Kitchen - Banana Yoshimoto - E-Book
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Banana Yoshimoto

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Beschreibung

Als Mikage ihre Großmutter verliert, ist sie vollkommen allein in der großen Wohnung. Nur in der Küche, wo sie das Brummen des Kühlschranks in den Schlaf wiegt, kommt sie zur Ruhe. Aus ihrer Einsamkeit holt sie Yuichi. Er schlägt ihr vor, zu ihm und seiner Mutter zu ziehen. Es entwickelt sich eine merkwürdige Wohngemeinschaft. Denn Eriko, die wunderschöne »Mutter« Yuichis, hat eine schillernde Vergangenheit.

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Seitenzahl: 223

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Banana Yoshimoto

Kitchen

Aus dem Japanischenvon Wolfgang E. Schlecht

Mit einem Essayvon Giorgio Amitrano

Titel der 1988 bei

Kadokawa Group Publishing Co., Ltd., Japan,

erschienenen Originalausgabe: ›Kitchin‹

Copyright © 1988 by Banana Yoshimoto

Alle Rechte vorbehalten

Die deutsche Erstausgabe erschien

1992 im Diogenes Verlag

Die deutschen Übersetzungsrechte

mit der Genehmigung von Banana Yoshimoto,

unter Vermittlung von Zipango, S.L.

Der Essay von Giorgio Amitrano wurde

der 1991 bei Feltrinelli, Mailand,

erschienenen italienischen Ausgabe von

›Kitchen‹ entnommen

Abdruck mit freundlicher Genehmigung

Aus dem Italienischen von Renate Heimbucher

Umschlagillustration von Heinz Ita

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2014

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22700 0 (17.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60425 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Kitchen  [7]

Vollmond (Kitchen 2)  [57]

Moonlight Shadow  [135]

Nachwort der Autorin  [185]

Glossar  [187]

»Das Phänomen Banana Yoshimoto«

[7] Kitchen

[9] Der liebste Platz auf dieser Welt ist mir die Küche.

Ganz gleich, was sonst geschieht – in einer Küche, an einem Ort, an dem man kochen kann, da geht’s mir gut. Wenn diese Küche auch noch praktisch ist und alles darin seinen festen Platz hat, wenn überall saubere Tücher hängen und die weißen Fliesen funkeln und blitzen, dann ist’s perfekt.

Doch auch für wahnsinnig schmuddelige Küchen kann ich mich begeistern.

Für Küchen etwa, deren Boden mit Gemüseresten übersät ist und so schmutzig, dass die Sohlen meiner Schlappen schwarz werden, und deren Boden eine Riesenfläche hat; so was finde ich toll. Vielleicht ragt darin ein riesiger Kühlschrank auf, vollgestopft mit Lebensmitteln, so vielen, dass man leicht über den ganzen Winter kommt. Vor dem stehe ich, gelehnt an seine metallene Tür. Wenn ich den Blick vom fettbespritzten Gasherd und den angerosteten Messern hebe, leuchten draußen vor dem Fenster einsam die Sterne.

Übrig geblieben bin dann ich und die Küche. Ein tröstlicher Gedanke, wenn ich mir vorstelle, nur ich allein wäre noch da.

Manchmal, wenn ich total am Ende bin, denke ich mir: Wenn ich einmal sterben muss, dann will ich meinen letzten Atemzug in einer Küche tun. Ganz gleich, ob ich allein bin und es kalt ist, ob jemand bei mir sitzt und es warm ist: [10] Furchtlos will ich da den Dingen entgegensehen. Wenn es nur in einer Küche wäre, denke ich – wie schön!

Bevor mich die Tanabes aufgelesen haben, schlief ich nachts immer in der Küche.

Da ich anfangs, wo ich mich auch hinlegte, nur schwer einschlafen konnte, bewegte ich mich auf der Suche nach einem angenehmeren Schlafplatz immer weiter von meinem Zimmer weg. Bis ich eines frühen Morgens herausfand, dass ich neben dem Kühlschrank am besten schlief.

Ich, Mikage Sakurai, habe Vater und Mutter verloren, als sie noch jung waren. Meine Großeltern haben mich aufgezogen. Als ich in die Mittelschule kam, starb auch Großvater. Seitdem schlug ich mich allein mit Großmutter durchs Leben.

Und nun, vor kurzem erst, ist auch Großmutter gestorben. Ein echter Schock für mich.

Wenn ich mir so vorstellte, wie meine Familie – und ich habe ja tatsächlich eine gehabt – im Lauf der Zeit immer kleiner geworden war, bis zuletzt nur noch ich übrig blieb, schien es mir, als könne ich an nichts mehr glauben. Wie konnte in dieser Wohnung, in der ich geboren und aufgewachsen bin, ich allein übrig geblieben sein, während die Zeit so gleichmäßig dahinfloss? Ich war total erschrocken.

Reinste Science-Fiction. Das Dunkel des Weltraums.

Nach der Beerdigung war ich erst mal drei Tage völlig weg.

Leise schleppte ich eine sanfte Müdigkeit hinter mir her, die die übergroße, tränenlose Traurigkeit hervorgerufen hatte. Abends legte ich im stillen Licht der Küche meinen [11] Futon aus. In eine Wolldecke gekuschelt, wie Linus aus dem Comicstrip, schlief ich ein. Das gleichmäßige Summen des Kühlschranks hielt alle Gedanken der Einsamkeit von mir fern. Eine ruhige, lange Nacht ging vorüber, der Morgen kam.

Unter den Sternen wollte ich schlafen.

Im Morgenlicht wollte ich erwachen.

Alles andere war, ohne eine Spur zu hinterlassen, an mir vorübergegangen.

Doch halt! So konnte es nicht weitergehen. Schließlich ist das Leben ernst!

Auch wenn Großmutter genügend Geld hinterlassen hatte, war die Wohnung für mich allein zu groß. Und zu teuer. Ich musste eine neue Bleibe finden.

So kaufte ich mir ein Anzeigenmagazin und blätterte darin herum. Als ich die vielen Wohnungsangebote sah, von denen, wie mir schien, eines dem anderen glich, wurde mir ganz schwindlig. Umziehen ist mühsam. Wer umzieht, braucht Power!

Und die fehlte mir. Da ich Tag und Nacht in der Küche herumgelegen hatte, taten mir außerdem sämtliche Knochen weh. Als ich versuchte, meinen Kopf, dem alles egal war, wieder zum Ticken zu bringen, packte mich bei dem Gedanken, ich müsse nun eine Wohnung suchen! den ganzen Kram transportieren! ein Telefon beantragen! mich um andere, mindestens ebenso lästige Dinge kümmern! ein Gefühl der Verzweiflung. Und dann, ich erinnere mich genau, als ich eines Nachmittags wieder in der Küche lag, geschah plötzlich ein Wunder.

[12] Ding-dong, klingelte es an der Tür.

Es war ein leicht bewölkter Frühlingsnachmittag. Ich hatte gerade überlegt, ob ich das Anzeigenmagazin, das durchzublättern mir zu dumm geworden war, mit anderen Zeitschriften zu einem Bündel verschnüren sollte. Mit dem Gedanken, umziehen zu müssen, hatte ich mich allerdings inzwischen abgefunden. Rasch sprang ich auf, rannte zum Eingang, halb angezogen, löste, ohne etwas dabei zu denken, das Schloss und öffnete die Tür. (Wie gut, dass es kein Raubüberfall war.) Vor mir stand Yūichi Tanabe.

»Vielen Dank nochmals für deine Hilfe«, sagte ich. Yūichi war ein wirklich netter Kerl, ein Jahr jünger als ich, und er hatte mir bei der Beerdigung meiner Großmutter viel geholfen. Er studierte an derselben Uni wie ich. Ich selbst ging damals kaum mehr in eine Vorlesung.

»Keine Ursache«, antwortete er. »Hast du inzwischen eine Wohnung gefunden?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte ich und lachte.

»Hab mir’s doch gedacht.«

»Willst du nicht reinkommen und was trinken?«

»Danke, ich hab’s eilig. Muss was erledigen«, sagte er fröhlich. »Eigentlich wollte ich dir nur was ausrichten: Ich hab mit meiner Mutter gesprochen. Willst du nicht für einige Zeit zu uns kommen?«

»Zu euch?«, sagte ich.

»Ja, schau doch auf jeden Fall heute Abend um sieben mal vorbei. Hier hab ich dir den Weg aufgezeichnet.«

»Oh«, sagte ich etwas verwirrt, als ich den Zettel entgegennahm.

[13] »Meine Mutter und ich freuen uns sehr, wenn du kommst, Mikage.«

Er lachte. Und da sein Lachen so fröhlich war, wirkten seine Augen an der mir so vertrauten Tür plötzlich wahnsinnig nah; ich konnte meinen Blick gar nicht mehr von ihnen abwenden. Vielleicht war es aber auch, weil er mich bei meinem Vornamen genannt hatte.

»Also gut, ich komme vorbei.«

Ehrlich gesagt war es ziemlich verrückt, was ich da tat. Aber da er so richtig »cool« gewirkt hatte, vertraute ich ihm. Es war eigentlich immer so: Wenn ich mich spontan zu einer Verrücktheit entschlossen hatte, tat sich in dem Dunkel vor meinen Augen mit einem Mal ein Weg auf, der in helles Licht getaucht war und absolut sicher schien. Deswegen hatte ich wohl zugesagt.

Yūichi sagte: »Tja, also bis später«, und ging fröhlich lachend weg.

Bis zur Beerdigung meiner Großmutter hatte ich Yūichi Tanabe nur flüchtig gekannt. Als er am Tag des Begräbnisses plötzlich erschienen war, dachte ich einen Moment lang ernsthaft, er sei Großmutters Geliebter gewesen. Nachdem er nämlich etwas Räucherwerk geopfert hatte und, seinen Blick auf Großmutters Bild gerichtet, die zitternden Hände faltete, liefen ihm richtige Tränenbäche über die Wangen.

Da musste ich unvermittelt denken, ob seine Liebe zu Großmutter nicht etwa stärker war als meine. So traurig erschien er mir.

Und dann sagte er, ein Taschentuch vors Gesicht gepresst:

[14] »Lass mich bitte wissen, wenn ich dir irgendwie behilflich sein kann.«

Und weil er das gesagt hatte, ließ ich mir in allen möglichen Dingen von ihm helfen.

Yūichi Tanabe.

Erst nach längerem Nachdenken war mir eingefallen, dass ich seinen Namen von Großmutter schon einmal gehört hatte. Das zeigte, wie durcheinander ich damals war.

Er war der junge Mann, der in dem Laden jobbte, wo Großmutter immer ihre Blumen kaufte. Was für ein reizender Junge er ist, stell dir vor, auch heute hat er wieder… so oder ähnlich hatte sie des Öfteren von ihm geschwärmt. Sie, die Blumen über alles liebte und nie vergaß, auch in der Küche welche aufzustellen, war ein- bis zweimal in der Woche zu diesem Laden gegangen. Und ja, einmal war Yūichi sogar zu uns nach Hause gekommen, er hatte Großmutter begleitet, mit einem großen Blumentopf in der Hand.

Yūichi war ein großer, schlanker Junge mit einem schön geformten Gesicht. Über seine Familie wusste ich so gut wie nichts, aber ich hatte den Eindruck, als ginge er ganz in seiner Arbeit im Blumenladen auf. Doch auch nachdem ich ihn etwas näher kennengelernt hatte, veränderte sich nichts an dem seltsam kühlen Eindruck, den er auf mich machte. Wie sanft er sich auch bewegte und sprach, man hatte immer das Gefühl, als lebe er ganz für sich allein. Unsere Bekanntschaft war immer ziemlich oberflächlich geblieben, und so war er für mich letztlich ein Fremder.

Am Abend begann es zu regnen. Die Wegbeschreibung in der Hand, trat ich in die Frühlingsnacht hinaus, deren sanfter, warmer Regen die Stadt wie in Rauch einhüllte.

[15] Die Wohnung der Tanabes lag von meinem Haus aus genau auf der anderen Seite des Stadtparks. Während ich den Park durchquerte, war mir, als schnürte mir der Geruch des nächtlichen Grüns den Atem ab. Pitsch, patsch lief ich an den regenbogenfarbenen Lichtern vorbei, die sich in dem nassen Weg spiegelten.

Ehrlich gesagt ging ich zu den Tanabes eigentlich nur, weil sie mich gerufen hatten. Mehr hatte ich mir dabei nicht gedacht.

Als das Gebäude vor mir auftauchte, in dessen zehnter Etage ihre Wohnung war, bemerkte ich, wie wahnsinnig hoch es war. Dort oben, dachte ich mir, musste man einen herrlichen Blick auf die nächtliche Stadt haben.

Im zehnten Stock angekommen, trat ich aus dem Aufzug. Langsam, das Geräusch meiner Schritte unterdrückend, ging ich den Gang entlang. Ich drückte auf die Klingel, und sogleich öffnete sich die Tür. Yūichi erschien.

»Hallo«, sagte er.

»Hallo«, sagte auch ich, und in der Wohnung fiel mir sofort auf, wie seltsam sie eingerichtet war.

Als Erstes fiel mein Blick auf ein riesengroßes Sofa mitten im Wohnzimmer, an das sich weiter hinten die Küche anschloss. Es stand da, mit dem Rücken zum Geschirrschrank der geräumigen Küche, ohne Tisch und ohne Teppich. Es war ein prächtiges Sofa mit beigem Bezug, ein Sofa, wie man es manchmal in der Fernsehwerbung sieht, die ganze Familie darauf versammelt, wie sie gerade in die Röhre guckt, daneben ein Hund, der für Japan viel zu groß ist.

Vor dem großen Fenster, durch das man auf die Veranda sah, standen dschungelartig zahllose Zimmerpflanzen in [16] Töpfen und Kästen, und wie sich bei einem kurzen Blick durch die Wohnung zeigte, gab es auch jede Menge Schnittblumen, überall, in allen möglichen Vasen, Blumen, wie sie zu dieser Jahreszeit blühten.

»Meine Mutter wird von ihrer Arbeit auf einen Sprung rüberkommen«, sagte Yūichi, während er heißes Wasser in die Teekanne goss. »Du kannst dir inzwischen die Wohnung ansehen, wenn du willst. Oder soll ich sie dir zeigen? Mal sehen, wie du sie beurteilst.«

»Wie ich was beurteile?«, fragte ich, auf dem herrlich weichen Sofa sitzend.

»Den Geschmack der Leute, die diese Wohnung eingerichtet haben. Man sagt doch: Ein Blick in die Toilette, und du weißt alles.«

Er war ein Mensch, der laut loslachen konnte und dennoch ruhig sprach.

»Ich will die Küche sehen«, sagte ich.

»Die Küche ist hier. Schau sie dir in Ruhe an.«

Während er noch immer mit dem Aufgießen des Tees beschäftigt war, ging ich an ihm vorbei und ließ meinen Blick durch die Küche wandern.

Die Fußmatte auf dem Parkettboden war sehr geschmackvoll, die Küchenschlappen, in denen Yūichis Füße steckten, von bester Qualität – und alle wichtigen Utensilien waren da, ordentlich aufgereiht hingen sie an der Wand. Es gab auch eine Bratpfanne Marke Silverstone und ein Schälmesser made in Germany. Wie sehr hätte sich Großmutter, ungeschickt wie sie war, über ein so praktisches Messer gefreut.

Von einer kleinen Neonröhre beleuchtet, stand das [17] Geschirr still da und wartete darauf, verwendet zu werden; die Gläser funkelten. Auch wenn auf den ersten Blick alles ein klein wenig bunt zusammengewürfelt erschien, so war doch alles von auserlesener Qualität. Es gab sogar recht ausgefallenes Geschirr… zum Beispiel Schüsseln für spezielle Reisgerichte, feuerfeste Teller für Gratins, gewaltige Anrichteplatten, Bierkrüge mit Deckel. Irgendwie fand ich das toll. Auch der kleine Kühlschrank, den ich aufmachen durfte, befand sich in bestem Zustand; nichts war darin, was nicht hineingehörte.

Immer wieder musste ich anerkennend nicken, während ich um mich sah. Es war eine gute Küche. Ich war verliebt auf den ersten Blick.

Als ich wieder auf dem Sofa saß, war der Tee fertig.

Da saß ich nun in einer fremden Wohnung einem fast unbekannten Menschen gegenüber und fühlte mich ganz verlassen.

In der großen Fensterscheibe, auf der eben noch das Bild der regennassen nächtlichen Stadt erschienen war, erblickte ich plötzlich mein Spiegelbild.

Auf dieser Welt gab es niemand mehr, der mir durch die Bande des Blutes verbunden war, ich konnte gehen, wohin ich wollte, tun, was mir beliebte. Ein ungeheures Gefühl.

Zum ersten Mal in meinem Leben machte ich mit meinen eigenen Händen und Augen die Erfahrung, wie groß die Welt und wie tief ihre Dunkelheit ist, erlebte ich, von welch unendlicher Faszination, aber auch grenzenloser Einsamkeit sie ist.

[18] »Sag mal, warum sollte ich eigentlich bei euch vorbeikommen?«, fragte ich Yūichi.

»Wir dachten, du hast es jetzt nicht gerade leicht«, antwortete er und kniff freundlich die Augen zusammen. »Deine Großmutter war immer so nett zu mir, und wie du siehst, haben wir hier in der Wohnung viel Platz. Du musst doch aus deiner jetzigen Wohnung raus. Wann ist es denn so weit?«

»Eigentlich schon jetzt. Der Besitzer hat sich aber bereit erklärt, mir noch etwas Zeit für den Umzug zu geben.«

»Ja, weißt du, und da hab ich mir überlegt, du könntest doch hier wohnen«, fuhr Yūichi fort, als sei das das Selbstverständlichste von der Welt.

Er benahm sich weder besonders kühl noch herzlich, aber irgendwie strahlte er eine wohlige Wärme auf mich aus. Etwas daran ging mir derart nahe, dass ich am liebsten losgeheult hätte. In diesem Augenblick ging das Türschloss. Die Tür öffnete sich, und herein trat eine unglaublich hübsche Frau, die ziemlich außer Atem schien.

Ich war so baff, dass ich die Augen weit aufriss. Die Frau war nicht mehr ganz jung, aber von einer umwerfenden Schönheit. An ihrer etwas extravaganten Kleidung und dem zu stark aufgetragenen Make-up erkannte ich sofort, dass sie im Nachtgewerbe tätig war.

»Das ist Mikage Sakurai«, stellte mich Yūichi vor.

Noch immer etwas außer Atem, sagte sie lächelnd und mit leicht heiserer Stimme: »Freut mich. Ich bin Yūichis Mutter. Ich heiße Eriko.«

Das war seine Mutter? Ich war noch immer ganz fasziniert, und es gelang mir nicht, meinen Blick von ihr [19] abzuwenden. Ihr schulterlanges, glattes Haar, das intensive Leuchten in den länglichen, schmalen Augen, die schöngeformten Lippen, der hohe Nasenrücken – und dann diese von ihrer ganzen Gestalt ausgehende Ausstrahlung einer vibrierenden Lebenskraft –, es war, als wäre sie kein menschliches Wesen. Nein, einen solchen Menschen hatte ich noch nie gesehen.

Noch immer starrte ich sie an. Es musste bereits ganz unhöflich wirken. Schließlich brachte ich ein »Freut mich sehr« heraus, und mit Mühe gelang es mir, auch ihr Lächeln zu erwidern.

»Ab morgen wohnen wir also zusammen hier«, sagte sie sanft, bevor sie sich aufgeregt sogleich wieder Yūichi zuwandte. »Entschuldige, aber ich konnte einfach nicht weg. Hab dann aber gesagt, ich müsse mal kurz zur Toilette, und auf diese Weise hab ich mich aus dem Staub gemacht. Morgen früh hab ich dann mehr Zeit, sag Mikage bitte, sie soll hier übernachten, ja?« Im nächsten Augenblick stürmte sie wieder zur Tür, ihr rotes Kleid wehte richtig hinter ihr her.

»Warte doch, ich fahr dich mit dem Wagen rüber«, rief Yūichi ihr nach.

»Tut mir leid, dass Sie eigens wegen mir gekommen sind«, sagte nun auch ich.

»Ach was. Ich hätte allerdings wissen müssen, dass das Lokal um diese Zeit immer so voll ist. Eigentlich müsste ich mich entschuldigen. Also dann, bis morgen früh.«

Mit diesen Worten stöckelte sie in ihren hohen Pumps zur Tür hinaus. Yūichi lachte mir zu und meinte: »Du kannst ja fernsehen, bis ich wieder da bin«, bevor er seiner Mutter nacheilte und ich schließlich alleine dasaß.

[20] Bei genauerem Hinsehen waren mir doch die kleinen Fältchen aufgefallen, die in diesem Alter durchaus normal sind, und auch ihre Zähne waren nicht ganz regelmäßig. Sie hatte also durchaus etwas Menschliches an sich. Dennoch war ich immer noch wie weggetreten. Ich hätte sie am liebsten gleich noch einmal angesehen. Der warme, helle Glanz, der von ihr ausging… jetzt endlich glaubte ich zu wissen, was mit dem Wort »faszinierend« gemeint ist. Ganz plastisch stand mir das Wort vor Augen. So musste es der blinden und gehörlosen Helen Keller ergangen sein, als sie zum ersten Mal begriff, was das Wort »Wasser« bedeutet. Ohne zu übertreiben: Es war eine Begegnung, die mich in höchstes Staunen versetzte.

Das Klappern von Autoschlüsseln. Yūichi war zurückgekommen.

»Wenn sie sowieso nur zehn Minuten Zeit hatte«, sagte er, während er die Schuhe auszog, »hätte sie auch gleich anrufen können. Finde ich jedenfalls.«

»Hmm«, meinte ich von meinem Platz auf dem Sofa aus.

»Was ist los mit dir, Mikage? Meine Mutter hat dich wohl ziemlich beeindruckt.«

»Klar, so schön wie die ist!«, gab ich ehrlich zu.

»Ist ja auch kein Wunder«, sagte Yūichi lachend und hockte sich vor mich. »Sie hat sich operieren lassen.«

»Operieren lassen?« Ich versuchte, mir mein Erstaunen nicht anmerken zu lassen. »Ich hab mir schon Gedanken darüber gemacht, dass ihr beide euch ja überhaupt nicht ähnlich seht.«

»Ist dir nicht noch etwas anderes aufgefallen?«, fuhr [21] Yūichi fort und konnte nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken. »Eriko ist ein Mann.«

Diesmal gelang es mir nicht, die Coole zu spielen. Sprachlos, mit aufgerissenen Augen, starrte ich ihn an. Ich muss ausgesehen haben, als wartete ich nur darauf, dass er mir sagte: Stimmt ja gar nicht, war alles nur ein Scherz! Die schmalen Finger, die feine Gestik, die Eleganz ihrer Bewegungen. Ich hatte noch immer dieses wunderschöne Wesen vor Augen, und so saß ich mit angehaltenem Atem da und wartete. Yūichi aber sah mich nur an und grinste.

»Hör mal« – es gelang mir endlich den Mund aufzumachen –, »hast du vorher nicht gesagt, es sei deine Mutter?«

»Klar«, antwortete er ruhig, »oder würdest du jemand wie sie als Vater bezeichnen?« Damit hatte er natürlich recht. Es war eine absolut überzeugende Antwort.

»Und der Name? Eriko?«

»Der ist natürlich erfunden. In Wirklichkeit heißt sie Yūji.«

Mir war ganz schwummrig zumute. Schließlich fasste ich mich aber wieder und fragte:

»Tja, und wer hat dich dann geboren?«

»Eriko war, wie gesagt, früher ein Mann«, erklärte Yūichi. »Zumindest in ihren jungen Jahren. Dieser junge Mann hat geheiratet. Und die Frau, die er geheiratet hat, das war meine wirkliche Mutter.«

»Und diese wirkliche Mutter…«, sagte ich noch immer etwas ratlos, »was war das für eine Frau?«

»Weiß ich nicht. Sie starb, als ich noch ein kleines Kind war. Ich hab ein Foto. Willst du’s sehen?«

»Klar«, sagte ich und nickte.

[22] Ohne aufzustehen, zog Yūichi seine Tasche heran und holte ein Portemonnaie heraus. Diesem entnahm er ein verknittertes Foto und reichte es mir. Das Gesicht, das ich sah, war schwer zu beschreiben. Kurzes Haar, kleine Augen, eine ebenso kleine Nase. Eine Frau undefinierbaren Alters, die einen seltsamen Eindruck auf mich machte. Als ich noch immer schweigend dasaß, meinte Yūichi schließlich:

»Sieht reichlich komisch aus, findest du nicht?«

Ich lachte verlegen.

»Eriko wurde als Kind aus irgendeinem Grund von der Familie meiner Mutter adoptiert. Die beiden Kinder sind zusammen aufgewachsen. Eriko hatte schon damals, als sie noch ein Mann war, ein schönes Gesicht, und alle Mädchen liefen dem hübschen Jungen nach. Aber der hat sich für die Frau mit dem komischen Gesicht entschieden.« Yūichi blickte lächelnd das Foto an. »Eriko war richtig vernarrt in die Frau. Zuletzt ist sie, da die Eltern gegen eine Heirat waren, mit ihr durchgebrannt.«

Ich nickte.

»Nachdem meine Mutter gestorben war, gab Eriko ihren Job auf. Ich war ja noch ganz klein, und da überlegte sie, was sie jetzt machen sollte. Sie beschloss, eine Frau zu werden. Sie dachte, es würde ihr eh nicht gelingen, sich noch einmal zu verlieben. Damals war sie noch ein ziemlich verschlossener Mensch. Und da sie halbe Sachen noch nie ausstehen konnte, ließ sie sich, angefangen vom Gesicht, alles operieren, was man operieren kann, und von dem Geld, das übrig blieb, kaufte sie ein Nachtlokal. So konnte sie mich großziehen. Als ›alleinerziehende Mutter‹, wie man das heute nennt«, sagte Yūichi und lachte.

[23] »Eine irre Lebensgeschichte«, sagte ich.

»Nicht so voreilig, immerhin lebt sie ja noch!«

Ich wusste wirklich nicht, ob ich das alles glauben konnte, ob es da im Hintergrund nicht etwas gab, das mir bewusst verschwiegen wurde. Je mehr ich über die beiden erfuhr, umso phantastischer erschien mir alles.

Ihre Küche aber überzeugte mich. Außerdem war da etwas, was die beiden verband, auch wenn sie sich sonst so unähnlich waren: Wenn sie lachten, lag auf ihren Gesichtern ein geradezu überirdischer Glanz. Und das fand ich unheimlich gut.

»Ich muss morgen ziemlich früh los«, sagte Yūichi. »Nimm dir einfach, was du brauchst.«

Schon etwas müde schleppte er Wolldecke, Pyjama und ein paar andere Sachen herbei. Dann zeigte er mir, wie die Dusche funktionierte und wo die Handtücher lagen.

Nach der Familiengeschichte von eben – Wahnsinn! – hatte ich Schwierigkeiten, meine Gedanken zu ordnen, und während wir einen Videofilm anschauten und uns dabei über den Blumenladen und meine Großmutter unterhielten, wurde es immer später. Bald ging es auf ein Uhr zu. Auf dem Sofa saß es sich absolut bequem. Weich gepolstert, tief und groß wie es war, fiel es mir schwer, aufzustehen.

»Das hat deine Mutter gekauft«, sagte ich und fuhr dann fort: »Irgendwo in einem Möbelhaus hat sie sich draufgesetzt, und da kam sie auf die Idee, dass sie es unbedingt haben musste. Und da hat sie’s eben gekauft. Stimmt’s?«

»Genau so war es«, bestätigte Yūichi. »Sie lebt einzig von ihren spontanen Einfällen. Und von denen hat sie jede [24] Menge. Das Unglaubliche daran ist, dass sie tatsächlich die Kraft hat, sie zu verwirklichen.«

»Ja, allerdings«, stimmte ich ihm zu.

»Dieses Sofa gehört vorläufig dir. Als dein Bett«, sagte er. »Wie gut, dass es endlich mal zum Einsatz kommt.«

»Als mein Bett?«, fragte ich ziemlich leise. »Ich darf wirklich hier drauf schlafen?«

»Klar«, sagte Yūichi entschieden.

»Tja, wenn du meinst…«

Er erklärte mir noch einige Dinge. Dann wünschte er mir eine gute Nacht und zog sich in sein Zimmer zurück.

Ich war müde.

Als ich wenig später in jener fremden Wohnung unter der Dusche stand und meine Erschöpfung sich durch das heiße Wasser zum ersten Mal seit langer Zeit wieder zu lösen begann, dachte ich über mich und mein neues Leben nach.

Ich zog den geliehenen Pyjama an und trat in das stille Zimmer hinaus. Barfuß, mit pitschnassen Füßen, ging ich noch einmal durch die Küche. Ja, es war eine gute Küche.

Dann legte ich mich auf das Sofa, das in dieser Nacht mein Bett sein sollte, und löschte die Lampen.

Die Pflanzen auf dem Fenstersims waren in mattes Licht getaucht, sie standen vor der wunderschönen Kulisse, die sich beim Blick vom zehnten Stock auf die nächtliche Stadt darbot. Es hatte aufgehört zu regnen, und die Stadt glitzerte und funkelte hell in der feuchten, klaren Luft.

Ich kuschelte mich in meine Decke und musste lachen. Wie seltsam es doch war, dass ich auch heute wieder in der Nähe einer Küche schlief. Aber diesmal fühlte ich mich [25] nicht einsam. Vielleicht hatte ich darauf gewartet, ja, wahrscheinlich hatte ich nur darauf gewartet, einen Schlafplatz zu finden, wo ich für eine Weile alles vergessen konnte, das Gewesene und auch das Zukünftige. Wenn man jemanden in der Nähe hat, kann man sich erst recht einsam fühlen. Hier aber gab es eine Küche und Pflanzen und jemand, der mit mir unter dem gleichen Dach schlief, es war ruhig… Ja, das fand ich das Größte.

Beruhigt schlief ich ein.

Das Rauschen von Wasser weckte mich.

Es war heller Tag. Als ich mich schlaftrunken aufrichtete, sah ich »Eriko« in der Küche stehen. Sie war schlichter gekleidet als gestern, doch als sie sich umdrehte und mir ein fröhliches »Morgen!« entgegenrief, erschien mir ihr geschminktes Gesicht noch strahlender. Im Nu war ich wach.

»Guten Morgen!«, sagte auch ich und erhob mich. Eriko stand vor dem geöffneten Kühlschrank und machte ein ratloses Gesicht. Dann sah sie mich an und meinte:

»Auch wenn ich noch halb schlafe, bekomme ich um diese Zeit immer Hunger… Hier im Kühlschrank ist aber auch rein gar nichts. Am besten, wir lassen uns etwas kommen. Du möchtest doch auch was?«

»Ich kann ja was machen«, schlug ich vor und stand von meinem Sofa auf.

Eriko sagte »Wirklich?« und fügte dann etwas besorgt hinzu: »Kannst du denn überhaupt ein Messer halten, so schläfrig wie du bist?«

»Keine Angst«, sagte ich und lachte.

Helles Licht durchflutete das Zimmer wie einen [26] Wintergarten. Ein zartblauer Himmel, so hell, dass er fast blendete, lag über der Stadt.

Als ich kurz darauf mit vor Begeisterung leuchtenden Augen in der Küche stand, wurde mir plötzlich wieder bewusst, dass Eriko eigentlich ein Mann war.

Unwillkürlich richtete sich mein Blick auf sie. Eine Art Sinnestäuschung, das Gefühl, Ähnliches schon erlebt zu haben, überwältigte mich.

Diese Frau, die da in dem durch das Fenster hereinfließenden Morgenlicht, in dem nach Holz duftenden, etwas staubigen Zimmer auf ihrem großen Kissen am Boden lag und fernsah, erschien mir plötzlich wahnsinnig vertraut.

Die Reissuppe mit Ei und der Gurkensalat, den ich gemacht hatte, schienen ihr zu schmecken.

Es war Vormittag, es war frühlingshaft warm, und draußen im Garten des Wohnhauses waren die Stimmen lärmender Kinder zu hören.

Die Pflanzen auf dem Fenstersims schienen in weiches Licht gehüllt und leuchteten in einem frischen Grün. Hoch oben am hellen Himmel zogen langsam ein paar zarte Wolken dahin.

Es war ein gemütlicher, warmer Vormittag.

Das Bild, wie ich hier mit einem fremden Menschen bei einem späten Frühstück saß – bis gestern Morgen noch völlig undenkbar! –, erschien mir ganz seltsam.

Da es keinen Tisch gab, hatte ich die Sachen auf den Boden gestellt, wo wir dann auch aßen. Die grüne Farbe des kalten Tees schillerte fein in den Tassen, die in dem hellen Sonnenlicht wie durchsichtig erschienen.

[27] »Yūichi hat oft gesagt, dass du unserem Non-chan ähnlich siehst«, sagte Eriko, indem sie mich von der Seite anblickte. »Es stimmt, du siehst ihm wirklich sehr ähnlich.«

»Und wer ist dieser Non-chan?«

»Das war unser Hund.«

»Oh«, sagte ich. »Ihr Hund.«

»Genau dieselben Augen, und auch die weichen Haare… Als ich dich gestern zum ersten Mal sah, hätte ich am liebsten losgelacht. Wirklich.«