Ein seltsamer Ort - Banana Yoshimoto - E-Book

Ein seltsamer Ort E-Book

Banana Yoshimoto

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Beschreibung

Die Zwillingsschwestern Mimi und Kodachi haben in Tokyo ein neues Leben begonnen, seit ihre Mutter in der Heimatstadt zwischen Bergen und Meer der Schlafkrankheit verfallen ist. Auf dem abgelegenen Ort lastet eine dunkle Sage. Eines Tages, als Kodachi die Mutter im Krankenhaus besuchen will, verschwindet sie plötzlich. Mimi macht sich besorgt auf die Suche. Alles deutet auf eine geheimnisvolle andere Welt hin.

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Banana Yoshimoto

Ein seltsamer Ort

Roman

Aus dem Japanischen von Annelie Ortmanns

Diogenes

Dieser Roman ist eine dankbare Hommage an den Film Phantasm1, den ich als Kind so geliebt habe. Geneigte Leser, die sich in diesem Film auskennen, werden womöglich nicht umhinkönnen, an so mancher Stelle des Buches zu stutzen und aufzulachen – in diesem Sinne!

Aurora B

 

In der dritten Nacht, nachdem es tagelang durchgeschneit hatte, sah die rote Glut im brennenden Ofen aus wie ein menschliches Angesicht

Komm heim, schnell, komm heim. HO HO – –

Mitten in der vierten Nacht, als der Schnee sich in Eis verwandelt hatte, schellt plötzlich das Telefon, wer das wohl ist, ein Fremder, bestimmt falsch verbunden

Komm heim, schnell, komm heim. HO HO – –

Komm heim, schnell, komm heim, komm schnell heim, jetzt sofort, komm heim. HO HO – –

Am fünf‌ten Morgen, seit du das Haus verließest, als es aufgehört hatte zu regnen, schalte ich die Radionachrichten an, was mach ich nur, wenn du einen Unfall hattest?

HO HO – –

 

JUN TOGAWA, 1985 

Fukiage war schon immer ein seltsamer Ort – umgeben von Meer und Bergen, wie eine einsame Insel, und mit all den merkwürdigen Sagen. Irgendwie weiß ich auch mittlerweile, was diese alten Geschichten wirklich zu bedeuten haben, und als Erwachsene habe ich begriffen, dass die Leute hier sie geschickt in Märchen verwandelt und als solche verstanden haben. Aber erst, als ich von hier weggegangen war, ist mir klar geworden, wie außerordentlich seltsam dieser Ort eigentlich ist.

Wenn ich auf die Zeit hier zurückblicke, fallen mir unweigerlich die schlimmen Sachen ein, die meiner Familie passiert sind, deshalb habe ich das unbewusst vermieden und alles verdrängt. Mit meiner jüngeren Schwester, die mit mir von hier weggegangen ist, habe ich auch kaum darüber geredet.

Letzte Woche nun ist meine Schwester aus unserem Elternhaus verschwunden, nachdem sie alleine hierher zurückgekehrt war.

Mein Gefühl, auf das ich mich normalerweise verlassen kann, sagt mir klar und deutlich, dass ihr nichts Schlimmes passiert ist. Trotzdem mache ich mir allmählich Sorgen. Meine Schwester hat nämlich etwas Draufgängerisches an sich, wissen Sie.

Geht es meiner Schwester gut? Können Sie mir nicht einen Hinweis geben, wie ich sie wiederfinden kann? Ich möchte sie nicht verlieren. Wenn sie nicht mehr wiederkommt, werde ich mir ewig Vorwürfe machen, dass ich nicht aufgepasst habe und bei ihr geblieben bin – ich werde nie wieder normal weiterleben können.

Momentan bin ich in eine Art Panikzustand geraten und weiß selbst überhaupt nicht mehr, was ich machen soll. Da ich nicht in der Lage bin, Ihnen viel zu zahlen, konnte ich nur einen kurzen Gesprächstermin vereinbaren, deshalb entschuldigen Sie bitte, wenn ich Sie jetzt so mit Fragen bombardiere.«

Man munkelte, wenn man diese beiden Frauen, die über schier unglaubliche übersinnliche Fähigkeiten verfügten, für einen ganzen Tag oder auch nur einen halben buchen wollte, müsste man schon einen Batzen Geld hinlegen, und wenn man nicht mit beträchtlichem Vermögen und einer großen Portion Mut ausgestattet war, würden sie einen gar nicht erst empfangen, schließlich kämen Künstler und Politiker extra inkognito aus Tokyo hierher … Solche und ähnliche Gerüchte hatte ich gehört, weshalb ich ziemlich nervös war.

Wenn Sie die letzte Vormittagsstunde nehmen, brauchen Sie nur so viel zu zahlen, wie Sie können, hatte das Mädchen gesagt, das sich am Telefon gemeldet hatte, deshalb hatte ich diesen Termin kurzentschlossen gebucht. Allerdings hätte ich im Leben nicht damit gerechnet, dass es sich bei diesem Mädchen um eine der Wahrsagerinnen selbst handelte.

Draußen vor dem Fenster des Hauses, das auf einer Anhöhe stand, herrschte inzwischen der dichte, für Anfang Herbst in dieser Gegend so typische Nebel, der sich im Morgengrauen gebildet hatte. Es war schon fast Nachmittag, trotzdem waberte er immer noch durch die Stadt, benebelte meine Sinne und machte mich noch benommener, als ich ohnehin schon war.

Ja, stimmt, jetzt fiel mir wieder ein, wie nebelig es hier ab dem Ende des Sommers immer wurde, das hatte ich in der Zeit, als ich fort war, vollkommen vergessen.

Wenn einen dieser Nebel einhüllte, der sich aus den Bergen langsam herabwälzte und die Farbe dicker Milch hatte, wurde man so benommen im Kopf, dass man keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Mich befiel nostalgische Melancholie. Dieses törichte, schöne Gefühl war so intensiv, dass einzig der emotionale Teil in meiner Brust um sein Vielfaches anschwoll. Traurigkeit wie Glück, alle Gefühlsregungen wurden über ihr tatsächliches Maß hinaus verstärkt, sodass die Welt in meinem Herzen echter wirkte als die Wirklichkeit. Mein reales Ich konnte gar nicht mehr energisch agieren, so als wäre es teilweise davon aufgesogen worden.

Obwohl man von Tokyo aus mit Bus und Bahn in ungefähr zwei Stunden hier sein konnte, wurde die Gegend kaum von Touristen besucht. In den Sagen hieß es, in grauer Vorzeit habe es hier in der Stadt ein Tor zu einer anderen Dimension gegeben.

Die von niedrigen Bergen umrahmte Stadt lag an einem zur Bucht hin sanft abfallenden Hang, an den sich, wie Wellen ineinandergreifend, die Giebelreihen schmiegten. Die Bucht lag immer ruhig und klar da wie ein Spiegel, weshalb sie den Namen Spiegelbucht trug. An ihrem Ufer lagen Fischerhäfen und kleine Strandbäder. Tagsüber glitzerte sie leise im Sonnenlicht, das vom Meer zurückgeworfen wurde, und in der Nacht war sie mit vereinzelten Lichtern besetzt.

Diese Stadt, so schön, so klein und fein wie ein Schmuckkästchen – und doch lag sie immer, wenn ich an sie dachte, hinter einem Filter der Traurigkeit.

*

Vor mehr als zehn Jahren hatten meine Eltern einen schweren Verkehrsunfall.

Mein Vater starb bei diesem Unfall, und meine Mutter liegt seither im Koma.

Meine nachgeborene Schwester Kodachi und ich – wir sind zweieiige Zwillinge – waren damals noch in der Grundschule, daher wurden wir im Hause von Herrn Kodama, dem hiesigen Eismacher und Eisdielen-Betreiber, und seiner Frau Masami aufgenommen, denn Herr Kodama galt als entfernter Verwandter unserer Mutter, und das Ehepaar Kodama war außerdem immer eng mit meinem Vater befreundet gewesen.

»Galt« schreibe ich deshalb, weil Mutters Vergangenheit ein einziges Rätsel ist und große Teile davon sowohl uns als auch ihr selbst unbekannt geblieben sind.

Herr Kodama war ein fleißiger, grundanständiger Mann.

Er hatte ein Allerweltsgesicht und eine Halbglatze, trug aber den Haarkranz, den er sich hatte lang wachsen lassen, hinten zusammengebunden, und dank seiner Liebe zu allem Süßen wölbte sich sein Bauch deutlich vor.

Seine Frau Masami, die ihren Mann abgöttisch liebte und anbetete, der wiederum nichts als sein Eis im Kopf hatte und wie er es noch leckerer machen könnte, empfand unsere Anwesenheit meiner Vermutung nach als störend und fragte sich wohl insgeheim, wie lange wir denn noch bei ihnen leben wollten.

Da wir das unterschwellig ganz genau spürten, konnte keine Rede davon sein, dass wir uns im Hause Kodama heimisch fühlten, auch gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass Mutter aus dem Koma erwachen würde, und so verließen wir zwei Schwestern mit achtzehn fürs Erste die Stadt.

*

Meine Schwester Kodachi kam ganz nach meinem Vater, der ein zierlicher Mann gewesen war, und hatte süße kleine, leuchtende Augen. Auch mit ihrem runden Gesicht und der Kinnlinie ähnelte sie ihm sehr. Sie war kleiner als ich, und wollte man sie mit einem Tier vergleichen, dann wohl am ehesten mit einem jungen Eichhörnchen.

Kurzum, sie sah aus wie die niedlichen Mädchen in den Anime-Filmen und entsprach damit genau dem Typ, der bei japanischen Männern angesagt ist.

Alles, was sie trug, entwarf und schneiderte sie selbst, denn das war ihr Beruf, aber Schnitt und Farben waren so schlicht, dass ich am liebsten gesagt hätte: »Gehörst du zu den Amischen oder was?« Der Standardspruch, mit dem ich sie aufzog, war: »Ach, du bist es, Kodachi! Ich dachte schon, es wäre ein Baum, so unauf‌fällig, wie du wieder daherkommst!«

Ich selbst pflege einen eher burschikosen Stil, ‌trage am liebsten jungenhafte Kleidung, habe Sommersprossen und schminke mich nicht. Meine hellbraunen Haare lasse ich auf Kinnlänge gerade abschneiden zu einem klassischen Bubikopf.

Ich habe immer so was wie Jeans und Parka an, und mein Körper hat die Form einer Olive: schmal und annähernd busenlos. Auch wenn es komisch klingt, das von mir selbst zu sagen, aber von meiner Mutter, die eine Schönheit gewesen ist, habe ich immerhin das Gesicht mit den Mandelaugen. Doch im Unterschied zu ihrer unglaublichen Eleganz fehlt mir jede erotische Ausstrahlung. Ich bewege mich gern, und meine Hobbys sind Tischtennis und Boxen, für Basketball oder Leichtathletik bin ich nämlich zu klein.

Böse Zungen unter unseren Freunden behaupten, wir Schwestern sähen aus wie Seiko und Nagisa vom Comedy-Duo »Amakō Inter«, aber das finde ich übertrieben. Wenn schon, dann möchte ich lieber mit Aoi MIYAZAKI und Fumi NIKAIDŌ verglichen werden (weil das vom Alter und von der Statur her besser hinkommt). Vielleicht trifft man uns am ehesten mit der Umschreibung »die Adrette und die Wilde«.

Jedenfalls sollte man jetzt ein ungefähres Bild von unserem Aussehen haben.

*

Wir ließen unsere Mutter, die seit dem Unfall im Koma lag, in der Obhut des Krankenhauses unserer Heimatstadt und lebten den Traum fröhlicher Studentinnen: Wir genossen in vollen Zügen unser Leben, zu zweit in einer kleinen Wohnung in der Anonymität Tokyos, fernab von seltsamen Überlieferungen und Themen, denen man nicht auf den Grund gehen durf‌te.

Und wir waren fest davon überzeugt, dass dieses Leben noch eine ganze Weile so weitergehen würde.

Da wir keinerlei Probleme miteinander hatten, glaubte ich, Kodachi und ich würden uns sicher wieder eine Wohnung suchen, in der wir so zusammenleben könnten wie in Tokyo, falls wir irgendwann einmal in unsere Heimat zurückkehren sollten.

Weil in der ersten Hälfte meines Lebens allzu viel passiert war, glaubte ich, wenn es bis zu meinem Tod einfach so weiterliefe wie jetzt, wäre das für ein erfülltes Leben voll und ganz ausreichend.

*

Nachdem das alles aus mir herausgesprudelt war, nickte das Mädchen mit den langen Haaren leise und begann, der neben ihr liegenden alten Frau ins Ohr zu flüstern.

Die Alte lag in einem dicken tiefschwarzen Baumwollkleid auf einem schönen Himmelbett. Dass das Kleid weder aus Seide noch aus Viskose, sondern aus Baumwolle war, verlieh ihm etwas eigenartig Reales.

Das Kopfende des Bettes war leicht erhöht; das Mädchen hatte sich vorgebeugt und die wohlgeformten, ein mystisches Flair verströmenden Lippen direkt ans Ohr der Alten gebracht.

Eine flauschige hellblaue Kaschmirdecke lag locker über sie gebreitet. In der Kristallvase neben dem Bett stand eine Menge langstieliger roter Rosen. Von dort strömte ein schwacher, frischer Duft herüber wie der Parfümhauch einer Schönheit.

Das Mädchen sagte: »Ich werde ihre spirituelle Botschaft für Sie übersetzen und sie Ihnen übermitteln. So führen wir unsere parapsychologische Beratung durch.«

Ich war einfach nur überwältigt, denn noch nie hatte ich eine derartige Behausung betreten, in der so verschwenderisch viel Platz und alles aus den erlesensten Materialien gefertigt war.

Grau-weiß gestreif‌ter massiver Marmor, riesige Lüster aus hellem, feinem venezianischen Glas, ein dicker Teppich, so dicht gewebt, wie ich es noch nie gesehen hatte. So einer wie die, die im Teppichgeschäft immer ganz hinten an der Wand hängen. Sicher einige oder gar zig Millionen Yen wert.

Die Gardinen aus sichtlich gutem Stoff‌ waren in dicke, schwere Falten drapiert und hatten weiße Spitzenvolants, so zart und durchscheinend, dass sie wie Spinnweben zitterten und schöne Schattenmuster warfen, so als wäre das ganze Fenster bestickt.

Ich war schlichtweg hingerissen von all den Dingen, die ich sonst nur aus Filmen kannte.

Ich fragte mich, was es mit diesem Gefühl von Pfl‌ichterfüllung auf sich hatte, das in dieser abgeschiedenen Stille lebendig war und sich auf mich übertrug. Für alles war gesorgt, nichts wurde vernachlässigt. Mir war, als besäßen alle Dinge in diesem Raum ein Eigenleben.

Ich erschrak, als die Alte plötzlich im Liegen etwas mit schwacher Stimme flüsterte. Sie hatte nämlich nicht so ausgesehen, als sei sie überhaupt bei Bewusstsein.

»Glauben Sie mir?« Die Stimme des Mädchens klang auf einmal viel kälter und emotionsloser, als sie mir die Worte der Alten übermittelte.

Unter einem der großen, strahlenden Augen des Mädchens war ein blauer Stern gemalt, etwa gleich groß wie das Auge und in einem einzigen Pinselzug. Seine Position und Gestalt wirkten wie spontan und beiläufig gewählt, standen aber in perfektem Einklang miteinander. Mein Zauber wirkt nur an dieser einen Stelle, schien mir der blaue Stern zu sagen.

»Trotz unseres Aussehens sind wir doch Zwillingsschwestern. Um unsere Fähigkeit zu erlangen, darf die eine nie erwachsen werden und musste die andere die Gestalt einer Greisin annehmen. In Wahrheit sind wir jedoch gleich alt. Wenn der Körper meiner älteren Schwester stirbt, werde auch ich sterben, so, wie ich jetzt aussehe, und unsere Arbeit wird beendet sein. Gegenwärtig lebt meine Schwester im Reich des Schlafes, kann nur meine Worte verstehen und macht im Reich des Schlafes die Dinge ausfindig, die für unsere Klienten von Bedeutung sind. Diese Informationen sind korrekt. Denn im Reich des Schlafes sind alle miteinander verbunden«, sagte das Mädchen.

»Ich kann noch nicht sagen, ob ich Ihnen glaube oder nicht, aber ich bin bereit, mich überzeugen zu lassen«, antwortete ich und nickte.

Alles war so unheimlich, dass ich mir sogar zu wünschen begann, dass irgendein berühmter Produzent hinter dem Geschäft dieser Schwestern steckte und es sich bei alldem nur um eine erfundene Geschichte an einem Filmset handelte.

Mich schauderte, weil ich mich bis in den hintersten Winkel meiner Seele durchschaut fühlte, und mein Körper wurde starr vor Anspannung bei dem Gedanken, was mir hier noch alles passieren könnte – beispielsweise wäre es nicht einmal verwunderlich, ermordet zu werden. Aus allen Ecken des Raumes stieg ein dichtes Etwas, eine Art mystische Atmosphäre auf und rief mir wieder in Erinnerung, an welch eigentümlichem Ort ich mich befand.

Ich verhielt mich widersprüchlich, denn ich war ja selbst hierhergekommen, um ihre seherische Hilfe in Anspruch zu nehmen, doch allein durch die Tatsache, dass es keinerlei Informationen über die beiden im Internet gab, musste mir klar sein, dass dieser Ort mit einer großen Macht verbunden war.

Hierher in das sogenannte »Regenbogenhaus« zu kommen und die Schwestern um ihre hellseherische Unterstützung zu bitten wurde von den hiesigen Leuten als »Ultima Ratio« bezeichnet. Obwohl ich mich noch lange nicht in der Situation befand, zum äußersten Mittel zu greifen, hatte mir meine Intuition zweifelsfrei geraten herzukommen. Und so war ich erschienen. Draufgängerisch – das war nicht nur Kodachi, das war auch ich, Mimi Kodama.

»Sie brauchen nicht daran zu glauben. Dieses Leben hier ist uns einzig durch jene Macht zugefallen. Ich habe lediglich geprüft, ob Ihr Gemüt flexibel genug ist, mit Unbekanntem umzugehen.«

Das Mädchen blickte mich unverwandt an und schien dabei mein Innerstes zu durchdringen. Die Alte im Bett begann wieder mit leiser Stimme zu reden. Diesmal etwas länger. In einer Sprache, die ich nicht zuordnen konnte.

»Das größte Problem ist …«

Hier machte das Mädchen eine Pause. Ich wartete gespannt ab.

»Sie sind übereifrig, wenn es um Ihre Schwester geht, beziehungsweise wenn es um etwas geht, das Sie lieben und nicht verlieren wollen. Ich meine diese übersteigerte Art, sich Sorgen zu machen. Das ist nicht ganz unverständlich, wenn man Ihre Lebensgeschichte betrachtet. Aber es wäre der Schlüssel dazu, Ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen, wenn Sie einsehen würden, dass die Kraft, die Sie dafür aufwenden, ein ungesundes Ausmaß angenommen hat.

Wenn Sie diesen Seelenzustand nicht auf‌lösen und von Grund auf kurieren, werden Sie Ihre angeborenen Gaben, Ihr erfrischendes, herzensgutes Naturell und Ihr herausragendes Talent zur Intuition nicht entfalten können. Sollten Sie eine Liebe finden und Kinder bekommen, wird sich Ihre Not nur noch verschlimmern. Ihr Leben würde einem langsamen Dahinsterben gleichkommen. Nun bedeutet leben zwar so oder so, langsam dem Tod entgegenzugehen, aber als eine Art Lebensberater können wir es nicht zulassen, dass Sie dahinsterben, ohne Ihr eigentliches Selbst entfalten zu können. Denn das hier ist unsere Berufung, und sobald wir jemandem auch nur ein einziges Mal begegnet sind, dürfen wir diesen Menschen nicht mehr sich selbst überlassen.«

Sie hat recht, genau so ist es, dachte ich und hatte das Gefühl, dass mich ihre Macht längst niedergestreckt hatte.

Genau das war mein Problem.

Dass meine Schwester verschwunden war, war tatsächlich sehr schlimm, aber an der Wurzel des Übels saß das zutiefst verängstigte kleine Mädchen in mir. Und ihm wollte ich auf keinen Fall ins Auge sehen.

»Ihr Vater ist bedauerlicherweise nicht mehr auf dieser Welt. Ihre Mutter leidet seit dem Unfall an der Schlafkrankheit. Derselben Schlafkrankheit, an der auch meine Schwester leidet, ein in dieser Gegend grassierendes Syndrom. Darüber zu sprechen ist ein Tabu in dieser Stadt, aber es gibt noch eine ganze Reihe Patienten, die seit Jahrzehnten in dieser Art von Schlaf liegen. Glücklicherweise kann meine Schwester durch ihre besondere Fähigkeit ihrer Arbeit nachgehen, wie Sie sehen, und sie braucht auch nur ein Minimalmaß an Pflege.

Ihre Mutter ist eine bildschöne, starke Frau. Sie hat Humor, ist positiv – eine wunderbare Persönlichkeit. Einziger Wermutstropfen war ihr etwas lockerer Lebenswandel, nicht wahr? Wenn Ihr richtiger Vater nicht zu Hause war, hatte sie so einige Liebhaber und hat Ihnen eine Reihe von potenziellen Ersatzkandidaten vorgestellt und dergleichen. Sie hatte eben einfach gerne Spaß, weil sie ein fröhlicher Mensch ist.«

Ich sah ihr direkt in die Augen und nickte.

»Des Weiteren ist Ihre Schwester hierher zurückgekommen, um zu überprüfen, ob Sie beide wirklich zur Hälfte Außerirdische sind und ob es tatsächlich eine Möglichkeit gibt, Ihre Mutter aufzuwecken. Sie ist nämlich früher schon einmal von der Schlafkrankheit erwacht und unterscheidet sich deshalb von den anderen Patienten. Ihre Schwester hat Sie vor ihrem Kommen wahrscheinlich nicht im Einzelnen darüber informiert, da sie davon ausgehen musste, dass Sie ihr dann ganz sicher hätten helfen wollen«, sagte sie rundheraus.

»Aber das … Was sagen Sie da?! Außerirdisch – ist damit ein fremder Stern im All gemeint? Oder eine andere Dimension? Oder so etwas wie eine Welt unterhalb der Erdoberfläche? Ich kenne ja die Sage von dem geheimnisvollen Loch hier irgendwo in der Stadt, das mit einer anderen Welt verbunden gewesen sein soll. Und ich weiß auch, dass diese Geschichte und das mit der Schlafkrankheit hier irgendwie tabu sind. Aber ich hätte nie gedacht, dass das etwas mit uns heute zu tun haben könnte. Sicher, das Krankenzimmer meiner Mutter liegt in einem besonderen, etwas zurückliegenden Flügel des Krankenhauses. Es soll keine Therapiemöglichkeit geben. Anders als bei einem gewöhnlichen Koma sind Stoff‌wechselaktivität und Körpertemperatur sehr niedrig, sodass sie kaum zu altern scheint. Vom behandelnden Arzt habe ich erfahren, dass sie langsam dahinsterben und wohl nie mehr aufwachen wird.« Wie immer, wenn ich Fremden gegenüber von meiner Mutter sprach, wurde mir schwarz vor Augen.

Denn es rief mir überdeutlich wieder ins Bewusstsein, dass sie sich nach wie vor, auch in diesem Moment, im Reich des Schlafes befand.

Ungerührt fuhr das Mädchen fort:

»Auf der Erde gibt es eine ganze Reihe von Zugängen zu einer anderen Welt, und so hat es das eben zufällig auch in dieser Stadt einmal gegeben. Wie man das nennt, wohin dieser Zugang führte – ob nun fremder Stern oder andere Dimension oder dergleichen –, spielt eigentlich keine Rolle. Niemand weiß genau, was es gewesen ist. Es hat ein Portal in eine Welt gegeben, die kulturell, zivilisatorisch und wissenschaftlich gar nicht so verschieden, nur einfach anders war, und dieses Tor wurde von den damaligen Leuten akzeptiert, bis es irgendwann wieder zuging und der Übertritt nicht mehr möglich war – das war alles. Dass sich das Portal schloss, soll irgendwann in der frühen Meiji-Zeit geschehen sein, wie man sagt, doch das an sich stellte auch kein großes Problem dar.

Ihre Schwester lässt Ihnen ausrichten, dass sie Sie sehr liebt. Und sie ermahnt Sie außerdem, nicht immer nur Eis zu essen, sondern vernünftige Mahlzeiten zu sich zu nehmen. Mit ihrem Bewusstsein ist Ihre Schwester praktisch ständig an Ihrer Seite.

Damit Sie an unsere Fähigkeiten glauben können, erlauben wir uns anzufügen, dass Ihre Schwester Ihnen den Ring schenkt, den sie Ihnen geliehen hat. Den mit dem Onigiri-Türkis, wie sie sagt.«

Da kullerten mir die Tränen nur so aus den Augen die Wangen hinunter. Den Ring an meinem Finger mit dem eingefassten dreieckigen Stein, den Kodachi »Onigiri-Türkis« nannte, trug ich wie einen Talisman – wie eine Rettungsleine, die mich mit Kodachi verband.

Ich hatte ihn beim Abschied ausgeliehen und ihn ihr nicht zurückgeben können, da wir uns seither nicht mehr wiedergesehen hatten.

»Wenn meine Schwester tot ist, möchte ich auch nicht mehr leben.« Die Worte kamen mir unerwartet heftig über die Lippen, und die Tränen fanden kein Halten mehr. Mir war offenbar selbst nicht bewusst gewesen, wie sehr ich Kodachi wiedersehen wollte. Das Mädchen wartete still, bis ich meine Tränen unter Kontrolle hatte. Ihr bedingungsloses Abwarten beruhigte mich. Sie wurde dabei nicht ungeduldig und schob sich selbst nicht in den Vordergrund. Sie war einfach nur und zugleich zweifelsfrei da. Ich spürte, dass ich es mit einer versierten Expertin zu tun hatte.

*

»Sieh mal, Mimi, der hier würde super zu deinem blauen Shirt passen! Wo du in puncto Schönheit schon nach Mama kommst, könnte es nicht schaden, wenn du dich ein bisschen aufbrezelst! Ich leihe dir auch alles, was ich an schicken Teilen besitze – du kannst haben, was du willst«, hatte Kodachi mit großen, runden Augen gesagt.

Das war vorige Woche gewesen. Was ich doch für eine nette, großzügige Schwester hatte! Selbst ihre liebsten Sachen würde sie mir jederzeit ausleihen.

Als sie mir den Ring entgegenstreckte, trug sie ihr geliebtes olivfarbenes Kleid mit dem schlichten Schnitt und war barfuß mit knallrot lackierten Zehennägeln. Und sie lächelte, gut gelaunt wie immer.

Ich kannte keinen anderen Menschen, der ständig so gute Laune hatte wie sie. Auch wenn ihr Lächeln vielleicht dazu diente, sie selbst vor den Unbilden des Lebens zu schützen, veranlasste es doch jeden, dem es geschenkt wurde, dazu zu denken: Wie schön, dass du auf der Welt bist!

An jenem Tag war ich für ein erstes Date mit einem älteren Mann verabredet, den ich neu kennengelernt hatte, deshalb freute sie sich, mir diesen Ring ausleihen zu können.

»Vielen Dank, Kodachi – auch, weil du dich immer so nett um mich kümmerst!«

»Wenn du nur glücklich wirst, Mimi, denn dann bin ich auch glücklich! Und ich werde auch nicht eifersüchtig, versprochen«, beeilte sich die gutmütige Kodachi zu versichern.

»Bestell Herrn Kodama viele Grüße, und iss nicht zu viel Eis! Und grüß Mama schön von mir. Sag ihr, Ende des Monats komme ich sie auch besuchen«, sagte ich.

»Heute Abend macht Tante Masami extra Paella für mich, hat sie gesagt. Sorry – die werde ich dann wohl allein essen müssen, dafür bringe ich dir aber Eis mit, okay?«, sagte Kodachi mit unbekümmertem Lächeln. Dass sich dahinter ein schwerwiegender Entschluss verbarg, davon hatte ich überhaupt nichts mitbekommen.

»Halb so wild, mach dir wegen mir bloß keinen Stress«, erwiderte ich.

»Wenn ich zurück bin, sehen wir uns die nächste Folge der neuen Serie mit CHOI Ji-Woo zusammen an, ja? Guck bloß nicht alleine weiter, hörst du!«, sagte sie und lachte.

»Nein, ich leihe uns die nächsten Folgen nur schon mal aus, sehe sie mir aber noch nicht an«, versprach ich.

Die ausgeliehene DVD lag immer noch da. Unangetastet in der Tüte der Mediathek neben dem Fernseher. Wer hätte damit gerechnet, dass sie so lange nicht angeschaut würde. Als ich an unser verlorenes Wochenende dachte, schnürte es mir die Brust zusammen.

»Hör mal, wir haben wirklich Glück, dass wir hier so zusammenleben können, so ruhig und friedlich. Am liebsten möchte ich jeden Tag auskosten wie leckeres Wasser. Ich bin froh, mit dir nach Tokyo gekommen zu sein, Mimi. Wir hatten eine solche Zeit bitter nötig. Danke dafür. Erst dadurch, dass ich hier leben konnte, habe ich endlich zu mir selbst gefunden und bin nun in der Lage, aktiv zu handeln. Das Gefühl habe ich wirklich«, hatte Kodachi plötzlich gesagt, mit funkelnden Augen und liebevollem Blick.

»Na, Gott sei Dank! Aber mir geht es ganz genauso!«, hatte ich erwidert, mir weiter keine Gedanken darüber gemacht und war zur Tür hinausgegangen.

*

»Wir können Mama doch nicht einfach hier im Koma liegen lassen und nach Tokyo ziehen – ich bin strikt dagegen!«, hatte Kodachi damals gesagt, und ich hatte sie mehr oder weniger hinter mir hergeschleift.

Ich überzeugte sie davon, dass wir fernab des erdrückenden Magnetfelds der Heimat versuchen sollten, unser eigenes Leben zu überdenken, und wenn es nur für kurze Zeit wäre. Kodachi glaubte daran, dass Mutter irgendwann aufwachen würde, ich dagegen hatte das schon überwiegend aufgegeben. Nüchtern zog ich die Möglichkeit in Betracht, dass Mutter ihr Leben im Koma beenden würde, und hielt es für meine Aufgabe als der Älteren, mir über unser beider Zukunft Gedanken zu machen.

»Es ist jetzt eine ganze Weile vergangen, seit Mama in diesem Zustand ist. Wir wissen nicht, ob sie jemals wieder aufwacht, und anstatt hier neben ihr zu sitzen und Trübsal zu blasen, sollten wir die Zeit nutzen, um weiter zur Schule zu gehen und für die Zukunft zu lernen. Besser, als unsere Ausbildung hier zu machen und in diesem depressiven Zustand alt zu werden, wäre es, einmal eine Zeit lang von hier wegzugehen und entspannt irgendwo anders zu verbringen – das wird sich später sicher auszahlen, denke ich. Sobald sich abzeichnet, dass wir in der Lage sind, auf eigenen Füßen zu stehen, können wir von mir aus hierher zurückkommen und uns zeit unseres Lebens um Mamas Pflege kümmern.«

Damit hatte ich sie überzeugt.

Wir mieteten eine kleine Wohnung im Tokyoter Viertel Shimokitazawa, von wo aus Kodachi eine Fachschule für Schneiderei und ich das Institut für Kunst und Literatur einer Kurzuniversität besuchte.

Nach ihrem Abschluss nahm Kodachi Bestellungen an, wie die Kostüme für eine befreundete Theatergruppe zu nähen oder die Kleider für eine Hochzeitsfeier zu schneidern – die Auf‌tragslage war dünn, aber stetig, sodass sie unermüdlich arbeitete.

Ich half, wenn viel los war, in der Bar eines Freundes aus, machte die Rezeption in der Box-Trainingshalle und im Yoga-Studio oder jobbte als Texterin. Wir genossen die Tage der befristeten Freiheit in diesem Zwischenstadium, in dem einiges in die Spur kam und anderes wiederum nicht gut lief, sodass wir mal drauf und dran waren zurückzukehren und es dann doch nicht taten.

Bis sich Kodachis Arbeit so weit eingependelt hatte, dass sie sie auch in der Heimat machen konnte, wollte ich bei ihr in Tokyo bleiben, mich ums Kochen und Putzen kümmern und, da ich ja die zeitlich Flexiblere war, sooft es ging, nach Hause fahren, um nach Mutter zu sehen, denn sie würden wir niemals im Stich lassen. Wir würden sie bis zum Schluss begleiten, auch wenn sie nie mehr wach werden würde und es tief‌traurig war, dass sich ihre Hand so kalt wie die einer Toten anfühlte.

Diesen Entschluss hatten wir damals gerade gefasst.

Mit meinen Gedanken ganz bei meinem Date, war ich einfach an Kodachi vorbei aus der Tür ges‌türmt – ich wusste ja nicht, dass ich sie lange nicht wiedersehen würde –, deshalb hatte sich mir nicht einmal ihr strahlendes Lächeln oder das Bild ihres Augenaufschlags eingeprägt.

Dabei war das Date keinesfalls gut gelaufen, im Gegenteil: Das Gespräch mit dem Mann war einfach nicht in Gang gekommen. Mittlerweile konnte ich mich kaum noch an sein Gesicht erinnern.

Als ich enttäuscht nach Hause kam, war Kodachi schon abgereist und die Wohnung leer.

Der Mann hatte nur über sich selbst gesprochen, sogar die Sushi hatte er nicht sofort gegessen, sondern vor sich auf dem Teller liegen lassen und weitergeredet. Da er mich eingeladen hatte, konnte ich es nicht laut sagen, doch im Stillen dachte ich die ganze Zeit: Jetzt iss schon endlich, iss! Und als ich schließlich erzählte, dass ich zum Yoga-Training einen Monat in Indien gewesen war, hatte er ein Gesicht gemacht, als sei ihm etwas Widerwärtiges unter die Augen gekommen. Trotz seines guten Aussehens hätte ich mir echt sparen können, diesen Mann zu treffen – das alles hätte ich nur zu gern mit Kodachi besprochen.

Wir zwei waren Verbündete, das stand felsenfest – was auch passierte, auf Kodachi konnte ich mich verlassen.

Selbst wenn wir stritten, vertrauten wir der anderen bedingungslos, logen uns niemals an und bemühten uns um eine zivile Sprache. Indem wir so aufeinander achtgaben und uns aneinander festhielten, konnten wir über Vaters frühen Tod hinwegkommen und die ganze Zeit zusammenbleiben. Wir waren zwar nur zweieiige Zwillinge, verstanden und kannten uns gegenseitig aber besser als eineiige.

An jenem Abend meldete sich Kodachi nicht bei mir, und ich dachte noch, sie ist bestimmt müde und früh ins Bett gegangen.

Am nächsten Morgen rief Herr Kodama an: »Kodachi hat eine Nachricht hinterlassen, ist aus dem Haus gegangen, aber nicht zurückgekehrt.«

Daraufhin bin ich Hals über Kopf nach Fukiage gekommen.

In unserem Elternhaus (wie wir das Haus der Kodamas nennen) habe ich dann auf eine Nachricht von Kodachi gewartet, ihr zahllose Nachrichten geschrieben und immer wieder versucht, sie anzurufen. Aber ihr Handy blieb ausgeschaltet, die Nachrichten blieben ungelesen, und seit einer Woche ist Kodachi nun schon verschwunden.

Mir war zu Ohren gekommen, dass die hiesige Polizei enge Verbindungen zu dem Großgrundbesitzer unterhielt, dem das meiste Land in dieser Gegend gehörte, und dass dessen Familie meine in vielerlei Hinsicht auf‌fällige Mutter nicht besonders mochte. Womöglich, weil Mutter einiges über die Geschichte der Stadt geschrieben hatte und unser verstorbener Vater nicht von hier stammte, war meine Vermutung. Als meine Eltern den Autounfall hatten, machten daher auch allerlei Gerüchte die Runde, es könnte sich um ein Komplott oder Attentat gehandelt haben.

Vielleicht auch vor diesem Hintergrund begegnete man mir bei der Polizei mit der unverhohlenen Attitüde »Schon wieder! Diese Leute machen nichts als Ärger …« und fertigte mich nur schroff mit dem Hinweis ab: »Tja, wenn ein erwachsener Mensch einfach so verschwindet, können wir nach nur einer Woche leider noch nicht tätig werden.«

In dem Brief, den Kodachi hinterlassen hatte, stand: »Ich möchte etwas über Mutters Krankheit in Erfahrung bringen, deshalb werde ich mich eine Weile hier in der Stadt und der Umgebung umschauen, vielleicht muss ich auch noch etwas weiter weg, aber ich bin bald zurück.«

Die Tage der Ungewissheit ohne Kodachi, die ich doch so bald wiederzusehen glaubte, schienen meinen Körper von innen auszuhöhlen und wurden schier unerträglich für mich.

Denn auch über Unerträgliches hatte ich bisher immer erst mit Kodachi geredet, und so war ich nach einigen Tagen ohne jemanden, bei dem ich das alles hätte loswerden können, schließlich hierher ins »Regenbogenhaus« gekommen.

Als ich das Geschehene bis hierhin durchgegangen war, fiel es mir plötzlich wieder ein: Moment mal, hatte es nicht schon, als ich klein war, immer geheißen, die Wahrsagerinnen im »Regenbogenhaus« seien ein Gespann aus einem jungen Mädchen und einer alten Frau?

Was, wenn die beiden nicht alterten und es sich am Ende immer um dieselben unveränderten Personen handelte? Bei dem Gedanken lief es mir kalt den Rücken herunter, ich hätte am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre weggerannt. Beruhige dich, beschwor ich mich selbst. Wenn du jetzt anfängst, dir gruselige Vorstellungen zu machen, wirst du sie nicht wieder los. Nun bist du schon mal hier, außerdem wirst du auf solche Menschen wie sie sicher nur einmal im Leben treffen – so versuchte ich, mich dazu zu bringen, ihnen beherzt und ohne Vorurteile oder Argwohn zu begegnen.

*

»Gut so – legen Sie erst einmal Ihre Angst ab, und konzentrieren Sie sich ganz darauf, alles von uns in sich aufzunehmen, darauf kommt es jetzt an«, sagte das Mädchen, und ich zuckte zusammen.

Sie fuhr fort: »Ihr Ziehvater betreibt die Eisdiele in dieser Stadt. – Ach so, ja natürlich, Herr Kodama vom ›Dream-Icecream‹, nicht wahr? Bitte verzeihen Sie, Letzteres war ein Kommentar meinerseits. Ich schwärme nämlich sehr für seine hausgemachte, schnörkellose Eiscreme, die immer noch genauso schmeckt wie früher. Er verwendet nur die besten Zutaten, ohne an den eigenen Profit zu denken, so als würde er das Eis für seine Familie zu Hause zubereiten, nicht? Die ganze Stadt liebt seine Eiscreme!«, sagte das Mädchen und fuhr sich dabei mit der Zunge über die Lippen, als könnte sie das Eis wirklich schmecken.

»Aber gerade eben hat doch Ihre Frau Schwester gar nichts gesagt«, rutschte es mir allzu spitzfindig heraus.

»Da das jetzt nichts zur Sache tut, können Sie es nehmen, wie Sie wollen. Wir sind zu zweit eins. Genauso, wie Sie beide sich überhaupt nicht ähnlich sehen, obwohl Sie doch Zwillingsschwestern sind.«

Das Mädchen lächelte.

Sie hatte mir auf den Kopf zugesagt, dass Kodachi und ich zweieiige Zwillinge sind.

Eingeschüchtert blieb ich still und wartete ab, wie es weiterging.

Aus dem Mund der Alten drang wieder ein eigenartiger, langgezogener Ton. Die Intonation blieb flach, es klang nach einem Kirchenlied oder wie beim Chanting.

»Wie ich Ihnen vorhin schon sagte, hat Ihre Schwester infolge eines bestimmten Geschehens ihren Körper ausgelöscht, um mit Ihrer Mutter in Verbindung treten zu können. Sie ist unerschrocken in ihrer Mission, Ihre Mutter hierher in diese Welt zurückzubringen. Momentan ist sie sicher noch dabei, die Methode auszuloten, mit der sie das bewerkstelligen könnte«, sagte das Mädchen.

»Heißt das, sie ist tot? Wenn sie keinen Körper mehr hat, kann man doch nicht sagen, dass sie am Leben ist, oder?«, wollte ich entsetzt wissen.

»Nun, die Sache verhält sich etwas anders: Demnach verfügt Ihre Schwester über die besondere Fähigkeit, in eine andere Welt eintreten, ihren Körper zunächst zerlegen und dann zu gegebener Zeit wieder in alter Form zusammenfügen zu können – in der Theorie, wenn das Timing stimmt, wie sie sagt. Da ihr nun die Idee gekommen ist, auf diese Weise vielleicht in der Lage zu sein, Ihre Mutter zurückzuholen, hat sie unverzüglich begonnen, dieses Unterfangen in die Tat umzusetzen.«

»Was ist denn nur passiert? Und was heißt ›zerlegen‹? Das ist ja … Werde ich denn meine Schwester, ich meine, meine Schwester in ihrem Körper jemals wiedersehen können?«

»Im Vergleich zum Fall Ihrer Mutter, wo einfach zu viel Zeit verstrichen ist, ist diese Wahrscheinlichkeit bei Ihrer Schwester sehr hoch. Im Übrigen ist Ihre Schwester klar bei Bewusstsein, ihre Präsenz hat weder nachgelassen, noch ist sie mit dem Raum verschmolzen oder dergleichen.«

»Ist es ihr denn im Moment noch unmöglich zurückzukehren?«

Beim Gedanken an die Möglichkeit, Mutter doch noch einmal bei Bewusstsein zu erleben, spürte ich tief in meiner Brust einen pochenden Schmerz. Wie viele Tausend Mal hatte ich davon geträumt?