Sly - Banana Yoshimoto - E-Book

Sly E-Book

Banana Yoshimoto

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Beschreibung

Als Takashi erfährt, daß er hiv-positiv ist, reist er mit zwei Freunden in ein Land, wo man den Göttern näher ist: nach Ägypten, Reich der Toten und der Sonne in einem. Sly, nach dem gleichnamigen Song von Massive Attack, ist eine berückend sinnliche Meditation über die Liebe, das Leben und den Tod. "

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Seitenzahl: 172

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Banana Yoshimoto

Sly

Roman

Aus dem Japanischen von Anita Brockmann

Diogenes

{7}Ein Hinweis und eine wunderschöne Morgendämmerung in Japan

Seltsam, ich kann mich noch ganz genau an jenen Nachmittag erinnern. Es war der Tag nach Takashis Einweihungsparty.

Draußen war es heiter. Ich sah den blauen Himmel und das Licht der Sonne vor dem Fenster. Im Gegensatz dazu war es im Wohnzimmer ganz düster. Hier ging etwas zwischen uns zu Ende, und gleichzeitig nahm etwas anderes seinen Anfang.

Obwohl wir uns mitten im Gespräch befanden, hatten sich meine Gefühle längst daraus verabschiedet und irrten haltlos umher. Als seien sie lebendig, betrachtete ich die Sonnenstrahlen draußen, die fröhlich auf dem Küchenfenster mir gegenüber zu tanzen schienen. Ich erinnere mich noch genau.

 

Dies ist die Geschichte einer Reise, die nicht mehr als zehn Tage dauerte. Ich hatte keine Erwartungen in diese Reise gesetzt, sie diente keinem besonderen Zweck, selbst nicht dem, uns aufzumuntern. Ich, wir haben uns einfach nur von einem Ort zum anderen treiben und von schönen Landschaften begleiten lassen. Ziellos, hoffnungslos. Trotzdem hat es auch Augenblicke gegeben, die uns irgendwie schön, die uns irgendwie außergewöhnlich erschienen. Es ist eine {8}kleine Geschichte, die eben jene Momente nachzeichnen soll.

 

Einer nach dem anderen trudelten an jenem Abend insgesamt etwa fünfzehn Leute bei Takashi ein. Alles Menschen, die ich seit ungefähr fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte. Es gab zu essen und zu trinken, ich war seit langer Zeit mal wieder betrunken, und die Nacht verging, ohne daß ich ein Auge zugetan hätte.

Erst als schon fast der Tag anbrach, waren alle gegangen, nur Hideo, der das gesamte Essen für den Abend vorbereitet hatte, und ich waren noch da. Ich spülte und räumte auf. Hideo war so sehr damit beschäftigt gewesen, jedem, der gehen wollte, etwas von dem restlichen Essen mitzugeben, daß er darüber geblieben war.

Es war schon merkwürdig, daß Mimi, Takashis Freundin, in dieser Nacht nicht nach Hause kam. Die beiden waren nämlich erst vor einem Monat zur Miete in dieses alte japanische Haus gezogen, und das hätte ihre Einweihungsparty sein sollen.

Aber am besten erkläre ich hier erst einmal, in welcher Beziehung Hideo und ich zu Takashi stehen.

Ich bin Takashis Freundin gewesen, seine erste Frau. Das betone ich deshalb, weil er eigentlich nur auf Männer steht. Takashi und ich trafen uns, als ich siebzehn war, vor mehr als zehn Jahren also. Wir haben ziemlich lange zusammengelebt, bis wir uns schließlich doch trennten.

Auch Hideo war Takashis Geliebter. Die beiden hatten sich kennengelernt, während Takashi mit der Innenausstattung der Bar beschäftigt war, die Hideo als {9}Geschäftsführer leitete. Als sich Takashi dann jedoch bis über beide Ohren in die Künstlerin Mimi verknallte, mit der er jetzt zusammenwohnte, hatten er und Hideo sich getrennt. Das war vor gut drei Jahren.

Seither gehen wir jedenfalls alle wie ganz normale Freunde miteinander um. Das mag daran liegen, daß Mimi genau wie Hideo oder ich ausgesprochen umgänglich ist, oder daran, daß jeder von uns das tut, was ihm gefällt, und ihm alles, was über den Moment hinausreicht, egal ist. Vielleicht hat es auch damit zu tun, daß wir alle im gleichen Alter sind und in ähnlichen Berufen arbeiten. Es könnte aber auch sein, daß zwischen uns tatsächlich so etwas wie wahre Freundschaft entstanden ist.

Ich will nicht behaupten, daß es nicht für jeden von uns auch schwierige Momente gegeben hätte, aber mit der Zeit hat sich das bereinigt. Geblieben ist schließlich nur die Freude darüber, sich mit Leuten treffen zu können, mit denen man sich versteht, und das Vergnügen daran, sich mit ihnen gut zu unterhalten.

»Was ist mit Mimi?« Während ich die Teller abspülte und einräumte, sprach ich Takashi mehrmals direkt darauf an, bekam aber nur vage Antworten wie: »Die kommt noch«, oder: »Tja, vielleicht übernachtet sie im Atelier?«

Hideo und ich tuschelten hinter seinem Rücken darüber und kamen zu dem Schluß: »Die beiden hatten bestimmt Streit.«

 

Als alles wieder an seinem Platz war, hellte sich von Osten her der Himmel auf.

»Laßt uns doch nach draußen gehen und etwas von dem {10}Dessert essen, das wir im Kühlschrank vergessen haben!« meinte Hideo. Deshalb war ich schon mal allein vorgegangen, hatte mich auf dem kühlen Gras ausgestreckt und betrachtete den zart gefärbten Himmel.

Im Garten des Hauses steht ein Kampferbaum. Mit furioser Kraft, begleitet von Wind und Licht, brach plötzlich der Morgen durch die Windungen seiner großen, knorrigen Äste und die Lücken in seinem dunklen, dichten Blattwerk. Rosa, helles Blau und Gold – für mich die hoffnungsträchtigste Farbkombination, die es gibt auf der Welt.

Ich bin Schmuckdesignerin.

Bei meiner Arbeit wähle ich häufig die Morgendämmerung als Motiv für neue Entwürfe. Mit den verschiedensten Materialien versuche ich, dieses Gefühl der Zuversicht zu erzeugen. Durch Gold, rosafarbenen Turmalin, Amethyst und blauen Topas. Aber vor der überwältigenden, unendlichen Weite und den sanften, zarten Farben der wirklichen Morgendämmerung erscheinen mir meine bescheidenen Bemühungen fast erbärmlich.

Takashi kam dazu und setzte sich neben mich.

Anschließend brachte Hideo die Schüssel mit dem Erdbeergelee.

Es war halb gefroren, weil es so lange im Kühlschrank gestanden hatte, aus frischen Erdbeeren zubereitet und kristallklar. Es gab ein herrlich kaltes Gefühl auf der Zunge und war das Beste, was man hier und jetzt hätte essen können. So saßen wir drei still nebeneinander, aßen unser Gelee, tranken reihum von dem Champagner, der noch in der Flasche war, und betrachteten den Himmel über Tokyo, der sich langsam aufhellte.

{11}Das Morgenlicht auf Hideos bleichen Wangen, Takashis männliche, knochige Finger, die aus seinen Ärmeln hervorlugten, das Gefühl, wie der Morgentau aus dem weichen Boden unter der Grasnarbe langsam zu meinem Po durchdrang, und dazu der sanfte, kühle, beinahe schon kalte Windhauch. Das alles war einfach zu vollkommen. Plötzlich mußte ich weinen.

Die Freunde ließen meine Tränen unkommentiert und betrachteten den Himmel und den Baum wohl mit ähnlichen Empfindungen.

Der Eindruck, daß es nie wieder einen erfüllteren Moment geben würde, hat sich bis heute immer und immer wieder bestätigt.

Man kann sich die Welt wie ein Gefüge aus massiven Holzklötzchen vorstellen oder wie eine duftende Blume, die sich immerzu sanft verändert … In meinem Zustand war ich mir dieser beiden Erkenntnisse gleichzeitig bewußt.

Dann, als sich der Himmel gleichmäßig aufgehellt hatte und ein ganz gewöhnlicher Morgen heraufgezogen war, wurden wir müde. Hideo und ich hatten keine Lust mehr, nach Hause zu gehen, also richtete Takashi uns Futons im Gästezimmer seines Hauses her, und wir legten uns schlafen.

 

Als ich die Augen aufschlug, war der Himmel vor dem Fenster strahlend blau – ein letzter Gruß der Morgendämmerung. Mein Rausch war leicht wie ein Dufthauch, der noch in der Luft hängt, doch ich spürte den Alkohol nach wie vor deutlich in den Knochen. Da Hideo auf dem anderen Futon noch fest zu schlafen schien, stand ich auf, um zu duschen. So hatte ich schon lange nicht mehr bei jemandem {12}übernachtet. Ich fühlte mich irgendwie in meine Studentenzeit zurückversetzt, als ich noch mit Takashi zusammenwar.

Mimi war anscheinend immer noch nicht nach Hause gekommen.

Nachdem ich geduscht und mich umgezogen hatte, hörte ich Stimmen und dachte: Aha, Mimi ist zurück. Ich verließ das Bad und ging ins Wohnzimmer.

Aber dort war gar nicht Mimi; nur Hideo und Takashi mit ernsten Mienen. Ihre Ernsthaftigkeit hatte die Atmosphäre so stark verändert, daß ich das Gefühl hatte, mich nicht einmischen zu dürfen, und ich fragte spontan:

»Es ist wohl besser, wenn ich nach Hause gehe, wie?«

»Nein, bleib ruhig da, Kiyose«, sagte Hideo. »Komm, setz dich zu mir, und hör einfach zu.«

»Ich misch mich nicht ein, wenn zwei ein Problem haben«, antwortete ich.

»Darum geht es gar nicht«, erwiderte Hideo.

»So schlimm ist es auch wieder nicht«, meinte Takashi.

»Was? Die Sache mit Mimi?«

»Ja, das auch.«

Es sah ganz so aus, als wäre Hideo erleichtert, daß ich jetzt auch da war. Er hatte doch noch bis gerade eben fest geschlafen – wenn sich die Situation in der kurzen Zeit, als ich unter der Dusche stand, so unverhofft zugespitzt hatte, konnte es sich nur um ein belangloses, vom Alkohol verkatertes Gespräch handeln, und so betrat ich das Wohnzimmer ohne allzu schlimme Befürchtungen.

»Wie wär’s, soll ich uns Kaffee machen?« fragte ich. Als ich ihn aufbrühte, wurde das Wohnzimmer von einem angenehmen Duft erfüllt, der die Lebensgeister weckte. Das {13}Küchenfenster war in Licht getaucht. Wenn ich die Augen schloß, färbte es sich rot hinter meinen Lidern.

»Mmm, lecker!« Hideo trank von dem Kaffee; er schien ihm gutzutun. Und dann sagte er es.

»Also, es geht darum: Takashi ist HIV-positiv.«

In diesem Moment schlug die Stimmung im Zimmer um. Ein überbordender Strom von Emotionen wirbelte durch den Raum und verkehrte die Atmosphäre.

Das haute mich einfach um, und ich dankte dem Himmel dafür, nichts Unpassendes von mir gegeben zu haben.

»Aha«, sagte ich und fuhr mit zitternder Stimme fort: »Ähm, soll ich mal Musik machen?«

Takashi lachte, stand auf, ging zur Stereoanlage und schaltete sie ein1.

Wandern, das Meer hinter sich lassen,

bis ich ein Zuhause finde, so wie jeder.

Wandern, wandern –

dorthin, wo wir das tun können, was uns gefällt.

 

Es kommt mir vor, als seien tausend Jahre vergangen,

ich fühle mich jünger als je zuvor.

Es kommt mir vor, als sei die Welt mein Zuhause,

ich kenne jeden Menschen, der mir begegnet.

 

Ich kann den Klang der Glocken hören,

den ich schon einmal vor tausend Jahren vernommen habe …

{14}Da wir alle noch ein wenig betrunken waren, schwiegen wir und lauschten seltsam angespannt der Musik.

Bis ich mich wieder faßte, konnte ich allem entfliehen und war für eine kleine Weile in einer anderen Welt.

Takashi hatte die Augen geschlossen und nahm den Rhythmus in sich auf.

In diesem Körper hat sich also ein Virus eingenistet, dachte ich verwundert. Und dabei merkt man gar nichts davon, wenn man ihn so ansieht.

Nach einer Zeit des Schweigens machte ich schließlich den Mund wieder auf: »Ist das übrigens auch der Grund, warum Mimi nicht hier ist?«

Da wir für eine Weile in wortloser Stille versunken waren und die Musik uns Kraft gegeben hatte, waren wir jetzt etwas ruhiger.

»Bis ihr Untersuchungsergebnis da ist, übernachtet sie im Atelier«, antwortete Hideo.

»Das ist ja konsequent«, sagte ich. Mimi ist der selbstsicherste Mensch, den ich kenne. Jedenfalls verhält sie sich so, daß sich einem deutlich mitteilt, wie ungeheuer selbstbewußt sie ist. Doch was reden wir hier überhaupt, dachte ich. Das kratzt doch alles nur an der Oberfläche. Den Kern trifft es nicht.

»Ihr habt euch aber doch nicht wirklich getrennt, oder?« fragte Hideo.

»Wir dachten, jeder von uns sollte sich das besser alleine durch den Kopf gehen lassen, bis Mimis Ergebnis vorliegt. Wie auch immer, im Moment können wir ja doch nur beide an uns selbst denken«, sagte Takashi. »Ihr solltet auch besser einen Test machen lassen. Sicherheitshalber.«

{15}»Jetzt hör aber auf! Zwischen uns ist ja wohl in letzter Zeit nichts mehr gelaufen«, antwortete ich.

»Trotzdem, es ist besser! Schließlich hab ich keine Ahnung, wann ich mich infiziert habe«, meinte Takashi. Was das Thema Aids betrifft, hatte ich nur äußerst vage Kenntnisse, eigentlich überhaupt keine.

»Und was ist mit mir? Wär wohl auch besser, wie?« fragte Hideo.

»Das ist doch wohl klar!« sagte ich.

»Wahrscheinlich hast du recht. – Wollen wir zusammen gehen?« fragte mich Hideo.

»Gute Idee, machen wir.«

»Bei mir ist die Wahrscheinlichkeit bestimmt größer.«

»Die ist für uns beide genau gleich groß! Sei’s drum, wir gehen! Wann?«

»Wann es dir paßt, Kiyose.«

»Ich hab nächste Woche Zeit.«

Als wir unsere Terminkalender hervorgekramt hatten und sie schweigend prüften, kamen Takashi plötzlich die Tränen. Ich erschrak, denn schließlich war er überhaupt nicht der Typ, der in Gegenwart anderer weint. Man spürte förmlich, wie schwer die Ereignisse der letzten Zeit auf ihm lasteten. In diesem Moment gab es in meinem Herzen nur noch Platz für Takashi. Takashi, Takashi, Takashi, Takashi … ich konnte an nichts anderes mehr denken und wiederholte seinen Namen immer und immer wieder in meinem Herzen.

»Ihr werdet euch wohl nie ändern.« Er hatte angefangen wie ein Baby zu flennen, deshalb rückten wir ganz nah an ihn heran und hielten seine Hand.

{16}»Mach dir keine Sorgen, wir bleiben bis zum Schluß bei dir«, sagte Hideo.

Könnte er das nicht etwas zurückhaltender ausdrücken? fragte ich mich, doch da es mich zutiefst bewegte, wie Hideo seine unrasierte Wange mit ihren Bartstoppeln an Takashis legte und dessen Hand hielt, schwieg ich.

»Wenn es ans Sterben geht, ist jeder mit sich allein, doch im Tod sind wir alle gleich«, stellte Hideo fest.

Als er zur Mittelschule ging, waren seine Eltern und sein Bruder bei einem Feuer ums Leben gekommen. Er hatte als einziger überlebt, weil er damals bei einem Freund übernachtete.

Die Worte kommen bei ihm direkt aus dem Herzen, und egal, was er sagt, selbst wenn es die größten Selbstverständlichkeiten sind, es klingt nie verlogen, sondern immer aufrichtig.

»Noch ist die Krankheit nicht ausgebrochen, oder?« fragte ich.

Takashi schüttelte den Kopf, weinend an Hideos Brust gelehnt.

»Du weißt doch, das kann sich noch lange hinziehen. Wenn alles gutgeht, sogar noch zig Jahre. Da kann man noch so vieles machen!« sagte ich.

Es bestand also tatsächlich die Möglichkeit, daß es auch in meinem Körper ausbrechen würde?

Ich konnte es einfach nicht fassen.

In meinem Bewußtsein ist der Sinn für »Widerstand« ohnehin nur sehr schwach ausgeprägt, und so war es auch damals. Selbst in so einem Moment ist es bei mir völlig normal, daß die Wirklichkeit ungebremst, mit der {17}Geschwindigkeit eines Augenaufschlags durch meine Seele rast und versucht, mich mit den veränderten Umständen vertraut zu machen. Ich betrachtete die Gerbera, die in einer Vase auf dem Tisch stand, auf dem wir gestern das Essen aufgebaut hatten, und dachte: Irgendwie unglaublich, diese Farbe.

Frisch wie eine Frucht, lebendig wie ein Schmetterling.

Wenn ich die Zeit, die ich mit Takashi verlebt hatte, mit einer Farbe vergleichen sollte, dann mit einer so weichen, kräftigen Farbe. Die glücklichen Zeiten, die ich mit diesem einzigartigen Menschen verbracht hatte, sind durch nichts zu ersetzen.

»Ihr seid nicht sauer?« fragte Takashi. Endlich hatte er aufgehört zu weinen.

»Nein, und selbst, wenn ich mich angesteckt hätte, würde ich mir trotzdem nicht wünschen, dir nie begegnet zu sein. Das hat doch damit nichts zu tun. Einen anderen würde ich vielleicht hassen, aber bei dir, Takashi, würde ein solches Gefühl wahrscheinlich nicht einmal dann zum Vorschein kommen, wenn man mich unter Hypnose danach befragen würde«, sagte ich.

»Das geht mir genauso. Und außerdem habe ich da drüben viele Verwandte, die nur darauf warten, daß ich endlich zu ihnen komme«, sagte Hideo, und an mich gewandt: »Was nützt es schon, wenn wir uns aufregen, stimmt’s, Kiyose?«

»Genau!«

Auch wenn ich allein bin, entwickle ich normalerweise keine extremen Gefühle, und jetzt, da ich mit Hideo zusammen war, der sich noch weniger aus der Ruhe bringen läßt, wurde ich noch unbefangener.

{18}Darin liegt vermutlich auch der Schlüssel zu unserer Freundschaft. So jedenfalls sehe ich das.

Mit Takashi ist das anders. Takashi, das ist die Blüte meiner Jugend, mein Lichtstrahl, meine intensivste, süßeste und schmerzlichste Erinnerung. Daß von den Gefühlen von damals nichts mehr geblieben ist, ändert nichts daran, daß ich ihm eine Freundin bin. Und trotzdem: Schon allein der Gedanke an die Kiyose jener Tage löst etwas sehr Lebendiges in meinem Innersten aus. Mag man es nun Erinnerung nennen oder Leidenschaft, für mich ist Takashi ein Mensch vergleichbar einem Kristall, in dem ein wunderschönes Mineral namens Vergangenheit eingeschlossen ist.

Doch gerade deshalb fiel es mir so schwer zu glauben, daß es plötzlich so viel wahrscheinlicher geworden sein sollte, daß er früher aus dieser Welt scheiden würde als ich. Das machte mich total traurig.

»Laß uns ein andermal drüber nachdenken«, sagte Hideo.

»Du hast recht. Wir sind jetzt alle ganz durcheinander«, sagte ich. Takashi schwieg und nickte.

Ich brühte noch einmal Kaffee auf, und Takashi legte eine andere CD ein. Wir alle schwiegen, lauschten der Musik oder legten uns hin und blätterten in einer Zeitschrift. Als wir hungrig wurden, nahmen wir uns von den Resten und tranken wieder frisch aufgegossenen Kaffee oder Tee.

Ganz so, als sei nie etwas gewesen.

Ein bedeutungsvoller Nachmittag – irgendwie.

{19}Der Test, Sehnsucht nach Natur und ein nächtlicher Anruf

Hideo und ich hatten uns vor dem K.-Krankenhaus verabredet.

Drinnen mußten wir ein Anmeldeformular ausfüllen, und man nahm uns Blut ab.

»Allein wäre ich wahrscheinlich zu feige gewesen«, sagte Hideo aufrichtig; daß er aber bedenkenlos den Namen »Takashi Hosoya« in das Formular eingetragen und den Test somit einfach unter Takashis Namen und Adresse hatte durchführen lassen, war eine typisch schwule Gemeinheit.

Ich hatte selbstverständlich meinen eigenen Namen und die richtige Adresse angegeben. Ich brauchte keine schriftliche Bestätigung über das Ergebnis, also füllte ich die Spalte dazu gar nicht erst aus.

Es hieß, man würde uns das Ergebnis zwei Wochen später und zwar ausschließlich in einem persönlichen Gespräch mitteilen. Sollten wir, egal warum, ohne den Durchschlag des Anmeldeformulars erscheinen, würde man uns unter keinen Umständen über das Resultat in Kenntnis setzen.

»Wie wär’s, wenn ich deine Kopie an mich nehme, damit du sie nicht verlierst?« bot mir Hideo an. Ich lehnte jedoch ab, denn ich vermutete, daß er das nicht aus purer Freundlichkeit sagte, sondern aus Angst, dann allein wiederkommen und sich das Ergebnis anhören zu müssen.

{20}»Hast du nicht damals, als wir zusammen ins Onsen2 gefahren sind, die Bahnkarten verloren, die du für uns alle aufbewahren solltest?« erklärte ich. Aber Hideo behauptete: »Das war doch was ganz anderes.«

Als wir nach draußen kamen, war die drückende Krankenhausluft sofort wie weggeblasen. Der Himmel war so blau, daß es fast blendete. Als wir zurückblickten, ragte das hohe Gebäude in den Himmel hinein und beherrschte seine Umgebung.

»Und an einem so schönen Tag leben da drinnen lauter Kranke …«, stellte Hideo fest.

»Die Vorstellung, dort irgendwann einmal ein und aus gehen zu müssen, ist wirklich schrecklich«, antwortete ich.

Wenn man krank ist, ist es gar nicht so schlimm, im Krankenhaus zu sein. Ich kann das beurteilen, denn ich wurde schon einmal wegen irgendeiner Lappalie eingewiesen. Aber wenn man gesund ist, erscheint einem der Gedanke an das Krankenhaus völlig abwegig. Das Zusammenspiel von Körper und Geist funktioniert beim Menschen eben wirklich gut.

 

Das Restaurant vor dem Krankenhaus, in dem wir zu Mittag aßen, hieß PR.

Auf den ersten Blick wirkte Hideo kein bißchen ernst. Er kleckerte mit Bratensaft, während er in einen riesigen Hamburger biß.

»Die Hamburger hier sind wirklich köstlich«, sagte er.

{21}Auf seine Empfehlung hin hatte ich einen Cheeseburger bestellt und kämpfte nun ebenfalls mit dem Bratensaft.

»Wieso kennst du ein Restaurant, das so weit draußen liegt?« fragte ich ihn.

»Weil ich früher schon einmal mit einem Freund hier war. Und weil dieses Krankenhaus dafür bekannt ist, als eines der ersten in die Aidsforschung eingestiegen zu sein. Bei unsereinem ist die Wahrscheinlichkeit sich anzustecken nun mal ziemlich groß. Das Gesundheitsamt führt den Test zwar gratis durch; denkt man aber auch an die anschließende Versorgung, dann läßt man ihn besser im Krankenhaus machen. Eine Zeitlang haben wir die Tatsache, daß wir zum Test gegangen sind, mit ›Wir gehen Hamburger essen‹ umschrieben.«

»Was ist aus deinem Freund geworden?«

»Er ist tot.«

Es gibt Leute, die, ohne daß sie es selbst darauf anlegen würden, relativ häufig mit dem Tod eines Menschen konfrontiert werden, das steht ganz außer Frage. Hideo scheint so jemand zu sein. Warum das so ist, ist mir ein Rätsel, doch wenn ich sterbe, wäre es schön, einen so gelassenen Menschen wie ihn in meiner Nähe zu wissen, dachte ich. Das scheint seine Bestimmung zu sein, vielleicht ist er ja ein Engel.

Die Aura des Sichfügens, die Hideo umgibt, und der Ausdruck in seinen Augen, die irgend etwas Großes gesehen haben, das nicht mehr zu ändern ist, treiben mich seltsamerweise nicht in die Verzweiflung. Wenn ich mit ihm zusammenbin, kommt es mir manchmal vor, als hätte ich eine Ahnung von dem, was man Ewigkeit nennt, so wie {22}man in alten Gemäuern meint, das Lärmen des jahrhundertealten Treibens darin wahrnehmen zu können.

»Du hast sicher viel zu tun? Laß uns einen Tag ausmachen, an dem wir herkommen, um das Ergebnis abzuholen«, schlug ich vor.

»Du hast recht.«

Um den Mund noch ganz verschmiert, zückte er sein Notizbuch und begann nach einem Termin zu suchen. Er kommt mir äußerst lebendig vor, dachte ich.

Als ich zur Mittelschule ging, habe ich einmal in einem Hospiz in den Bergen gejobbt.

Dort lernte ich einen Jungen im Grundschulalter kennen, der später an Lungenkrebs gestorben ist. Der sagte zu mir: »Nimm bloß keine Rücksicht auf mich, nur weil ich krank bin. Für mich wäre jetzt eine kleine Schwester am bequemsten, die sich mit mir streitet.« Und altklug fügte er hinzu: »Wenn du wüßtest, woran ich alles denken muß.«