Never mess with a Witch - Annie Laine - E-Book
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Never mess with a Witch E-Book

Annie Laine

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Beschreibung

Ruby und ihre Freunde haben es geschafft, ihre Cousine aus den Fängen des Zirkels zu befreien. Doch der Preis, den sie dafür zahlen mussten, ist hoch. Obwohl Ruby noch Calebs Verlust in den Knochen steckt, ist sie bereit, alles zu tun, um Atticus Grants Pläne aufzuhalten. Dazu muss sie schneller ihre Magie meistern, als es jeder Hexe möglich ist. Als sie jedoch eine Entdeckung macht, die ihren bisherigen Glauben tief erschüttert, steht sie vor einer Welle neuer Probleme. Wenn es noch eine Chance gibt, Caleb zu retten, muss sie diese ergreifen, aber der Kampf gegen den Zirkel könnte ihre gesamte Welt ins Verderben reißen ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Was bisher geschah
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Epilog
Danksagung
Über die Autorin

 

Annie Laine

Never mess with a Witch

© 2020 Annie Laine

Anna-Lena Krug

Probstheidaer Straße 69/0201

04277 Leipzig

 

Lektorat: Klaudia Szabo

Korrektorat: Cara Rogaschewski

Cover: Emily Bähr unter Verwendung von Bildmaterial via Shutterstock und Freepik

 

ISBN: 9783754674468

 

 

www.annie-laine.de

Für alle, die an eine Welt voller Magie glauben.

 

Was bisher geschah

 

Wie reagierst du, wenn ein mysteriöser Kerl in dein Leben tritt und behauptet, du seist eine Hexe? Sicherlich wie Ruby: Sie hält den Hexer Caleb für einen Vollidioten. Immerhin hat sie einen geordneten Nebenjob als Kellnerin und studiert Geschichte.

Als jedoch eine Kuh in ihrer Küche steht und sie ihr Bad in einen Wildwasserpark verwandelt, muss sie sich eingestehen, dass sie einiges über ihre vor Jahren verschollene Mutter nicht wusste. Denn wie diese ist Ruby eine Hexe und trägt seit Jahren angestaute, schwer kontrollierbare Magie in sich.

Bei einem Besuch im Zirkel Salems erfährt Ruby nicht nur, dass sie noch einige Verwandte hat, die sie nie zuvor getroffen hat, sondern macht auch die Bekanntschaft Atticus Grants. Der Vorsitzende des Zirkelrats scheint besonders an ihren Kräften interessiert zu sein, doch seine Art und seine Überzeugung, dass Menschen weniger wert sind als Hexen, stoßen ihr sauer auf. Angesichts der unterschwelligen Gefahr, die von ihm ausgeht, beschließen Ruby und Caleb, einen Blutsbund zu begehen. Dieser vereint ihre Leben auf untrennbare Weise. Sollte einer von ihnen sterben, geht auch der andere zugrunde.

Selbst das gründliche magische Kampftraining, dem sich Ruby mit Hilfe von Caleb unterzieht, kann nicht verhindern, dass sie sich nach einem Einbruch in ihre Wohnung nicht mehr sicher fühlt. Kurzerhand verstecken sich Ruby und Caleb bei Samira, einer befreundeten Neumondhexe. Als auch Calebs Cousine Gina und deren Freund Theo dazustoßen, erfahren sie, dass Rubys Cousine vom Rat entführt wurde. Dieser will sich Lunas Vollmondkräfte sichern und ein magisches Ritual an ihr vollziehen.

Während Calebs und Sams Kräfte in der bevorstehenden Neumondnacht gestärkt waren, wurden Rubys stark unterdrückt. Trotzdem ließ sie es sich nicht nehmen, an der Befreiungsaktion teilzunehmen. Dabei gerät sie prompt in die Fänge ihres Erzfeindes. Zwar schafft sie es dennoch, Luna in Sicherheit zu bringen, doch der Preis, den sie dafür zahlen muss, ist hoch. Nicht nur erfährt sie, dass ihre Mutter wahrscheinlich in eine Katze verwandelt wurde, sie soll auch unter dem Einfluss eines Liebeszaubers gezeugt worden sein. Und als wäre das nicht genug, kehrt Caleb nicht zu Sams Anwesen zurück. Ruby schwört, Calebs Tod zu rächen. Doch die Last der Rettung ihrer Welt lastet nun noch schwerer auf ihren Schultern …

 

 

Kapitel 1

 

»Atme tief ein und aus. Ein und aus. Entspann dich, Ruby, du bist viel zu verkrampft.« Ginas sanfte Stimme ist das einzige Geräusch in dem Raum, dennoch fällt es mir schwer, mich auf sie zu konzentrieren. Seit über einer Stunde verweile ich im Schneidersitz auf dem Boden und versuche, mit geschlossenen Augen runterzukommen.

Meditation würde mir helfen, sagt sie. Nicht nur bei meiner Beruhigung, sondern auch bei der Kanalisierung meiner Magie. Ich soll lernen, meinen Magiefluss zu spüren, damit ich ihn besser lenken kann. Damit die Hexerei mir in Fleisch und Blut übergeht. Zu jeder Zeit, ohne darüber nachzudenken, und nicht nur, wenn ich Stress ausgesetzt bin und mir nicht den Kopf über meine Handlungen zerbrechen kann.

Die Magie muss ein Teil von mir werden. Dauerhaft. Ohne Einschränkungen.

Es ist schwerer, als es den Anschein erweckt.

»Das tue ich doch, Gina«, presse ich durch zusammengebissene Zähne hervor und kneife die Augen fester zusammen. Ja, verdammt, ich versuche es. Seit einer Stunde. Erfolg? Fehlanzeige.

Inzwischen bin ich aufgebrachter als zuvor, meine Füße sind eingeschlafen, mein Magen knurrt und ich bekomme Kopfschmerzen, was das Meditieren noch schwieriger macht. Wieso halte ich mich mit so etwas auf, wenn ich einen Weg finden sollte, den Rat aufzuhalten, bevor er die Weltherrschaft an sich reißt und dabei weitere unschuldige Neumondmagier umbringt?

Es gäbe tausend wichtigere Dinge. Angefangen bei dem Grimoire, das ich aus Atticus Grants Büro habe mitgehen lassen und das wir bislang nicht öffnen konnten, über die Katze meiner Tante, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit meine Mutter ist, bis hin zu der großen Baustelle, die einmal mein ganz normales Leben war. Um nichts davon kann ich mich kümmern, solange Gina versucht, mit mir zu meditieren.

»Du strengst dich zu sehr an. Sei ganz ruhig und fühle in dich hinein.«

Ich gebe auf. Seufzend öffne ich die Augen und strecke mit etwas Mühe meine Beine von mir. Die ungewohnte Bewegung lässt mich scharf die Luft einziehen, ehe sich die Taubheit meiner Füße und Waden in ein penetrantes Kribbeln verwandelt. »Das bringt doch nichts, Gee. Lass uns aufhören.«

Gina sieht das leider anders. Sie bleibt im Schneidersitz, schüttelt jedoch hektisch den Kopf, sodass ihre schwarzen Haare um sie herum wehen, ehe sie wieder ihren Rücken hinabfließen. »Eben doch. Es bringt etwas, wenn du es zulässt. Du musst dafür deinen Geist leeren …«

»Wie?«, unterbreche ich sie und setze meinen verzweifeltsten Gesichtsausdruck auf. »Ich kann mich kaum konzentrieren. Ständig werden meine Gedanken von den Erinnerungen an die letzten Tage überschwemmt. Oder von dem, was passieren könnte. Wie soll ich an … gar nichts denken, wenn es … Gee, es ist gerade einmal drei Tage her, seitdem er …«

Ein Kloß, so groß wie eine Faust, bildet sich in meiner Kehle. Er erschwert mir das Atmen und doch überwinde ich mich und schlucke ihn herunter. Wir wissen alle, was geschehen ist. Es auszusprechen, sollte mir nicht so schwerfallen.

»… seitdem Caleb tot ist.« Nur ein Wispern findet den Weg über meine Lippen. Etwas in Ginas Gesichtsausdruck verändert sich. Ihre ruhige, besonnene Miene weicht tiefer Traurigkeit, ihre grünen Augen glitzern verdächtig, als würde sie jeden Augenblick anfangen zu weinen.

Keine von uns hat bisher eine Träne vergossen. Weder Gina noch ich. Wir sind stark geblieben, weil wir es mussten. Unsere Probleme sind größer als unsere Trauer. Wir mussten Sams Verletzungen heilen und eine zuversichtliche Miene wahren, damit Luna sich mit sechs Jahren nicht mit dem Tod eines geliebten Menschen … oder Hexers auseinandersetzen muss. Wir haben ihr erzählt, dass er im Zirkel die Stellung hält und zu uns stößt, sobald keine Gefahr mehr droht. So wie Theo, auf den das tatsächlich zutrifft. Früher oder später wird sie die Wahrheit erfahren, aber noch belasten wir sie nicht damit.

»Ich weiß«, erwidert Gina genauso leise und senkt den Blick. »Dennoch solltest du dein Training nicht vernachlässigen. Caleb hätte nicht gewollt …«

»Er hat mir das Kämpfen beigebracht, Gee«, unterbreche ich sie wieder. »Bei ihm musste ich nie Atemübungen machen, wenn ich innerlich aufgewühlt war.«

»Es gibt verschiedene Arten, zu lernen. Meine sehen etwas anders aus als Calebs und vielleicht waren seine für dich nicht das Richtige. Deshalb versuchen wir es auf diese Weise. Du hast noch nicht die Kontrolle über deine Magie, die du haben solltest. Deine Ausbildung begann dreizehn Jahre zu spät, vergiss das nicht.«

Wie könnte ich? Sie erinnert mich täglich daran. Es ändert jedoch nicht, dass Meditation nichts für mich ist und mich nicht weiterbringen wird.

»Aber so ergibt das keinen Sinn«, versuche ich es erneut. »Zu viele Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Während ich hier sitze, könnte ich so viel Wichtigeres tun.«

»Könntest du nicht«, widerspricht Gina und schüttelt langsam den Kopf. »Solange Sam das Grimoire nicht öffnen kann, sitzen wir ohnehin hier fest. Oder willst du dich im Brauen von Zaubertränken versuchen, um deine Katze in einen Menschen zu verwandeln? In dem Fall muss ich dir leider mitteilen, dass ich immer eine Niete im Zaubertrank-Unterricht war.«

Weder an das eine noch an das andere habe ich gedacht. Zumindest nicht gänzlich. Diese Dinge habe ich in die hinterste Ecke meines Kopfes verbannt, weil es nichts ist, was ich im Moment beeinflussen kann.

Aber ich muss etwas tun. Etwas, was mich weiterbringt, damit ich nicht mehr das Gefühl habe, untätig herumzusitzen, während in Salem weitere Weltherrschaftspläne geschmiedet werden.

»Vielleicht kriegen wir das Grimoire gemeinsam auf.«

»Das haben wir bereits versucht«, erwidert Gina daraufhin. Auf sie trifft das zu, denn während sie Sams Verletzungen geheilt und sich um sie gekümmert hat, hatte sie die Zeit, das Zauberbuch genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich für meinen Teil hatte es seit der Nacht, in der ich es gestohlen habe, kaum in der Hand.

»Komm schon, Gee. Ich will etwas machen. Helfen. Irgendetwas.«

»Du tust doch etwas. Du lernst, mit deiner Magie besser umzugehen.«

»Und scheitere dabei kläglich.« Das stimmt nicht ganz. Seitdem wir vor zwei Tagen angefangen haben, gemeinsam zu trainieren, sind mir einige Zauber gelungen, an die ich mich zuvor nicht rangetraut oder an die ich nicht einmal gedacht habe. Sogar eine einfache Teleportation aus dem Wohnzimmer in die Küche, auch wenn ich in Zukunft darauf verzichten könnte. Trotzdem hält mich nur die Gewissheit, dass ich vermutlich nicht lebend zurückkommen würde, davon ab, die neugewonnene Fähigkeit für einen Rachefeldzug gegen den Zirkel zu verwenden.

»Im Gegenteil. Für die kurze Zeit schlägst du dich gut …«

»Aber ich sitze trotzdem fest und fühle mich, als würde ich mich verstecken.«

»Was willst du machen? Kopflos losziehen, den Zirkel aufmischen und dabei gefangen genommen oder gar getötet werden?«

Okay, keine guten Aussichten.

»Nein«, gebe ich zu. »Aber ich will Pläne schmieden, nicht meditieren. Wir haben nicht mal mehr einen Monat.«

»Und in diesem Monat öffnet Sam Grants Grimoire, wir erfahren, was genau er vorhat, und wirken einen Gegenzauber, der seinen neutralisiert …« Das ist der bisherige Plan, natürlich basierend auf der Prämisse, dass Sam den Schutzmechanismus des Grimoires endlich knackt.

»Damit wir dasselbe Spiel jeden Monat wiederholen? Bis wir versagen und die Menschheit dem Untergang geweiht ist? Das ist doch keine Lösung.«

Das sieht auch Gina ein. Ohne eine Erwiderung wendet sie den Blick von mir ab. Ihre Stirn legt sie nachdenklich in Falten. »Ich werde dir das Kämpfen beibringen«, beschließt sie nach einer Weile.

Überrascht sehe ich sie an.

»Du kannst kämpfen?«

Darauf geht sie nicht ein. »Wenn es dich glücklich macht und du damit mehr anfangen kannst, unterrichte ich dich darin. Aber erst, wenn du deine Magie im Griff hast. Kampfmagie erfordert sehr viel Kontrolle.« Zu meiner Überraschung klingt sie wie ein Profi auf diesem Gebiet.

Bevor ich fragen kann, woher sie das weiß, erhebt sich Gina binnen Sekunden und streckt mir einen Arm entgegen.

»Machen wir draußen weiter? Frische Luft hilft deiner Konzentration vielleicht«, schlägt sie vor und weil die Alternative mit Sicherheit wäre, hierzubleiben und das Trauerspiel fortzusetzen, nicke ich.

»Wunderbar. Zieh dich um, ich komme gleich nach.«

 

***

 

»Gehst du aus?«, fragt Milly und hebt verschlafen den Kopf. Seitdem ich hereingekommen bin, hat sie nicht ein Wort gesprochen, sondern auf meinem Bett an Ivy gekuschelt gedöst. Obwohl die Katze nicht sprechen kann – sowohl Sam als auch Gina haben versucht, ihr diese Fähigkeit zu verleihen, aber es ging nicht – und Kühe und Katzen sich sprachlich nicht auf einer Wellenlänge befinden, verstehen die beiden sich hervorragend.

»Nur nach draußen. Das kann ich schlecht in den kurzen Trainingskleidern machen, die Gina mir gegeben hat.«

»Du siehst hübsch aus«, bemerkt meine Mini-Kuh. »Aber auch wie jemand, mit dem man sich nicht anlegen sollte.«

Das entlockt mir ein Schmunzeln. »Das Kleid habe ich mir von Sam geliehen.«

Die Hexe besitzt einen äußerst farbenfrohen Kleiderschrank mit fast ausschließlich schwarzen Klamotten. Außerdem hat sie eine Abneigung gegen Hosen, sodass ich mit den Kleidern vorliebnehmen muss, die sie besitzt. Da Materialisierungszauber keine permanente Wirkung haben, wenn sie Dinge aus dem Nichts erschaffen, und ich für ein paar Anziehsachen nicht zur Diebin werden will, bleibt mir nichts anderes übrig.

Heute habe ich mich für ein knielanges, schwarzes Kleid mit langen Ärmeln und einem leicht ausgestellten Rock entschieden. Es besitzt keine Spitze, wie die meisten von Sams Kleidern, dafür ist der Rock mit unzähligen filigranen Rosen- und Rankenstickereien in einem dunklen Grauton verziert. Mit schwarzer Strumpfhose und einem Paar Winterstiefeln bin ich fertig. Es ist kein praktisches Kampfoutfit, aber ich gehe nicht davon aus, dass Gina heute dazu übergeht.

An meinem Hals baumeln nur noch drei Ketten. Bevor ich erfahren habe, dass ich eine Hexe bin, habe ich Ketten geliebt und bekam nicht genug davon, aber inzwischen sind sie keine Modegegenstände mehr für mich. Jede einzelne, die ich trage, erfüllt einen Zweck.

Moms Schlüssel, der dreizehn Jahre lang verhindert hat, dass meine Magie erwacht, und mir immer noch so wichtig ist, dass ich mich ohne ihn nackt fühle.

Der Rubin, den Melinda jahrelang aufbewahrt hat, um ihn im richtigen Moment an mich weiterzugeben. Der auf wundersame Art und Weise dafür gesorgt hat, dass ich meine Magie trotz des Neumonds gespürt habe – mächtiger als zuvor.

Und das Pentagramm, das eigentlich Sam gehört und im Moment verhindert, dass der Blutsbund, den Caleb und ich miteinander geteilt haben, Einfluss auf mich nimmt. Es hat mir das Leben gerettet, sonst wäre ich mit Caleb in dieser Nacht gestorben. Ob ich es jetzt abnehmen kann oder tot umfalle, sobald ich es tue, konnte Sam mir nicht sagen. Sicherheitshalber behalte ich es um.

Sowohl das »R« für meinen Namen als auch Georgias Herz mussten weichen. Diese Ketten gehörten der alten Ruby, die kaum Sorgen hatte, und vielleicht lege ich sie eines Tages wieder um. Wenn alles vorbei ist.

Als Gina in mein Zimmer kommt, betrachtet sie mich abschätzig und nickt schließlich anerkennend. »Heiß. Wie eine richtige Bad-Ass-Hexe. Jetzt arbeiten wir an deiner Magie und deinem Selbstbewusstsein und in dreieinhalb Wochen trittst du allen in den Hintern!«

Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ihren Worten Glauben zu schenken und ihr zu folgen. Die Witterung hat es bisher unmöglich gemacht, viel Zeit in dem weitläufigen Garten des Grundstücks verbringen, aber heute ist das Wetter angenehm mild. Der November sorgt zwar dafür, dass wir ohne Jacken frieren würden, aber die Sonne versteckt sich nicht hinter Wolken und es sieht nicht nach Regen aus. Ich werte es als Zeichen, dass jeden Moment etwas Gutes geschehen wird. Wir haben es nach Tagen voller Regen und Niedergeschlagenheit verdient.

Gina führt mich durch einen kleinen, überdachten Kräutergarten auf eine wild wachsende Wiese. Mit einer Armbewegung stutzt sie das Gras problemlos auf Knöchelhöhe und zaubert zwei Matten auf den Boden. Auf einer davon lässt sie sich im Schneidersitz nieder und ich weiß auf der Stelle, was das bedeutet.

»Was macht es für einen Unterschied, wenn wir hier meditieren?«

»Wir sind nicht mehr im Haus. Du wirst dich wundern, wie stark die Umgebung alles beeinflusst. Komm, setz dich.« Auffordernd klopft sie auf die dunkle Matte vor sich und ich gebe mit einem Seufzen nach. Offenbar komme ich nicht drum herum.

»Sehr gut. Jetzt schließ die Augen, leere deinen Geist und konzentriere dich nur auf die Natur um dich herum.«

Da ich keine Wahl habe, folge ich ihren Anweisungen, aber es tut sich nichts. Egal, wie sehr ich mich konzentriere, ich spüre nichts.

»Du willst es zu sehr. Entspann dich, dann kommt alles wie von selbst.« Ich höre, wie sie aufsteht und mich umrundet. Sanft legt sie ihre Hände von hinten auf meine Schultern und drückt sie bestimmt runter. Dass ich sie hochgezogen hatte, ist mir gar nicht aufgefallen. »Vielleicht hilft dir, wenn du an etwas Schönes denkst.«

»So viel davon gibt es in meinem Leben leider nicht mehr«, erwidere ich und presse die Lippen aufeinander.

»Ich weiß, aber stell dir diesen Garten vor. Wie farbenfroh er im Frühling erblüht. Komm schon, Ruby, ich weiß, dass du es kannst.«

Also versuche ich es ein weiteres Mal. Der Garten um mich herum ist wirklich prachtvoll. Auch wenn ich ihn nur von drinnen und gerade bloß für ein paar kurze Minuten gesehen habe, erblicke ich jedes Detail vor meinem inneren Auge. Die Hecken, die das Grundstück umgeben, sind um diese Jahreszeit kahl, doch im Sommer werden sie blühen. Genauso wie die Rosenbüsche, die den Übergang vom Kräuter- in den Blumengarten zieren. Die Beete, die sich um die große Wiese herumschlängeln, werden nicht mehr mit winterresistenten Immergrünpflanzen bedeckt sein, sondern mit Tulpen, Margeriten und Lilien. Ich atme tief ein und stelle mir vor, wie sie in voller Blüte aussehen werden, wenn hier alles bunt und voller Leben ist. Es erscheint mir fast, als stiege der frische Rosenduft in meine Nase.

Ein Seufzen kommt über meine Lippen.

Je mehr Zeit vergeht, desto stärker wird meine Verbindung zu der Natur. Ich kann nicht anders, als meine Finger in die feuchte Erde zu meiner Linken zu graben und zu fühlen, wie lebendig sie ist. Mehrere Meter unterhalb des Grases befindet sich Wasser. Wie ein Rauschen in meinem Ohr nehme ich es wahr, leise und doch nicht zu überhören. Wind streicht mir spielerisch durchs Haar und kitzelt mich an der Nase, bis ich kichere. Sonnenstrahlen wärmen meine Haut und bringen sie zum Kribbeln, als würde ich im Frühsommer auf einer Wiese liegen, alle Viere von mir gestreckt, und die Sonne genießen.

Die Geräusche der Umgebung vermischen sich in meinem Kopf zu einer ruhigen, harmonischen Symphonie und tragen mich davon. Wie eine zärtliche Umarmung halten sie mich fest und lassen mich all meine Sorgen vergessen, als wären sie nie da gewesen.

»Wow.« Erst Ginas überwältigter Ausruf holt mich aus meiner Trance. Ich schlage die Augen auf und die Realität bricht wie eine gewaltige Welle über mich herein, bevor der Unglaube von mir Besitz ergreift.

Aus der winterlichen Einöde ist ein farbenfrohes Paradies geworden. Die Düfte, der frühlingshafte Wind und das Kribbeln der Sonnenstrahlen auf meiner Haut – nichts davon habe ich mir eingebildet. Es ist wirklich passiert. Das lebhafte Summen des Gartens zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen.

»War ich das?«

Mein Blick gleitet über die Szenerie, von blühenden Rosenbüschen, über Beete voller Tulpen, Lilien und Margeriten bis hin zu einem kleinen Bachlauf, der sich leise plätschernd über die Wiese zieht und vorher noch nicht dort gewesen ist.

»Damit wäre wohl geklärt, warum du deinen Geist drinnen nicht leeren konntest«, fährt die Hexe fort und grinst mich breit an. Auch sie belebt der plötzliche Frühlingseinbruch. »Du bist eine Elementarmagierin.«

»Hm? Da gibt es Unterschiede?«, frage ich verwirrt.

»Es ist eine natürliche Begabung, Ruby. Jeder hat eine. So wie Sam eine Leidenschaft für Rituale entwickelt hat oder Luna mit sechs Jahren den meisten Heilern aus der Oberstufe Konkurrenz macht.« Ihre Stimme strotzt vor Begeisterung. Es fällt mir schwer, sie nicht auch zu empfinden. Ein unbegreifliches Hochgefühl breitet sich angenehm warm in meiner Brust aus und sorgt dafür, dass ich meine Mundwinkel automatisch zu einem Lächeln hochziehe.

»Wirklich?«

»Ja. Das ist großartig. Elementarmagie ist sehr mächtig. Du kannst sie für alles Mögliche nutzen. Zum Erschaffen solcher Schönheit bis hin zum Kampf. Ich bin leider nicht gut darin, aber ich helfe dir, die Kontrolle darüber zu erlangen.« Enthusiastisch springt sie auf und hilft mir ebenfalls hoch. Ich frage mich, über welche Begabung sie verfügt, aber jetzt ist nicht der richtige Augenblick, um das zu erörtern.

»Wie erhalte ich die Kontrolle? Gerade ist es einfach passiert.«

»Genau so. Durch die Kraft deiner Gedanken. Magie ist sehr intuitiv. Sie erfordert weniger Können und mehr Kreativität. Die einzigen Grenzen sind deine eigenen und die kannst du genauso leicht einreißen wie hochziehen«, erklärt sie mir. Sie überwindet die Distanz zwischen uns, ergreift meine Hand und führt mich zu dem Bach, den ich erschaffen habe.

»Lass ihn überfluten«, bittet sie mich.

»Wie denn?«

Die Frage hätte ich mir schenken können, denn ich erhalte bloß einen Blick als Antwort, der einem stummen Ist das dein Ernst ziemlich nahe kommt. Also schließe ich erneut die Augen und fokussiere mich auf das leise Plätschern. Nach und nach verschwinden alle weiteren Geräusche, bis ich nichts anderes mehr vernehme. Dann stelle ich mir vor, wie das Wasser über die Ufer tritt, die Wiese durchnässt, und übertrage dieses Bild mit meiner Magie in die Wirklichkeit.

Als ich die Augen erneut aufschlage, steht Gina halb in einer Pfütze und grinst mich an. So machen wir weiter. Stunde um Stunde, Element für Element. Erde, Wasser und Luft. An das Feuer, das mächtigste und zerstörerischste Element, traue ich mich noch nicht heran, obwohl es für den Kampf am besten geeignet wäre.

Zum ersten Mal, seitdem meine Magie erwacht ist, fühle ich mich, als hätte ich die vollkommene Kontrolle über sie. Es ist wie der erste Tag voll Sonnenschein nach wochenlangem Regen. Das erste gute Omen nach all unseren Verlusten.

Kapitel 2

 

»Ruby! Gina! Ihr seid wieder da!«

Kaum dass wir zur Haustür hereinkommen, stürmt ein Wirbelwind mit hellblondem Haar auf uns zu. Luna hat wie Gina und ich bei Samira Zuflucht gefunden und die Ereignisse der Neumondnacht verdaut. Freudestrahlend wirft sie sich auf Gina, die meine kleine Cousine mit Leichtigkeit auffängt, einmal im Kreis wirbelt und an ihre Brust drückt.

»Na? Hattest du Spaß?«

Eifrig nickt sie. »Ich war bei Sam. Sie hat mir richtig coole Tricks gezeigt. Kann sie öfter auf mich aufpassen? Bitte!« Dabei zieht sie einen herzallerliebsten Schmollmund, der Gina und mich zum Kichern bringt. Normalerweise kümmern wir uns um das Mädchen, aber da es in Sachen Magie trotz seines jungen Alters weiter ist als ich, hat Gina beschlossen, dass ihre Aufmerksamkeit heute mir gilt.

»Mal sehen, was ich tun kann.« Sie stellt das Mädchen auf seine eigenen Beine und geht in die Hocke, damit sie auf Augenhöhe miteinander sind. »Aber du hast Samira nicht geärgert, oder?«

»Ich? Niemals!«, beharrt Luna und stemmt die Hände in die Taille. »Was denkst du von mir?«

In diesem Moment kommt besagte Hexe herein. Samira hat ihr naturrotes Haar zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengefasst, aus dem sich einige Strähnen gelöst haben. Diese rahmen nun ihr schmales Gesicht. Als Kontrast zu ihrem blassen Teint und dem Haar, das fast so auffällig ist wie meins, trägt auch sie heute fröhliches Schwarz. Ihr ausgestellter Rock endet knapp über ihrem Knie und das Tanktop mit Spitze am Dekolleté komplettiert ihren eleganten, jedoch bequemen Look.

Sie zu sehen, ist ein befremdliches Gefühl, da sie die letzten Tage zwischen dicken, in Leder gebundenen Wälzern verbracht hat. Nächte hat sie sich um die Ohren geschlagen, aber vielleicht – ich wage es, zu hoffen – ist es ihr endlich gelungen!

»Wo wart ihr? Ich habe euch gesucht.« Ihre Stimme klingt streng und kühl, tadelnd wie damals mein Vater, wenn ich abends zu lange aus war.

»Nur vor der Tür«, antworte ich lächelnd.

»Vier Stunden? Ihr habt gesagt, ihr seid spätestens nachmittags fertig.«

»Sammy, nun sei doch nicht so. Wir haben dein Grundstück nicht verlassen, aber die frische Luft war nötig, um den Kopf freizubekommen. Sonst hätten wir bestimmt nicht herausgefunden, dass Ruby ein Naturtalent ist – im wahrsten Sinne des Wortes!« Gina kichert und auch ich kann mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Ich sage dir seit Tagen, dass du aufhören sollst, mich Sammy zu nennen. Wie kamst du überhaupt auf diese Schnapsidee?«, murmelt die Hexe und schüttelt genervt den Kopf. »Warum sind wir noch mal befreundet?«

»Ach, komm schon, insgeheim magst du mich doch. Außerdem müssen wir all die Jahre gutmachen, in denen wir nicht befreundet waren.«

»In dem Fall wäre es vorteilhaft, wenn ihr mir zukünftig Bescheid sagt, bevor ihr das Haus verlasst, weil ich eure Anwesenheit nur hier spüre. Draußen könntet ihr sonst wo sein.« Auch wenn Samira sich nicht anmerken lässt, wie aufgebracht sie ist, verbirgt sie diese Emotion nicht vollends vor uns. Mir entgeht sie nicht.

»Machst du dir etwa Sorgen?«

»Ich habe auf diesem Planeten zwei Freundinnen und ausgerechnet die haben mich in ihre Pläne, die Welt zu retten, hineingezogen. Also ja, ich mache mir Sorgen.«

Das Wortgefecht der beiden ist so amüsant, dass ich stundenlang lauschen könnte, und auch Luna kichert belustigt. Aber es wird Zeit, dass wir uns dem Ernst der Lage bewusst werden.

»Gibt es von deiner Seite aus Neuigkeiten?«

Die Hexe stößt einen langgezogenen Seufzer aus, bevor sie den Kopf schüttelt. »Leider nicht. Ich dachte, ich hätte eine Lösung gefunden, aber sie hat nicht funktioniert. Dann musste ich auf Luna aufpassen, weil ihr trainieren wolltet. Zur vereinbarten Zeit wart ihr wie vom Erdboden verschluckt und ich habe nicht mehr herausgefunden, warum der Zauber nicht geklappt hat.«

»Du hättest mich helfen lassen können«, wendet Luna ein und reckt das Kinn in die Höhe. »Ich hätte es herausgefunden.«

Das entlockt Samira nicht mehr als ein müdes Schmunzeln, bevor sie neben uns tritt und Luna übers Haar streicht. »Bestimmt hättest du das, aber dann hätte ich dir keine coolen Tricks beibringen können.«

»Hm, das wäre blöd.« Das Mädchen lässt die Arme sinken und runzelt die Stirn. »Aber dann hätte ich geholfen.«

»Du hilfst auch so«, versichere ich ihr.

»Aber ich mache doch gar nichts«, beharrt sie.

»Wenn du dich da mal nicht täuscht.« Gina nutzt einen Moment der Unachtsamkeit, um ihren Schützling mit Magie in die Luft zu heben und in den Arm zu nehmen. Luna quiekt überrascht, ehe sie lacht und ihre Arme um Ginas Hals legt. Gees Lachen ist ansteckend und lässt mich für einen Augenblick vergessen, dass sie wie wir alle um ihren Cousin trauert und nicht mehr gänzlich die positive, lebenslustige Hexe ist, die ich vor gefühlten Ewigkeiten kennengelernt habe. Die Ereignisse haben uns verändert. »Doch jetzt ist es spät und du solltest langsam ins Bett, Süße.«

»Ich will noch nicht schlafen, Gina«, jammert Luna auf der Stelle und setzt ihren besten Hundewelpenblick auf. Erfolglos. Auch wenn wir uns im Moment um sie kümmern und nicht Melinda, achten wir darauf, dass sie pünktlich im Bett liegt, sich gesund ernährt und den Stoff, den sie in der Schule verpasst, nachholt. Da sie vor nicht einmal einem Monat eingeschult wurde, wollen wir nicht, dass sie den Anschluss verliert.

»Du weißt, dass das nicht zur Debatte steht.«

Das Mädchen zieht daraufhin einen Schmollmund und verschränkt die Arme. »Okay«, murmelt es schnaubend. »Kann mich dann Ruby ins Bett bringen und mir noch was vorlesen?«

»Was? Ich?« Bisher hat immer Gina Luna in ihr Zimmer gebracht und bettfertig gemacht. Die beiden kennen sich seit ihrer Geburt. Obwohl ich ihre Cousine bin, wollte ich nie in ihre innige, fast schwesterliche Verbindung reingrätschen.

Luna befreit sich aus Gees Armen und nickt eifrig. »Bitte, Ruby!«

»Na, wenn du mich so anguckst, kann ich nicht Nein sagen.« Ich schenke ihr ein Lächeln und reiche ihr eine Hand. Inzwischen kenne ich mich ins Sams Anwesen aus – zumindest finde ich problemlos zu unseren Zimmern – und steuere den richtigen Gang an. Als wir fast das Ende der Eingangshalle erreicht haben, ruft Sam mir noch etwas hinterher.

»Kommst du dann in die Küche? Ich muss euch etwas sagen.«

»Klar, Sam«, erwidere ich und widme mich wieder Luna. »Aber zuerst lesen wir zwei Hübschen eine Gute-Nacht-Geschichte!«

»Oh ja!«

 

***

 

Luna ins Bett zu bringen, ist leichter, als ich dachte. Das Mädchen nutzt Magie, um sich umzuziehen, während es seine Zähne putzt, und selbst die Bettwäsche schüttelt sich von selbst auf. Die Prozedur dauert nicht einmal fünf Minuten, dann liegt sie eingekuschelt unter ihrer Decke und lässt ein altes Kinderbuch auf mich zu schweben.

Die Illustrationen wirken so alt, dass es sicher aus der Kindheit von Sams Großmutter stammt, die vorher hier gelebt hat. Das Cover ziert eine Zeichnung von Rotkäppchen, das in einem weißen Kleid, seiner namensgebenden roten Kapuze und mit einem Korb im Arm durch den Wald spaziert. Es lächelt, obwohl ein Wolf im Gebüsch hinter ihm sitzt. Schön zu wissen, dass Hexenmädchen dieselben Märchen lesen wie Menschen.

Der Einband des Buches ist abgegriffen, an den Kanten angeschlagen und über und über mit Kratzern und Dellen versehen. Es ist offensichtlich, dass dieses Buch mehr als nur einmal gelesen wurde. Es wurde heiß und innig geliebt.

»Du bist richtig gut im Hexen.« Obwohl ein solches Lob aus meinem Mund nicht viel wert ist – so gut wie jede Hexe beherrscht dieses Handwerk besser als ich –, kann ich es mir nicht verkneifen. Luna kichert verlegen, doch ihre Augen strahlen, als hätte ihr noch nie jemand ein schöneres Kompliment gemacht.

»Ich hab viel geübt.«

»Das merkt man. Vielleicht bin ich eines Tages auch so gut wie du.«

Wieder ein Kichern. »Das bist du doch, Ruby«, erklärt sie, als wäre ich die Einzige, die davon nicht überzeugt ist. »Du bist viel stärker als ich.«

»Nur, weil ich älter bin. Das macht mich nicht besser.« Um das Thema zu wechseln, schlage ich das Buch auf. Sogleich steigt der typische muffige Geruch alter Schmöker in meine Nase, doch anstatt diese krauszuziehen, genieße ich es. Auf der ganzen Welt gibt es keinen schöneren Duft als den von Büchern, die über Jahre hinweg Wissen oder Geschichten erhalten und weitergegeben haben.

»Welches Märchen willst du hören?«

»Rotkäppchen!« Ohne nachzudenken, gibt sie mir diese Antwort. Gespannt hängt Luna an meinen Lippen. Es ist Jahre her, seitdem ich zuletzt ein Märchenbuch gelesen – geschweige denn vorgelesen – habe, aber ich gebe mein Bestes, um die Betonungen zu treffen, Spannung an den richtigen Stellen aufzubauen und es gleichzeitig nicht zu aufregend zu gestalten, damit das Mädchen danach einschläft.

Als ich fertig bin, schlage ich das Buch geräuschvoll zu und lächle Luna an. »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«

»Das gehört nicht zu dem Märchen«, erwidert das Mädchen und kichert amüsiert. Es strahlt bis über beide Ohren, aber anstatt sich hinzulegen und die Zubettgehzeit zu akzeptieren, schlägt es die Decke zurück und krabbelt über die Matratze auf mich zu. Ehe ich mich versehe, legt Luna ihre Arme um mich und klettert auf meinen Schoß. »Ich hab dich lieb, Ruby.«

Mir wird warm ums Herz, als ich ihre Umarmung erwidere und ihr über den Rücken streiche. Vermutlich werde ich nie den Platz in ihrem Herzen haben, den Gina einnimmt, aber ich liebe meine kleine Cousine ebenso wie sie mich. Allein der Gedanke, ihr könnte etwas zustoßen, macht mich fertig, seitdem ich sie in der letzten Neumondnacht gesehen habe. Geschwächt, fiebrig, kaum da. Auch wenn ich weiß, dass es beim nächsten Neumond ähnlich sein wird, zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen.

Luna hat nichts getan. Sie verdient nicht, in die ganze Sache hineingezogen zu werden. Dazu ist es zu spät, aber ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um sie davor zu beschützen, wieder in das Visier des Rats zu gelangen.

Hier ist sie sicher. Hoffentlich.

»Ich dich auch, Süße.«

Wir verweilen einen Moment in der Position, ehe das Mädchen sich von mir löst, mir ein herzallerliebstes Lächeln schenkt und einen Kuss auf die Wange gibt. »Man sollte viel öfter sagen, dass man jemanden liebhat. Danach fühlt man sich besser.«

»Da hast du recht.« Es tut gut zu wissen, dass es zumindest einen Menschen gibt, der für einen da ist. Obwohl das untertrieben ist. Da draußen gibt es mehr als eine Person, die ich liebe und die dasselbe für mich empfindet, aber wenn man es nicht ständig hört, neigt man dazu, es zu vergessen. Daraufhin fühlt man sich noch verlassener. »Aber trotzdem solltest du jetzt schlafen. Es war ein langer Tag.«

Behutsam drücke ich sie von mir, bis sie den Wink versteht und sich wieder einmummelt. Sollte sie versucht haben, Zeit zu schinden, ist ihr Plan dennoch aufgegangen. Zumindest für ein paar Minuten.

Kaum dass sie sich hingelegt hat, stehe ich auf, laufe zum Kopfende und gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. Als ich ihr eine gute Nacht wünschen will, verblasst das Lächeln auf ihren Lippen und weicht einer traurigen Miene. Der feuchte Glanz in ihren Augen lässt mich innehalten. Ihr Stimmungsumschwung kommt sicher nicht vom Schlafengehen.

»Was ist los?«, frage ich. »Ist alles in Ordnung oder fühlst du dich nicht gut?«

Sie zögert. Einen furchtbar langen Moment sagt sie nichts und betrachtet die rosa Bettdecke mit den tanzenden Einhörnern darauf, die sie sich nach ihrer ersten Nacht hergezaubert hat, weil ihr Sams cremefarbene Garnituren zu langweilig waren. Dann öffnet sie endlich den Mund.

»Ich vermisse meine Auntie«, murmelt sie und schaut mich nicht an. »Wann kann ich wieder nach Hause?«

Es dauert länger, als es sollte, bis mir klar wird, dass sie mit »Zu Hause« den Zirkel meint. Sie ist dort aufgewachsen, kennt keine andere Umgebung. An ihrer Stelle ginge es mir nicht anders, aber dennoch … »Willst du wirklich dorthin zurück? Zu den Leuten, die dich eingesperrt haben?«

Mitfühlend lege ich eine Hand auf ihre Schulter und knuffe sie sanft, damit sie sich zu mir dreht. Mein Lächeln erwidert sie nicht. »Nicht zu denen. Zu meiner Auntie. Sie hat auf mich aufgepasst, als Mommy und Daddy auf einmal nicht mehr da waren. Ich will zu ihr, morgens in die Schule gehen und nachmittags mit Caleb und Gina Hausaufgaben machen. Ich vermisse das.«

Auf einmal weiß ich, was sie mir sagen will. Ich kenne ihre Situation. Mir geht es nicht anders. Wie ich wurde sie aus ihrem Alltag gerissen und wir beide haben nicht die Möglichkeit, zurückzukehren. Zumindest nicht ohne Weiteres.

»Das verstehe ich«, sage ich und lächle wieder. »Ich will auch nach Hause, aber hier sind wir am sichersten. Melinda geht es gut und dir auch – das ist, was zählt. Denk daran, dass alles gut wird. Okay?«

Wieder ein Zögern, ehe sie langsam die Mundwinkel hebt. »Versprochen?«

»Ja, versprochen. Aber jetzt musst du schlafen.«

Der Themenwechsel lässt sie das Gesicht verziehen. »Muss ich wirklich?« Noch während sie die Frage stellt, entweicht ihr ein herzhaftes Gähnen.

Das wiederum entlockt mir ein Kichern. »Tut mir leid, aber keine Diskussion. Du wirst sehen, dass eine Mütze Schlaf dir guttut.«

»Okay.« Geschlagen – jedoch unzufrieden – fügt sie sich und macht es sich bequem. Als ich zur Tür gehen will, hält sie mich jedoch noch einmal auf. Mit einer Hand umfasst sie meinen Arm und wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich problemlos daraus befreien können. Aber ich will hören, was ihr auf der Seele liegt, deshalb drehe ich mich wieder zu ihr um. »Ruby?«

»Ja, Süße?«

»Wann kommt Caleb wieder?«

Diese Frage hat sie in letzter Zeit oft gestellt. Jeden Tag. Gee und Sam sind der Antwort geschickt aus dem Weg gegangen, sodass das Mädchen noch glaubt, er wäre bloß unterwegs und würde bald bei uns sein.

Ich bin kaum in der Lage, die Tränen zurückzuhalten, wenn ich an ihn denke. Über seinen Aufenthaltsort zu schwindeln, fällt mir noch schwerer. Deshalb sage ich bloß »Bald« und hoffe, dass ihr das erstickte Krächzen meiner Stimme nicht auffällt.

Leider tut es das doch.

Luna senkt den Blick, jedoch entdecke ich die Mischung aus Resignation und Erkenntnis in ihren Gesichtszügen. »Er ist weg, oder? Wie Mommy und Daddy?«

Ihre Eltern starben, als sie noch ein Baby war. Sie weiß, dass sie nicht zurückkommen. Ob Melinda mit ihr über den Tod und dessen Bedeutung gesprochen hat, weiß ich nicht, aber sie hat den richtigen Schluss gezogen. Nein, sie länger anzulügen, wäre nicht richtig.

»Ja«, wispere ich. »Er ist weg.«

»Für immer?«

Sie weint nicht, aber ihre Stimme klingt unnatürlich emotionslos, während ich bereits den Druck auf meiner Brust spüre, der die Tränen ankündigt, bevor ich sie in meinen Augenwinkeln fühle.

»Ja, für immer.«

Kapitel 3

 

»Ruby, alles okay?«

Keine Ahnung, wie lang ich in meine Tasse mit heißem Kakao gestarrt und die Unterhaltung der beiden Hexen an mir habe vorbeiziehen lassen, als Gina mit einer Hand vor meinem Gesicht herumwedelt.

Langsam schaue ich auf und drehe meinen Kopf in ihre Richtung, aber nicht einmal ein Lächeln bringe ich zustande. Was will sie hören? Ja, alles bestens. Mir geht es spitzenmäßig. Ich habe mir nicht fast die Augen aus dem Kopf geheult und bin vor meiner Cousine geflohen, damit sie das nicht mitansehen muss.

Zum Glück kam Gina dem zuvor. Sie wollte schauen, wo ich bleibe und ob ich das Gespräch mit Sam vergessen habe. Gefunden hat sie mich vollkommen aufgelöst im Flur vor Lunas Zimmer, Sekunden, bevor die Tränen geflossen wären. Wortlos hat sie mich in den Arm genommen und getröstet, bis ich mich besser fühlte, wobei ›besser‹ ein sehr breit gefächerter Begriff ist.

Nur durch sie habe ich die Fassung bewahrt und ich bin ihr zutiefst dankbar, dass sie mich schließlich in die Küche gebracht und mir Kakao gemacht hat.

Den Druck auf meinem Brustkorb und die Tränen, die sich ihren Weg an die Oberfläche bahnen wollen, spüre ich dennoch. Es ist unmöglich, sie auszublenden oder runterzuschlucken. Früher oder später holen sie mich ein und dann breche ich zusammen. Wie ich es vor Tagen hätte tun sollen.

»Nein«, wispere ich geschlagen und halte ihrem Blick nicht stand. Schnell wende ich mich meinem Kakao zu und trinke einen Schluck. Das schokoladige Heißgetränk wärmt mich von innen heraus und lässt mich für kurze Zeit an etwas anderes denken.

Sams Seufzen dringt an meine Ohren. Die Hexe sitzt mir gegenüber und offenbar versucht sie seit geraumer Zeit, etwas zu erzählen. Glaube ich, denn zugehört habe ich nicht. Dazu war ich zu sehr in Gedanken vertieft.

»Ruby, ich vermisse Caleb auch, aber das, was ich zu sagen habe, ist wichtig. Ich finde, ihr solltet es wissen, bevor ich es in Angriff nehme.«

Die Angst in ihrem Tonfall entgeht mir nicht, obwohl sie sie hinter einer ausdruckslosen Miene versteckt. Nachdem ich tief durchgeatmet habe, leere ich meine Tasse, schaue auf und sehe sie an. »Weshalb sollten wir noch mal herkommen?«, frage ich sie.

»Na also.« Samira nickt zufrieden. »Wie ihr euch denken könnt, habe ich das Grimoire nicht geöffnet.«

Das fragliche Buch mit dem roten Ledereinband liegt in der Mitte des Tisches. Das winzige Schloss, das genauso gut ein Spielzeugschloss eines Kindertagebuchs sein könnte, baumelt an der Seite und hält die Buchdeckel zusammen. Seit Tagen beschäftigt Sam sich damit, es zu öffnen, aber bisher ist kein Zauber, kein Trank und kein Ritual gelungen. Ein Glück hat die Hexe daran gedacht, einen Bindezauber um das Grimoire zu weben, damit Grant es sich nicht zurückholen kann und dadurch unseren Aufenthaltsort herausbekommt.

»Mir gehen langsam die Ideen aus«, fährt sie fort und funkelt das Zauberbuch an, als wäre sie wütend auf seinen Schutzmechanismus. »Während der Ausbildung habe ich mich zwar viel mit Hexereien befasst, um meine Besitztümer zu schützen, aber so ein mächtiger Zauber ist mir dabei nicht untergekommen.«

»Wenn ihn jemand lösen kann, dann du, Sammy …«, kommentiert Gina.

»Hörst du bitte auf, mich so zu nennen? Ich mag das nicht.«

»Nein, das geht leider nicht.« Die Hexe schüttelt grinsend den Kopf und schafft es, die Stimmung aufzulockern. Das war dringend notwendig.

»Und das alles nur wegen eines Schlosses?«, frage ich. »Könnte man nicht einfach einen passenden Schlüssel erschaffen?«

»So leicht ist es leider nicht, Ruby. Das ist kein richtiges Schloss, sondern ein Symbol. Es löst sich auf, wenn wir den Zauber brechen, aber ich weiß nicht, welcher es ist. Ich habe sogar einen Auflösungstrank auf den Einband gekippt und er hat sich aufgelöst. Also der Trank, nicht der Zauber.«

»Okay, echt blöd«, gebe ich zu. »Was machen wir, wenn wir es weiterhin nicht öffnen können? Wenn darin seine Pläne stehen, wie sollen wir sie vereiteln …«

»Darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht«, fährt Samira fort. »Mir reißt langsam der Geduldsfaden. Ganz offensichtlich bin ich zu dumm, das Teil zu öffnen, aber das wird uns nicht aufhalten. Ich habe einen Plan und das ist der eigentliche Grund, weshalb ich mit euch reden wollte. Es wird euch nicht gefallen, aber gleichzeitig ist es die einzige Möglichkeit.«

Sie legt eine Kunstpause ein. Eine lange Kunstpause. Für den Bruchteil einer Sekunde huscht ein Ausdruck des Zweifels über ihr Gesicht, bevor er sich verflüchtigt. Zurück bleibt nichts als pure Entschlossenheit, aber mir ist unwohl dabei.

»Was hast du vor?« Ginas Stimme zittert ein wenig. Ihre Zuversicht ist der Angst gewichen und wenn Gee sich fürchtet, ist es kein gutes Zeichen. Dass die Hexe zögert, bevor sie endlich zum Sprechen ansetzt, deutet darauf hin, dass es sicherlich keine gute Idee ist.

»Malt nicht gleich den Teufel an die Wand. Euch betrifft es nicht, aber es wäre schön, wenn ihr mir meinen Plan nicht ausreden würdet.«

»Das ist keine Antwort.« Die Worte kommen schneller aus meinem Mund, als ich über sie nachdenken kann, aber ihre Schärfe zieht, sodass Samira seufzend nachgibt.

»Ich will Caleb zurückholen.«

Auf der Stelle versteife ich mich, kann nicht anders, als sie mit geweiteten Augen stumm anzustarren. Gina neben mir stammelt etwas Unverständliches. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt, ihre Miene erschüttert.

»Das geht?«, frage ich nach einer Weile leise.

»Nein«, antwortet Gina bestimmt und funkelt Sam wütend an, bevor sie sich an mich wendet. »Es geht nicht. Er ist tot, Ruby. Wenn wir so bescheuert wären, Tote wiederzuerwecken, bräuchten wir zumindest seinen Körper, aber der Rat hat ihn bestimmt eingeäschert. Samira, was denkst du dir dabei, das überhaupt in Erwägung zu ziehen?«

Die Angesprochene verzieht keine Miene. Stattdessen lehnt sie sich zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. »Du hast recht, Gina. Würden wir ihn wiedererwecken wollen, bräuchten wir seinen Körper. Nicht jedoch, wenn wir seine Seele ins Diesseits holen. Es wäre nicht für immer, aber er ist an den Folgen des Zaubers gestorben, den wir vereiteln wollen. Sein Wissen würde uns weiterbringen.«

»Du weißt, ich halte große Stücke auf dich. Du gehörst zu den intelligentesten Hexen, die ich jemals kennengelernt habe. Aber ich werde dich nicht dabei unterstützen, wenn du schwarze Magie wirkst.«

»Ich weiß«, unterbricht Sam sie, dieses Mal sehr viel unnachgiebiger. »Das verlange ich auch nicht. Aber seien wir ehrlich: Wir brauchen Caleb. Ohne ihn können wir nicht weitermachen.«

Das lässt Gina innehalten. Sie zögert einen Augenblick, ehe ihre Züge weicher werden und die Wut von ihr abfällt. An ihre Stelle treten Trauer und Sehnsucht. Dann senkt sie den Blick. »Ich vermisse Caleb auch, aber willst du diesen Weg wirklich gehen?«

»Meine Entscheidung ist gefallen, bevor ihr zurückgekommen seid«, bestätigt sie und nickt, ohne uns anzusehen. »Ich habe euch nicht um Erlaubnis gefragt, sondern euch bloß über mein Vorhaben informiert.«

»Das ist verrückt!«, beharrt Gina.

»Ist es, aber auch unsere einzige Möglichkeit, noch einmal mit Caleb zu sprechen.« Wieder entweicht ihr ein Seufzen und obwohl sie sich nicht zu uns umdreht, sondern stur auf die Tür zugeht, lässt sie zumindest die Schultern sinken. »Außerdem will ich mich von ihm verabschieden. Ihr nicht auch?«

Die Tür öffnet sich automatisch, als Sam vor ihr ankommt. Kurz wartet sie, um uns die Möglichkeit zu lassen, mit ihr zu kommen. Gina bleibt hartnäckig. Um ihr Unbehagen zu verdeutlichen, wendet sie den Blick ab.

Ginas Reaktion ist die Vernünftige. Schwarze Magie ist nicht umsonst geächtet. Sam sollte sie nicht nutzen, nicht einmal für eine letzte Chance, Caleb wiederzusehen. Es widerspricht ihrer kompletten Lebenseinstellung. Als ich sie kennengelernt habe, beharrte sie darauf, Neumondmagierin genannt zu werden, um zumindest eine gedankliche Abgrenzung zu Schwarzmagiern zu schaffen, die dunkle Magie aktiv praktizieren. Nun ist sie fest entschlossen, zu jemandem zu werden, der sie nie sein wollte.

»Würde Caleb das wollen?«, frage ich leise, kaum dass Sam sich erneut in Bewegung setzt. »Dass du deine Grundsätze für ihn verrätst?«

Sie hält inne, spannt sich an und nach einigen nervenaufreibenden Sekunden dreht sie sich zu mir um. Mut und Angst, Bestimmtheit und Zweifel lese ich aus ihrer ansonsten ausdruckslosen Miene. Auch sie ist sich unsicher, aber warum … warum will sie es durchziehen?

»Samira, … ich würde auch alles geben, um Caleb noch ein letztes Mal zu sehen. Aber das ist nicht der richtige Weg.«

Doch die Neumondmagierin lässt sich nicht von ihrem Entschluss abbringen. Dieses Mal zeigt sich Hilflosigkeit in ihren Zügen, die ich über Meter hinweg erkenne.

»Bei unserem letzten Gespräch hat Caleb mir eine kleine Phiole mit seinem Blut gegeben. Ich wollte sie nicht annehmen, aber er hat nicht lockergelassen. Er sagte, für den Fall, dass ihm etwas zustößt, könnte ich sie benutzen. Fast, als hätte er geahnt, dass er sterben würde. Es ist … nur fair von mir, seinen Wunsch zu erfüllen, oder nicht?«

Ihre Stimme zittert bei jedem Wort mehr. Samira ist die Besonnene von uns, die Vernünftigste und gleichzeitig die Stärkste. Ohne sie wären Luna und ich nie heil aus dem Zirkel herausgekommen. Selbst als sie schwer verwundet zurückgekehrt ist und kaum bei Bewusstsein war, klang sie nicht so verängstigt wie jetzt.

Bevor ich es mir anders überlege, schiebe ich meinen Stuhl zurück und schließe zu ihr auf. Mit großen Augen schaut sie mich an, als ich neben ihr zum Stehen komme und meinen Arm nach ihr ausstrecke. »Du musst das nicht tun. Ich könnte …«

»Nein.« Schnell schüttelt sie den Kopf, wirkt allerdings nicht überrascht. »Caleb hat mir die Phiole gegeben, weil er wollte, dass ich das Ritual durchführe. Er hat mich sogar gebeten, dich davon abzuhalten, schwarze Magie zu wirken.«

»Aber wieso? Ich …«

»Wir brauchen deine Vollmondmagie. Du darfst sie nicht aufgeben. Ich bin schon eine Schwarzmagierin, für mich verändert sich nichts«, erklärt sie sachlich. »Wenn du dabei sein willst, folge mir. Ansonsten bleib mit Gina hier.«

Die Entscheidung ist klar und keine zwei Minuten später betrete ich an Sams Seite das Wohnzimmer. Die altmodischen, bequemen Sofas und der Sessel wurden im Voraus an die Wand gerückt und auch der Teppich sowie der niedrige Couchtisch mussten weichen.

Jetzt verstehe ich, wie ernst Samira dieses Vorhaben ist. Sie hat bereits alles vorbereitet. Ein Pentagramm aus weißer Kreide zieht sich über den dunklen Parkettboden, an jeder Spitze des Sterns steht eine schwarze Kerze, die sich mit unserem Betreten entzündet und den Raum in den Duft verschiedener ätherischer Öle taucht. Ich kann den Geruch nicht zuordnen, aber es ist nicht das erste Mal, dass ich ihn in Sams Anwesen wahrnehme.

Magie flirrt durch die Luft und sorgt dafür, dass meine Arme von Gänsehaut bedeckt werden. Inzwischen stört mich die frei herumschwebende Magie nicht, denn ich habe sie gut genug im Griff, damit sie sich nicht in meinem Körper aufstaut. Meist bemerke ich sie nicht einmal, aber gerade kann ich nicht anders.

Es ist nicht wie sonst. Die gewaltige Energie um mich herum hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack auf meiner Zunge und ein ungutes Gefühl in meiner Magengrube, das noch länger nachhallt.

»Ist schwarze Magie immer so … unheilvoll?«, wispere ich in Samiras Richtung. Keine Ahnung, wieso ich flüstere. Vielleicht, damit die Magie es nicht mitbekommt, obwohl das keinen Sinn ergibt.

»Das ist das, was sie ausmacht. Während weiße Magie sich mit dir verbündet, um einen Zauber zu wirken, ist schwarze Magie dein Feind. Sie will dir nicht helfen, sondern gegen dich kämpfen und dich besiegen. Du musst stärker sein als sie, wenn du überleben willst.« Die Grabesruhe in ihrer Stimme lässt mich scharf die Luft einziehen und einen Schritt von dem Pentagramm zurückweichen. Es fällt mir schwer, zu glauben, dass sie einen Zauber wirken möchte, der sie umbringen will. Der sie realistisch gesehen umbringen könnte. So wie Caleb.

»Warum tust du das dann?«

»Weil es sein Wunsch ist. Und weil wir ihn brauchen. Hoffen wir, dass ich … stark genug bin.« Sie atmet tief durch und führt eine Hand zu ihrem Dekolleté, wo sie eine dünne Kette unter ihrem Kleid hervorzieht. Ein kleiner Anhänger kommt zum Vorschein. Ähnlich meines Rubins leuchtet er in einem satten Rot, jedoch viel dunkler. Es ist kein Edelstein, sondern die Phiole, von der sie sprach.

»Und wenn du es nicht bist? Du hast nie schwarze Magie gewirkt und beginnst mit einem Ritual, um eine Seele aus dem Jenseits zu holen. Ist das nicht zu … riskant?«

»Schwarze Magie ist immer riskant«, erklärt sie sachlich, wendet sich von mir ab und zieht aus einem Regal ein Buch, bevor sie zu mir zurückkommt. Es ist in schwarzes Leder gebunden, ein goldenes Pentagramm lässt darauf schließen, dass sie den Zauber darin gefunden hat. »Seitdem ich den Zirkel verlassen habe, habe ich ein paar Neumondmagier kennengelernt. Einige praktizieren aktiv schwarze Magie. Ich habe – für den Fall, dass ich meine Meinung ändern sollte – dieses Buch bekommen. Jetzt bin ich froh, dass ich es nicht verbrannt habe.« Sie lächelt bei dem Gedanken. »Mal ganz davon abgesehen, sind Beschwörungen nicht kompliziert. Wir lernen sie sogar in der Schule.«

»Ach ja?« Das bezweifle ich, doch sie nickt.

»Man kann auch andere Menschen aus dem Diesseits beschwören, das wäre kein schwarzmagischer Zauber. Dazu braucht man kein Blut, ein Haar oder ähnliches reicht. Beschworen zu werden, ist übrigens echt nervig und fühlt sich an, als würde jemand in deinem Kopf sturmklingeln, bis du in die Pötte kommst. So hat Gina mich zu sich gerufen, nachdem sie das Gespräch zwischen ihrer Mom und Grant belauscht hat.«

Daran erinnere ich mich. Sie hat davon erzählt. Trotzdem ist mir nicht wohl dabei, Sam den Bannkreis betreten zu lassen. Was, wenn sie nicht herauskommt? Wenn sie von der dunklen Magie besiegt wird? Ich will nicht daran denken, aber ich kann nicht anders.

Als Samira an mir vorbeigeht, um sich samt Buch auf dem Sofa niederzulassen, folge ich ihr und setze mich neben sie. Während sie umblättert, erklärt sie weiter. »Beschwörungen aus dem Jenseits sind sehr ähnlich, aber zur Unterstützung nehme ich das Buch mit. Darin ist alles erklärt. Keine Sorge, Ruby, in nicht einmal einer halben Stunde sprechen wir mit Caleb. Seine Seele wird nicht ewig bleiben, aber … ein paar Stunden bestimmt.«

Ein paar Stunden.

Das wird nie und nimmer reichen, um ihm alles zu sagen, was mir auf der Seele liegt. Um all die Tränen zu vergießen, die sich seit Tagen in mir aufstauen. Um zu akzeptieren, dass unsere Zeit vollkommen abgelaufen ist und ich ihn nie wiedersehe.

Dennoch nicke ich.

»Ich vertraue dir, Sam, aber bitte … überleb das, okay?«

»Ohne mich wärt ihr verloren, also bleibt mir gar keine Wahl.« Sie wirft mir ein übertrieben selbstbewusstes Grinsen zu, was die Angst in ihren Augen nicht mal ansatzweise überschattet, und steht auf. Im Buch hat sie offenbar die richtige Seite gefunden. Zusammen mit der Phiole tritt sie vor den Bannkreis.

Ihre Haltung ist angespannt, ich höre sie schlucken und bemerke ihre Furcht, obwohl sie mit dem Rücken zu mir steht. Ihr Zögern spricht Bände, dann nimmt sie all ihren Mut zusammen und übertritt die unsichtbare Barriere des Pentagramms.

Zunächst passiert nichts Ungewöhnliches. Souverän stolziert Samira in die Mitte, sinkt – immer noch mit dem Rücken in meine Richtung – auf die Knie und platziert das Buch vor sich. Vielleicht will sie nicht, dass ich sehe, was sie tut, aber ich stehe auf und gehe um den Kreis herum zu einer besseren Sichtposition. Erst jetzt bemerke ich, dass Sam nicht nur das Buch und Calebs Blut bei sich hat, sondern auch ein Küchenmesser, das sie kurz vor dem Betreten des Bannkreises materialisiert haben muss. Vor meinen Augen zieht sie es über ihre Handfläche.

Auf der Stelle quillt Blut aus der Wunde und tropft auf den Boden zwischen ihr und dem Buch. Kaum kommt es dort auf, vernehme ich ein Zischen, ehe es gleich einem Wassertropfen auf einer Herdplatte verdampft.

Sam atmet erleichtert aus, obwohl sie noch Blut verliert. Als sie aufschaut und ihr Blick auf mich fällt, schenkt sie mir ein unsicheres Lächeln, das wohl so viel bedeuten soll wie Mach dir keine Sorgen, ich schaffe das.

Zu gerne würde ich ihr helfen. Sie sollte ein solches Risiko nicht allein eingehen, doch sie hat recht. Eventuell brauchen wir meine Magie noch. Zwar ist Gina auch eine mächtige Hexe, aber durch meinen Status als Vollmondmagierin ist meine Macht – auch wenn ich sie nicht so gut einzusetzen weiß wie sie – größer. Doch im Vergleich zu Samiras Mut fühle ich mich schwach wie nie zuvor.

Caleb hat ihr sein Blut gegeben und damit die Möglichkeit, ihn zurückzuholen. Nicht mir. Ich verstehe, wieso er es getan hat. Samira als Neumondmagierin war die kluge Entscheidung, dennoch fühle ich mich, als hätte er mir nicht genügend vertraut. Er hätte mir zumindest von seinen Vorkehrungen erzählen können. Dann wäre ich vorbereitet gewesen. Wir hätten gemeinsam einen Plan geschmiedet und Samira müsste nicht allein mit der Last leben. Sie hätte unsere Unterstützung gehabt.

Mit zittrigen Fingern schraubt die Hexe derweil die Phiole auf und tröpfelt Calebs Blut auf den Boden, bis das Behältnis nur noch halb gefüllt ist. Auch dieses verdampft. Nachdem Samira die Kette mit der Phiole beiseitegelegt hat, nimmt sie das Buch und legt es auf ihren Schoß, wobei sie die aufgeschlagene Seite mit ihrem Blut besudelt. Aber das stört sie nicht.

Dann beginnt sie, zu sprechen.

 

»Mein Blut vergieße ich für einen letzten Wunsch,

einen Teil meiner selbst opfere ich für eine letzte Chance.

Bring mir zurück ein Leben, das zu früh beendet,

auf dass seine Seele den Weg zu uns findet.«

 

Ein schwacher Windstoß weht durch mein Haar und zerrt mit jedem weiteren Vers, den sie rezitiert, stärker an mir. Während Samira den Spruch immer wieder von Neuem aufsagt und sich dabei nicht beirren lässt, wächst er zu einem Sturm heran, der durch das Wohnzimmer tobt. Er reißt Bücher aus dem Regal, Kissen fliegen durch die Luft und für eine Schrecksekunde kämpfe ich um mein Gleichgewicht.

Mit einem Mal öffnet sich das Fenster, lässt strömenden Regen herein, der gegen meinen Rücken peitscht. Kurz darauf knallt es zu. Ein Schlag ertönt, ich zucke zusammen. Mein Herz pocht wild, als ich zur Seite trete und Halt an der Sofalehne suche.

Der Sturm wächst weiter, wird zu einem Tornado, in dessen Auge sich das Pentagramm befindet. Das Rauschen des Windes in meinen Ohren macht es unmöglich, irgendetwas sonst zu hören. Sams Worte verstehe ich nicht länger. Erst ein ohrenbetäubender Donnerschlag dringt wieder zu mir durch. Erneut schrecke ich zusammen und grabe meine Finger in den weichen Bezug der Couch.

Während ich versuche, mich zu beruhigen, gehe ich in Deckung. Gut, denn beinahe hätte ich einen schweren Wälzer gegen den Kopf bekommen, der nur wenige Zentimeter über meinem Haaransatz gegen die Wand geschleudert wird.

So viel zum Beruhigen.

Ich beiße die Zähne zusammen und kneife die Augen zu. So verharre ich, bis der Tornado sich von einem Moment auf den nächsten auflöst und nichts als das windstille Chaos des Wohnzimmers zurückbleibt.

Ist es vorbei?

Vorsichtig schlage ich die Lider auf und hebe – in der Hoffnung, Caleb dort zu sehen – den Kopf. Mein Blick fällt auf den Bannkreis.

Kein Caleb.

Nur Sam, die in der Mitte des Pentagramms liegt, das Gesicht abgewandt, und sich nicht rührt.

Kapitel 4

 

»Scheiße!«

Es ist das Erste, was mir in den Sinn kommt, bevor ich mich zurück auf die Beine kämpfe und panisch umschaue.

Was tue ich? Wie helfe ich Sam?

Sie bewegt sich nicht. Verdammt, ich weiß nicht mal, ob sie atmet … ob sie am Leben ist. Aber sie kann nicht tot sein! Nicht erst Caleb und dann auch noch sie!

Das verkrafte ich nicht.

»Gina!«, schreie ich aus vollem Hals und hoffe, dass die Hexe mich bis in die Küche hört. Ob sie von dem Tornado im Wohnzimmer etwas mitbekommen hat?

Hastig setze mich in Bewegung, will zu Samira eilen, aber die unsichtbare Barriere lässt mich nicht hinein. Ich pralle von ihr ab und hämmere wild mit den Fäusten gegen sie.

»Verflucht! Sam, wach auf!«, rufe ich, bin aber nicht sicher, ob sie mich hört. Sie bleibt bewusstlos und ich schlage vehementer gegen den Bann. Nichts. Keine Veränderung, aber ich muss da rein. Wie soll ich ihr helfen, wenn ich mich ihr nicht auf zwei Meter nähern kann?

Wie hat sie mir erklärt? Ein schwarzmagisches Ritual wird beendet, wenn es erfolgreich abgeschlossen ist oder … wenn die Kerzen ausgehen.

Das ist es!

Schnell gehe ich in die Hocke, hole Luft und puste, doch die schwarze Kerze lodert weiter. Ich habe keine Zeit für solche Spielchen mit der Magie, also versuche ich es erneut. Erfolglos.

»Das sind magische Kerzen.« Ginas Stimme dringt an mein Ohr, bevor die Hexe neben mich tritt und ihre Handflächen an die Barriere legt. »Sie gehen nicht aus.«

»Keine Hilfe«, erwidere ich und komme wieder hoch. Innerhalb des Pentagramms hat sich nichts getan, trotzdem lege ich meine Hände neben Ginas und schließe die Augen. Vielleicht ein Zauber, um den Bann zu brechen. Nur ein kleiner. Ich habe schon mächtigere Magie gewirkt.

»Du kannst sie nicht befreien, Ruby. Das ist unmöglich!«

»Willst du sie aufgeben? Ich nicht!« Unbeabsichtigt fahre ich sie so harsch an, dass sie zusammenzuckt.

Wieder hämmere ich gegen den Bann, konzentriere all meine Gedanken darauf, diese scheiß Barriere zu durchbrechen. Mit jedem Schlag tun meine Knöchel mehr weh, bis sie vollkommen taub werden, aber ich lasse mich nicht aufhalten.

»Natürlich nicht …«

»Verdammt, dann tu etwas! Hilf mir!«

»Das ist etwas anderes!«, entgegnet die junge Frau harsch.

»Ist es nicht, denn wo ein Wille ist, ist auch ein Weg!«

»Aber Ruby, das ist … das ist Selbstmord! Selbst wenn du die Barriere brichst, wird die dunkle Magie freigesetzt, die dich verschlingt.«

»Das Risiko gehe ich ein!«

Ein weiterer Schlag, weiterer Schmerz, das Klirren von zerbrechendem Glas.

Moment. Das ist neu. Ich mache weiter. Immer weiter.

Mehr Glas geht zu Bruch, bis meine Faust ins Leere trifft, sich die Magie des Banns im Licht der lodernden Flammen bricht und ein Kaleidoskop aus vielen bunten Farben an die Wände wirft.

Gina weicht mit vor Erstaunen geöffnetem Mund zurück. »Unmöglich«, höre ich sie wispern, doch ich zögere keine Sekunde. Furchtlos betrete ich das Pentagramm, wo die dunkle Magie, die noch immer frei durch die Luft flirrt, nach mir greift, und eile zu Samira. Meine Glieder werden mit jedem Schritt schwerer, als würde ich durch aushärtenden Beton laufen. Eine ungeheure Last legt sich auf beide Arme und Beine sowie meinen Oberkörper, Schweiß perlt von meiner Stirn und ich höre mich selbst vor Erschöpfung schnauben.

Ein Teil von mir will auf die Knie fallen und eine Pause einlegen, aber ich weiß, wenn ich es tue, wird die schwarze Magie mich tatsächlich verschlingen.

Das lasse ich nicht zu! Sie wird mich nicht bekommen. Und Samira auch nicht.

Wo auch immer die Kraft herkommt, sie auf meine Arme zu hieven, ich denke nicht darüber nach. Ich tue es einfach.

Ihren bewusstlosen Körper bringe ich in Sicherheit und meine Energie kehrt zurück, kaum dass ich das Pentagramm verlasse. Trotzdem habe ich mich selten so ermattet gefühlt. Behutsam lege ich Sam auf dem Sofa ab und sinke kurz darauf selbst auf die Knie, gönne mir jedoch keinen Moment zum Durchatmen. Vorsichtig ergreife ich ihr Handgelenk und drehe die Innenseite nach oben, bevor ich zwei Finger darauf platziere und auf der Stelle erleichtert durchatme.

»Sie hat noch Puls.« Sie lebt. Zum Glück.

»Wer weiß, wie lange. Der Zauber hat sie viel Lebensenergie gekostet.« Gina sieht nicht auf, weil sie Samiras Schnittwunde heilt, damit sie nicht verblutet. »Es tut mir leid, wenn ich so harsch bin, aber wenn es eine Sache gibt, die man nicht unterschätzen sollte, ist es schwarze Magie.«

»Sam hat sie nicht unterschätzt. Sie kannte das Risiko, aber was für eine Wahl blieb uns?

---ENDE DER LESEPROBE---