Dornröschenschlaf - Banana Yoshimoto - E-Book

Dornröschenschlaf E-Book

Banana Yoshimoto

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Beschreibung

Schlafsucht, Alkohol, geheimnisvolle Begegnungen ­ drei Geschichten von der Nacht und vom Wiedererwachen aus tiefem Schlaf, drei Geschichten über Frauen, deren Herzen und Seelen nicht zur Ruhe kommen. »Diese drei Geschichten sind sozusagen Geschwister ­ in gewissem Sinne könnte man sie vielleicht sogar als eine einzige große Erzählung ansehen.« Banana Yoshimoto"

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Seitenzahl: 196

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Banana Yoshimoto

Dornröschenschlaf

Drei Erzählungenvon der Nacht

Aus dem Japanischenvon Annelie Ortmanns, Gisela Ogasaund Anita Brockmann

Titel der 1989 bei Fukutake

Publishing Co., Ltd., Tokyo,

erschienenen Originalausgabe:

›Shirakawa Yofune‹

Copyright ©1989 by Banana Yoshimoto

Die deutsche Erstausgabe erschien 1998

im Diogenes Verlag

Die deutschen Übersetzungsrechte

mit der Genehmigung von

Fukutake Publishing Co., Ltd.,

unter Vermittlung des

Japan Foreign-Rights Center

Dornröschenschlaf und das Nachwort der Autorin

wurden von Annelie Ortmanns übersetzt,

Wanderer der Nacht von Gisela Ogasa

und Eine geheimnisvolle Erfahrung

von Anita Brockmann

Umschlagfoto von

Lee Lim Chee

Copyright ©Lee Lim Chee

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23264 6 (5. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60645 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]Inhalt

Dornröschenschlaf  [7]

Wanderer der Nacht  [77]

Eine geheimnisvolle Erfahrung  [131]

[7]Dornröschenschlaf

Wann hat das bloß angefangen, daß ich immer so viel schlafe, wenn ich alleine bin?

Der Schlaf überschwemmt mich wie die Flut den Meeresstrand: zu spät – Widerstand zwecklos. Dieser Schlaf ist so unendlich tief, daß weder das Klingeln des Telefons noch der Straßenlärm von draußen an mein Ohr dringen. Dort, in dieser anderen Welt, ist nichts, was mich bedrücken könnte, keine Trauer, keine Einsamkeit, nichts als tiefer, tiefer Schlaf.

Nur der Augenblick des Aufwachens fühlt sich ein wenig verlassen an. Ein Blick in den leicht bewölkten Himmel sagt mir, daß geraume Zeit vergangen sein muß, seit ich eingeschlafen bin. Ich wollte doch gar nicht schlafen, und jetzt hab ich wieder den ganzen Tag verpennt…, denke ich benommen. Die Reue lastet bleischwer wie eine schmachvolle Niederlage auf mir, und plötzlich läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Wann habe ich bloß angefangen, mich mit Haut und Haar dem Schlaf zu überlassen? Wann habe ich jeden Widerstand aufgegeben…? Wie lange liegt die Zeit zurück, in der ich putzmunter, quicklebendig und immer hellwach war? So unwahrscheinlich weit liegt das zurück – es muß in grauer Vorzeit gewesen sein. Erinnern kann ich mich daran [8]nur noch in nebulösen Bildern, wie aus tiefster Vergangenheit, auf denen Farne und Dinosaurier mir wild und grell ins Auge blitzen.

Einzig und allein den Anruf meines Liebsten erkenne ich auch im Schlaf.

Das Klingeln des Telefons hört sich deutlich anders an, wenn Iwanaga anruft. Keine Ahnung, wieso, aber ich kann das nun mal genau unterscheiden. Im Gegensatz zu allen anderen Geräuschen, denen man anhört, daß sie von außen kommen, klingt sein Telefonläuten mir angenehm im Kopf drinnen, als hätte ich Kopfhörer auf. Und wenn ich dann aufstehe und den Hörer abnehme, nennt er mit dieser unheimlich tiefen Stimme, bei der einem heiß und kalt wird, meinen Namen.

»Terako?«

Ich sage: »Ja«, worauf er ein wenig über meine ausnehmend hohl klingende Stimme lacht, und dann kommt jedesmal dieselbe Frage:

»Madame haben wohl wieder geruht?«

Ich liebe es so sehr, wenn er, der mir gegenüber sonst absolut keine Höflichkeitsfloskeln benutzt, plötzlich so mit mir redet, daß es mir beim Klang dieser Worte immer vorkommt, als bräche die Welt über mir zusammen. Mir wird schwarz vor den Augen, als würden die Rolläden heruntergelassen. Ich horche dem Nachhall seiner Worte noch ewig lange hinterher.

Wenn ich dann wieder zu mir gekommen bin, sage ich schließlich: »Ja, ich hab geschlafen.«

Das letztemal rief er an einem verregneten Abend an. Es [9]goß in Strömen, und unter der Glocke aus prasselndem Regen und bleischwerer Himmelsfarbe, die über der Stadt lag, bekam das Telefon als einzige Verbindung zur Außenwelt plötzlich eine ungeheure Bedeutung für mich.

Sobald seine Stimme anfängt, mir Uhrzeit und Treffpunkt für unsere Verabredung mitzuteilen, überkommt mich Unmut. Statt dessen sollte er lieber noch mal mein geliebtes »Madame haben wohl wieder geruht?« zum besten geben! Während ich den Fan markiere, der mit den Füßen auf den Boden stampft und: »Zu-ga-be! Zu-ga-be!« brüllt, greife ich zu Papier und Bleistift. Okay, um soundsoviel Uhr, ja, an demunddem Ort, alles klar.

Wenn mir jemand garantieren könnte, daß das, was zwischen uns beiden gerade abläuft, die wahre Liebe ist, dann würde ich demjenigen wahrscheinlich vor lauter Erleichterung die Füße küssen. Falls es aber irgendwann aus und vorbei sein wird, dann will ich auch bitte schön sein Telefonklingeln nicht mehr erkennen können, denn dann möchte ich auf der Stelle einschlafen und nie mehr aufwachen. Ich wünsche dann unverzüglich, in Ruhe gelassen zu werden.

Erschöpft und müde vor lauter Ungewißheit sehe ich unserem zweiten gemeinsamen Sommer entgegen, anderthalb Jahre nachdem wir uns kennengelernt haben.

»Meine Freundin ist gestorben.«

Seit fast zwei Monaten drücke ich mich nun schon davor, diesen Satz auszusprechen. Obwohl ich sicher bin, daß er mir ganz ernst zuhören würde, wenn ich es täte, habe ich es ihm immer noch nicht sagen können – ich weiß selbst nicht, warum.

[10]Jede Nacht zerbreche ich mir den Kopf: Soll ich es sagen? Soll ich damit anfangen, jetzt sofort?

Ich gehe neben ihm her und suche nach Worten.

Meine Freundin ist gestorben. Du hast sie nie kennengelernt. Sie war meine beste Freundin, Shiori hieß sie. Nach der Uni ist sie in einen total verrückten Job eingestiegen. Hmmh, wie soll ich sagen, sie war im Dienstleistungsgewerbe… eine Art verfeinerte Prostitution sozusagen. Sie war aber wirklich in Ordnung, wir haben zusammen gewohnt, als wir zur Uni gingen, in der Wohnung, in der ich jetzt alleine lebe. Einfach perfekt war das, echt. Wir hatten Spaß ohne Ende. Es gab nichts, was uns hätte Angst einjagen können, wir haben immer über alles mögliche geredet, die Nächte zusammen durchgemacht, uns total besoffen und so. Auch wenn einer von uns draußen was Schlimmes passiert war – sobald sie oder ich zur Tür reinkam, wurde zuerst Zeter und Mordio geschrien, dann wurde die Sache durch den Kakao gezogen, und schon war sie vergessen. Einfach klasse war das! Über dich hab ich mich auch oft mit ihr beratschlagt. Na ja, beratschlagen kann man das vielleicht nicht nennen, das war schon eher lästern, schimpfen und so… Und vorgeschwärmt hab ich ihr von dir! Was man halt so macht… Wir haben uns immer alles erzählt. – Zwischen dir und mir, das ist was anderes, du weißt schon – Frauen und Männer können sowieso nie richtige Freunde werden, oder? Und wenn man endlich soweit ist, daß es gemütlich wird miteinander, ist die Liebe futsch. – Shiori und ich, wir haben uns richtig gut verstanden. Wenn ich mit ihr zusammen war… ach, ich kann das schlecht [11]beschreiben, also… wenn einem die Last des Lebens gerade mal wieder so richtig die Schultern runterdrückte, verstehst du?, dann… mit Shiori erschien sie einem plötzlich nur noch halb so schwer. Es wurde einem leicht ums Herz, ohne daß sie groß was zu tun brauchte, und ganz gleich, wie nah man sie an sich ranließ, nie klebte sie an einem, sie hielt immer genau den richtigen Abstand und tat einfach nur gut. Es war schön, eine richtige Freundin zu haben. Du warst da, und Shiori war da – ich hab zwar zu der Zeit immer unheimlich gelitten, aber das waren nur so Kinderwehwehchen. Wenn ich heute daran zurückdenke, kommt’s mir vor wie ein einziges großes Fest! Himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, jeden Tag. Shiori war schon eine tolle Frau, eine echte Freundin; wenn sie einem aufmerksam zuhörte, hat sie immer genickt und so ein bißchen aus den Mundwinkeln heraus gelächelt. Und dabei bekam sie diese Grübchen. Aber Shiori hat sich umgebracht. Da war sie längst schon bei mir ausgezogen und lebte alleine in so einer Luxusbude. Gestorben ist sie aber in ihrem kleinen Einzelbett, nachdem sie massenweise Schlaftabletten genommen hatte. Wo doch in ihrem Arbeitszimmer so ein riesengroßes Himmelbett stand, weißt du, so eins mit luftig weichen Plumeaus, in denen die Fürsten im Mittelalter geschlafen haben – wieso bloß hat sie sich zum Sterben nicht das ausgesucht? Ich weiß einfach keine Antwort darauf, obwohl ich ihre Freundin war! So wie ich sie kannte, hätte sie selbst garantiert für das große plädiert, nach dem Motto: »Weil man darin bestimmt bessere Chancen hat, in den Himmel zu kommen.« Von ihrem Tod erfuhr ich am Telefon, durch ihre Mutter, die aus ihrem Heimatort hergeflogen war. Ich traf sie dann [12]zum ersten Mal – die Ähnlichkeit mit Shiori war verblüffend, mir wurde ganz warm ums Herz, und dann hat sie mich auch noch nach Shioris Arbeit gefragt – aber darauf konnte ich ihr einfach keine Antwort geben.

Ach, hat doch alles keinen Zweck, Mensch! Nicht mal annähernd vernünftig ausdrücken kann ich es. Ich weiß genau, je mehr ich versuche, meine Gedanken rüberzubringen, desto schneller sprudeln die Wörter aus mir heraus, zerfallen zu Staub und werden in alle Winde verweht – deshalb lasse ich sie erst gar nicht über die Lippen kommen. Nichts kann ich auf diese Weise rüberbringen, rein gar nichts. Letztlich zählt sowieso nur, daß meine Freundin tot ist. Was in aller Welt kann ich denn sagen, um meine ganze Trauer auszudrücken…

…denke ich unter einem Nachthimmel, dem man schon den nahen Sommer anmerkt. Während wir über die große Fußgängerbrücke vor dem Bahnhof gehen, sagt er:

»Morgen muß ich erst mittags in der Firma sein.«

In langen, glänzenden Schlangen winden sich in weiter Ferne Autos um eine Kurve. Auf einmal kommt mir die Nacht schier unendlich vor, und ich bin glücklich. Das mit Shiori ist wie weggeblasen.

»Dann können wir ja irgendwo übernachten zusammen«, sage ich ausgelassen und nehme seine Hand, worauf er, wie immer mit einem kleinen Lächeln von der Seite, sagt: »Ja, genau.«

Ich bin überglücklich. Ich liebe die Nacht. Zum Wahnsinnigwerden. In der Nacht sieht immer alles machbar aus, und deswegen werde ich kein bißchen müde.

[13]Zusammen mit ihm bekomme ich von Zeit zu Zeit das »Ende der Nacht« zu Gesicht. Ein Anblick, den ich nie zuvor erlebt habe.

Nicht währenddessen, das meine ich nicht. Währenddessen verliert sich nur der Abstand zwischen uns, auch unsere Seelen schweifen nicht mehr ab. Er ist jemand, der beim Sex kein Wort sagt, also absolut keinen Ton; deshalb versuche ich zwar immer, irgend etwas aus ihm herauszulocken, um ihn zu ärgern, aber eigentlich mag ich sein Schweigen richtig gern. Ich habe dann das Gefühl, als schliefe ich durch ihn hindurch mit der riesigen Nacht. Solange er nichts sagt, fühle ich nicht nur ihn in meinen Armen, sondern sein ganzes wahres Wesen, vom tiefsten Grunde seines Herzens. Bis er »Wollen wir allmählich schlafen?« sagt und sich von mir löst, brauche ich an nichts zu denken. Ich brauche nichts weiter zu tun, als die Augen zu schließen und sein wahres Wesen zu fühlen.

Es passiert später, tief in der Nacht.

Es ist immer gleich, egal, ob wir in einem großen Hotel sind oder in einer billigen Absteige hinterm Bahnhof. Mitten in der Nacht werde ich plötzlich mit dem Gefühl wach, Wind oder Regen zu hören.

Und weil ich dann immer unbedingt hinaussehen möchte, öffne ich das Fenster. Leise streicht ein kühler Wind ins stickige Zimmer, und ich sehe die Sterne funkeln. Oder es fängt sachte an zu regnen.

Und wenn dann zufällig, nachdem ich mir das eine Weile angesehen habe, mein Blick auf ihn an meiner Seite fällt, hat er, von dem ich geglaubt habe, daß er fest schläft, die Augen weit offen. Aus unerfindlichen Gründen fehlen mir [14]die Worte, ich schaue ihm nur still und tief in die Augen. Obwohl er im Liegen wohl kaum hinaussehen kann, ist sein Blick hell und klar, so als würde er die Aussicht und die Geräusche von draußen wahrnehmen.

»Was gibt’s da draußen?« fragt er mich ganz ruhig und leise.

»Regen«, antworte ich, oder: »Wind«, oder: »Es ist ganz klar, und man kann die Sterne sehen.« Irgendwie fühle ich mich einsam und verlassen dabei, und meine Stimmung droht umzukippen. Warum bin ich nur so einsam, wenn ich mit ihm zusammen bin? Vielleicht wegen dieser komplizierten Situation, in der wir uns befinden; vielleicht liegt es auch daran, daß mir zu allem, was uns beide betrifft – mit Ausnahme meiner Liebe zu ihm–, das eindeutige Gefühl fehlt: Ich kann nicht sagen, was ich von unserer Beziehung erwarte.

Das einzige, worüber ich mir die ganze Zeit schon im klaren bin, ist, daß unsere Liebe auf Einsamkeit gebaut ist. Still geduckt sitzen wir beide in strahlend öder Finsternis und können uns nicht lösen aus der bleiernen, lähmenden Gemütlichkeit dort.

Dort ist das Ende der Nacht.

In der kleinen Firma, in der ich nach der Uni eine Stelle gefunden hatte, ist immer dermaßen hektisch viel los gewesen, daß mir keine Sekunde mehr blieb, ihn zu sehen; also hab ich kurzerhand gekündigt. Jetzt ist es bald ein halbes Jahr her, seit ich keinerlei Arbeit mehr nachgehe. Ich habe die meisten Tage damit verbracht, in aller Ruhe für mich alleine einzukaufen und meine Wäsche zu waschen – ich hab ja nichts zu tun tagsüber.

[15]Ich kann bequem leben, da ich etwas auf der hohen Kante habe – nicht viel zwar, aber immerhin – und er mir außerdem jeden Monat eine erstaunlich hohe Summe überweist, weil ich die Stelle schließlich seinetwegen an den Nagel gehängt hätte. »Na bitte – jetzt werd ich schon ausgehalten wie eine typische Geliebte!« dachte ich anfangs und habe kurz gezögert, aber dann entschloß ich mich doch, das Geld dankend anzunehmen, getreu meinem Lebensmotto: Erst mal nehmen, was man kriegen kann. Das heißt, vielleicht verpenne ich meine ganze Zeit ja auch nur, weil ich nichts zu tun habe. Ich weiß zwar nicht, wie viele junge Frauen es von meiner Sorte noch gibt in Japan, doch all jene seltsam blaß und matt wirkenden Geschöpfe, denen ich tagsüber in den Kaufhäusern begegne und die weder wie Studentinnen noch wie Freiberuflerinnen aussehen, sind womöglich ähnlich gelagerte Fälle, davon bin ich fast überzeugt. Denn dieses Umherirren mit völlig ziellosen Blicken kenne ich nur allzu gut.

An einem sonnigen Nachmittag, als ich gerade mal wieder so durch die Straßen bummele, läuft mir zufällig ein Freund über den Weg.

»Heeey, wie geht’s?« rufe ich und renne auf ihn zu. Er ist ein Freund aus Unizeiten, ein sehr verläßlicher, lieber Mensch. Shiori ist mal mit ihm zusammengewesen, wenn auch nur für ziemlich kurze Zeit. Ein paar Monate haben sie sogar zusammengelebt.

»Gut, guuut«, sagt er und lacht.

»Was denn – sag bloß, du bist im Dienst?«

Er trägt ein schwarzes Hemd und eine Baumwollhose, was wirklich total nach Freizeitdreß aussieht, und der Umschlag in seiner Hand ist das einzige, was er bei sich hat.

[16]»Was denkst denn duuu! Ich bin gerade auf dem Weg, etwas auszuliiiefern. Du scheinst immer noch zuviel Zeit zu haben, tyyypisch!« Er hat die Angewohnheit, beim Sprechen immer so süß die Wörter langzuziehen, was sich unheimlich nett anhört. Er steht da unter blauem Himmel und strahlt über beide Ohren.

»Genau. Ich hab Zeit. Absolut nix zu tun«, sage ich.

»Beneidenswert! La dolce viiita!«

»Eben. – Hör mal, du gehst doch bestimmt zum Bahnhof, oder? Dann laß mich doch einfach mitgehen bis zur Ecke da drüben!« Wir setzen uns in Bewegung.

Der blaue Himmel strahlt seltsam kraß, die Umrisse der Gebäude wirken wie ausgeschnitten – ich komme mir schon die ganze Zeit vor wie in einem fremden Land. High Noon in der Stadt bei Sonnenschein kann einem das Gedächtnis und alles ganz schön durcheinanderbringen. Um so schlimmer mitten im Sommer. Ich höre meine nackten Arme förmlich in der Sonne brutzeln.

»Mensch, ist das haaaiiiß!«

»Ja, echt heiß heute!«

»Duuu, ich hab gehört, Shiori ist tooot…!?« sagt er. »Ich hab’s gerade erst erfaaahren.«

»Ja. Ihre Eltern sind extra hierher gekommen aus ihrem Heimatort, es war schrecklich!« Eine selten blöde Reaktion von mir!

»Kann ich mir vooorstellen. Sie soll ja so einen seltsamen Job gehabt haaaben…?«

»Ja, wirklich. Ich hab auch gedacht: Es gibt die eigenartigsten Sachen auf der Welt, mit denen man sein Geld machen kann.«

[17]»Ist sie deswegen gestorben, ich meine, wegen ihrer Aaarbeit?«

»…Ich weiß es nicht. Aber ich glaube eher nicht.«

»Tja, sie selbst wird wohl auch die einzige sein, die das wissen kann. Trotzdem, sie war doch immer so gut drauf und so ein liiieber Mensch! Ich kann mir einfach nicht vooorstellen, was ihr dermaßen auf der Seele gelegen haben soll, daß sie lieber tooot sein wollte.«

»Ich auch nicht.«

Wir schweigen eine Weile und trotten langsam die breite Straße hinunter. Autos fahren vorbei, die Sonne scheint uns direkt ins Gesicht und blendet. Shiori mit nassen Haaren, Shiori beim Nägelschneiden, Shioris Rücken, wenn sie Geschirr abwäscht, ihr schlafendes Gesicht in der Morgensonne… den Menschen da neben mir und mich verbinden diese Szenen, die nur jemand kennen kann, der mit ihr zusammengelebt hat. Diese Vorstellung ist irgendwie sehr verwirrend.

»Und duuu? Brichst du immer noch die Eeehe?« fragt er plötzlich und grinst.

»Ich verbitte mir diese Ausdrucksweise!« sage ich, muß aber auch grinsen. »Aber klar, getrennt haben wir uns jedenfalls noch nicht.«

»Bring dein Liebesleben endlich mal in Ooordnung!« Er sagt das ganz unbekümmert, ohne jeden dunklen Unterton, und das schlägt bei mir um so schwerer ein. »Seit ich dich kenne, hast du immer so einen erwachsenen Eindruck gemacht. Scheinst ein Faible für ältere Männer zu haben, wiiie?«

»Wo du recht hast, hast du recht.« Ich lächele.

[18]Und das, wo ich doch alles so wahnsinnig ernst nehme in diesen Dingen – ich fange schon an, am ganzen Leib zu zittern, wenn ich nur daran denke, daß diese Liebe zu Ende gehen könnte. Andererseits verhalte ich mich die ganze Zeit so, als würde es mich nicht groß wundern, wenn es irgendwann aus wäre – trotzdem, die Flamme meines Gefühls brennt leise weiter.

»Tja, dann tschüüüs, bis irgendwann mal. Gib mir Bescheid, falls es ein Treffen mit den Leuten von früher geben sollte«, sagt er, als wir uns dem Eingang zur U-Bahn-Station nähern, hebt kurz die Hand zum Gruß und verschwindet die Treppe hinunter in den schummrigen Untergrund. Der Abschied fällt mir irgendwie schwer; ich stehe in der sengenden Sonne und sehe ihm lange nach. Eine Leere macht sich in mir breit, als hätte sein Rücken alles Helle, Frohe aus meinem Herzen mit sich fortgetragen.

Damals, sofort nachdem sie mit ihm Schluß gemacht hatte, war Shiori in meine Wohnung eingefallen. Sie bekam von zu Hause regelmäßig Unterhalt, und sie war eigentlich jemand, der es liebte, in geregelten Verhältnissen zu wohnen, aber aus irgendeinem Grund hatte sie keinen Bock auf eine eigene feste Wohnung, und jedesmal, wenn sie umzog, ließ sie kurzerhand alles zurück, ob das nun Bücher waren oder Geschenke. Sie hasse es, Ballast anzuhäufen, sagte sie. Mit genau 1Kopfkissen, 1Frotteedecke und 1Reisetasche zog sie aus seiner Wohnung zu mir. Obwohl sie gar nicht wie jemand wirkte, der es alleine nicht aushält, schien es ihr Hobby zu sein, ihre Anwesenheit auf die Wohnungen ihrer Freunde zu verteilen.

[19]»Warum hast du ihn verlassen?« fragte ich sie.

Sie antwortete: »Tja – warum? Also, sieh doch mal: Ich war schließlich der Schmarotzer! Bevor ich nicht ausgezogen bin, kann man gar nicht anfangen, über die Sache zu diskutieren.« Sie sprach in Rätseln.

»Was hast du denn an ihm geliebt?« fragte ich.

»Er redet so süß, findest du nicht?« sagte sie und lächelte ein wenig wehmütig. »Aber als ich dann bei ihm wohnte, mußte ich zur Genüge erfahren, daß er bei weitem nicht immer so lieb und süß ist. Mit dir zu leben macht viel mehr Spaß, Terako! Du bist wenigstens immer nett!«

Shiori strahlte wieder, als sie das sagte. Mit ihren weißen Wangen und den matten Augen erinnerte ihr Lächeln an ein Marsh Mallow. Damals gingen wir beide noch zur Uni, und obwohl unser Lebensrhythmus daher fast gleich war, wir also ständig zusammensteckten, haben wir uns kein einziges Mal gestritten. Shiori integrierte sich im Nu in meine Wohnung und war so selbstverständlich da, als sei sie von der Zimmerluft absorbiert worden.

Nicht, daß ich lesbisch wäre oder so, aber wenn ich mit Shiori zusammen war, dachte ich manchmal wirklich: Im Grunde meines Herzens mag ich Frauen vielleicht viel lieber als Männer. So eine tolle Frau war sie, und so phantastisch haben wir uns verstanden. Sie sah blaß aus, war pummelig, hatte sehr schmale Augen und einen großen Busen. Als Schönheit konnte man sie also nicht gerade bezeichnen; mit ihrem allzu sanftmütigen Gehabe und ohne einen Funken von dem, was man gemeinhin Sex-Appeal nennt, war sie eher der »Mutti-Typ«. Sie war nicht sehr gesprächig, einfach nur sehr weiblich, und wenn ich an Shiori [20]denke, erinnere ich mich kaum an ihre äußere Erscheinung, sondern immer nur an das, was sie umgab: ihre sanfte Aura. Als sie noch da war, habe ich manchmal in ihr offenes, fast schattenloses Lächeln geblickt, in diese Augen, um die sich dann Fältchen bildeten, und hätte am liebsten – ohne daß ich gewußt hätte, warum – mein Gesicht in ihren riesengroßen Busen vergraben, bitterlich geweint und mir alles, aber auch alles, von der Seele geredet. Meine Fehler, meine Lügen, meine Zukunftssorgen, meine Müdigkeit, meine Zugeständnisse, die dunklen Nächte, meine Ängste – einfach alles. Ich wollte an meinen Vater, meine Mutter, den Mond in meiner Heimat und die wechselnden Farben des Windes über den Feldern denken.

Diese Art von Frau war Shiori.

Obwohl es ja nur ein paar Minuten waren, hat mich das Treffen mit dem Freund von früher völlig durcheinandergebracht. Alleine kehre ich unter einer sengenden Sonne, von der einem fast schwarz vor den Augen wird, nach Hause zurück. In meine Wohnung fällt nachmittags sehr viel Sonne. Im blendenden Licht nehme ich mit benommenem Kopf die trockene Wäsche ab. Das weiße Laken, das meine Wange streift, verströmt den angenehmen Duft frischgewaschener Baumwolle.

Irgendwie werde ich müde. Während ich so die Wäsche zusammenlege – die Sonne fällt mir auf den Rücken wie ein Brausestrahl, und die Klimaanlage umsäuselt mich mit ihrem kühlen Wind–, fallen mir allmählich die Augen zu. Die Mittagsschläfchen, in die man bei solchen Gelegenheiten sinkt, sind normalerweise besonders angenehm. Man [21]meint, in goldene Träume einzutauchen. Ich ziehe mir nur den Rock aus und verkrieche mich einfach so ins Bett. Aber in letzter Zeit träume ich nicht mal mehr. Es wird sofort stockfinster.

Das Telefonklingeln, das sich plötzlich in meinen Schlaf bohrt, holt mich wieder ins Bewußtsein zurück. Er ist es, denke ich und stehe mit einem Blick zur Uhr auf: Nicht mal zehn Minuten sind vergangen, seit ich eingeschlafen bin. Wäre es jemand anders, nie und nimmer hätte ich etwas gehört, ich hätte einfach weitergepennt. – Würde einem so was als übersinnliche Fähigkeit angerechnet, ich glaube, ich könnte ein klasse Medium abgeben.

»Terako?« sagt er, als ich den Hörer abnehme.

»Ja, ich bin’s.«

»Madame haben wohl wieder geruht?« sagt er irgendwie froh. Und weil ich mich beim Klang dieser Worte immer gut fühle, muß auch ich unwillkürlich vor mich hin lächeln.

»Ja, aber ich war gerade dabei aufzustehen.«

»Wer’s glaubt, wird selig! Apropos: Was hältst du davon, wenn wir heute abend zusammen was spachteln gehen?«

»Gute Idee!«

»Tja, dann bis nachher, da, wo wir uns immer treffen, um halb acht, ja?«

»Okay.«

Ich lege auf; das Zimmer ist nach wie vor lichtüberflutet und still. Alles wirft dunkle, klar umrissene Schatten auf den Boden: ausgeschnittene Zeit. Ich schaue mir das eine Weile an, bekomme aber zu nichts Lust und gehe einfach wieder ins Bett. Vorm Einschlafen denke ich noch ein bißchen über Shiori nach.

[22]Der Mann da vorhin – der Mann, den Shiori zuletzt geliebt hatte – hat mich gefragt, ob sie sich »wegen der Arbeit« umgebracht hätte. Geantwortet habe ich, ich wüßte es nicht, aber gedacht habe ich im Grunde meines Herzens, daß das wohl doch die richtige Erklärung war.