffindbar war, und auf einmal ist sie mir wie aus dem Nichts entgegengefallen. Zusammen mit unzähligen Freunden, die inzwischen meinen Kleiderschrank gesprengt haben und sich auf meinem Fußboden verteilen«, erkläre ich. Zurück kommt nur Schweigen.
»Wie ich gesagt habe. Ich werde verrückt«, murmle ich in den Hörer, lasse mich auf mein Bett fallen und betrachte meine weiße Zimmerdecke.
»Vielleicht Nachwirkungen vom Fieber?«, schlägt Georgia vor.
»Ich habe kein Fieber mehr und fühle mich körperlich ziemlich fit, Georgie. Ach, das ist so seltsam. Vielleicht träume ich noch. Na ja, ich lass dich mal weiterschlafen. Werde schon herausfinden, was mit mir los ist.« Was auch immer es ist, meine beste Freundin wird mir dabei leider keine Hilfe sein.
»Soll ich vorbeikommen?«, fragt diese. Kurz bin ich gewillt, sie herzubeordern, aber wozu? Sie wird mir genauso wenig erklären können, was hier passiert.
»Schon gut. Vermutlich bilde ich mir das ein und ich bin nicht auf der Höhe. Wir sehen uns später in der Uni.«
»Hm. Okay. Bis dann.«
Wir verabschieden uns und legen auf, aber geholfen hat mir dieses Gespräch nicht. Besorgt trete ich auf den Bettwäscheberg zu und greife nach einer Garnitur. Fühlt sich echt an, meine Finger gleiten nicht hindurch wie bei einem Hirngespinst und die Sachen duften sogar frisch gewaschen.
Das alles ist komisch und fast … magisch. Okay, es stimmt definitiv etwas nicht mit mir, wenn ich so was Seltsames als magisch bezeichne, denn Magie gibt es nicht. Nicht einmal in Salem, der Stadt, die für ihre Hexenverfolgungen bekannt geworden ist.
Trotzdem sollte ich diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Gibt ja nicht viele andere. »Also fassen wir zusammen«, beginne ich laut. Das hilft mir meist, meine Gedanken zu ordnen. »Ich sagte vorhin, ich habe nicht hundert Garnituren. Die hier habe ich zwar nicht gezählt, aber es könnte durchaus hinkommen. Kissen wollte ich nicht, aber kann ja nicht schaden …«
Ich traue meinem gesunden Menschenverstand nicht, als sich ein Kissen vor meinen Augen in Rauch auflöst, der kurz darauf durch das gekippte Fenster nach draußen weht.
Verrückt. Eindeutig.
»Okay, das funktioniert also, wenn ich was sage«, stelle ich fest. »Dann … ähm … muss ich es als Frage formulieren oder etwas verlangen?« Womöglich hilft ein Versuch. »Komische übernatürliche Macht, die dafür gesorgt hat, dass mein Zimmer aussieht wie ein Ikea-Ausverkauf, kannst du das Chaos auch wieder wegräumen?«
Nichts geschieht. Na danke.
So leicht ist es offenbar nicht. Könnte daran liegen, dass ich mir nicht wegwünschen kann, was ich selbst Minuten vorher ›bestellt‹ habe. Aber bei den Kissen ging es doch auch … Okay, ein weiterer Versuch. Nicht dass ich an Magie oder sonstige übernatürliche Mächte glaube, aber ich kann nicht leugnen, dass die Geschehnisse extrem unglaubwürdig sind – und trotzdem real. Keine Fata Morgana.
Wenn nichts passiert, bin ich noch im Fieberdelirium. Oder werde wahnsinnig und sollte mich dringend selbst in die nächste Psychiatrie einweisen lassen. Und wenn doch, dann … ist die Klapse trotzdem meine beste Möglichkeit.
Ich atme tief durch, schließe kurz die Augen und sammle mich, ehe ich den Kopf hebe und einen Punkt an meiner Wand fixiere, als stünde dort mein Gesprächspartner.
»Oder für mich einkaufen gehen?«, beginne ich unbeholfen. Was sagt man einer übernatürlichen Macht, die Bettwäsche herzaubert? Auf so etwas bin ich nicht in der Schule vorbereitet worden! »Ich … ähm … habe fast alles da und brauche eigentlich nur Milch. Hab nämlich keine mehr für meinen Kaffee, den ich heute noch nicht hatte, weil … du weißt schon. Oh, und Cornflak…« Ein Scheppern in der Küche reißt mich aus dem Monolog mit der übernatürlichen Macht, die mich offensichtlich für blöd verkauft. Oder aus meinen Selbstgesprächen.
»Was war das?«, frage ich leise, aber erhalte keine Antwort. Von wem auch, wenn nicht von mir? Und ich habe keine Ahnung, was in meiner Küche los ist.
Es folgt ein lautes Rascheln, etwas fällt und zersplittert auf dem Boden, bevor ein durch Mark und Bein gehendes »Muuuuuuh« ertönt, das man sicher im ganzen Wohnhaus gehört hat. Auf der Stelle habe ich einen Verdacht, auch wenn ich hoffe, dass das nur Einbildung ist.
»Bitte sag mir nicht, dass eine Kuh in meiner Küche ist.«
Kapitel 5
»Da ist eine Kuh in meiner Küche«, murmle ich mehr zu mir selbst als zu irgendjemandem sonst. Wie auch? Außer mir ist hier niemand. Wenn man von der Kuh mal absieht, versteht sich.
Himmel, jetzt ist es offiziell. Ich habe den Verstand verloren. Meine Gehirnzellen müssen sich in der Hitze des Fieberdeliriums aufgelöst haben und jetzt sehe ich Dinge, die unmöglich sind. Eine logische Erklärung fällt mir dazu nicht ein und trotzdem fühle ich mich seltsam gelassen.
Dabei sollte Panik in mir aufsteigen und ich schreiend die Flucht vor meinen Hirngespinsten ergreifen. Eventuell – okay, was denke ich da? Ganz sicher! – sollte ich mir die Nummer der nächsten Psychiatrie besorgen und mich einweisen lassen. Vielleicht gibt es Hoffnung, dass das wieder weggeht.
Ein leises Stimmchen in meinem Kopf flüstert, dass ich auf den unheimlichen Typ von gestern hätte hören sollen. Caleb meinte, es wäre dringend. Er wusste eindeutig von meinen Symptomen und inzwischen würde es mich nicht überraschen, wenn er eine Erklärung dazu hätte.
Während ich mir den Kopf darüber zerbreche, wie verrückt ich bin, bewegt die schwarz-weiß-gefleckte Kuh sich nicht einen Zentimeter. Sie ist immer noch da, eingepfercht zwischen dem länglichen Frühstückstisch und meiner Küchenzeile. Vor ihr auf dem Boden liegt eine zerbrochene Cornflakes-Schüssel, die ich der Einfachheit wegen auf dem Tisch stehen lasse, weil in meinem Geschirrschrank ohnehin kein Platz ist.
Außerdem hat die Kuh einen meiner beiden Küchenstühle umgetreten, sodass dieser auf dem Fußboden liegt. Zumindest ist der Tisch heil und meine Küche unbeschädigt.
»Okay.« Ich atme tief durch, versuche, meine Gedanken zu ordnen und mir zu überlegen, wie ich weitermache. Immerhin kann ich das Tier nicht in meiner Küche lassen, egal ob real oder Einbildung. »Wie bist du hier reingekommen?«, richte ich mich an die Kuh, die mich mit ihren großen dunklen Augen unschlüssig ansieht und bloß ein lautes »Muuuuuh!« von sich gibt.
»Sollte das eine Antwort gewesen sein, muss ich dich darauf hinweisen, dass ich Kuh-isch leider nicht spreche.« Aber das kommt vielleicht noch, immerhin bin ich inzwischen so durchgeknallt, dass ich mit einer Kuh rede.
Als Antwort kriege ich ein »Muh!«, dieses Mal lauter. Was sich meine Nachbarn dabei denken, will ich besser gar nicht wissen. Kurz blicken das Tier und ich uns gegenseitig an, es bleibt stumm und ich ebenfalls. Bis ich die Stille nicht mehr aushalte und die Tatsache ignoriere, dass ich eh keine vernünftige Antwort bekommen werde.
»Ich habe absolut keine Ahnung, wieso du in meiner Wohnung bist, Kuh, aber es wäre verdammt super, wenn du wieder dahin gehen könntest, wo du hergekommen bist. Damit ich mein Leben weiterleben kann, verstehst du?« Dieses Mal kriege ich zwar kein »Muh« zurück, aber einen Blick, der so viel bedeutet wie »Dein Ernst? Ich bin gerade erst angekommen und mir gefällt es hier.«
Sogar meine Einbildung widersetzt sich mir.
Klasse.
Ich muss definitiv etwas in einem früheren Leben verbrochen haben, dass ich jetzt mit … so was gestraft werde. Als die Tür zu meiner Wohnung exakt zwanzig Sekunden später geöffnet wird und ein lautes »Schaaaatz, ich bin zu Hause!« ertönt, entweicht mir ein Stöhnen.
So gern ich Georgia um mich habe, im Moment bereue ich, dass ich ihr einen Schlüssel überlassen habe. Sie nimmt das »Du kannst mich jederzeit besuchen« etwas zu ernst. Immer sucht sie sich die unpassendsten Momente aus, um hereinzuschneien.
»Wo bist du, Ruby?«
»Küche«, erwidere ich, weil sie mich früher oder später finden würde.
»Muuuuuuh!«, kommt von der Kuh. Ich hoffe, dass Georgia meine Einbildung nicht sehen kann. Wüsste sie, was für ein Durcheinander in meinem Kopf herrscht, würde sie vermutlich schreiend die Flucht ergreifen und nie zurückblicken.
»Was war das?« Verdammt!
»Nichts«, versuche ich es. Wie konnte sie das hören? Ist die Kuh doch … real? Aber das ist völlig unmöglich. Es kann kein zwei Meter langes Tier, das darüber hinaus fast so groß wie ich ist, in der Küche sein.
Ein Luftzug, der vom Öffnen der Tür zu meiner Wohnküche herrührt, kitzelt mich im Nacken, ehe meine beste Freundin zu mir stößt. Ihr Blick ist nach vorne gerichtet, die Augen sind geweitet. »Da ist eine Kuh«, stellt sie fest.
Sie kann sie sehen. Das lässt nur wenige Möglichkeiten zu.
Entweder wir werden beide verrückt und können uns in der Irrenanstalt ein Zimmer teilen oder wir sind bei klarem Verstand. Leider habe ich keine Ahnung, welche der beiden Alternativen ich besser finde.
»Jup«, ist alles, was ich über die Lippen bekomme. »So weit war ich auch schon.«
»Okay, lass mich das anders formulieren. Wieso ist da eine Kuh?«, fragt Georgia, ohne den Blick von meiner unfreiwilligen Besucherin abzuwenden. Eine Frage, auf die ich bisher keine Antwort erhalten habe.
»Das wollte ich auch von ihr wissen, aber sie sagt es mir nicht«, erwidere ich daher.
»Du weißt es nicht?« Jetzt sieht sie mich erschrocken an. Sorry, dass ich keine Ahnung habe, wie ein sechshundert Kilo schweres Bauernhoftier in meine Wohnung gelangt ist.
»Nope. Sie war auf einmal da und ich traue mich nicht, näher ranzugehen«, antworte ich wahrheitsgemäß und trete demonstrativ einen Schritt zurück.
»Aber wie kommt sie in den dritten Stock?«, beharrt meine beste Freundin, als hätte ich mir ausgesucht, diesem Tier in meiner Wohnung Unterschlupf zu bieten.
»Ich habe sie sicher nicht hier reingeschmuggelt, Georgie. Glaub mir das bitte. Vorhin habe ich dir die Sache mit der Bettwäsche erzählt …«
»Und ich dachte, du bist im Fieberdelirium und ich schaue besser vorbei, aber offenbar geht es dir wieder gut. Oder wir drehen beide durch.«
»Der Gedanke kam mir auch«, beruhige ich sie und seufze. »Jedenfalls habe ich überlegt, was die spontane Vermehrung ausgelöst haben könnte, und mir ist eingefallen, dass ich laut gedacht habe. Also habe ich diese komische übernatürliche Macht, die das zu verantworten hat, gebeten, für mich einkaufen zu gehen, weil ich Milch brauche, und jetzt …« Ich deute auf das Tier.
»Wow!« Im nächsten Moment fängt sie an zu lachen. So sehr, dass ihr kurz darauf Tränen über die Wangen laufen, die sie mit einer Handbewegung wegwischt. »Sorry, Ruby, aber das hört sich dermaßen abgedreht an, dass es schon wieder gut ist.«
»Den ersten Teil unterschreibe ich«, erwidere ich daraufhin. »Den zweiten eher nicht. Ich meine, was ist gut daran, dass ich ein Tier, das auf einen Bauernhof und eine weitläufige Weide gehört, in meiner Küche stehen habe? Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn ich mich ihm nähere …«
»Ihr«, unterbricht sie mich.
»Hm?«
»Sieht aus wie eine Milchkuh, ein Weibchen. Also muss es heißen, wenn du dich ihr näherst …«
Grammatik ist im Moment das Letzte, was mich interessiert. »Meinetwegen. Stell dir vor, ich gehe auf sie zu und sie greift mich an. Was dann?« Sie sieht nicht gefährlich aus, blickt mich eher friedfertig an und ist im Grunde ganz niedlich, aber hier hat sie trotzdem nichts verloren.
»Du hast sie hergezaubert. Zaubere sie wieder weg!«
»Haha, bist du lustig«, lasse ich meine beste Freundin wissen. »Leider sind wir in der Realität und nicht in einem deiner Fantasy-Romane. Ich bin nur ein Mensch und keine Hexe«, nehme ich ihr die Illusion. Anstatt sich mit der Wirklichkeit zu befassen, deutet Georgia mir mit einer wegwerfenden Handbewegung an, dass ihr das egal ist.
»Woher willst du das wissen? Du könntest genauso gut eine sein, die keinen Hogwarts-Brief bekommen hat«, beharrt sie und gestikuliert so wild mit den Armen, dass ich mich kaum darauf konzentrieren kann, sie anzusehen.
»Also erstens würden wir hier in den USA eher Briefe aus Ilvermorny bekommen und zweitens ist das eine Buchreihe und nicht real!«, hebele ich ihre Argumente aus und verschränke die Arme vor meiner Brust.
»›Harry Potter‹ ist keine Buchreihe, Ruby, sondern eine Lebenseinstellung!« Als hätte ich ihre Religion beleidigt, schaut sie mich mit großen Kulleraugen an und zieht einen Schmollmund. Seufzend gebe ich nach.
»Okay, ich schätze, das fällt in die Kategorie ›nicht mehr ganz normal‹, also kann ich ebenso gut versuchen, meinen Hausgast wegzuzaubern, wie du gesagt hast«, lenke ich ein und gehe zwei Schritte auf die Kuh zu, die uns stumm zugehört hat. Immer noch betrachtet sie mich neugierig und sieht mich dabei so flehentlich an, als würde sie mich bitten, sie nicht im Nirwana verschwinden zu lassen.
»Okay, Kuh, schön, dass du da bist, aber ich habe keinen Platz für ein Haustier, also wäre es super, wenn du gehen würdest«, erkläre ich ihr sachlich und komme mir dabei leicht albern vor.
»Wie langweilig!«, ruft Georgia aus dem Hintergrund. »Das hat nichts mit Magie zu tun.«
»Es gibt ja auch keine Magie!«, entgegne ich scharf. »Außerdem werde ich sicher keine lächerlichen Reime aufsagen.« Damit wende ich mich dem Tier vor mir zu, das mich mit dunklen Augen anschaut.
»Nichts gegen dich, echt nicht, ich bin ein großer Fan von Kühen, aber du bist leider zu groß für meine winzige Wohnung, in der ich mich selbst kaum umdrehen kann. Wenn du nur ein bisschen kleiner wärst …«
Ich halte inne, als ich bemerke, wie das vorher zwei Meter große Tier vor meinen Augen kleiner wird. Den Fluchtinstinkt – was bitte ist hier los?! – unterdrückend, starre ich die Kuh an, die mir inzwischen bis zur Hüfte reicht.
»Verdammt cool«, haucht Georgia fasziniert.
»Eher verdammt unheimlich«, korrigiere ich sie und blicke auf mein neues Haustier. So groß wie eine Katze tapst die Kuh geschickt durch die Scherben meiner Frühstücksschale, ohne sich zu verletzen, und schleicht mir um die Beine.
»Nee, also ich bleibe bei ›cool‹. So klein ist sie ja irgendwie niedlich. Jetzt musst du sie behalten. Hat sie einen Namen?«
Stumm schüttele ich den Kopf und gewöhne mich an den Gedanken, dass ich in Zukunft dem Postboten erklären muss, wieso ich eine Miniatur-Kuh besitze, die sich aufführt wie eine Katze.
»Hm. Du könntest sie Bessie nennen. Oder Margaret.«
»Klingt wie meine Großmutter.« Angewidert verziehe ich mein Gesicht. Ich gebe dem Tier sicher nicht den Namen, den meine Granny Margaret trägt.
»Dann mach einen besseren Vorschlag.«
Damit das arme Tier letztendlich nicht doch Bessie heißt, überlege ich kurz. Aber nach fünf weiteren Minuten ist in meinem Kopf nur das Bild der lila Kuh dieser deutschen Schokoladenmarke aufgeploppt. Chuck hat sie letztes Jahr aus dem Urlaub im Schwarzwald mitgebracht und seinen Mitarbeitern je eine Tafel überlassen.
Tausende von E-Books und Hörbücher
Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.
Sie haben über uns geschrieben: