Dirty Secrets (Secrets 1) - J. Kenner - E-Book
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Dirty Secrets (Secrets 1) E-Book

J. Kenner

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  • Herausgeber: Diana
  • Kategorie: Erotik
  • Serie: Secrets
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Die Erinnerung an Dallas Sykes brennt in mir.

Jeder kennt ihn als den berüchtigten Playboy, für den Frauen und Geld bloße Zahlen sind. Doch für mich ist er der Mann, nach dem ich mich sehnlichst verzehre. Und den ich nie haben kann.

Dallas versteht mich so gut wie niemand sonst. Wir tragen in uns dieselben Wunden, dasselbe dunkle Kapitel unserer Vergangenheit. Ich wollte ihn vergessen, aber nun, da wir uns wiedersehen, kann ich der Anziehungskraft zwischen uns nicht widerstehen.

All die Jahre wehrten wir uns gegen unser Verlangen. Doch nun ist es an der Zeit, es endlich zuzulassen.

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Seitenzahl: 453

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J. KENNER

DIRTY

SECRETS

Roman

Band 1

Aus dem Amerikanischen von Janine Malz

 

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2016 by Julie Kenner Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Dirtiest Secret bei Bantam Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by Diana Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Babette Mock Umschlaggestaltung: t. mutzenbach design, München Umschlagmotiv: © Jackie Stukey, 0mela/Shutterstock Satz: Christine Roithner Verlagsservice, Breitenaich Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-641-20032-9V003
www.diana-verlag.de Besuchen Sie uns auch auf www.herzenszeilen.de

 

Zum Buch

Dallas Sykes, der milliardenschwere Sohn eines Kaufhaus-Magnaten, ist durch seine wilden Affären in ganz New York verrufen. Doch tief in seinem Herzen sehnt er sich nur nach ihr: Jane West. Sie ist bildschön, atemberaubend sinnlich – und absolut tabu. Mit aller Macht kämpft Dallas gegen seine Gefühle für die Frau an, die er als einzige niemals haben darf. Aber gerade das Verbotene besitzt einen besonderen Reiz …

»Ein hochexplosiver Auftakt!« Publishers Weekly

»Sinnlich und provokant erzählt J. Kenner von berauschender Anziehung, großer Gefahr und verbotener Liebe.« RT Book Reviews

Zur Autorin

Die New-York-Times- und SPIEGEL-Bestsellerautorin J. Kenner wurde in Kalifornien geboren und wuchs in Texas auf, wo sie heute mit ihrem Mann und ihren Töchtern lebt. Sie arbeitete viele Jahre als Anwältin, bevor sie sich ganz ihrer Leidenschaft, dem Schreiben, widmete. Ihre lieferbaren Romane und Erzählungen finden Sie unter J. Kenner im Diana Verlag.

 

 

Wenn ich es ändern könnte, würde ich es tun. Dieses Ihn-Wollen. Dieses Ihn-Begehren.

Ich schließe nachts meine Augen, berühre mich selbst und stelle mir vor, das sei er. Seine Hände, die mich streicheln. Seine Finger, die in mich eindringen.

Ich tue es und hasse mich selbst dafür. Denn mein Verlangen ist nicht warm und sanft, sondern verquer und wild und falsch.

Wir haben einander zerstört, er und ich. Selbst heute, nach so vielen Jahren, sind wir noch immer innerlich gebrochen und gespalten.

Und werden diesen Zustand nie überwinden, da wir ohne den anderen nie vollständig sein werden. Und dennoch können wir nie zusammen sein. Nie wieder. Nicht auf diese Weise.

Denn unser Verlangen hat scharfe Zähne. Wir haben es einmal überlebt, um Haaresbreite nur.

Aber sollten wir unser Glück erneut auf die Probe stellen, könnte es uns diesmal mit Haut und Haaren verschlingen …

 

 

KAPITEL 1

Der King of Fuck

Selbst für Southamptoner Verhältnisse strotzte die Party auf dem über achthundert Quadratmeter großen Anwesen an der Meadow Lane nur so vor Extravaganz.

Mit Grammy-Awards ausgezeichnete Bands spielten auf der Open-Air-Bühne, die extra auf dem saftig grünen Rasen aufgebaut worden war, der sich vom Hauptgebäude bis zu den Tennisplätzen erstreckte. Stars plauderten angeregt mit Models, die mit Wall-Street-Tycoons flirteten, die mit Hightechgurus und Akademikern des alten Geldadels über Aktienkurse diskutierten, während sie an feinstem Scotch und dem angesagtesten Gin der Saison nippten. Bunte Lichter erhellten den lagunenartigen Pool, auf dem nackte Models träge auf Luftmatratzen dahintrieben, deren Körper Sushi-Spitzenköchen als Servierplatten für exquisite Kreationen dienten.

Jede geladene Dame erhielt bei ihrer Ankunft eine Hermès-Birkin-Tasche, während die Herren eine limitierte Hublot-Armbanduhr bekamen, und die freudigen Ausrufe der Gäste wetteiferten mit dem Knall des Feuerwerks, das Punkt zweiundzwanzig Uhr über der Bucht explodierte, perfekt getimed, um die Gäste von dem herumwuselnden Personal abzulenken, das das Dinner-Büfett abräumte und Desserts, Kaffee und Liköre bereitstellte. Es wurden keine Kosten und Mühen gespart, kein Wunsch blieb offen. Nichts wurde dem Zufall überlassen, und alle Anwesenden waren sich einig, dass diese Party DAS gesellschaftliche Ereignis der Saison war, wenn nicht des Jahres. Ach was, des Jahrzehnts.

Jeder, der etwas auf sich hielt, war an diesem Abend zugegen, hier unter den Sternen, auf dem anderthalb Hektar großen Grundstück an der Milliardärsmeile.

Jeder, mit Ausnahme jenes Milliardärs, der der Gastgeber des Abends war. Und Spekulationen darüber, wo er war, was er machte und mit wem er es machte, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in der angeheiterten und gossip-hungrigen Menge.

»Keine Ahnung, wohin er verschwunden sein könnte, aber ich wette, er verzehrt sich nicht vor Einsamkeit«, mutmaßte ein bohnenstangendürrer Mann mit grau meliertem Haar und einem abschätzigen Gesichtsausdruck, der aber wohl vielmehr von Neid zeugte.

»Ich schwör’s dir, ich bin fünfmal gekommen«, raunte eine forsche Blondine ihrer Freundin in der Art von Bühnenflüstern zu, die Aufmerksamkeit erregen soll. »Der Mann ist im Bett ein wahrer Gott.«

»Er hat wahrlich einen sechsten Sinn fürs Geschäft«, sagte ein Wall-Street-Broker, »aber keinen Sinn für Anstand, was seinen Schwanz anbelangt.«

»Oh, Süße, nein. Er ist definitiv nichts für eine feste Beziehung.« Eine Brünette, die ihren kürzlich unterzeichneten Modelvertrag feierte, erzitterte bei der Erinnerung wie in Ekstase. »Er ist wie feine Schokolade, die man nur in geringen Mengen genießen sollte. Aber unfassbar köstlich, wenn man sie erst einmal vernascht.«

»Von mir aus, soll er doch all die Pussys abschleppen.« Ein Hipster mit Dreitagebart und Man Bun-Dutt wischte seine Nickelbrille an seinem Hemdzipfel sauber. »Aber wieso muss er das so raushängen lassen?«

»Alle meine Freundinnen hatten schon mal was mit ihm.« Die zierliche Rothaarige, die am Ende jedes Jahres von ihrem Mann einen sechsstelligen wife bonus kassierte, lächelte langsam, und das Blitzen ihrer grünen Augen besagte, dass sie die Katze und er köstliche Schlagsahne war. »Aber ich bin die Einzige von uns, die in den Genuss eines Nachschlags gekommen ist.«

»Alle deine Freundinnen?«

»Wie viele Pussys?«

»Mindestens die Hälfte aller heute Abend anwesenden Frauen. Wenn nicht mehr.«

»Alter, die Frage ist total überflüssig. Glaub mir. Dallas Sykes ist der King of Fuck. Normalsterbliche wie du und ich spielen nicht mal annähernd in seiner Liga.«

Drei Stockwerke über dem Partygeschehen war Dallas Sykes in einem Zimmer mit Blick über den Atlantik gerade dabei, einer gertenschlanken Blondine eifrig an der Klit zu saugen, die auf seinem Gesicht saß und sich kurz vor dem Orgasmus vor Lust wand. Ihre »Ja! Ja!«-Schreie vermengten sich mit dem lustvollen kehligen Stöhnen der kurvenreichen Rothaarigen, die über seine Hüfte gegrätscht saß, während er sie hart und tief mit dem Finger fickte.

Sie hatten sich ihm unterworfen, diese beiden Frauen, und das Wissen, dass sie ihm heute Nacht mit Haut und Haaren gehörten, durchfuhr ihn wie ein Messer. Ein sündiges Aphrodisiakum mit einer Klinge so scharf wie Stahl und mindestens ebenso unberechenbar.

Er war trunken – vor Sex, Scotch und Submission. Und alles, was er in diesem Moment wollte, war, sich in der Lust zu verlieren. All den anderen Scheiß einfach auszublenden.

»Bitte.« Die Muskeln der Rothaarigen krampften sich um seine Finger, und ein Beben durchfuhr seinen Körper, als sein Bedürfnis abzuspritzen so übermächtig wurde, dass es die Grenze zum Schmerz überschritt. »Ich bin so nah dran, Dallas. Ich will dich in mir. Jetzt. O Gott, bitte. Jetzt.«

Er konnte ihre Worte kaum vernehmen unter dem feuchten Schmatzen seines Mundes an der süßlichen Muschi der Blondine. Aber er hatte genug gehört, und mit einer wilden, groben Bewegung rollte er das Mädchen über ihm zur Seite, sodass sie sich auf dem Bett ausstreckte und zitterte, ihre Nippel hart und ihre Möse glitschig und offen und einladend.

Dallas spürte, wie sich sein Körper vor Lust anspannte. Vor Verlangen. Aber nur vor Verlangen nach einem Orgasmus. Er wollte keine der beiden Frauen. Nicht wirklich. Ihre Gesellschaft, ja. Die Ablenkung, die sie boten, ja. Aber sie selbst?

Keine von beiden war die Frau, nach der er sich verzehrte. Keine war jenes Mädchen, das ihn zugleich gerettet und zerstört hatte. Die Frau, die er wollte.

Die Frau, die er niemals haben konnte.

Also suchte er stattdessen Lust und Leidenschaft im stürmischen Rausch von hartem, hemmungslosem Sex.

»Setz dich nach hinten«, sagte er zu der Blondine, während er seine düsteren Gedanken und sein Bedauern beiseitewischte. Er griff nach dem Highball-Glas, kippte den Rest des Glenmorangie herunter und genoss, wie der Whiskey ihm im Hals brannte und im Kopf brummte. »Gegen das Kopfteil vom Bett. Beine weit gespreizt.«

Sie nickte und kam eifrig seinem Befehl nach, während er die Rothaarige von seiner Hüfte schob. »Fick mich«, bettelte sie. Ihre grünen Augen funkelten, ihr Gesicht ein einziges Flehen. Sie roch nach Sex, und dieser Geruch – so vertraut, so gefährlich und so überaus verführerisch – machte ihn noch härter. »Ich will, dass du mich fickst«, bettelte sie mit einem Schmollmund, und er musste beinahe lächeln.

Beinahe, aber nicht ganz.

Stattdessen hob er eine Augenbraue. »Du willst? Baby, hier geht es nicht darum, was du willst, sondern was du brauchst.«

»Dann gib mir, was ich brauche, und fick mich.«

Seine Lippen zuckten. Er mochte es, wenn eine Frau ihren eigenen Kopf hatte, so viel war sicher. Und mit der Rothaarigen amüsierte er sich prächtig. Er hatte sie sich unten aus der Menge herausgepickt, weil ihm gefallen hatte, wie sie ihr sexy kleines Schwarzes ausfüllte, das nun zerknüllt auf dem Schlafzimmerboden lag. Das, und die Tatsache, dass sie, wie er zufällig wusste, einen Cousin hat, der für einen Regierungsbeamten in Bogotá arbeitet; eine Verbindung, die sich eines Tages als überaus nützlich erweisen könnte.

Was die Blondine betraf, so hatte er keine speziellen Pläne mit ihr. Aber er mochte ihren gelenkigen, gazellengleichen Körper und ihren stillen Gehorsam. Jetzt saß sie genau wie von ihm befohlen da, die Beine weit geöffnet und so wundervoll verletzlich. Sie war äußerlich völlig ruhig, aber der Pulsschlag in ihrem Hals verriet ihre Erregung mindestens ebenso sehr wie ihre harten Nippel und ihre heiße, feuchte Muschi.

Sein Blick begegnete den funkelnden grünen Augen der Rothaarigen, dann nickte er in Richtung der Blondine. »Du willst gefickt werden. Ich will zusehen. Und ich verspreche dir, dass sie alles tun wird, was ich ihr sage. Klingt das nicht nach einem perfekten Deal?«

Die Fuchsige zog ihre strahlenden weißen Zähne über ihre Unterlippe. »Ich hab noch nie …«

»Dann wird das dein erstes Mal. Heute Abend.« Er begegnete ihrem Blick. »Für mich.«

Sie leckte ihre Lippen, als er vom Bett herunterglitt und aufstand. Sie saß immer noch da, die Knie in die Matratze gepresst, und setzte sich jetzt auf die Fersen. Er beugte sich nach vorn und gab ihr einen langen, trägen Kuss. Sie schmeckte nach Erdbeere und Unschuld. Ersteres wollte er auskosten, Letzteres auslöschen. »Verschränke deine Beine um ihre Taille und gib ihr einen tiefen Kuss. Lutsch an ihren Titten. Fasse sie überall an, wo du willst. Aber sie wird dich währenddessen mit dem Finger ficken, während wir beide uns vorstellen, das wäre mein Schwanz. Und, Baby? Du wirst für mich heftiger kommen, als du je für irgendjemanden sonst gekommen bist.«

»Und du?«

Er konnte das erregte Zittern in ihrer Stimme hören und wusste, dass er sie da hatte, wo er sie haben wollte. »Ich bleibe hier«, sagte er, während er sie an der Hand zu der Blondine führte, die vor Vorfreude ganz rosige Wangen hatte. Er stellte sich hinter die Rothaarige und umfasste ihre Brüste, während sie mit ihren Beinen die Blondine umklammerte, und kniff ihr von hinten fest in die Nippel, während die Blondine mit ihren Fingern in sie glitt.

Dicht an ihren Rücken gepresst konnte er jedes erregte Zittern, jedes Schnellerwerden ihres Pulses spüren. Und als sie von kleinen Stößen durchzuckt wurde, glitt er von hinten mit der Hand zwischen ihre Beine und tauchte seine Fingerspitzen in ihre feuchte Möse. Dabei streifte er die Hand der Blondine, deren sinnliches Stöhnen ihm direkt bis in den Schwanz fuhr.

Als Nächstes glitt er mit seinem nun glitschigen Finger nach oben, um den After der Rothaarigen zu streicheln, die sich gegen ihn gelehnt aufbäumte, offensichtlich befeuert durch die erotische Offensive von zwei Seiten. »Dallas«, stöhnte sie, während sich ihr Körper unter dem Orgasmus schüttelte. »O Gott, Dallas, das ist so dermaßen abgefuckt.«

»Genau so mag ich es, Baby«, sagte er. »Nur so läuft es bei mir.«

Es stimmte. Er mochte Sex schmutzig. Wild. Er wollte daran erinnert werden, wer er war. Zu wem er geworden war.

Der King of Fuck. Es war ihm zu Ohren gekommen, dass alle ihn heimlich so nannten, und er musste anerkennen, wie überaus treffend – und ironisch – sein Spitzname war. Denn Gott weiß, er war völlig abgefuckt. Sein ganzes Leben war ein einziges Theater. Eine Fassade.

Er war ein Wrack. So kaputt, wie ein Mann es nur sein kann. Aber er hatte die ganze Scheiße umgekehrt. Sie unter seine Kontrolle gebracht. Sie sich zu eigen gemacht.

Vielleicht würde er nie wieder die Frau, nach der er sich sehnte, in seinen Armen halten, aber wenn das seine Realität war, dann würde er verdammt noch mal das Beste daraus machen.

Mit der freien Hand griff er nach unten, um seinen Schwanz zu streicheln. Das Gefühl seiner muschifeuchten Handfläche, die sich rhythmisch über seine stählerne Erektion bewegte, vermischte sich mit den wilden, beinahe animalischen Lauten der beiden Frauen. Er schloss die Augen und stellte sich einen anderen Ort vor. Eine andere Frau.

Er dachte an sie. Er dachte an Jane.

Aber nicht so. Nicht wie das hier. Nicht so abgefuckt. Nicht als bloße Abendunterhaltung, so austauschbar wie ein Kinoabend und mindestens genauso bedeutungslos.

Allerdings war nun mal alles abgefuckt. Allen voran er.

Verflucht. Er musste das endlich ausblenden. Diese Gedanken. Diese Wünsche.

All das, was er bereute.

Der durchdringende Ton seines Handys ließ ihn aus seinen Gedanken hochschrecken, und er ließ von der Rothaarigen ab, die laut schreiend protestierte.

»Sorry, Baby.« Seine Stimme war angespannt, seine Brust zugeschnürt. »Das ist der Klingelton, bei dem ich immer rangehe.« Er nahm sein Handy vom Nachttisch und streifte leicht mit der Hand über die Haut beider Frauen, ehe er ihnen den Rücken zuwandte und den Anruf entgegennahm.

»Erzähl schon«, forderte er und war auf das Schlimmste gefasst. Sein bester Freund, Liam Foster, sollte ihm eigentlich erst am nächsten Morgen Bericht erstatten. Wenn er nun anrief, musste etwas vorgefallen sein.

»Alles in bester Ordnung, Mann«, verkündete Liam mit einer Stimme, die gerade so viel Aufregung verriet, wie seine militärische Ausbildung es zuließ.

»Das Kind?« Dallas hatte sein Team nach Shanghai geschickt, um den achtjährigen Sohn eines chinesischen Diplomaten zu retten, der zehn Tage zuvor entführt worden war.

»Es geht ihm gut«, versicherte ihm Liam. »Dehydriert. Ausgehungert. Verängstigt. Aber er ist wieder bei seiner Familie und sollte, zumindest physisch, schon bald wieder fit sein.«

Physisch, dachte Dallas, für den das Wort wie purer Hohn klang. Denn das war schließlich nicht alles, nicht wahr? Nicht einmal annähernd.

Er schob die Gedanken beiseite und zwang sich, sich zu konzentrieren. »Wieso bist du dann …?«

»Weil dieser deutsche Drecksack, der ihn entführt hat, ihn nur gegen Informationen freilassen wollte. Er weiß Bescheid, Dallas. Dieser Wichser Müller weiß, wer der sechste Kidnapper war.«

Ein Satz, scheinbar so schlicht und einfach. Nicht so jedoch seine Wirkung auf Dallas. Sein Blut begann zu kochen, und ihm war auf einmal brütend heiß. Er wollte diesen sechsten Typen windelweich prügeln. Er wollte sich zusammenkauern und losheulen.

Er wollte endlich die Wahrheit erfahren.

Es waren zwei gewesen, die die sechs Wichser beauftragt hatten – und ganz sicher konnte dieser sechste Mann seine Auftraggeber identifizieren. Zunächst war da der Anführer, der sich auf dem Stuhl zurückgelehnt und sich nicht die Hände schmutzig gemacht hatte, in Wirklichkeit aber mieser als alle anderen war. Dieser Mann existierte in Dallas’ Erinnerung nur in Form von Andeutungen und Momentaufnahmen. Er war clever gewesen. Er hatte Abstand gehalten. Dabei war er der Strippenzieher, der die sechs angeheuert hatte und wie in einem Marionettentheater im Hintergrund die Fäden zog.

Der Mann, den Dallas und Jane heimlich »den Wärter« getauft hatten, hatte nur zweimal direkt mit Dallas gesprochen und ihm gesagt, dass er all das verdient habe – jeden Moment der Qual, der Angst, der Demütigung.

Und dann gab es da »die Frau«. Sie sollte sich eigentlich um Dallas und Jane kümmern und sie füttern, doch stattdessen hatte sie ihnen bloß Schmerz und Angst gebracht sowie eine abscheuliche Dunkelheit und eine tief sitzende Scham, die selbst dann nicht verblasst war, nachdem Dallas aus der Gefangenschaft der verschimmelten Wände befreit worden war.

Aber er war keine fünfzehn mehr. Er war nicht mehr in der Dunkelheit eingesperrt, unter Folter, hungrig und hilflos.

Er war vielleicht ein Wrack, aber er besaß Geld und Macht, und er wusste beides wie eine Waffe gezielt einzusetzen.

»Wir stehen kurz davor, die Sache zu Ende zu bringen«, sagte Liam. »Mit den Informationen von diesem Arschloch schnappen wir uns den sechsten Mann. Wir verhören ihn. Bringen ihn dazu, uns zu verraten, wer ihn angeheuert hat. Das ist das letzte Puzzleteil, Dallas. Wenn wir das haben, kannst du dir endlich sagen, es ist ein für alle Mal vorbei.«

Dallas schloss die Augen und atmete ein, sog die Worte in sich auf. Liam täuschte sich in einem Punkt. Es würde nie wirklich vorbei sein. Und dennoch konnte er die Vorfreude, die in ihm wuchs, nicht leugnen. Die Vorstellung, dass er tatsächlich einen Schlussstrich ziehen können würde.

Für sich selbst.

Für seine geistige Gesundheit.

Aber vor allem, für Jane.

 

 

KAPITEL 2

Es war einmal

Vor siebzehn Jahren

Du bist ein solcher Penner, weißt du das eigentlich?« Quince Radcliffe stand lässig gegen den Türrahmen gelehnt, während Dallas hastig in seine Sneaker schlüpfte. Er hatte sich bereits eine abgewetzte Jeans übergezogen und gegen die Jogginghose eingetauscht, mit der er im Bett gelegen und Nietzsche gelesen hatte, anstatt seine Rechenaufgaben für morgen zu erledigen. Er würde die fünf Aufgaben morgen früh erledigen; heute Abend war er zu sehr in Also sprach Zarathustra vertieft gewesen. Zumindest, bis er ihren Anruf erhalten hatte.

»Dekan Phelps wird dir den Kopf abreißen und ihn öffentlich aufspießen.«

»Ich bin mir sicher, damit würde er gegen etliche Schulregeln verstoßen.« Während er sprach, drehte sich Dallas mit mürrischem Gesichtsausdruck im Kreis und suchte den Raum nach einem sauberen T-Shirt ab. Er war fünfzehn Jahre alt und wusste, wie man die Waschmaschine bedient, aber das hieß nicht, dass er sich gewissenhaft um seine Wäsche kümmerte.

Er fand ein ausgeblichenes schwarzes T-Shirt unter dem mit Büchern bedeckten Schreibtisch, nahm es hoch, schnupperte daran und zog es sich dann über den Kopf. Er roch noch einmal daran und lüftete es etwas, damit er mit dem Deodorant seine Achseln erreichen konnte. Ihm blieb jetzt keine Zeit mehr zu duschen, und er bereute, das nicht vorher erledigt zu haben.

»Na schön«, sagte Quince. »Deine Sache. Aber wenn du erwischt wirst …«

Dallas legte seine Hand ans Herz, als sein Zimmergenosse es bei der Andeutung der Konsequenzen beließ. »Oh, Quince, ich wusste gar nicht, dass ich dir so am Herzen liege.«

Quince kniff die Augen zusammen und streckte langsam seinen Mittelfinger aus. Dallas stieß ein kurzes Lachen hervor. »Keine Sorge. Wir sind nur ein paar Stunden weg. Ich passe auf, versprochen. Du deckst mich. Und niemandem wird auffallen, dass ich je weg war.«

Das sollte es auch besser nicht, denn auch wenn Dallas es niemals offen zugeben würde, hatte Quince recht. Er ging ein enormes Risiko ein. Sein Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen und eine hübsche Summe hingeblättert, um seinen Sohn in St. Anthony’s unterzubringen, einer der prestigeträchtigsten Internatsschulen in ganz Europa, wenn nicht weltweit. Dallas war stinksauer gewesen – und ganz und gar nicht damit einverstanden, von den USA nach Großbritannien geschickt zu werden –, doch jetzt, ein Jahr später, musste er eingestehen, dass er sich hier wohlfühlte.

Zumindest sich selbst eingestehen, denn er würde Eli und Lisa ganz sicher nicht die Wahrheit sagen. Noch nicht. Vielleicht nie. Er liebte seine Eltern. Wirklich. Aber es stand immer diese eine Sache zwischen ihnen. Diese gewisse Distanz. Vielleicht weil er zu viel darüber wusste, wer er war und woher er stammte. Vielleicht sollten Kinder nicht die Wahrheit über sich kennen. Vielleicht konnten sie damit nicht umgehen.

Er dachte an Nietzsches Lieblingsmotto: Werde, der du bist. Und er dachte an seinen eigenen abgewandelten Folgesatz: Finde verdammt noch mal erst einmal heraus, was du bist, bevor du damit beginnst, das zu werden. Ganz zu schweigen davon, wer du bist.

Und war es nicht das, was er die ganze Zeit über versuchte?

Er hatte sich enorm angestrengt, sich an die Regeln gehalten. Mehr oder weniger zumindest. All den Scheiß gemacht, der von ihm verlangt wurde. Er konnte all die Monate, in denen er Drogen genommen, Autos geknackt, sich nachts davongeschlichen und sich ganz allgemein wie ein Arschloch aufgeführt hatte, nicht mehr rückgängig machen, aber er konnte hierbleiben, seine Aufgaben erledigen und der Mann werden, der er sein wollte. Der Mann, von dem er wusste, dass er in ihm steckte.

An jedem anderen Abend wäre er dringeblieben und hätte gelernt.

Beziehungsweise wäre er dringeblieben und hätte sich mit Büchern oder Videospielen abgelenkt, um dann zehn oder fünfzehn Minuten vor dem Unterricht noch schnell seine Hausaufgaben zu erledigen oder für einen Test zu lernen.

Nicht so heute Abend.

Heute Abend war sie hier.

Heute Abend hatte Jane ihn vom Bahnhof aus angerufen. »Ich bin von London mit dem Zug gekommen. Die anderen denken, ich übernachte bei Donna, der Freundin, die letztes Jahr nach London gezogen ist, weil ihr Dad einen Job in der Botschaft angenommen hat.« Die Worte platzten nur so aus ihr heraus, als ob sie sie loswerden musste, bevor sie den Mut verlor. »Aber ich bin gar nicht bei Donna, sondern hier. Und ich würde dich echt gerne noch heute Abend sehen. Du weißt schon. Bevor es anstrengend wird. Bevor die anderen dabei sind. Deshalb komme ich jetzt. Und mir ist egal, ob du denkst, dass ich das nicht hätte tun dürfen. Ich komme, keine Widerrede.«

Sie kam zu ihm. Sie kam wirklich zu ihm.

Und natürlich konnte er da nicht Nein sagen.

»Geh nicht«, bat ihn Quince, als er aus dem Fenster hinunter auf das Kronendach einer nahe gelegenen Weide und den Campus spähte. »Ich habe irgendwie ein mulmiges Gefühl.«

Dallas klopfte auf seine Gesäßtasche, um zu überprüfen, ob sein Geldbeutel da war. »Gib es auf, Mann. Ich gehe. Ich meine, komm schon. Was kann schlimmstenfalls schon passieren?«

Als Quince sich jetzt Dallas zuwandte, warf das Mondlicht durch das Laub der Weide hindurch Schatten auf sein Gesicht. »Ähm, lass mich nachdenken. Du könntest rausgeschmissen werden?«

»Nachdem mein Dad so viel Kohle in diesen Laden gepumpt hat? Glaube ich kaum.« Die Worte kamen ihm leicht über die Lippen, doch er glaubte selbst nicht recht daran. Trotz ihres Familienvermögens hatte Eli Sykes hart dafür kämpfen müssen, dass Dallas an der Akademie angenommen wurde. Offenbar war Dallas nicht jene Art Aushängeschild, mit der sich die Privatschule gerne schmückte. Und es wäre ein Leichtes für Phelps und die Schulleitung zu entscheiden, dass sie niemals hätten ein Auge zudrücken dürfen.

Aber egal. Selbst wenn er wieder zurück nach Hause und seinen Abschluss dort nachholen musste. Er würde sich trotzdem davonschleichen.

Er musste sie sehen.

»Deckst du mir den Rücken?«

Die Schatten huschten über Quince’ Gesicht. »Mir ist einfach nicht wohl dabei. Das geht so was von in die Hose.«

»Quin, komm schon, Mann. Tu mir den Gefallen.«

Quince seufzte. »Ach, scheiße. Klar, weißt du doch.«

Dallas zeigte sein breites Grinsen – jenes Grinsen, das ihn in späteren Jahren auf das Cover der GQ und Esquire bringen würde. Ein dekadentes, wissendes Lächeln, das Sünde und Erlösung zugleich verhieß.

»Du hast echt was gut bei mir, Mann«, sagte Dallas.

»Das kannst du laut sagen.« Quince deutete erneut mit dem Gesicht zum Fenster. »Sie wartet unten. Geh schon. Und lass dich bloß nicht erwischen.«

Er hatte ziemlich viel Übung darin, die Hintertreppe von Lancaster Hall hinunterzuschleichen, und in weniger als drei Minuten hatte er ihr Zimmer verlassen, den Gang durchquert und war durch den Notausgang geschlüpft. Er hielt gerade so lange inne, dass er sicher war, dass keiner der Typen mit zu straff sitzender Krawatte und Stock im Arsch den Alarm wieder eingeschaltet hatte, aber alles blieb ruhig.

Er schlich durch die mondlichtgesprenkelte Dunkelheit, durch die Schatten, die Muster auf den feuchten Boden zeichneten. Ein kleiner Nebenfluss der Themse verlief durch das Schulgelände und teilte den Campus zwischen Lancaster Hall und Wellington Hall. Jane war noch nie hier gewesen, aber er wusste, wo er sie finden würde. Hatte er ihr nicht schon oft genug in seinen E-Mails den Campus beschrieben, und wo er am liebsten saß und nachdachte?

Und ja, wo er saß und den Umstand verfluchte, dass ausgerechnet jenes Mädchen, das er wollte – jenes Mädchen, das er liebte – das einzige Mädchen war, das er nicht haben konnte.

Der Pfad beschrieb eine Kurve und gab die Sicht auf die Bank frei. Eigentlich war sie recht schlicht, die Farbe durch die jahrelange Einwirkung der Witterung verblichen trotz ihrer verhältnismäßig geschützten Position unter einer majestätischen Eiche, die zweifellos um einiges älter war als die Schule, die vor dreihundert Jahren gegründet worden war.

Er eilte darauf zu, die Brust vor Angst wie zugeschnürt. Sie war nicht da. Hatte sie es sich anders überlegt? Bestimmt nicht, oder?

Dann sah er, wie sich ein Schatten nahe dem Flussufer bewegte. Da war sie und sah auf die gespenstische Reflexion des Mondes auf dem Wasser hinaus. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, und er blieb regungslos stehen. Doch sie musste ihn gehört haben. Oder seine Präsenz gespürt haben.

Sie drehte sich um. Und als sie lächelte, war ihm, als würde der Rest der Welt in der Dunkelheit versinken.

Er machte einen Schritt auf sie zu und noch einen und noch einen, bis sie nur einen Atemzug voneinander entfernt standen.

Er streckte seine Hand nach ihr aus, und sie tat dasselbe, aber beide zogen ihre Hände sofort zurück, als sich ihre Finger berührten.

Ihr Mund verzog sich zu einem beschämten Lächeln, und sie senkte die Lider.

Die Situation wurde unangenehm, und er wusste nicht, wie er das greifbare Unbehagen zwischen ihnen zerstreuen sollte. Alles, was er wusste, war, dass sie es war. Alles, was er wollte, war, sie berühren, sie festhalten.

Er wollte sie küssen, wild und leidenschaftlich und so viel inniger als bei ihrem zaghaften Kuss vor über einem Jahr. Und verflucht, es war ihm egal, ob es falsch war. Er wollte es. Er wollte sie.

Immer schon.

Aber sie hatten sich ein Versprechen gegeben. Und deshalb drückte er seine Arme fest an die Seiten und zwang sich, sich nicht zu rühren. Nicht seine Hände auszustrecken. Nicht seinem Bedürfnis nachzugeben, sie zu berühren; ein Verlangen, so intensiv, rein und stark, dass er nicht verstand, was daran falsch sein sollte. Mehr noch, er wusste nicht, wie er dem widerstehen sollte.

»Jane.«

Sie sah hoch, wich seinem Blick aber immer noch aus. »Ich weiß. Aber …« Sie brach ab, und ihre Schultern hoben und senkten sich. Er hielt den Atem an und hoffte, dass sie weniger Stärke besaß als er, denn wenn sie kapitulieren würde, würde er es auch tun.

Er hätte es besser wissen müssen, und als sie ihren Kopf hob und ihm endlich in die Augen blickte, war das Unbehagen verschwunden. Was er sah, war keine Unsicherheit. Keine Scham. Sondern Entschlossenheit. Und Bedauern.

»Ich musste dich sehen«, sagte sie, doch was sie meinte war: Wenigstens das, wenn sie uns schon voneinander trennen.

»Ich weiß«, sagte er. »Bevor die anderen herkommen. Ich verstehe.« Noch ein Tag und dann würden die Frühlingsferien beginnen. Seine Eltern waren gerade in London, sein Vater zudem in Begleitung von wichtigen Vorstandsmitgliedern sowie deren Familien. Geplant war, dass Dallas und seine Mutter Lisa nach Oxford fahren sollten. Dallas mochte zwar erst fünfzehn sein, doch seine Noten und Testergebnisse waren so gut, dass er gute Chancen hatte, zugelassen zu werden, und die diversen Termine, die seine Eltern vereinbart hatten, würden die wenigen Ferientage komplett ausfüllen.

Während Lisa und Dallas Oxford abklapperten, würde sein Vater Eli in London bleiben und das neue Sykes-Kaufhaus besuchen, das letztes Jahr eröffnet wurde. Und da Jane über ihre Privatschule in den USA ein Praktikum in der Londoner Marketingabteilung absolvierte, würde sie mit Eli in London bleiben, während Dallas in Oxford war.

Wenn sie sich also allein sehen wollten, war jetzt der geeignete Zeitpunkt dafür.

Gott sei Dank hatte sie angerufen. Er wünschte, er hätte den Mut gehabt, sie zuerst anzurufen.

»Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du da bist.«

Ihr Lächeln reichte bis zu ihren Augen und ließ ihr ohnehin wunderschönes Gesicht erstrahlen. Sie war schon immer ein hübsches Mädchen gewesen, aber nun war sie ebenfalls fünfzehn, nur ein paar Monate jünger als er, und wuchs zu einer atemberaubenden Frau heran. Ihr langes dunkles Haar, mit einem einfachen Mittelscheitel geteilt, fiel ihr stufenförmig auf die Schultern und war so schimmernd, dass es im Mondlicht glänzte. Ihre braunen Augen waren groß und ihre Augenbrauen leicht gekrümmt, sodass sie ihr einen Ausdruck steter Belustigung verliehen, als ob sie erkannte, wie schräg die Welt doch war, selbst wenn es niemand sonst bemerkte. Ihre blasse Haut war wie aus Porzellan, und ihre ausgeprägten Wangenknochen verliehen ihrem ansonsten rundlichen Gesicht vom Typ Mädchen-von-nebenan einen Hauch von Laufstegmodel-Eleganz.

Mit anderen Worten, sie war einfach perfekt. Aber es war ihr Mund, der nun seine Aufmerksamkeit erregte und bannte. Ihre Lippen, von denen er geträumt hatte. Die er berühren wollte. Die er schmecken wollte. Er stellte sich vor, wie sich ihr Mund heiß und sanft an seinen presste, und er spürte, wie er bei dieser Vorstellung hart wurde.

Er senkte seinen Blick in der Hoffnung, dass sie keine Anzeichen dafür entdecken würde, wie sehr er sie wollte. Er war noch immer Jungfrau und ziemlich unerfahren. Aber er hatte eine rege Fantasie, und in diesem Augenblick schwirrte ihm der Kopf bei der Vorstellung an ihren Duft, das Gefühl ihrer Haut, warm und nackt, an seiner, und …

Scheiße. Stopp.

Er holte Luft und versuchte, sich abzulenken, nicht an Sex zu denken. Differentialrechnung wäre gut. Oder Statistik.

Er scharrte mit den Füßen und sah wieder zu ihr hoch. »Ähm, bist du vom Bahnhof zu Fuß hergelaufen?«

Sie schüttelte den Kopf und starrte ebenfalls verlegen zu Boden. Gott, was gaben sie doch für ein Traumpaar ab! »Ich hab ein Taxi genommen. Ich … ich wollte so schnell wie möglich da sein.«

Ihre Worte entfachten ein Feuer in ihm. »Echt? Das freut mich.« Er atmete laut aus. »Okay. Ähm, was sollen wir machen?«

Selbst in der Dunkelheit konnte er erkennen, dass sie errötete. Sofort arbeitete es in ihm, und sein Schwanz, der sich beim Gedanken an Differentialrechnungen beruhigt hatte, wurde wieder steif.

Mann, was sie beide hier abzogen, war echt krank. So was von krank.

»Im Gemeinschaftsraum habe ich einen Aushang gesehen von einem Mitternachtskonzert im Park«, durchbrach er schnell die peinliche Stille. »Ist bestimmt total öde, aber dann wird es umso lustiger. Irgendwelche Typen, die Songs der Beatles covern zum soundsovielten Jubiläum von irgendeinem Album.«

Sie lachte. »Musik ist so gar nicht dein Ding.«

»Nein, aber deins.«

Ihr süßes Lächeln zerriss ihn beinahe innerlich. »Stimmt.« Sie zog ihre Zähne über die Unterlippe, und mit einem Mal saß seine Hose viel zu eng. »Es klingt wirklich öde.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu und stupste seinen Fuß sanft mit ihrem an. »Das wird bestimmt ein Riesenspaß.«

»Echt jetzt?«

Sie nickte und sah so begeistert und glücklich aus, als ob sie beide zu einem Abenteuer aufbrechen würden.

Er ging voran in Richtung Park, und sie lief neben ihm her. Die Stille war jetzt überhaupt nicht mehr unangenehm, und in diesem Augenblick gab es nichts, was er lieber tun würde, und niemanden, den er lieber bei sich hätte. Natürlich musste er diesen Moment durch einen saublöden Kommentar kaputt machen. »Eli kriegt einen Herzkasper, wenn er herausfindet, dass du hier bist.«

»Es war seine Entscheidung, eine Praktikantin mit nach London zu nehmen«, sagte sie unbekümmert. Doch dann wurde ihr Gesicht ernst, als sie ihm einen kurzen Blick zuwarf. »Kann es sein, dass du ihn noch nie ›Dad‹ genannt hast?«

Er legte den Kopf schräg und sah sie an. »Wieso sollte ich? Aber lassen wir das«, sagte er, ehe sie antworten konnte. »Ist auch egal. Ich hätte gar nicht davon anfangen sollen.«

Sie betrachtete ihn aufmerksam, als ob sie an seinem Gesicht ablesen wollte, was er nicht aussprach. »Bist du immer noch sauer, dass er dich hergeschickt hat? Ich meine, das mit dem Internat ist das eine, aber dich über den halben Globus zu schicken, ist dann doch etwas anderes.«

Er schüttelte den Kopf. »Wenn du es ihm erzählen würdest, würde ich es abstreiten, aber ganz ehrlich: Nein. Zu Hause habe ich dauernd Mist gebaut. Ich hatte nur Blödsinn im Kopf. Und …«

Er brach ab und vergrub seine Hände in den Taschen. Er hätte beinahe »Und dich« gesagt. Aber dieses Thema wollte er lieber gar nicht erst anschneiden.

Sie blieb stehen, nahm seine Hand und ließ ihn innehalten. »Mache ich es nur schlimmer? Hätte ich besser nicht kommen sollen?«

»Gott, nein!« Die Antwort kam zu schnell, verriet zu viel. Er sah hinunter auf ihre verschränkten Hände, dann wieder hoch zu ihr. »Vielleicht«, flüsterte er.

Ihre Blicke trafen sich, und auch wenn es wie ein Klischee klang, in diesem Moment fühlte er es. Die Anziehungskraft. Die Leidenschaft. Das Gefühl zwischen ihnen, das so viel stärker war als sie selbst.

»Dallas.« Das war alles, was sie sagte, und er wusste nicht, ob es einen Einwand oder eine Einladung beinhaltete.

Doch er würde nicht darauf warten, es herauszufinden.

Mit einer einzigen Bewegung beugte er sich nach vorne, umgriff mit der Hand ihren Nacken und bedeckte ihren Mund. Sie schmeckte nach Honig. Nach Heimat. Und als sie nach Luft rang und ihren Mund dabei ein wenig weiter öffnete, nutzte er die Gelegenheit und erkundete sie mit seiner Zunge. Er kostete sie, nahm sie, vertiefte den Kuss, bis sie miteinander verschmolzen und nichts und niemand mehr zwischen ihnen stand. Auch nicht die verfluchte Welt da draußen, die ihnen einredete, dass sie das hier nicht tun sollten. Dass es verrückt war.

Dass es falsch war.

Atemlos zog er seinen Kopf zurück, als er plötzlich fürchtete, sich zu viel genommen zu haben. Zu weit gegangen zu sein.

Fürchtete, dass er, wenn sie die Augen öffnete, Angst sehen würde. Oder schlimmer noch, Reue.

Aber ihr Gesicht war weich, ihre blasse Haut im Mondschein beinahe engelsgleich, und als sie die Augen öffnete und ihn anblickte, sah er sein eigenes Begehren, das sich in ihren großen braunen Augen spiegelte.

»Wir sollten das nicht tun«, flüsterte er.

»Ich weiß.«

Keiner von beiden rührte sich. Sie standen einfach da, nur Zentimeter voneinander entfernt. Er konnte ihren Atem auf seiner Haut spüren, minzig frisch und verführerisch. Er glaubte, sogar ihren Herzschlag zu hören, und war sich sicher, dass sie seinen hören konnte.

Und dann, als ob sie wie zwei Magneten durch eine unsichtbare Kraft zueinander hingezogen würden, gingen sie gleichzeitig aufeinander zu. Ihre Münder pressten sich schnell und hart aufeinander. Ihre Hände verhakten sich, ihre Finger streichelten einander. Er war in seinem ganzen Leben noch nie so hart gewesen, selbst in all der Zeit nicht, wenn er allein im Bett lag, die Hände in den Boxershorts, und an sie dachte. Ein kurzer Anflug von Scham überkam ihn, doch dann gab sie einen leisen Laut von sich, und ihm wurde klar, dass es sein Name war. Sein Name, so voller Lust und Begierde, dass es ein Wunder war, dass er nicht auf der Stelle kam.

»Jane, ich …« Er wusste nicht, was er hatte sagen wollen. Doch das spielte keine Rolle mehr, denn seine Worte wurden von ihrem Schrei abgeschnitten, der kurz und scharf wie eine Klinge durch die Luft gellte.

Jemand hatte sie gepackt. Zwei in Schwarz gekleidete Männer standen zu beiden Seiten von Jane, die Gesichter hinter Skimasken verborgen, ihre Arme fest im Griff, und zerrten sie von ihm weg, während ihr Kopf zu einer Seite baumelte.

»Nein!« Ihm war, als sei eine Ewigkeit vergangen, ehe er das Wort herausbrüllte, ehe er versuchte, nach vorn zu stürzen, um ihr zu helfen. Doch in diesem Moment wurde ihm klar, dass nicht einmal Sekunden vergangen waren. Und dass er ihr nicht helfen konnte – ja, nicht einmal sich selbst. Denn sie hatten ihn ebenfalls gepackt.

Er wehrte sich, schaffte es, seinen linken Arm loszureißen, und wirbelte zur rechten Seite herum, um sich zu befreien – um sich so gut wie möglich einen Überblick zu verschaffen, bevor sie ihn erneut packten und festhielten.

Vier Männer. Zwei hielten ihn fest. Zwei standen neben ihnen, davon einer mit einem Tuch in der Hand.

Und dann die zwei, die Jane in ihrer Gewalt hatten.

Das machte insgesamt sechs Männer. Sechs Angreifer.

Sechs Entführer.

Sechs, wiederholte er innerlich, während er gegen die Angst ankämpfte, sie herunterschluckte und sich zwang, auf ihre Stimmen zu achten. Ihre Größe und ihr Gewicht abzuschätzen. Ihre Augen zu studieren, gegen die Panik anzukämpfen und nachzudenken, selbst jetzt, als der Mann mit dem Tuch auf ihn zukam und ihm den mit Chloroform getränkten Lappen über Mund und Nase presste.

Und während die Welt um Dallas herum im Nebel verschwand, klammerte er sich fest an das Bild vor seinem geistigen Auge, das Bild der sechs toten Männer. Denn genau das waren sie. So gut wie tot. Sie hatten in diesem Moment ihr Todesurteil unterschrieben, und es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie finden würde.

 

 

KAPITEL 3

Deliverance

»Dallas? Shit, Mann, bist du noch dran?«

Erschrocken stellte er fest, dass er das Handy so fest im Griff hatte, als sei es der Nacken des sechsten Entführers. So fest, dass es ein Wunder war, dass er das verdammte Ding nicht mit der bloßen Hand zerquetscht hatte. Irritiert schob er seine Erinnerungen beiseite und fokussierte sich auf das Hier und Jetzt.

»Von wo aus rufst du an?«

»Aus dem Flugzeug«, sagte Liam. »Ich bin auf dem Weg von Berlin zum Geheimquartier in Mendoza.«

Dallas fragte sich stirnrunzelnd, was Argentinien mit der ganzen Sache zu tun hatte, während er nackt auf den Balkon lief, um ungestört telefonieren zu können. Unten bei der Party stupsten ein paar Frauen einander an und deuteten zu ihm hoch. Er nahm kaum Notiz von ihnen. »Ich bin ganz Ohr.«

»Müller hat den Jungen aus seiner Privatschule in Shanghai entführt und es irgendwie geschafft, ihn nach Europa zu schmuggeln. In Deutschland haben wir ihn dann geschnappt. Quince hat saubere Arbeit geleistet, um ihn zum Reden zu kriegen«, fügte er hinzu. Dallas’ Zimmernachbar aus dem Internat war mittlerweile offiziell ein Mitarbeiter im britischen Auslandsgeheimdienst M16 und inoffiziell eines der Kernmitglieder von Deliverance, jenem handverlesenen Team, das Dallas vor über zehn Jahren zusammengestellt hatte.

Er hatte die Selbstschutzorganisation mit dem Ziel gegründet, seine Peiniger zu finden – und zu vernichten –, doch inzwischen war sie so viel mehr als das. Deliverance hatte sich zu einer schlagkräftigen Einsatztruppe entwickelt, die mit allen Mitteln für die Rettung entführter Kinder kämpfte. Ihre ausgewählten, diskreten Auftraggeber fanden über Mundpropaganda und Empfehlungen zu der Organisation, die peinlich darauf achtete, dass kein Klient die Spur zu Dallas oder zu den anderen Männern zurückverfolgen konnte.

Deliverance ging bis an die Grenzen und beugte das Recht, vor allem aber erledigte die Organisation ihren Auftrag.

Dallas holte Luft, nur um sicherzugehen, dass ihm nicht die Stimme versagte. »Heißt das, dass Müller etwas über den sechsten Mann ausgeplaudert hat?«

»Im Laufe des Verhörs, ja. Wir sind die Standardfragen durchgegangen, um herauszufinden, ob er etwas über deine Entführung weiß.«

»Und er wusste davon.«

»Dieser Wichser ist ein verdammter Bluthund, der jedem zu Fuße kriecht, der ihm einen leckeren Knochen hinhält.«

»Gibt es Grund zu der Annahme, dass Müller daran beteiligt war?« Es war zwar weit hergeholt, aber vielleicht war Müller selbst der sechste Mann, der jetzt versuchte, die Wahrheit zu verschleiern. Scheiße, vielleicht war er sogar der gottverfluchte Wärter.

»Negativ«, antwortete Liam. »Er hat sechs Monate vor und achtzehn Monate, nachdem ihr beide gekidnappt wurdet, in einem deutschen Gefängnis eingesessen. Nein, er war nicht beteiligt – darauf würde ich meinen Ruf verwetten. Aber er ist trotzdem eine Quelle und unter Umständen sogar eine ganz zentrale. Er wusste von deiner Entführung und von etlichen anderen.«

Dallas ballte seine Hände zu Fäusten und atmete tief ein, während er den Zorn herunterschluckte, der ihn zu überwältigen drohte. »Woher wusste er von meiner? Sind Gerüchte im Umlauf?«

Falls ja, war das an sich bereits eine interessante Information. Eli Sykes hatte die Entführung geheim gehalten und niemandem, außer seinem engsten Kreis, davon erzählt. Nicht der Presse, nicht der Polizei, nicht dem FBI, nicht Scotland Yard. Niemandem. Stattdessen hatte er die Dinge selbst in die Hand genommen, indem er Söldner angeheuert und eine Lösegeldübergabe vereinbart hatte. Und vor allem hatte er dafür gesorgt, dass alles ganz, ganz geheim blieb.

Bis zum heutigen Tag war Dallas nicht sicher, ob sein Vater zu viel oder zu wenig getan hatte. Ja, er hatte ihn und Jane freibekommen. Aber der Preis, den sie dafür gezahlt hatten, war enorm hoch gewesen.

Selbst heute, beinahe zwanzig Jahre später, glaubte alle Welt immer noch, dass Dallas Sykes, der missratene Sohn des Kaufhaus-Milliardärs Eli Sykes, sein vornehmes Internat verlassen hätte und im Krankenhaus gelandet wäre. Was Jane betraf, so hatte die Presse ihr Verschwinden nicht bemerkt, und sie hatte dieses Geheimnis streng gehütet.

Als Dallas Leute für Deliverance anheuerte, hatte er dem Team die ganze Wahrheit erzählt. Schließlich sollten sie wissen, aus welchem Antrieb heraus er agierte. Außerdem hatte jeder der Männer seine eigenen Gründe, aus denen er sich Deliverance und seiner Mission verpflichtet fühlte. Vor allem aber wusste Dallas, dass er ihnen vertrauen konnte.

Aber selbst sie wussten zwar von seiner Entführung, hatten jedoch keine Ahnung von dem, was sich in jenem feuchten Verlies abgespielt hatte. Ja, selbst Jane kannte die schlimmsten Details nicht, und das, obwohl sie mit ihm in der Dunkelheit eingesperrt gewesen war.

»Keine Gerüchte«, versicherte Liam. »Der Name unseres Zielobjekts ist Silas Ortega. Er war Nummer sechs und steht in dem Ruf, so ziemlich alles zu machen, wenn die Bezahlung stimmt. Er hat außerdem den Ruf, seine Klappe zu halten, aber ich schätze, selbst er konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich damit zu brüsten, wie er dem großen Eli Sykes eins ausgewischt hat. Er hat jemandem davon erzählt, und Müller hat Wind davon bekommen.«

»Und er hat diese Informationen an uns herausgerückt.«

»Könnte man so sagen«, entgegnete Liam.

Ein dünnes Lächeln umspielte seine Lippen, aber Dallas hakte nicht nach. Er musste gar nicht hören, was Quince mit Müller angestellt hatte, um die Infos aus ihm herauszubekommen. Jedes Mitglied von Deliverance tat, was es tun musste. Nicht umsonst verhieß der Name der Organisation, dass sie vor allem eins tat: Sie lieferte. Und in ihrem Fall hieß das, dass sie kein Erbarmen kannte mit den bösen Buben dieser Welt.

»Und halt dich fest«, fuhr Liam mit einem Anflug von freudiger Erregung in seinem ansonsten nüchternen Bericht fort. »Müller meinte, Ortega wisse sicher, für wen er arbeitete. Er sei nicht der Typ, der für eine Stimme mit einem Bankkonto arbeite. Er ist loyal und brutal und verdammt effizient, aber er arbeitet nur für Leute, die er kennt.«

Hoffnung schwoll in Dallas’ Brust an. Nicht sanft, sondern ebenso hart und unbarmherzig wie der Mistkerl, den er suchte. Der Mistkerl, den Ortega offenbar identifizieren konnte. »Und Ortega ist in Argentinien?«

»Ihm gehört dort ein Weingut. Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng, aber Quince ist bereits an der Sache dran, und Noah gibt ihm von den USA aus Hilfestellung.«

»Und Antonio?«, fragte Dallas in Bezug auf das fünfte und letzte Mitglied von Deliverance.

»Bringt die Sache in China zu Ende.«

Dallas nickte, während er gedanklich die Optionen durchspielte. »Geht bei der erstbesten Gelegenheit rein. Krallt euch Ortega, und dann soll Quince ihn bearbeiten. Unser Ziel sollte sein, ihn über die Grenze nach Valparaiso zu schaffen. Wir könnten ihn auf einem Frachter rüberschaffen.« Deliverance verfügte über gute Kontakte in die chilenische Hafenstadt.

»Sind schon dabei. Offenbar läuft die Minerva bald ein«, sagte er und meinte ein Frachtschiff, das sie in der Vergangenheit bereits einmal gechartert hatten. »Ich gebe dir Bescheid, sobald ich … verdammte Scheiße. Warte mal.«

»Was?«

»Eine Sekunde«, sagte Liam unüberhörbar genervt. Er schaltete den Anruf stumm und ließ Dallas frustriert, aber nicht sonderlich beunruhigt, zurück. Wahrscheinlich hatte sich Antonio gemeldet. Oder Noah und Quince, die etwas über Ortegas Grundstück in Erfahrung gebracht hatten. Was auch immer es war, Liam würde sich darum kümmern. Schnell und effizient.

Dallas ging zurück ins Zimmer, ohne die Frauen zu beachten, die immer noch auf dem Bett zugange waren. Stattdessen lief er hinüber zu dem Bücherregal aus poliertem Mahagoni, in dem ein Fach als Minibar fungierte. Er legte sein Handy ab, um sich ein frisches Glas Scotch einzuschenken, und zwang sich, nicht auf die Stimme zu hören, die ihm einflüsterte, dass es das gewesen sei. Dass seine Jagd fast vorüber sei.

Er schloss seine Augen und ließ die Erinnerungsfetzen der letzten siebzehn Jahre Revue passieren.

Sie standen schon einmal kurz davor, den Wärter zu schnappen. Genauer gesagt, fünfmal. Es hatte Jahre gedauert, aber es war ihnen gelungen, die anderen fünf Entführer aufzuspüren, und jedes Mal hatte Dallas gehofft, dass er endlich den entscheidenden Hinweis bekam, der ihn zu dem Hurensohn führen würde, der seine Entführung angeordnet hatte.

Aber jeder Hinweis hatte sich letztlich als nutzlos herausgestellt. Zwei Entführer starben, noch ehe das Team sie ausfindig gemacht hatte, einer davon an Krebs und der andere bei einer Knastschlägerei. Ein anderer schoss sich selbst in den Kopf, um einer Gefangennahme zu entgehen. Die anderen zwei waren von dem Krebsopfer angeheuert worden, und keiner von beiden wusste auch nur das Geringste über den Wärter oder die Frau. Sie hatten ihm ein paar Details über die drei anderen Entführer verraten, aber bislang hatten diese Informationen zu nichts geführt. Und sie konnten keinerlei Angaben zu dem sechsten Mann machen.

Jetzt sah es danach aus, als ob Deliverance nahe dran war, Nummer sechs zu finden. Aber Dallas wusste nur allzu gut, dass das in die Hose gehen konnte. Und wenn diese Spur ebenfalls im Sande verlief, liefen die Chancen, doch noch herauszufinden, wer Jane und ihn gekidnappt hatte, gegen null.

Fuck.

Dallas kippte den Scotch hinunter, legte seine Hände gegen das warme Holz, beugte sich vornüber und genoss die wohlige Wärme des Whiskys. Doch kein Alkohol der Welt konnte seine Erinnerung auslöschen. Oder seine Reue.

Seufzend richtete er sich auf, und sein Blick wanderte automatisch zu einem der Bücher, das auf Augenhöhe vor ihm im Regal stand. Sein weißer Umschlag war infolge dessen, dass er es beinahe täglich herausnahm und wieder hineinstellte, oben und unten am Buchrücken eingedrückt.

Nun zog er es heraus und blickte auf das Cover. Ein gelber Schulbus. Polizei-Absperrband. Der Titel war wie ein Graffiti quer über den Bus gesprayt: Der wahre Preis des Lösegelds.

Unten in großen Lettern der Name der Autorin:

Jane Martin.

Jane und er sahen sich nur noch selten allein. Während der letzten vier Monate hatte sie in L. A. gelebt, deshalb war ihre Funkstille nur verständlich. Aber selbst wenn sie sich in der gleichen Stadt aufhielten, gab es keine gemeinsamen Abendessen, keine kurzen Treffen zum Mittag und nur wenige Anrufe oder SMS. Klar, sie bewegten sich immer noch in denselben Kreisen, aber ihre Treffen waren nicht sehr regelmäßig – oder zufriedenstellend.

Seit der Entführung waren sie auf Distanz zueinander gegangen. Emotional und physisch. Er vermisste sie – vermisste sie so sehr –, aber er wusste auch, dass es die beste Lösung für beide war. Die einzige Lösung.

Voneinander getrennt waren sie sicher.

Zusammen ergaben sie eine explosive Mischung.

Aber das hieß nicht, dass er sie nicht regelmäßig sah und sich auf dem Laufenden darüber hielt, wo sie war und was sie machte. Und zog er nicht beinahe täglich ihr Buch heraus, um es umzudrehen und mit dem Finger über ihr Autorenfoto zu streichen? Schaltete er nicht extra morgens den Fernseher ein, um die Morgensendungen zu sehen, in denen sie oft zu Gast war, insbesondere nun, da Der wahre Preis des Lösegelds in Hollywood von sich reden machte?

Die Geschichte eignete sich ebenso perfekt für ein Buch wie für einen Film. Fünf Drittklässler werden im Schulbus entführt. Einen Monat lang sind sie verschwunden und kommen beinahe um, als der Befreiungsversuch einer Gruppe inkompetenter Söldner katastrophal schiefläuft.

Und niemand ahnte, dass die Autorin selbst einmal Opfer einer Entführung war. Dass das Einfühlungsvermögen, mit dem sie schrieb, echt war und auf eigener Erfahrung beruhte.

Niemand hatte sie je im Interview gefragt, ob dieses Projekt einen persönlichen Hintergrund hatte. Ob es eine Art Bewältigungsstrategie war. Eine Art Therapie.

Aber natürlich war es genau das.

Dallas hatte es durchschaut, wenn es auch sonst niemand erkannte.

Er hatte auch noch etwas anderes durchschaut. Er kannte Jane viel zu gut, als dass es ihm entgangen wäre. Das leichte Anspannen ihres Kiefers, wenn ein Reporter darüber sprach, wie die Kinder letztlich freigekauft wurden.

Wie es letztlich ein Happy End gab.

Allein bei dem Gedanken daran war Dallas ebenso sehr zum Lachen wie zum Weinen zumute.

Klar, die Kinder hatten überlebt.

Genau wie Dallas und Jane.

Aber das war noch lange kein Happy End. Dallas wusste das. Jane wusste das.

Und ganz sicher wussten es diese traumatisierten Kinder ebenfalls.

Er wollte erneut nach dem Scotch greifen und zog seine Hand dann bewusst zurück. Der Abend hatte eine interessante Wendung genommen, und er wollte einen klaren Kopf behalten, egal wie verlockend es war, seine Gedanken an Jane mit Alkohol fortzuspülen.

Er ließ das Glas im Bücherregal stehen und drehte sich wieder dem Raum zu. Dabei entdeckte er, dass die Blondine in der Zwischenzeit zum Bettrand gekrochen war, während die Rothaarige auf ihn zukam und ihre Hüften aufreizend schwang.

Er musste dem Impuls widerstehen, ihnen zu sagen, dass sie sich anziehen und nach Hause gehen sollten, denn in diesem Moment war er wirklich nicht in der Stimmung.

Aber das spielte keine Rolle. Der Dallas Sykes, den er erschaffen hatte, war immer in der Stimmung. Zumindest war das die Illusion, die er aufrechterhielt.

Er hob den Zeigefinger, um die Rothaarige zu bremsen, und legte missbilligend seinen Kopf schief, als sie ihn irritiert ansah. »Zurück aufs Bett«, sagte er zu ihr. »Dein Mund. Ihre Muschi.«

Als sie nicht sofort gehorchte, ging er zu ihr. Er hörte ihren abgehackten, erregten Atem, und der letzte Rest seiner Zurückhaltung schwand dahin. Er wollte das hier. Gott, er brauchte es. Nicht sie selbst, aber ihre Bereitwilligkeit. Ihre Unterwürfigkeit.

Er glitt mit der Hand zwischen ihre Schenkel und steckte zwei Finger in sie. Sie stöhnte, ein tiefer, wilder Klang, der durch ihn hindurchrollte und ein tiefes, primitives Bedürfnis befriedigte.

»Los«, sagte er. »Bis ich dir sage, dass du aufhören darfst.«

Sie leckte sich die Lippen, die Augen glasig vor Verlangen. Dann kehrte sie nackt aufs Bett zurück und vergrub ihr Gesicht hingebungsvoll zwischen den wartenden Schenkeln der Blondine.

Ein Hochgefühl der Genugtuung durchfuhr ihn, während er noch staunte, wie eifrig sie seinen Befehlen nachkam. Wie begierig. Er hatte sie vollkommen unter Kontrolle. Genau wie Müller. Genau wie bald schon den sechsten Entführer.

»Sorry, dass ich deine Party störe«, sagte Liam trocken, als Dallas sein Handy hochnahm und auf den Balkon zurückkehrte.

»Fick dich«, antwortete er voller Zuneigung.

»Danke für das Angebot, Kumpel, aber ich glaube, du hast schon alle Hände voll zu tun.«

Dallas musste beinahe lachen. Von all seinen Freunden war Liam derjenige, der am besten verstand, was Dallas tat – und weshalb. Aber während sie noch vor wenigen Momenten in Feierlaune gewesen waren, hatte sich nun der Wind gedreht. Auch wenn er sich größte Mühe gab, einen unbeschwerten Ton anzuschlagen, konnte Dallas den herben Beiklang in Liams Stimme hören. Die Frustration. Ja, gar Niedergeschlagenheit.

Nicht dass er scharf darauf war, es zu erfahren, aber er war auch niemand, der vor schlechten Neuigkeiten davonlief. »Erzähl«, forderte er seinen Freund auf.

»Offenbar steht unser Mister Ortega bei vielen Leuten auf der schwarzen Liste. Noah hat mir gerade bestätigt, dass die lokalen Behörden ihm auf den Fersen sind ebenso wie Interpol und vermutlich auch das FBI.«

Dallas stieß einen Fluch hervor.

»Es kommt noch schlimmer«, fuhr Liam fort. »Offenbar gilt er seit sechsunddreißig Stunden als vermisst.«

»Jemand anders hat ihn vor uns geschnappt.« Die Worte kamen ihm nur schwer über die Lippen. All die Zeit, all die Arbeit, die sie in diesen Fall gesteckt hatten – und jetzt sollte ihnen der Hauptpreis nur wegen eines einzigen Tages durch die Lappen gegangen sein? Zum Teufel damit.

»Und man muss kein Hellseher sein, um zu wissen, welchen Trumpf er ausspielt, wenn er versuchen wird, einen Deal auszuhandeln.«

»Nein, da braucht es wahrlich keinen Hellseher«, pflichtete Dallas bei. »Er muss lediglich über die Sykes-Entführung auspacken – aussagen, dass er sicher weiß, dass es eine gab und er den Drahtzieher benennen kann –, und schon ist Ortega der strahlende Held irgendeiner Behörde und darf sich über Immunität und anerkennendes Schulterklopfen freuen.«

Drinnen schrie eine der beiden Frauen verzückt auf.

Draußen auf dem Balkon schloss Dallas verzweifelt die Augen.

Er holte tief Luft, kämmte sich dann mit den Fingern durch sein zerzaustes Haar und suchte krampfhaft nach einer Lösung. Nach irgendeiner magischen Formel. »Falls eine der Behörden vor uns herausfindet, wer sich hinter dem Wärter verbirgt …«

Er machte sich nicht die Mühe, den Satz zu vollenden. Das brauchte er auch nicht.

Seit siebzehn Jahren träumte er davon, den Hurensohn umzubringen, der Jane und ihn entführt hatte. Er hatte sich abgerackert. Er hatte Pläne geschmiedet. Er hatte Recherchen angestellt, Befragungen durchgeführt, nicht lockergelassen und gebetet. Und als er alle Puzzleteile beisammenhatte, hatte er damit begonnen, das Team zusammenzustellen.

Jetzt lief Deliverance auf vollen Touren und war auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Eine schlanke, effiziente Maschinerie. Ein gottverdammtes Meisterwerk, das im Verborgenen wie am Schnürchen lief.

Ja, bei Deliverance ging es darum, Menschen zu befreien. Aber es ging auch um Gerechtigkeit. Es ging um Rache. Und jeder im Team wusste das. Nichts wurde beschönigt. Nichts wurde durch Prozesse oder Regeln weichgespült. Deliverance machte die Bösewichte ausfindig. Und tat alles, was erforderlich war, um sie zu bestrafen und die Opfer wieder heil nach Hause zu bringen.

Wenn die Regierung den Wärter ausfindig machen sollte, würde man gegen ihn prozessieren.

Deliverance hingegen würde ihn exekutieren.

Und keine Macht der Erde konnte Dallas davon abbringen. Er hatte so lange von diesem Moment geträumt. Ihn immer und immer wieder gedanklich durchgespielt.

Diese Fantasie hatte ihn während der langen Nächte in der Dunkelheit aufgerichtet. Während der endlosen Stunden, in denen er allein war. In denen er gefoltert wurde. Gedemütigt wurde.