Ihre Nacht - Banana Yoshimoto - E-Book

Ihre Nacht E-Book

Banana Yoshimoto

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Beschreibung

Yumikos Vergangenheit birgt ein Geheimnis, und gemeinsam mit ihrem Cousin Shôichi möchte sie den Schlüssel dazu finden. Ihre Nacht beschreibt eine unheimliche Grenzerfahrung und deren Bewältigung. Die Geschichte einer Heilung auch durch die Kraft der Liebe. "

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Seitenzahl: 183

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Banana Yoshimoto

Ihre Nacht

Roman

Aus dem Japanischen von

Thomas Eggenberg

Titel der 2008 bei Bungei Shunju Publishing Co., Ltd.,

erschienenen Originalausgabe: ›Kanojo ni tsuite‹

Copyright © 2008 by Banana Yoshimoto

Die deutschen Übersetzungsrechte

mit der Genehmigung von

Bungei Shunju Publishing Co., Ltd.,

unter Vermittlung von Zipango, S. L.

Die deutsche Erstausgabe erschien

2012 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto:

Copyright © age fotostock/look-foto

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24251 5 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60167 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Ich glaube, es war kurz vor unserem ersten Schultag. Da hab ich Shōichi zum letzten Mal gesehen.

Jener Tag war so schön, dass ich mir wünschte, er würde nie aufhören. Ich erinnere mich sehr gut. Es war eine Zeit, in der mein Zuhause mehr und mehr von etwas Dunklem überschattet wurde.

Mama und Shōichis Mutter waren Zwillinge und hatten ein gutes Verhältnis zueinander, wie normale Schwestern eben. Doch das sollte sich ändern. Als ahnten sie etwas, plauderten sie in aufgekratzter Stimmung und schauten dabei vergnügt uns Kindern beim Spielen zu, mit einem Blick, der zu sagen schien: Gibt es ein größeres Glück auf Erden? Wer Kinder hat, braucht nichts anderes mehr. – Es war das letzte Mal, dass ich die beiden so unbeschwert erlebte.

Shōichi und ich, das weiß ich noch, leckten Eis und schlürften selbstgemachtes Calpis* [* Mit Molke hergestelltes erfrischendes Getränk. (Anmerkung des Übers.)]. Wir [6] breiteten im Garten eine Picknickdecke aus und begannen zu kochen. Auf den improvisierten Küchenherd stellten wir einen Plastiktopf, gaben Plastikkarotten und Plastikkartoffeln hinein, und als Dessert formten wir Bällchen aus feuchter Erde, die wir sorgfältig aneinanderreihten.

Obwohl Shōichi und ich die Kinder von Zwillingen waren, konnten wir in unseren Gesichtern keine Ähnlichkeit entdecken. Wir glichen wohl unseren Vätern. Er hatte große runde Augen, volle Lippen und eine schmale, weit vorstehende Nase. Ich hingegen hatte ein schmales Gesicht, schmale Augen und eine breite, flache Nase. Unsere Mütter, die sich wie ein Ei dem andern glichen, hörte ich immer wieder sagen: »Diese Kinder sehen sich überhaupt nicht ähnlich, ist das nicht komisch?«

Manchmal, wenn ich in guter Stimmung bin, erinnere ich mich plötzlich wieder an das durchsichtig schimmernde Licht jenes Tages.

Anders als meine Mutter, die immer rundlicher geworden war, deren ganze Erscheinung etwas Schwammiges, Düsteres an sich hatte, sah die Tante mit ihrer schlanken Figur geradezu blendend aus.

Ach, wenn das meine Mutter wäre, dachte ich in einem Anflug von Neid. Shōichi lebt in einer Welt ohne Sorgen, er kann sich wie ein kleiner König fühlen. Sicher wird für ihn auch in Zukunft die [7] Sonne scheinen, so wie sie jetzt seinen schönen Garten und seine schöne Mutter bescheint. Er hat gut lachen, das Leben zeigt sich ihm von seiner besten Seite. Auf mich aber wartet Ungemach, ich drohe im Schlamm jenes Teiches dort zu versinken, wie eine Ameise zertreten zu werden oder noch als verpuppter Falter zu verenden. So sehen meine Zukunftsperspektiven aus. Was für ein tolles Lebensgefühl!

Natürlich standen mir diese Worte nicht zur Verfügung, aber was ich empfand, entsprach dem haargenau. Nur, sosehr ich mich bemühte, Shōichi als verwöhnten kleinen Kerl hinzustellen – es wollte mir nicht gelingen. Dieser Junge war einfach zu nett, man konnte ihm nichts verübeln. Könnte ich ihn vor Neid nur hassen und ihm die Schuld an meinem Elend zuschieben, dachte ich. Aber wie dankbar war ich jedes Mal, wenn Shōichi mich anlächelte…

Solche Gedanken und Gefühle beschäftigten mich, während wir eifrig Erdbällchen formten und Pfannkuchen backten. Die Tante brachte uns auch Pappmaché. Mit der breiigen Masse formten wir allerlei Dinge und pinselten sie farbig an. Wir bastelten aber nicht wild drauflos, sondern teilten die Arbeit auf und halfen dem andern, wenn nötig. Am liebsten hätte ich immer so weitergemacht. Dieses friedliche Miteinander wünschte ich mir auch in [8] meinem Alltag. Eine Welt ohne launische Wutausbrüche, ohne Ungewissheiten. Eine Welt, in der man einfach füreinander da ist und sich auf das konzentrieren kann, was man vor Augen hat. Das wäre ein Glück!

Ich schaute zum tiefblauen Himmel auf und dachte an die Zukunft. Ein banges Gefühl ergriff mich.

Nie mehr möchte ich weg von hier… Aber ich spürte, es würde anders kommen. Unsere Lebenswege würden sich trennen und in sehr unterschiedliche Richtungen führen.

Unsere Gesichter, unsere Schultern kamen sich so nahe, dass sie sich beinahe berührten. Bitterkeit und Trauer erfüllten mein Herz.

Wieder schaute ich zum Himmel auf, der mit sonnenbeschienenen Schäfchenwolken übersät war. Wie eine Armada von Schiffen zogen sie gemächlich dahin. Die Freude an der Schönheit der Natur ist das Einzige, was mir keiner wird nehmen können – niemals, sagte, nein, schwor ich mir.

Meinen Cousin Shōichi sah ich erst als erwachsenen jungen Mann wieder, und zwar völlig überraschend an einem Spätnachmittag im Herbst, als ich nach längerer Abwesenheit in meine kleine schäbige Wohnung in Tōkyō zurückgekehrt war.

[9] Ich hatte einen Brummschädel und nichts gegessen, nur einen Kaffee nach dem anderen getrunken und auf das Wiedererwachen meiner Lebensgeister gewartet.

Wenn man einfach so in den Tag hineinlebt, weiß man je länger je weniger, warum und wofür man eigentlich da ist. Na, du lebst eben, egal wie, sagte ich mir und machte weiter wie immer. Aber gelegentlich kamen mir Zweifel, und ich fragte mich, ob das nicht schleichender Selbstmord ist, so ein Leben. Zum Beispiel wenn ich von der vielen Herumreiserei erschöpft war, wenn ich mich ins Bett verkroch und die Einsamkeit mich überfiel, so dass der ganze Körper zu zittern begann und selbst tiefes Atemholen das beklemmende Gefühl in der Brust nicht löste, oder auch wenn ich zurückdachte an jene Zeit, als ich noch eine Familie hatte.

Am Tag zuvor hatte ich von einem alten Freund Geld bekommen. Eine Weile lang brauchte ich mir wenigstens finanziell keine Sorgen zu machen, was mich trotz meines Katers in euphorische Stimmung versetzte. Er hatte mich gefragt, wovon ich in letzter Zeit leben würde, und ich hatte geantwortet: Nach wie vor auf Kosten anderer Leute, wie ein Schmarotzer. Da sagte er: Ich helfe dir, und ließ mir umgehend Geld auf mein Konto überweisen. Daraufhin gingen wir in die Kneipe eines [10] gemeinsamen Bekannten, um einen zu trinken. Wir aßen und tranken und schwatzten, und plötzlich war es Mitternacht. Als wir aufbrachen, wollte er nichts weiter von mir. Auch das kommt vor. Jedenfalls lädt er mich, wenn wir uns sehen, nicht nur zum Essen ein, sondern gibt mir auch Geld. Und da er es nicht zurückhaben will, bedeutet »geben« letztlich schenken. Offenbar tut er das gern, es gibt ihm das Gefühl, ich wäre seine Frau, es bereichert sein Leben. Meine Erklärungsversuche, warum ich keine feste Arbeit habe, warum ich unauffällig und zurückgezogen lebe, nimmt er mir partout nicht ab. Er denkt, ich sei ein bisschen verrückt oder in Wahrheit eine Tochter aus reichem Haus. Womöglich denkt er gar, er wäre der einzige Mann, den ich wirklich liebe und immer lieben werde. Vielleicht macht er sich Vorwürfe, dass er mich nicht geheiratet hat, wer weiß. Meiner Erfahrung nach glauben vier von fünf Männern, gleich welchen Alters, die Frauen um sie herum wollten etwas von ihnen. Wenn das bei mir nur so wäre!, denke ich manchmal, aber die grenzenlose Leichtigkeit meines Daseins – obwohl es nicht sehr abwechslungsreich ist und die Zukunft ungewiss – würde ich doch auch nicht missen wollen.

Natürlich sehnte ich mich immer mal wieder nach einer festen Arbeit oder dachte ans Heiraten [11] und Kinderkriegen. Der Partner war nicht das Problem, denn mit einem Mann, von dem ich guten Gewissens hätte sagen können, wenn, dann der, war ich schon seit Jahren zusammen. Das Problem war, dass ich mich nicht so leicht zu diesem oder jenem durchringen konnte. Ich hatte das Gefühl, mich allein vor der Vergangenheit meiner Familie retten zu müssen. Ich hatte Angst davor, jemanden ernsthaft in mein Leben hereinzulassen, und ich hatte auch keine Lust, lang und breit zu erklären, warum das so war. Ich fühlte mich wie eine Art Krankheitserreger, das wurde ich einfach nicht los. Wo ich bin, ist immer auch ein Hauch von Tod, der sich wie ein Schleier über alles legt. Abgesehen von einem dunklen, geheimnisvollen Etwas, das da zwischen Mann und Frau herrscht, kann ich in einer Beziehung nichts Positives erkennen. So viel ist schiefgelaufen, so viel missraten, und dennoch lebe ich… Ist das nicht unendlich traurig?

Aber, dachte ich, es hat schon seinen Sinn.

Als ich spürte, wie mein Kater sich langsam davonmachte, fühlte ich mich fast wie im siebten Himmel. Schöner noch als die Gewissheit, dass es nicht mehr schlimmer werden kann, ist der Moment, wo sich das Übel von einem abzuwenden beginnt. Wenn ich lange und intensiv in den Himmel schaue, denke ich jedes Mal: Einfach nur da zu sein ist [12] schon ein Glück. Sieh mal, diese feinziselierten Linien der Wolken dort am Horizont… Das hast du so noch nie gesehen… Genieß das Leben!, sage ich mir trotzig, du möchtest es doch nicht missen, oder? Und tatsächlich, seit meiner Kindheit hat sich daran nichts geändert.

Shōichi war kein Durchschnittsmensch geworden. Das wurde mir, als ich ihn sah, sofort bewusst.

Jede seiner Gesten verriet Besonnenheit und Aufmerksamkeit. Es gab nichts an ihm, was mich irgendwie gestört hätte. Man braucht nur auf die äußere Erscheinung zu achten und die Art, wie Leute reden – meistens reicht das schon, um sie einschätzen zu können.

Verträumt oder eher benommen hatte ich zum Fenster hinausgeschaut, als es plötzlich klopfte. Ich ging zur Tür und äugte durch das Guckloch.

Draußen stand, kerzengerade, schick gekleidet und mit erwartungsvollem, festem Blick – Shōichi. Als hätte er schon seit einer Ewigkeit so dagestanden. Obwohl mir das Gesicht vertraut vorkam, erkannte ich ihn nicht. Erst als er laut und deutlich sagte: »Ich bin Shōichi, der Sohn von Atsuko«, machte es klick bei mir. Überrascht öffnete ich die Tür.

Jetzt verflogen die letzten Zweifel. Er hatte die [13] gleichen großen, runden Augen wie als Kind, die gleichen widerborstigen Haare. Eine etwas gedrungene Figur, schöne Hände.

Als ich ihn zuerst, ohne zu lächeln, mit fragendem Blick fixierte, wich er keinen Zentimeter zurück. Ich spürte, wie seine Standfestigkeit mir Vertrauen einflößte, und musste unwillkürlich lachen. Auch bei ihm zeigten sich kleine Fältchen in den Augenwinkeln.

»Ich dachte, du könntest vielleicht Hilfe brauchen«, sagte er.

»Warum denn, so plötzlich? Wie viele Jahre sind es jetzt her? Jahrzehnte vielleicht sogar«, sagte ich.

»Entschuldige bitte den Überfall, ich wusste weder deine Telefonnummer noch die genaue Adresse. So bin ich aufs Geratewohl gekommen. Ach ja, übrigens… Meine Mutter ist vor zwei Monaten gestorben.«

»Oh, mein herzliches Beileid… Für diese Mitteilung bist du extra hergefahren?«

Zwar konnte man sagen, dass ich zu seiner Familie keinerlei Beziehung mehr hatte, doch wenn ich an seine Mutter, das heißt, an meine Tante dachte und daran, wie gut sie immer zu mir gewesen war, krampfte sich mir das Herz zusammen. Schon als Kind hatte Shōichi einen ziemlichen Mutterkomplex. Selbst wenn seine Mutter nicht in der Nähe [14] war, blieb er ganz unbekümmert. Sie war für ihn sozusagen ein göttliches Wesen. Als könnte sie an verschiedenen Orten gleichzeitig sein, fühlte er sich in ihrer allgegenwärtigen, allumfassenden Liebe sicher aufgehoben. Etwas eingebildet und verwöhnt, dieser Junge, dachte ich damals als kleines Mädchen, aber wie hätte es anders sein sollen bei solch einer Mutter.

Die Gutherzigkeit meiner Tante war nicht einfach etwas, was ihr angeboren gewesen wäre; sie hatte in ihrem Leben Bitteres ebenso wie Süßes gekostet und irgendwann zu innerer Ruhe und Gelassenheit gefunden. Zurückhaltend, wie sie war, ließ sie über ihre Vergangenheit kein Wörtchen fallen, aber sie musste früher einmal Schlimmes erlebt haben und schien sich vor einem Biest zu fürchten, das jederzeit aus ihr hervorbrechen konnte. Mit welcher Entschlossenheit sie sich gegen diesen inneren Abgrund wehrte, spürte man auch, wenn sie schwieg.

An jenem Tag, als Shōichi und ich in unser Spiel vertieft gewesen waren und Mama mir andeutete, dass sie bald nach Hause gehen wolle, rief meine Tante mich heimlich zu sich. Die Abendsonne tauchte alles in ein orangefarbenes Licht. Den Rücken zum Garten, kauerte die Tante vor mir und [15] flüsterte: »Ich sag dir jetzt was, aber lass dir nichts anmerken, ja?«

Ich verstand, dass sie mir etwas Wichtiges anvertrauen wollte, und nickte leicht.

»Weißt du, ich überlege mir, ob wir dich zu uns nehmen könnten… Für den Fall, dass du mal in Schwierigkeiten kommst. Sag deiner Mama bitte kein Wort davon! Es ist mir wirklich ernst… Eine komplizierte Sache, deshalb muss das unbedingt unter uns bleiben. Verstehst du?«

Geblendet vom Gegenlicht, konnte ich das Gesicht meiner Tante nicht richtig sehen. Ich schwieg. Ich hatte keine Ahnung, worum es ging, aber eines war mir klar: dass meine Tante, noch viel deutlicher als ich, meine unheilvolle Zukunft geahnt haben musste. In dem Moment wurden wir beide zu Verbündeten.

»Vergiss auf keinen Fall, was ich dir soeben gesagt habe. Und denk daran – du wirst in Sicherheit sein, ob bei mir oder woanders. Wenn was ist, kommst du einfach zu uns. Die Adresse und Telefonnummer hab ich auf einen Zettel geschrieben. Er steckt im Maul dieser Figur«, sagte sie und streckte mir einen seltsamen kleinen Kobold hin, der einem Kappa* [* Japanisches Fabelwesen, das in Flüssen und Sümpfen lebt. (A.d.Ü.)] ähnelte.

[16] Den hatte ich an dem Tag beim Spielen im Garten entdeckt und war sofort zur Tante gerannt, um ihr meinen Fund zu zeigen. Die Figur war aus Bronze und recht schwer. Sie war voller Rostflecken gewesen, aber nachdem meine Tante sie beim Plaudern mit Mama ein wenig poliert hatte, glänzte sie wieder. Und tatsächlich, tief im aufgesperrten Maul steckte ein Stückchen Papier. Der Kobold fühlte sich von den Händen der Tante warm an. Ich drückte ihn wie eine Kostbarkeit an meine Brust und ließ ihn dann in dem Täschchen verschwinden, das ich bei mir trug.

Natürlich erzählte ich Mama nichts von alldem. Als sie mich fragte, worüber wir gesprochen hätten, gab ich schnell zur Antwort, die Tante habe mir nur jene kleine Bronzefigur geschenkt. Toll!, sagte Mama, wollte sich aber, zu meiner Erleichterung, die Figur nicht genauer angucken. Von da an trug ich sie stets bei mir. Heimlich, so dass niemand etwas davon merkte.

Nicht lange danach brachen Mama und die Tante den Kontakt zueinander ab, für immer. Mama hatte versucht, mit dubiosen Methoden ihr Geschäft noch mehr anzukurbeln, was meine Tante ablehnte, und das brachte sie auch offen zum Ausdruck. Das Geschäft lief glänzend. Mama stand im Zenit ihrer Macht, sie konnte schalten und walten, wie sie [17] wollte, ohne dass ihr jemand widersprach. Außer meiner Tante. Ich bin sicher, sie hat ihre Bedenken vorsichtig formuliert, aber meine Mutter, die Kritik nicht mehr gewohnt war, wurde so wütend, dass sie ihre Schwester aus der Familie verstieß, mit allen – auch finanziellen – Konsequenzen. Als ältere der Zwillinge fühlte sie sich sowieso im Recht.

Wohl um Shōichi vor Mamas Zorn zu bewahren, ließ die Tante seither nie mehr etwas von sich hören, und auch ich fand letztlich nie den Weg zu ihr.

»Kurz vor ihrem Tod hat Mutter mehrmals gesagt, sie träume immer von Yumiko-chan. Sicher sei ihr etwas zugestoßen… Sie und ihre Schwester hätten zwar miteinander gebrochen, aber die Sache mit Yumiko habe sie ihr ganzes Leben lang beschäftigt. Es tue ihr leid, dich in jenem Elend zurückgelassen zu haben. Jetzt könne sie dich da nicht mehr herausholen, deshalb solle ich mich um dich kümmern; sie bitte mich darum.« Shōichi hielt inne.

»Ich fürchte, auch du wirst wenig ausrichten können«, sagte ich.

»Keine Ahnung, worum es geht, aber wenn ich schon mal hier bin, fahr ich nicht gleich wieder zurück«, sagte er und setzte sich in eine Ecke des Zimmers. Und als habe er es plötzlich aufgegeben, [18] nur die halbe Wahrheit zu erzählen, fuhr er in zutraulichem, entspanntem Ton fort: »Dass ich mich um dich kümmern soll, war ihr letzter Wunsch. Sie sagte, solange ich ihr das nicht verspreche, könne sie nicht in Frieden sterben. Ehrlich gesagt, musste ich mir einiges einfallen lassen, um dich zu finden. Es war nicht einfach.«

Ich dachte an jenen Tag zurück. Als wir feuchte Erde kneteten und Bällchen formten, zwei unzertrennliche, unbeschwert miteinander spielende Kinder.

»Du hast deinen Mutterkomplex nicht überwunden«, sagte ich.

»Wir Männer sind alle gleich«, sagte Shōichi. »Doch abgesehen davon – nach dem Tod meines Vaters hatte ich mir vorgenommen, für Mutter zu sorgen und im Haus, so weit wie möglich, alles selber zu machen. Das tat ich auch recht lange, aber dann fing ich an zu arbeiten, hatte plötzlich keine Zeit mehr. Das bedaure ich im Nachhinein. Deswegen möchte ich wenigstens jetzt Mutters Wunsch beherzigen. Ich habe gar nicht immer nur an ihr gehangen wie ein Schoßhündchen«, sagte Shōichi, ohne zu lächeln oder sonst die Miene zu verziehen. »Ich denke, wie deine Mutter hat auch meine ein ungewöhnliches Leben hinter sich. Mit ihrem Wunsch war es ihr todernst, im wahrsten Sinn des [19] Wortes. Intuitiv habe ich gespürt, dass ich mich dieser Sache annehmen muss; nicht zuletzt auch, um über mein eigenes Leben Klarheit zu gewinnen.«

Wie offen er redet – also darf ich ihm ruhig auch meine Meinung sagen, dachte ich und legte los: »Und das, obwohl du vorher nie das Bedürfnis hattest, nach mir zu fragen? Obwohl du mich offenbar völlig vergessen hattest? Ich verstehe das nicht.«

»Wenn Mutter sich derart Sorgen macht um Yumi-chan, dann wird das wohl seine Gründe haben, hab ich mir gedacht. Aber ich wollte selber herausfinden: Lohnt sich die ganze Zeit und Energie? So hab ich mich auf die Suche gemacht«, sagte Shōichi.

Das konnte man ein deutliches Wort nennen, wie erfrischend! Im ersten Moment hatte ich mich gefragt, ob seine schon fast schroffe Direktheit nicht vielleicht ein Zeichen mangelnden Taktgefühls war; doch nein, ich bewunderte die Art, wie er mir seine Gedanken mitteilte, wie er es verstand, das Richtige im richtigen Moment zu sagen. Seine Worte waren einfach frei von allem Überflüssigen.

»Für die Pflege meiner Mutter hat mir die Firma ein halbes Jahr Urlaub gegeben. Nun, da Mutter leider schon verstorben ist, wäre es kein Problem, noch eine Weile freizunehmen und wie bisher das [20] Allernötigste per E-Mail zu erledigen. Eigentlich wollte ich ja ganz aufhören, aber dann haben wir es so eingerichtet, dass ich zurückkommen kann, wann immer ich will. Ich habe hier vor Ort keinerlei Verpflichtungen, als wäre ich auf einer längeren Geschäftsreise im Ausland. Falls ich dennoch nicht mehr für die Firma arbeiten will, hat ein befreundeter Restaurantbesitzer mir einen Job angeboten. Wir sind seit Jahren geschäftlich miteinander in Kontakt. Auch sonst kenne ich einige Leute und brauche mir keine Sorgen zu machen. Zumindest im Moment. Wenn du ein Problem hast, wenn dich etwas plagt, kann ich dir also gern helfen.«

»Warum glaubst du, dass mich etwas plagt? Aber wenn du mir so offen deine Hilfe anbietest, dann tut sich in meinem Herzen schon ein Türchen auf«, sagte ich lachend. In solchen Situationen wurde ich sonst immer ernst, doch diesmal war es anders. »In meinem Zustand kann es nicht schaden, jemanden bei sich zu haben. Nur ein bisschen ruhiger, entspannter werden, das wär schon was. Aber… wenn ich sterben sollte? Was geschieht dann mit mir?«

»Na, hör mal, wie hast du denn bisher gelebt? Doch sicher nicht wie eine Nonne?! Außerdem stirbt man nicht so schnell«, sagte Shōichi.

»Das kann schneller gehen, als man denkt. Wenn es so weit ist.« Wieder musste ich unwillkürlich [21] lachen, obwohl es gar keinen Anlass dazu gab. Aber was mir herausgerutscht war, passte fast zu gut zu unserem Thema.

Mit unverändert ernster Miene antwortete Shōichi: »Ach ja, stimmt. Dass Leute ziemlich schnell sterben können, weiß keiner besser als du. Sorry, war nicht so gemeint.«

»Papa ist nicht mehr in dieser Welt, und die Verbindung zur Verwandtschaft ist gekappt. Für mich ist ›Konami‹ nicht mehr als irgendein gewöhnlicher Familienname. Mir ist der Konamiya egal. Mag dieser Delikatessenladen noch so viel Gewinn abwerfen – auf die Idee, einen Teil vom Kuchen einzufordern, käme ich nie.« Ich lächelte.

»Wie verdienst du denn deinen Lebensunterhalt?«

»Damals war ich gerade so alt, dass ich für mich selbst sorgen konnte, und natürlich hab ich auch ein bisschen was geerbt. Was die Gegenwart betrifft – eine Freundin von mir ist Modedesignerin. Sie hat ein Atelier in Rom, ihre Kollektionen verkaufen sich in Japan ziemlich gut. Weil ich ihr am Anfang ein wenig geholfen hatte, übertrug sie mir die Rechte für Japan. Diese habe ich später weiterverkauft, für einen Betrag, mit dem ich über die Runden komme, wenn ich einigermaßen sparsam lebe. Dann sind da noch zwei nette Männer, die mir ab und zu etwas Geld leihen und bei denen ich [22] auch wohnen kann. Einer von ihnen ist ein reicher Italiener, den ich schon ewig kenne. Er ist älter als ich, alleinstehend und wohnt in der Umgebung von Florenz. Im Notfall kann ich jederzeit zu ihm. Er war früher mal mein Freund, aber heiraten… nein, das wollten wir nicht. Dennoch sehen wir uns regelmäßig; er kommt zu mir, oder ich fahre zu ihm.«

Was ich erzählte, war nicht gelogen. Ich hätte irgendetwas erfinden können, aber ich spürte, das wäre nicht in Ordnung gewesen. Die Wahrheit zu sagen war ein Gebot des Anstands und Respekts meiner Tante gegenüber, die mich bis zu ihrem Tod nicht vergessen hatte.

»Tja, dann kann man dir also gar nicht helfen«, sagte Shōichi.

»So ist es.« Ich lachte.

»Hm, seltsam. Aber warum lebst du denn so zurückgezogen, als würdest du dich vor jemandem oder vor etwas verstecken? Man findet dich ja kaum. Die Verwandten haben alle behauptet, du seist verschollen. Einige wollten nicht mal mit mir telefonieren! Das muss mit jener Geschichte zu tun haben, oder? Wahrscheinlich hatten sie Angst, der Skandal würde erneut hochkochen und ihnen das Geschäft vermiesen.«

»Weißt du, mit Leuten darüber zu reden bringt [23] nur Unheil. Dabei fühle ich mich, als lösten sich aus der Tiefe meiner Brust schwere, schlammige Klumpen Dreck, ekelhaft. Mir wird so übel, dass ich mich hinlegen muss und einige Tage lang wie gelähmt bin.«

»Vielleicht hat das mit dem zu tun, was meine Mutter zuletzt sagte.«

»Was denn? Was hat sie gesagt?«

Es war dämmrig geworden. Alles um uns herum schien sich aufzulösen. Die Gesellschaft eines Menschen war mir jetzt fast zu viel. Shōichi holte aus seinem Rucksack ein kleines Gerät hervor und drückte den Wiedergabeknopf.

»Was machst du?«, fragte ich überrascht.

»Auch das war ein Wunsch von ihr«, sagte Shōichi.

Aus einem winzigen Lautsprecher ertönte die vertraute Stimme meiner Tante.

Gebannt und voller Wehmut lauschte ich den Worten. Die Welt rückte weg von mir, um mich herum wurde es dunkel. Die Stimme der Tante war schwach und leise, aber ihre Silhouette konnte ich deutlich erkennen.

»Yumiko-chan, wie geht’s dir? Es ist so schade, dass wir uns nicht mehr sehen können. Gerne hätte ich dich zu mir geholt, aber es war nicht möglich. Das tut mir wahnsinnig leid. Als deine Mutter [24] starb, warst du in einem hypnoseähnlichen Zustand, und dabei hat man dir alles genommen, was dein Eigen war. Ganz gleich, ob du es überhaupt wieder zurückhaben willst – dein Zustand ist in Wahrheit ein Fluch, der auf dir lastet.

Von diesem furchtbaren Fluch möchte ich dich erlösen. Dein Vater, Yumiko-chan, war ein guter Mensch. Zu gut, muss man leider sagen. In deiner Kindheit war die Welt noch einigermaßen in Ordnung. Ich denke aber, etwas Wichtiges ist später verlorengegangen, sonst würdest du nicht so rastlos in der Welt umherschweifen. Stark, wie du bist, wirst du dennoch deine Freude am Leben haben, ganz gewiss. Wenn du aber zu deinem früheren Ich zurückkehren möchtest, in die Zeit, bevor dieses und jenes geschah, dann lass dir von Shōichi helfen. Vertraue ihm.