Eidechse - Banana Yoshimoto - E-Book

Eidechse E-Book

Banana Yoshimoto

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Beschreibung

Sechs bitterzarte, komische und tröstliche Geschichten über Menschen, die den Schritt endlich wagen: sich zu einer festen Beziehung bekennen, heiraten wollen und die dabei ihre Unsicherheit und Orientierungslosigkeit nicht verschweigen.

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Seitenzahl: 184

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Banana Yoshimoto

Eidechse

Erzählungen

Aus dem Japanischen vonAnita Brockmann undAnnelie Ortmanns

Titel der 1993 bei

Shinchosha Publishing Co., Ltd., Tokyo,

erschienenen Originalausgabe: ›Tokage‹

Copyright ©1993 by Banana Yoshimoto

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2005 im Diogenes Verlag

Die deutschen Übersetzungsrechte

mit der Genehmigung von Shinchosha Publishing Co., Ltd.,

unter Vermittlung des Japan Foreign-Rights Center

Die Erzählungen ›Der Glücksbringer‹ und

›Eine denkwürdige Begebenheit am Großen Fluß‹

sowie das Nachwort der Autorin

wurden von Annelie Ortmanns übersetzt,

alle übrigen von Anita Brockmann

Umschlagfoto von Carlos Batts (Ausschnitt)

Copyright ©Carlos Batts/Incolor AG/Superstock

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2015

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23584 5 (2. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60646 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5]Inhalt

Frisch verheiratet  [7]

Eidechse  [26]

Helix  [65]

Der Kimchi-Traum  [81]

Der Glücksbringer  [108]

Eine denkwürdige Begebenheit am Großen Fluß  [137]

[7]Frisch verheiratet

Einmal, nur ein einziges Mal, bin ich in der S-Bahn einem wirklich wundersamen Menschen begegnet. Das ist schon sehr lange her, aber meine Erinnerung daran ist noch ganz lebendig.

Atsuko und ich waren damals ungefähr einen Monat miteinander verheiratet. Ich war gerade mal achtundzwanzig und an dem betreffenden Abend total besoffen.

Es war spät, und wir waren nur zu viert in dem Wagen. Den Bahnhof, an dem ich hätte aussteigen müssen, hatte der Zug schon längst hinter sich gelassen.

Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen, und so hatte ich die Gelegenheit verstreichen lassen, an meiner Haltestelle auszusteigen. Erst kurz zuvor hatte sich der vertraute Bahnsteig meines Zielbahnhofs langsam in mein vom Alkohol getrübtes Blickfeld geschoben. Der Zug war punktgenau zum Stehen gekommen. Die Türen öffneten sich, [8]und ein frischer Nachtwind wehte herein. Dann schlossen sie sich wieder und waren so fest ineinandergeschoben, als sollte es für die Ewigkeit sein. Der Zug hatte sich langsam in Bewegung gesetzt. Nacheinander waren die mir wohlbekannten Neonlichter der Werbetafeln an uns vorbeigezogen. Das hatte ich von meinem Platz aus in aller Ruhe beobachtet.

Nach einer Weile stieg an einem Bahnhof dieser alte Mann zu. Er sah aus wie ein Obdachloser. Seine Kleider waren vergammelt, Bart und Haare verfilzt, und er verbreitete einen aufdringlichen Gestank. Wie auf ein Stichwort hin verdrückten sich meine drei Mitreisenden unauffällig nach rechts und links in die benachbarten Wagen. Ich hatte den Zeitpunkt versäumt, mich davonzustehlen, und war tief in den Polstern versunken etwa in der Wagenmitte sitzen geblieben. Mich störte er ja nicht, ja, vielleicht verbarg sich hinter meinem Gleichmut eine gewisse Verachtung gegenüber den Fahrgästen, die so unverhohlen auf den Mann reagiert hatten.

Ohne ersichtlichen Grund steuerte der Alte geradewegs auf mich zu und setzte sich dann auch noch direkt neben mich. Ich hielt den Atem an und tat, als hätte ich ihn nicht bemerkt.

In der Scheibe des gegenüberliegenden Fensters spiegelten sich Kopf an Kopf unsere Gesichter. [9]Überlagert von einer wunderschönen nächtlichen Szenerie, die leicht geneigt in der Finsternis schwebte, wichen die beiden Männer dort einander nicht von der Seite. Ich machte ein so fassungsloses Gesicht, daß ich beinahe über mich selbst lachen mußte.

»Warum willst du eigentlich nicht nach Hause?«

Seine Stimme klang heiser, aber er hatte laut gesprochen.

Zuerst hatte ich gar nicht bemerkt, daß diese Worte an mich gerichtet waren. Möglich, daß ich wegen des Gestanks, der von ihm ausging, das Denken eingestellt hatte. Ich schloß die Augen und stellte mich schlafend. Nach einiger Zeit fragte er:

»Was ist denn nun der wahre Grund dafür, daß du keine Lust hast, nach Hause zu gehen?« Er schien mich dabei anzusehen.

Ich hielt meine Augen weiterhin geschlossen. Diesmal war ich mir nämlich sicher, daß er zu mir sprach. Das gleichmäßige Rattern des fahrenden Zuges dröhnte noch lauter in meinen Ohren.

»Trotz meines unangenehmen Äußeren zieht es dich nicht nach Hause?« fragte er.

Ich hatte die Augen zwar geschlossen, doch auf einmal bemerkte ich ganz deutlich eine Veränderung im Klang seiner Stimme. Sie hatte sich mitten [10]im Satz mit einem Piepsen, das an eine Kassette beim Suchlauf erinnerte, in eine höhere Tonlage verschoben. Mir wurde schwindelig, als sei der ganze Raum ins Wanken geraten. Es kam mir vor, als wäre der fürchterliche Gestank plötzlich verschwunden und als würde ich allmählich immer deutlicher etwas Süßliches wahrnehmen… wie den angenehmen Geruch einer Blume oder eines leichten Parfüms. Da ich die Augen geschlossen hielt, bemerkte ich ihn um so intensiver: Als würde sich der Duft weiblicher Haut mit dem frisch gepflückter Blumen vermischen… Ich gab der Versuchung nach und öffnete die Augen.

Es war, als würde mein Herzschlag aussetzen.

Neben mir saß eine Frau! Nervös schaute ich nach rechts und links zu den beiden angrenzenden Wagen, aber die Menschen dort schienen weit von uns entfernt, wie in einer anderen Dimension. Sie würdigten uns keines Blickes. Als ob eine unsichtbare Wand die einzelnen Wagen voneinander trennte, ließen sie sich mit nach wie vor müden Gesichtern vom Zug hin- und herschaukeln. Was war passiert, wie konnte diese Verwandlung so plötzlich stattgefunden haben?, dachte ich und sah die Frau noch einmal an.

Mit starr nach vorne gerichtetem Blick saß sie da.

[11]Ich hätte nicht einmal sagen können, aus welchem Land sie stammte. Sie hatte dunkelbraune Augen und langes braunes Haar. Sie trug ein schwarzes Kleid. Ihre Beine waren lang und schlank, und ihre Füße steckten in hochhackigen schwarzen Lackschuhen.

Ich war mir sicher, ihr Gesicht zu kennen. Es kam mir vor, als hätte sie Ähnlichkeit mit »jemandem, der mir einmal wichtig war«: einer Schauspielerin, für die man früher schwärmte, der ersten großen Liebe, einer Cousine, der eigenen Mutter oder einem älteren Mädchen, mit dem man während der Pubertät unbedingt hatte schlafen wollen. An ihren großen, üppigen Busen hatte sie eine frische Blume angesteckt. Vermutlich kommt sie von einer Party, dachte ich. Dabei hatte hier doch bis gerade eben noch dieser schmuddelige Kerl gesessen.

»Willst du jetzt etwa immer noch nicht nach Hause?« fragte sie.

Ihre Stimme war süß, als würde sie einen Duft versprühen. Deshalb versuchte ich mir einzureden, daß es sich um die Fortsetzung einer wilden Phantasie handeln mußte, wie man sie in betrunkenem Zustand hat. Vom Penner zum Mannequin – ein wirrer Verwandlungstraum so à la »Häßliches Entlein«. Unfähig, die Realität vom Traum zu unterscheiden, blieb mir nichts anderes übrig, [12]als mich auf das zu verlassen, was ich direkt vor Augen hatte.

»So wie du aussiehst, bekomme ich je länger je weniger Lust, nach Hause zu gehen«, antwortete ich.

Ich war selbst überrascht, daß ich so offen mit ihr redete. Ich hatte das Gefühl, mein Mund hätte direkten Zugriff auf mein tiefstes Inneres. Wieder hielt der Zug an einem Bahnhof, aber aus unerfindlichen Gründen stieg bei uns niemand zu. Vereinzelt stiegen Personen mit gelangweilten, finsteren Mienen in die angrenzenden Wagen und achteten nicht auf uns. Sie brausten durch die Nacht und wären vielleicht am liebsten weit, weit weg gefahren.

»Heuchler«, sagte die Frau.

»So einfach ist das auch wieder nicht«, verteidigte ich mich.

»Wieso?«

Sie sah mir in die Augen. Die Blume an ihrem Busen vibrierte. Ich konnte die dichten Wimpern erkennen, die ihre großen Augäpfel säumten. Ihre Augen waren tief, unendlich weit. Sie erinnerten mich an die gewölbte Decke eines Planetariums, wie ich sie als Kind zum ersten Mal gesehen hatte. Auf kleinstem Raum eröffnet sie einem das ganze Universum.

[13]»Du hast kein Recht, so etwas zu sagen, wo du doch bis eben selbst ein dreckiger alter Penner warst.«

»Egal, wie ich dir erscheine, du fürchtest dich vor uns beiden. Stimmt doch, oder?« sagte sie. »Wie ist denn deine Frau so?«

»Klein«, sprudelte es aus mir heraus. Ich hatte das Gefühl, mich dabei selbst aus der Ferne zu beobachten. Ich rede, als würde ich die Beichte ablegen!, dachte ich. »Sie ist klein, hat langes Haar und schmale Augen. Deshalb sieht es auch immer so aus, als würde sie lachen, sogar wenn sie wütend ist.«

»Und wenn du nach Hause kommst?«

Die Frau fragte wirklich danach.

»Sobald ich die Tür öffne, kommt sie mir jedesmal mit einem Lächeln entgegen. Es ist, als ob sie lächelnd eine Pflicht erfüllt oder ein heiliges Ritual befolgt. Auf dem Tisch stehen immer frische Blumen oder Knabbereien. Im Hintergrund läuft der Fernseher. Sie klöppelt. Auf dem Hausaltar steht jeden Tag frischer Reis als Opfergabe für die Ahnen bereit. Wenn ich sonntags aufstehe, ertönt schon der Lärm von Staubsauger und Waschmaschine. Mit der Nachbarin tauscht sie regelmäßig den neuesten Klatsch aus und ist dabei unglaublich gut gelaunt. Jeden Abend geht sie los, um die Katzen der Umgebung zu füttern. Sie sieht [14]gern Fernsehserien, und ihr stehen dabei die Tränen in den Augen. Beim Baden summt sie, und wenn sie ihre Stofftiere entstaubt, spricht sie zu ihnen. Wenn eine Freundin für mich anruft und sie ist am Telefon, zwingt sie sich zu einem Lächeln und reicht den Hörer an mich weiter. Während der endlosen Telefonate mit alten Schulfreundinnen aus ihrer Heimatstadt kringelt sie sich vor Lachen wie eine Oberschülerin. Irgendwie verleiht das alles unserer Wohnung einen freundlicheren Ton, aber seltsamerweise würde ich am liebsten lauthals rufen: ›Ahhh, hör bitte auf damit!‹ Es ist zum in die Luft Gehen!«

Ich hatte einfach so drauflosgeredet. Die Frau nickte.

»Verstehe, verstehe.«

»Das kannst du doch gar nicht verstehen.«

Sie lachte, als ich das sagte. Ihr Lachen war anders als das meiner Frau, aber die Art, wie sie lachte, war mir vertraut, als hätte ich es tatsächlich vor sehr, sehr langer Zeit schon einmal gehört. Ich erinnerte mich plötzlich an Kindertage, als ich noch kurze Hosen trug und mit einem Freund im tiefsten Winter zur Schule ging. Es war so kalt, daß es völlig unsinnig gewesen wäre, auszusprechen, daß man friert. Statt dessen brachen wir unvermittelt in lautes Gelächter aus. Dann tauchten zahlreiche [15]Situationen vor meinem geistigen Auge auf, in denen ich in meinem Leben schon auf ähnliche Weise mit anderen Menschen gelacht hatte, und unwillkürlich war ich guter Laune.

»Seit wann bist du in Tokyo?« fragte sie mich. Als das Wort Tokyo über ihre Lippen kam, bemerkte ich etwas Eigenartiges.

»Moment mal, in welchem Land spricht man eigentlich so?« fragte ich.

Ich kannte die Sprache nicht. Sie nickte und erklärte: »Das ist keine Frage des Landes, ich spreche in Worten, die nur du und ich verstehen können. Eine solche Sprache existiert zwischen allen Menschen. Das stimmt wirklich! Es gibt eine Sprache, die nur von dir und deinem jeweiligen Gegenüber verstanden wird, nur von dir und irgendeinem anderen: von dir und deiner Frau, von dir und deiner ehemaligen Freundin, von dir und deinem Vater, von dir und deinem Freund.«

»Und wenn man nicht nur zu zweit ist? Was passiert dann mit dieser sogenannten Sprache?«

»Wenn man zu dritt ist, gibt es eine Sprache, die nur zwischen den drei betreffenden Gesprächspartnern funktioniert. Sollte noch eine weitere Person dazustoßen, verändert sich die Sprache wieder. Ich beobachte die Stadt hier schon lange. Auch du warst allein und hast das gleiche getan. Es gibt [16]viele Menschen wie uns. Ich spreche in einer Sprache mit dir, die ausschließlich solche Menschen erreicht, die ›die Stadt Tokyo mit einer gewissen Distanz betrachten‹. Würde an deiner Stelle eine liebenswürdige alte Dame sitzen, die allein lebt, würde ich eine Sprache wählen, die ihrer Einsamkeit Rechnung trägt. Wäre es jemand, der gerade auf dem Weg zu einer Prostituierten ist, würde ich mich für eine Sprache entscheiden, die sich auf sein sexuelles Verlangen bezieht. So einfach ist das.«

»Und wenn wir zu viert wären: du, die alte Dame, der Typ, der zu der Prostituierten unterwegs ist, und ich?«

»Du bist vielleicht ein kleiner Naseweis. Aber gesetzt den Fall, es wäre so, dann würde ich in einer Sprache sprechen, die dem Leben jedes einzelnen von uns, die wir mit der S-Bahn durch die Nacht führen, gerecht würde. Eine Sprache, die der augenblicklichen Stimmung an diesem Ort und zwischen diesen vier Personen, die sich so kein zweites Mal auf der Welt zusammenfinden könnten, entspräche.«

»Und das funktioniert?«

»Seit wann lebst du in Tokyo?«

»Seit ich achtzehn bin. Nach dem Tod meiner Mutter bin ich sofort von zu Hause weg. Seitdem lebe ich hier.«

[17]»Und was bedeutet es für dich, mit einer Frau zusammenzuleben?«

»Wenn Atsuko mir ausgiebig von belanglosen Kleinigkeiten des Alltags erzählt oder sich über total banale Geschichten ausläßt, fühle ich mich seltsam ausgeschlossen. Wenn ich mit ihr zusammen bin, ist es, als würde ich mit dem Inbegriff einer Idee zusammenleben, mit dem Entwurf einer Frau, für die derartige Nebensächlichkeiten der einzige Lebensinhalt sind.«

Mir schossen Bilder aus einer Zeit durch den Kopf, an die ich mich kaum noch erinnerte, so klein war ich: die Füße meiner Mutter, die in Pantoffeln, schlapp-schlapp, am Kopfende meines Futons vorbeigeht; der zuckende Rücken meiner kleinen Cousine, die den Tod ihrer Katze beweint. Deutlich konturierte Bilder, die sich mir eingraviert haben. Ein bewegendes Gefühl, ausgelöst von der Nähe und der Wärme eines anderen Menschen, eines anderen Körpers.

»So empfindest du also für deine Frau.«

»Wohin fährst du?« fragte ich sie.

»Ich steige einfach in eine S-Bahn und beobachte die Menschen. Das habe ich schon immer gemacht, ich könnte nicht sagen, seit wann. Wie eine unendliche Gerade. Die meisten Menschen ahnen nicht einmal, daß es mich gibt. Ich glaube, für sie [18]ist die Bahn wie eine Schachtel, die ihnen die Sicherheit gibt, abends wieder zu ihrem Ausgangsbahnhof zurückzukehren, nachdem sie dem Schaffner dort morgens ihre Monatskarte gezeigt und den Zug bestiegen haben. Meinst du nicht?« fragte sie.

»Wenn das anders wäre, wäre jeder Tag ohne Halt und furchtbar unsicher«, stellte ich fest.

Die Frau nickte und fuhr fort: »Das ist alles eine Frage der Einstellung. Ich behaupte ja nicht, daß es jeder so machen sollte wie ich. Angenommen, man würde das Leben einzig unter dem Aspekt ›Zug‹ betrachten, dann wären doch die meisten Menschen, die hier einsteigen, dazu in der Lage, nur mit dem Geld, das sie im Portemonnaie in ihrer Aktentasche bei sich haben, erstaunlich weit zu fahren. Ungeachtet dessen, ob sie den Zug dazu nutzen, nach Hause oder zur Arbeit zu kommen.«

»Ja, das stimmt.«

»Darüber denke ich hier im Zug unentwegt nach.«

»Du hast vielleicht Zeit.«

»Solange wir gemeinsam unterwegs sind, sind die Rahmenbedingungen für alle gleich. Manche Fahrgäste lesen Bücher, andere sehen sich die Werbebanner in den Abteilen an, wieder andere hören Musik. Während sie das tun, denke ich über die Möglichkeiten nach, die das Bahnfahren bietet.«

[19]»Aber warum hast du dich plötzlich in eine Schönheit verwandelt?«

»Weil ich mit dir sprechen wollte. Mit dir, der du an dem Bahnhof, an dem du hättest aussteigen müssen, einfach weitergefahren bist. Um irgendwie deine Aufmerksamkeit zu erregen.«

Ich konnte mir wirklich nicht denken, mit wem ich da sprach und über was. Immer wieder hielt der Zug an einem Bahnhof und rollte dann wieder durch die Nacht. Wir waren von Dunkelheit umgeben, und der Stadtteil, in dem ich wohnte, entfernte sich immer weiter von uns.

Das Wesen an meiner Seite hatte etwas Vertrautes an sich. Es war sein Duft. Ein Duft, der mich zurückführte in eine Zeit lange vor meiner Geburt, an einen Ort, an dem die Atmosphäre gleichermaßen von Haß und Liebe durchmischt war. Andererseits signalisierte es mir aber auch, daß es schwierig sei, sich ihm zu nähern, und gefährlich, es zu berühren. Tief in meinem Innersten zitterte ich. Nicht etwa weil ich besoffen war oder Angst davor hatte, verrückt zu werden, es war vielmehr ein instinktives Gefühl von Ergebenheit. So wie ein wildes Tier, das auf ein deutlich stärkeres Wesen trifft, den Drang verspürt, sich ihm bedingungslos zu unterwerfen und zu fliehen.

[20]»Du mußt nie wieder an deinem Bahnhof aussteigen. Das wäre durchaus denkbar«, hörte ich sie wie von ferne sagen.

Vielleicht hat sie recht, dachte ich. Ich setzte mein Schweigen noch eine Weile fort.

Unter dem rhythmischen Rattern und Schaukeln des Zuges hielt ich meine Augen sanft geschlossen und rief mir den Bahnhofsvorplatz in der Nähe unserer Wohnung in Erinnerung. Ich dachte an das Blumenbeet inmitten des Verkehrsrondells, in dem sich nachmittags die roten und gelben Blumen, deren Namen ich nicht kenne, im Wind wiegen. Auf der dem Bahnhof gegenüberliegenden Seite gibt es eine Buchhandlung. Dort stehen Menschen nebeneinander vor den Regalen. Sie kehren mir den Rücken zu und lesen in Zeitschriften und Büchern. Ja, sie stehen mit dem Rücken zu mir. Vielleicht weil ich mich in das Bahnhofsgebäude verwandelt habe und alles, was davor geschieht, eingehend beobachte. Der Geruch von Suppe aus dem Chinarestaurant liegt in der Luft. Vor der Konfiserie mit japanischen Süßigkeiten stehen die Menschen Schlange, um die berühmten Hefeklöße mit süßer Bohnenpaste zu kaufen. In seltsam gedrosseltem Tempo schlendert die übliche Gruppe lachender, quiekender Schülerinnen in den Uniformen einer Mädchenschule über den [21]Platz. Wieder entsteigt dem Pulk eine Welle des Gelächters. Ohne ihnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken, ziehen die Mädchen an einigen Oberschülern einer Jungenschule vorbei, die etwas angespannt wirken. Einer von ihnen tut allerdings ganz lässig. Er hat hübsche Gesichtszüge, die vermuten lassen, daß er bei den Mädchen beliebt ist. Dann eine perfekt geschminkte, müde wirkende Angestellte. Sie trägt nichts bei sich. Vermutlich hat sie einen Auftrag ausgeführt und ist auf dem Weg zurück ins Büro. Sie sieht aus, als hätte sie keine Lust, wieder in die Firma zu gehen. Kein Wunder bei diesem schönen Wetter. Am Kiosk kauft sich ein Geschäftsmann ein Getränk und leert es im Stehen. Überall warten Menschen. Sie lesen Taschenbücher, beobachten Passanten oder gehen eilig ihrer Verabredung entgegen, sobald sie sie erblickt haben. Ganz langsam kommen ältere Leute in mein Blickfeld. Eine Mutter trägt ihr Kind auf dem Rücken. In einer bunten Reihe warten Taxis am Rondell, nehmen Fahrgäste auf und lassen den Bahnhof hinter sich. Wenn sich ihre Türen schließen, erinnert das an den Flügelschlag eines Vogels. Meine Stadt ist ein Ort, der von breiten Straßen gesäumt wird, ein Ort, wo etwas veraltete Gebäude ein bißchen zu ordentlich nebeneinanderstehen.

Als ich darüber nachdachte, daß ich diesen Platz [22]vielleicht nie wieder aufsuchen würde, war ich von all diesen Szenen zutiefst berührt, wie von einer bedeutungsvollen Sequenz in einem alten Film. Ich empfand eine große Zuneigung für all die Wesen, die ich vor meinem geistigen Auge gesehen hatte. Sollte meine Seele eines Sommerabends irgendwann nach meinem Tod hierher zurückkehren, wird es dieses Gefühl sein, mit dem ich die Welt wahrnehmen werde.

An dieser Stelle erscheint Atsuko auf der Bildfläche.

Es ist Hochsommer, und sie geht über den Bahnhofsvorplatz. Sie trägt ihr Haar hinten ganz fest zusammengebunden, obwohl sie genau weiß, daß ich diese Frisur nicht mag, denn sie sieht damit aus wie eine alte Frau. Ob sie mit ihren wirklich sehr schmalen Augen gut sehen kann? Sie wird von der Sonne angestrahlt und wirkt extrem geblendet. Anstatt eines Korbs trägt sie eine riesige Einkaufstasche. Sie fixiert den Pfannkuchenstand in der Ladenpassage vor dem Bahnhof, als wollte sie dort etwas essen. Wird sie welche kaufen? Nein, sie überlegt es sich anders und wendet sich ab. Sie kommt an der Drogerie vorbei und betrachtet eingehend die Shampooflaschen in dem Regal vor der Auslage. Es ist doch ganz egal, welches Shampoo man nimmt, da muß man doch nicht lange [23]überlegen! Jetzt mach doch nicht so ein ernstes Gesicht! Sie geht in die Hocke und zögert noch immer. Ein Mann, der es offensichtlich sehr eilig hat, rempelt sie an. Atsuko gerät leicht ins Wanken. Sie entschuldigt sich. »Was gibt’s da zu entschuldigen, wenn du angerempelt wirst – und dann auch noch von so einem Kerl! Sei mit ihm gefälligst genauso streng wie mit mir!« Sie hat sich für ein Shampoo entschieden, richtet sich wieder auf und spricht mit der Verkäuferin. Sie lächelt sie freundlich an. Sie verläßt den Laden. Von hinten hat sie eine schmale Silhouette. Sie ist so zart und klein, als könnte sie jeden Moment zum bloßen Strich in der Landschaft werden. Sie geht langsam, tänzelnd. Mit einem tiefen Atemzug nimmt sie die Luft dieses Städtchens in sich auf.

Unsere Wohnung ist Atsukos Universum. Frauen erfüllen eine Wohnung mit unzähligen kleinen Dingen, in denen sie sich selbst abbilden. Jedes einzelne hat Atsuko mit größter Sorgfalt ausgewählt, genau wie das Shampoo. Dabei bekommt sie so ein undefinierbares Gesicht, das weder mütterlich noch weiblich ist.

Dieses unbestimmbare Wesen hat ein bezauberndes Spinnennetz geknüpft, das mir erschreckend schmutzig, aber gleichzeitig auch so rein vorkommt, daß ich mich liebend gerne darin verfangen will. Es [24]macht mir solche Angst, daß ich zittere, und ich habe das Gefühl, nichts mehr verbergen zu können. Ich bin Spielball einer angeborenen Zauberkraft geworden. Seit wann nur?

»So ist das nun mal, wenn man jung verheiratet ist«, sagte die Frau neben mir. Auf einen Schlag war ich wieder ganz bei mir. »Du fürchtest dich vor dem Tag, an dem du in eine andere Welt kommst, in eine Welt, in der man nicht mehr frisch verheiratet ist.«

»Ja, du hast recht. Sosehr ich auch darüber nachdenke, es ist vergeblich. Ich benehme mich wie ein kleiner Junge, so unsicher fühle ich mich. Ich werde nach Hause fahren. Am nächsten Bahnhof steige ich aus. Nüchtern bin ich auch schon wieder«, sagte ich.

»Es war schön mit dir«, sagte sie.

»Ja, das finde ich auch.« Ich nickte.

Still und leise kroch die Bahn voran, so unaufhaltsam wie eine Sanduhr, in der ein kostbarer Augenblick verrinnt. Die Zugdurchsage kündigte den nächsten Bahnhof an. Wir schwiegen. Es fiel mir schwer, mich von ihr zu trennen. Mir war, als hätte ich eine Ewigkeit hier mit ihr verbracht. Als hätten wir eine Reise durch Tokyo unternommen und die Stadt aus allen erdenklichen Perspektiven gesehen – mit den Möglichkeiten sämtlicher Medien, mit den Augen sämtlicher Menschen und von den [25]