Dunkle Halunken - Terry Pratchett - E-Book

Dunkle Halunken E-Book

Terry Pratchett

4,4
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dodger ist ein Straßenjunge - doch nicht irgendeiner. Während eines Überfalls in den nächtlichen Gassen Londons rettet er einer Unbekannten das Leben, der betörend schönen Simplicity. Fortan setzt er alles daran, mehr über die Tat und die Herkunft der jungen Frau herauszufinden. Auf der Suche nach den Tätern bringt Dodger ganz nebenbei einen mörderischen Barbier namens Sweeney Todd zur Strecke und wird dadurch für ganz London zum Helden. Dies jedoch ruft einen geheimnisvollen Attentäter ebenso auf den Plan wie die Halunken, die Simplicity nach dem Leben trachten und ihren jungen Beschützer lieber früher als später tot sehen wollen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
4,4 (68 Bewertungen)
44
10
14
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Entdecke die Welt der Piper Fantasy:

Für Henry Mayhew, weil er sein Buch geschrieben hat.Und für Lyn für alles andere

Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Brandhorst

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Taschenbuchausgabe

1. Auflage 2015

ISBN 978-3-492-96368-8

© 2012 Terry and Lyn Pratchett

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Dodger«

bei Doubleday Childrens/Random House UK, London 2012

Deutschsprachige Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2013

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Katarzyna Teresa Oleska

Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung,

Verbreitung, Speicherung oder Übertragung,

können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

1

Hier begegnen wir unserem Helden, und der Held trifft eine Waise im Sturm und lernt Mister Charlie kennen, einen als Schreiberling bekannten Herrn

Der Regen strömte so heftig auf London herab, dass er wie tanzende Gischt wirkte – die einzelnen Tropfen schienen in der Luft um Vorherrschaft zu ringen und darauf zu warten, auf den Boden zu stürzen. Die Abflüsse und Abwasserkanäle waren mehr als nur voll, sie quollen über und würgten hoch, was sich darin angesammelt hatte: Schmutz und Schmiere, tote Hunde, Katzen, Ratten und Schlimmeres. Der ganze Unrat, den die Menschen losgeworden zu sein glaubten, kehrte in die Welt zurück. Er drängelte in den Fluten und eilte dem über die Ufer tretenden, immer gastlichen Fluss namens Themse entgegen, der schäumte und brodelte wie eine grässliche Suppe in einem schrecklichen Kessel. Der Fluss selbst schien wie ein sterbender Fisch nach Luft zu schnappen. Doch die Eingeweihten wussten über den Londoner Regen Bescheid: Sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nie, die stinkende Stadt zu säubern. Er schaffte es höchstens, eine weitere Schicht Dreck freizulegen. Und in dieser schmutzigen Nacht fanden angemessen schmutzige Ereignisse statt, die nicht einmal der Regen fortspülen konnte.

Eine von zwei Pferden gezogene elegante Kutsche platschte durch die Straßen und quietschte noch dazu, denn ein Stück Metall saß an der Achse fest und schrie. Es war nicht der einzige Schrei, der von dieser Kutsche ausging, ein zweiter entrang sich der Kehle eines Menschen, als die Kutschentür aufsprang und eine Gestalt in den Rinnstein taumelte, der sich in dieser Nacht in eine Fontäne verwandelt hatte. Zwei weitere Gestalten sprangen aus der Kutsche und fluchten in einer Sprache, die ebenso bunt war wie die Nacht dunkel, und sogar noch schmutziger. Im strömenden Regen, durch den das flackernde Licht eines Blitzes zuckte, versuchte die erste Gestalt zu fliehen, stolperte aber und fiel, und die beiden anderen stürzten sich auf sie. Wieder ertönte ein Schrei, in dem Aufruhr und Lärm kaum zu hören, doch er schien ein seltsames Echo zu bekommen, das aus dem Knirschen von Eisen bestand. Ein naher Gullydeckel rutschte zur Seite, und zum Vorschein kam ein dünner junger Mann, geschwind wie eine Schlange.

»Lasst die junge Frau in Ruhe!«, rief er.

Ein Fluch erklang im Dunkeln, als einer der Angreifer auf den Rücken fiel, weil jemand die Beine unter ihm weggetreten hatte. Der junge Mann war alles andere als ein Schwergewicht, aber er schien überall gleichzeitig zu sein und schlug in alle Richtungen zu, wobei ein Schlagring – immer ein guter Helfer, wenn man allein gegen eine Übermacht antritt – seinen Hieben Nachdruck verlieh. In diesem Fall bestand die Übermacht aus zwei Männern, und sie ergriffen die Flucht. Der junge Bursche blieb ihnen dicht auf den Fersen, und seine Fäuste hämmerten auf die Fliehenden ein. Doch dies war London, und es regnete, und die Männer stürmten durch Gassen und Seitenstraßen und versuchten ihre Kutsche wiederzufinden. Die Erscheinung aus der Kanalisation verlor sie schließlich aus den Augen und kehrte mit der Geschwindigkeit eines Windhunds zu der geplagten jungen Frau zurück.

Er ging neben ihr in die Hocke, und zu seiner großen Überraschung ergriff sie ihn am Kragen und flüsterte mit ausländischem Akzent: »Sie wollen mich zurückbringen, bitte hilf mir …« Woraufhin der junge Mann sogleich aufsprang und sich argwöhnisch umsah.

Ausgerechnet in dieser Gewitternacht geschah es, dass zwei Herren, die durchaus etwas vom Londoner Schmutz wussten, durch diese Straße gingen beziehungsweise wateten. Sie hatten die Hüte tiefer gezogen, was ihnen bei diesem Regenguss allerdings wenig nutzte, denn das Wasser kam nicht nur von oben, sondern auch von unten, weil es vom Boden hochspritzte. Wieder flackerte ein Blitz, und einer der Herren fragte: »Liegt dort jemand im Rinnstein?« Vielleicht hörte der Blitz die Worte, denn er gleißte noch einmal vom Himmel und zeigte den beiden ein Bündel, eine Gestalt, eine Person am Boden.

»Gütiger Himmel, Charlie, es ist eine junge Frau!«, entfuhr es einem der Herren. »In den Rinnstein geworfen, nehme ich an, und völlig durchnässt. Komm!«

»He, was tun Sie da, Mister?«

Im Licht eines Pubfensters, das kaum mehr als Dunkelheit zeigte, entdeckten der Herr namens Charlie und sein Freund einen Burschen, nicht älter als siebzehn, aber mit der Stimme eines Mannes. Eines Mannes, der offenbar bereit war, es mit ihnen aufzunehmen und auf Leben und Tod zu kämpfen. Zorn schien er im Regen auszudampfen, und er hielt eine Metallstange bereit. »Ich kenne Typen wie euch, jawohl!«, fuhr der junge Bursche fort. »Kommt hierher und jagt Schürzen nach, macht anständige Mädchen und Frauen zum Gespött! Verflixt! Wie verzweifelt ihr doch sein müsst, wenn ihr in einer solchen Nacht unterwegs seid!«

Der Mann, der nicht Charlie hieß, richtete sich auf. »Immer langsam, Junge! Ich muss doch sehr bitten. Wir sind ehrbare Gentlemen, die, wie ich hinzufügen möchte, hart arbeiten, um das Schicksal armer junger Frauen – und auch von Leuten wie dir, wie mir scheint – zu verbessern.«

Der wütende Schrei des Burschen war so laut, dass die Fenster des nahen Pubs aufschwangen und rauchiges orangefarbenes Licht in den Regen fiel. »So nennt ihr das also, ihr elenden alten Widerlinge!«

Der junge Mann holte mit seiner behelfsmäßigen Waffe aus, doch der Herr namens Charlie nahm sie ihm ab und warf sie hinter sich. Dann packte er den Burschen am Kragen und hielt ihn fest. »Mister Mayhew und ich sind anständige Bürger, mein Lieber, und als solche halten wir es für unsere Pflicht, diese junge Dame in Sicherheit zu bringen.« Über die Schulter hinweg sagte er: »Es ist nicht weit zu dir, Henry. Glaubst du, deine Frau wäre bereit, eine bedürftige Seele für eine Nacht aufzunehmen? In einer solchen Nacht jagt man keinen Hund vor die Tür.«

Henry, der sich über die junge Frau gebeugt hatte, nickte. »Meinst du vielleicht zwei Hunde?«

Das hörte der zappelnde Junge gar nicht gern. Mit einer schlangenartigen Bewegung entwand er sich Charlies Griff und schien erneut für einen Kampf bereit zu sein. »Ich bin kein Hund nich, ihr feinen Pinkel, und sie ist auch keiner! Wir haben unseren Stolz, haben wir. Ich gehe meinen eigenen Weg, jawohl, ganz koscher, ungelogen.«

Der Herr namens Charlie packte das Jüngelchen abermals am Kragen und hob es hoch, bis sich ihre Augen auf gleicher Höhe befanden. »Ich bewundere deine Einstellung, junger Mann, aber nicht deinen Verstand«, sagte er ruhig. »Und wohlgemerkt, dieser jungen Frau geht es schlecht, das erkennst du sicher. Es ist nicht weit bis zum Haus meines Freunds, und da du dich zu ihrem Verteidiger und Beschützer gemacht hast … Ich lade dich ein, mitzukommen und dich zu vergewissern, dass sie die beste Behandlung erfährt, die wir uns leisten können. Hast du gehört? Wie lautet dein Name? Und bevor du ihn nennst, möchte ich dir versichern, dass du nicht die einzige Person bist, die Anteil nimmt, wenn eine Dame in Not gerät, noch dazu in einer so scheußlichen Nacht. Also, mein Junge, wie heißt du?«

Der Bursche musste einen gewissen Ton in Charlies Stimme bemerkt haben, denn er antwortete ohne Zögern. »Ich bin Dodger, manchmal auch pfiffiger Gannef genannt. Man kennt mich überall in der Stadt.«

»Nun gut«, sagte Charlie. »Da wir nun deine illustre Bekanntschaft gemacht haben, sollten wir während unserer kleinen Reise zu einer Verständigung gelangen, von Mann zu Mann.« Er richtete sich auf und fuhr fort: »Lass uns dein Haus aufsuchen, Henry! Wir sollten uns beeilen, befürchte ich doch, diese bedauernswerte junge Dame braucht jede erdenkliche Hilfe. Und du, mein Junge … Was weißt du über sie?«

Er ließ den Burschen los, der daraufhin einige Schritte zurückwich. »Nichts, Meister, hab sie nie zuvor in meinem Leben gesehen, das ist die reine Wahrheit, und ich kenne hier sonst alle. Eine weitere Ausreißerin. Passiert dauernd. Ich denke nich gern darüber nach.«

»Soll ich etwa glauben, Mister Dodger, dass du dieser jungen Dame wie der wahre Kavalier zu Hilfe geeilt bist, obwohl du sie gar nicht kennst?«

Dodger wirkte plötzlich sehr wachsam. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Welche Rolle spielt’s für euch? Und wer ist überhaupt dieser Kavalier?«

Charlie und Henry trugen die junge Frau in ihren Armen. Als sie losgingen, sagte Charlie über die Schulter hinweg: »Hast du nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe, Dodger? Mit Kavalier ist ein Mann mit vorbildlichen Manieren Damen gegenüber gemeint … Schon gut. Folge uns wie der klatschnasse edle Ritter, der du bist, und du wirst sehen, dass die holde Maid eine gute Behandlung erwartet. Bei der Gelegenheit bekommst du auch eine ordentliche Mahlzeit und … mal sehen …« Münzen klimperten in der Dunkelheit. »Ja, zwei Shillings, und wenn du mitkommst, verbesserst du deine Aussichten auf den Himmel, womit ich einen Ort meine, über den du vermutlich nicht allzu häufig nachdenkst, wenn ich das richtig sehe. Verstanden? Sind wir uns einig? Gut.«

Zwanzig Minuten später saß Dodger in der Küche des Hauses am Feuer. Es war kein allzu prächtiges Gebäude, aber doch viel prächtiger als die meisten Häuser, denen er einen rechtmäßigen Besuch abgestattet hatte. Weitaus prächtigere Häuser kannte er von unerlaubten Besuchen her, doch die waren nie von langer Dauer gewesen. In manchen Fällen hatte er sie in beträchtlicher Hast verlassen. Ehrlich, die Anzahl der Hunde, die die Leute heutzutage hatten, war ein verdammter Skandal, und sie hetzten sie ohne jede Vorwarnung auf ungebetene Gäste – aus diesem Grund war er immer recht flink gewesen. Aber hier … Oh, hier gab es Fleisch und Kartoffeln, außerdem noch Möhren, aber leider kein Bier. Er hatte ein Glas warme Milch vorgesetzt bekommen, fast frisch obendrein. Missus Quickly, die Köchin, ließ ihn nicht aus den Augen und hatte bereits das Besteck weggeräumt, doch abgesehen davon schien es eine annehmbare Bude zu sein, obwohl es ein bisschen Gemurre von der Alten des Mister Henry gegeben hatte, weil er ihr praktisch mitten in der Nacht Straßenstreuner ins Haus brachte. Dodger schenkte allem, was er sah und hörte, große forensische Aufmerksamkeit und gewann den Eindruck, dass die Angetraute des besagten Henry nicht zum ersten Mal Grund zu derartiger Klage bekam. Sie klang wie eine Person, die die Faxen so richtig dicke hatte, sich aber nichts daraus zu machen versuchte. Wie auch immer, Dodger hatte seine Mahlzeit bekommen (was wichtig war), Ehefrau und Zofe waren mit der jungen Dame fortgeeilt, und jetzt … stieg jemand die Treppe zur Küche herunter.

Es war Charlie, und Charlie beunruhigte Dodger. Henry schien einer jener Gutmenschen zu sein, die sich schuldig fühlten, weil sie Geld und Essen im Überfluss hatten, während es anderen Leuten an beidem mangelte. Dodger kannte diese Leute. Ihm persönlich machte es nichts aus, Geld zu haben, während andere Leute keins hatten, aber wenn man ein Leben wie er führte, zahlte es sich aus, großzügig zu sein, sofern man bei Kasse war. Man brauchte Freunde. Freunde sagten zum Beispiel: »Dodger? Hab nie von ihm gehört, Meister, hab ihn nie gesehen! Bestimmt meinst du ’nen anderen Typen.« In der Stadt musste man sich irgendwie durchschlagen. Man musste wachsam und stets auf Draht sein, immerzu, wenn man überleben wollte.

Er blieb am Leben, weil er Dodger war, schlau und schnell. Er kannte alle, und alle kannten ihn. Niemand hatte ihn jemals vor den Kadi gebracht, er war schneller als der schnellste Bow Street Runner, und er lief selbst den Peelern davon, die die Runner von der Bow Street abgelöst hatten, nachdem man ihnen auf die Schliche gekommen war. Wenn die Polizisten jemanden verhaften wollten, mussten sie ihn erst einmal ergreifen, und das war ihnen bei Dodger noch nie gelungen.

Nein, Henry stellte kein Problem dar, aber Charlie … Oh, Charlie schien ein Mann zu sein, der, wenn er jemanden ansah, tief in ihn hineinblickte. Charlie, so dachte sich Dodger, konnte ein gefährlicher Typ sein, ein Gentleman, der die Besonderheiten der Welt kannte und hinter den weichen Vorhang schöner Worte schaute, dorthin, wo die Gedanken flüsterten, und das war tatsächlich sehr gefährlich. Hier war er nun, dieser Mann – er kam die Treppe herunter, und das Geklimper von Münzen begleitete ihn.

Charlie nickte der Köchin zu, die gerade aufräumte, und setzte sich auf die Bank, neben Dodger, der ein wenig beiseiterücken musste, um Platz zu machen.

»Also … Dodger, nicht wahr?«, sagte er. »Du erfährst sicher mit Freude, dass es der jungen Dame, der du geholfen hast, nach der ärztlichen Behandlung besser geht. Leider lässt sich das von ihrem ungeborenen Kind nicht behaupten, das den schrecklichen Ereignissen zum Opfer gefallen ist.«

Kind! Das Wort traf Dodger wie ein Totschläger, und im Gegensatz zu einem Totschläger verschwand es nicht, sondern blieb. Ein Kind … Für den Rest des Gesprächs hing das Wort am Rand seines Blickfelds und ließ ihm keine Ruhe. Laut sagte er: »Davon wusste ich nichts.«

»Oh, ich bin sicher, dass du nichts davon wusstest«, erwiderte Charlie. »Im Dunkeln war es nur ein weiteres schreckliches Verbrechen – und sicher nur eins von vielen in dieser Nacht. Das weißt du ebenso gut wie ich, Dodger. Doch dieses Verbrechen war so dreist, unmittelbar vor mir stattzufinden, und deshalb möchte ich ein bisschen Polizeiarbeit leisten, allerdings ohne die Polizei, die in diesem Fall, so fürchte ich, kaum von großer Hilfe wäre.«

An Charlies Gesicht ließ sich nichts ablesen, und das war erstaunlich, denn Dodger verstand sich gut darauf, in Gesichtern Hinweise zu erkennen. Ernst fuhr der Mann fort: »Ich frage mich, ob die beiden Gentlemen, denen du begegnet bist, der jungen Dame wegen des Kinds zusetzten. Vielleicht finden wir es nie heraus, vielleicht doch.« Und dort war es – das Wörtchen doch, wie ein Messer, das schnitt und schnitt, bis es auf Erleuchtung traf. Charlies Gesicht blieb völlig ausdruckslos. »Ich frage mich, ob andere Gentlemen unter Umständen davon wussten, und deshalb, mein junger Herr, sind hier zwei Shillings für dich. Und noch einer mehr, wenn du mir einige Fragen beantwortest. Ich gedenke nämlich, dieser seltsamen Angelegenheit auf den Grund zu gehen.«

Dodger betrachtete die Münzen. »Um welche Fragen handelt es sich?« Er lebte in einer Welt, in der niemand Fragen stellte, abgesehen von den Fragen Wie viel? und Was ist für mich drin? Und er wusste – er wusste es wirklich –, dass Charlie es ebenfalls wusste.

»Kannst du lesen und schreiben, Dodger?«, fuhr Charlie fort.

Dodger neigte den Kopf zur Seite. »Ist das eine Frage, für die ich einen Shilling bekomme?«

»Nein«, schnauzte Charlie. »Ich lasse einen Viertelpenny für diese kleine Auskunft springen, mehr nicht. Hier ist er. Wo ist die Antwort?«

Dodger schnappte sich die Münze. »Ich kann Bier,Gin und Ale lesen. Ist doch sinnlos, sich den Kopf mit Kram vollzustopfen, den man gar nicht braucht, finde ich.« Lag da die Andeutung eines Lächelns auf den Lippen des Mannes?, fragte er sich.

»Offenbar bist du ein Akademiker, Mister Dodger. Vielleicht sollte ich dir sagen, dass die junge Dame … Nun, jemand ist nicht besonders sanft mit ihr umgegangen.«

Er lächelte nicht mehr, und Dodger geriet plötzlich in Panik und rief: »Ich nicht! Ich habe ihr nie nichts getan, das ist die reine Wahrheit! Ich bin vielleicht kein Engel, aber das heißt noch lange nicht, dass ich ein Schurke bin.«

Charlies Hand packte Dodger, als er aufstehen wollte. »Du hast ihr nie nichts getan? Du hast nie nichts getan, Dodger? Wenn du niemals nichts getan hast, hast du die ganze Zeit über irgendetwas getan, und bitte sehr, das ist ein Geständnis, unüberhörbar aus deinem Mund. Ich bin ziemlich sicher, dass du nie zur Schule gegangen bist, Mister Dodger, dafür scheinst du mir zu schlau zu sein. Aber wenn du zur Schule gegangen wärst und dort Sätze wie Ich habe nie nichts getan gesagt hättest … Dann hätte dir dein Lehrer vermutlich das Fell über die Ohren gezogen. Aber hör mir gut zu, Dodger! Ich glaube dir, dass du der jungen Dame nichts angetan hast, und ich habe mindestens einen guten Grund, um davon überzeugt zu sein. Vielleicht hast du nicht bemerkt, dass sie an einem Finger einen der größten kunstvoll verzierten Goldringe trägt, die ich je gesehen habe, einen Ring, der etwas zu bedeuten hat. Und wenn du darauf aus gewesen wärst, besagter Dame zu schaden, hättest du den Ring bestimmt gestohlen, so wie du vorhin meine Brieftasche gestohlen hast.«

Dodger blickte in die Augen des Mannes. Oh, dies war ein übler Typ, dem man besser nicht querkam, kein Zweifel. »Ich, Sir? Nein, Sir«, sagte er. »Hab sie herumliegen sehen, und natürlich wollte ich sie Ihnen zurückgeben, Sir.«

»Ich darf dir versichern, dass ich dir jedes deiner Worte glaube, Dodger. Obwohl ich eingestehen muss, dass ich deine Fähigkeit bewundere, in der Dunkelheit nicht nur die Form einer Brieftasche zu erkennen, sondern auch sofort zu wissen, dass sie mir gehört. Wirklich, ich bin höchst erstaunt«, sagte Charlie. »Beruhige dich – ich wollte dir nur klarmachen, wie ernst die Sache ist. Mit den Worten Ich habe nie nichts getan hast du allen deinen Aussagen eine negative Bedeutung verliehen, und zwar auf recht nachhaltige Weise, verstehst du? Mister Mayhew und ich, wir sind der im Großen und Ganzen unannehmbaren Situation in weiten Teilen dieser Stadt gewahr, was übrigens bedeutet, dass wir über Missstände Bescheid wissen und uns bemühen, sie der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen. Zumindest jenen Vertretern der Öffentlichkeit, die davon Kenntnis erhalten möchten. Da dir etwas an der jungen Dame zu liegen scheint, könntest du vielleicht herumfragen oder dich zumindest hier und da umhören. Möglicherweise erfährst du auf diese Weise, woher sie kommt und was sie nach London verschlagen hat. Jeder Hinweis wäre nützlich. Sie wurde heftig geschlagen, und damit meine ich nicht die eine oder andere Backpfeife. Ich spreche vielmehr von Leder und Fäusten. Von Fäusten! Nach den vielen Blutergüssen zu urteilen, haben die Fäuste immer und immer wieder auf sie eingedroschen, mein junger Freund, und das war noch nicht alles.

Gewisse Leute – und damit meine ich natürlich nicht dich – sind der Ansicht, dass wir uns an die Polizei wenden sollten, und sie vertreten diese Meinung, weil sie keine Ahnung von Londons Realitäten für die unteren Schichten haben, keine Ahnung von den Slums, dem Dreck und dem Elend, aus dem ihre Welt besteht. Ja?«

Dodger hatte den Finger gehoben, und als Charlie ihm seine volle Aufmerksamkeit schenkte, sagte er: »Gut, in manchen Straßen kann es wirklich ein bisschen schmutzig sein. Einige tote Hunde und vielleicht auch die Leiche einer alten Frau, aber … Nun ja, das ist der Lauf der Welt, nich wahr? So wie es in der Bibel heißt, dass man auf dem Bauch kriechen und Dreck fressen muss, bevor man stirbt, oder?«

»Wer in jenen Teilen der Stadt Erde isst, wird ziemlich sicher sterben, so viel steht fest«, sagte Charlie. »Aber da wir schon mal dabei sind … Kannst du mir für deine beiden Shillings und noch einen Shilling ein weiteres Zitat aus der Bibel nennen?«

Das bereitete Dodger gewisse Mühe. Er starrte den Mann an und brachte schließlich hervor: »Auge um Zahn. Ja, so heißt es in der Bibel, und wo bleibt der Shilling?«

Charlie lachte. »Auge um Zahn? Ich wette, du bist in deinem ganzen Leben nie in der Kirche oder in einer Kapelle gewesen, junger Mann. Du kannst nicht lesen, du kannst nicht schreiben. Gütiger Himmel, kannst du mir wenigstens den Namen eines Apostels nennen? Deinem Gesichtsausdruck entnehme ich, dass du leider nicht dazu imstande bist. Dennoch hast du nicht gezögert, der jungen Dame zu Hilfe zu eilen, die sich nun in diesem Haus aufhält, und du bekommst fünf Sixpence-Stücke, wenn du diese kleine Aufgabe für mich und Mister Mayhew übernimmst. Tagsüber findest du mich beim Morning Chronicle. Such nicht anderswo nach mir! Hier ist meine Karte, falls du sie brauchst. Mister Dickens – das bin ich.« Er reichte Dodger ein rechteckiges Stück Pappe. »Ja, hast du eine Frage?«

Dodger wirkte unsicherer als zuvor. »Kann ich die junge Dame sehen, Sir? Eigentlich habe ich noch gar keinen richtigen Blick auf sie geworfen … Ich hab sie nur wegrennen sehen und dachte, dass ihr feinen Herren zu ihr gehört. Ich muss wissen, wie sie aussieht, wenn ich mich umhören und nach ihr fragen soll. Und eins sage ich Ihnen, Sir: Fragen zu stellen, kann in dieser Stadt sehr gefährlich sein.«

Charlie runzelte die Stirn. »Derzeit ist die Dame vor allem schwarz und blau, Dodger.« Er dachte kurz und fuhr dann fort: »Aber deine Worte haben durchaus etwas für sich. Dieses Haus ist durch die jüngsten Ereignisse völlig durcheinandergeraten, wie du dir vielleicht vorstellen kannst. Missus Mayhew bringt die Kinder wieder ins Bett, und die junge Dame ist vorerst im Dienstmädchenzimmer untergebracht. Wenn du dort hineingehst, sollten deine Stiefel sauber sein, und deine flinken Finger … Ich meine die Finger, die sich bestens darauf verstehen, die Wertgegenstände anderer Leute zu finden, während – Meine Güte, mich laust der Affe! – du keine Ahnung hast, wie sie da hingekommen sind …« Charlie legte eine kurze Pause ein. »Versuch so etwas nie – ich wiederhole: nie – im Haus von Mister Henry Mayhew!«

»Ich bin kein Dieb«, protestierte Dodger.

»Womit du meinst, dass du nicht nur ein Dieb bist, mein Lieber. Derzeit finde ich mich mit deiner Geschichte über meine Brieftasche ab. Derzeit, betone ich. Die dünne Brechstange, die du bei dir trägst, dient vermutlich dazu, Gullydeckel anzuheben, woraus ich schließe, dass du ein Tosher bist, ein Dreckwühler, wie man solche Leute auch nennt. Ein abwechslungsreicher Beruf, aber nicht für jemanden, der sich ein langes Leben erhofft. Und so frage ich mich, wie du überlebst, Dodger, und bin entschlossen, eines Tages eine Antwort auf diese Frage zu finden. Bitte spiel mir gegenüber nicht den Unschuldigen! Dafür kenne ich die dunklen Seiten dieser Stadt zu gut.«

Zwar rang Dodger nach Luft und empörte sich darüber, dass Charlie über ihn sprach, als sei er ein gewöhnlicher Krimineller, aber er war auch beeindruckt. Nie zuvor hatte er einen noblen alten Geezer gehört, der Mich laust der Affe sagte. Das bestätigte seine Einschätzung, wonach Mister Dickens ein gewiefter Typ war und einem hart arbeitenden Burschen jede Menge Scheußlichkeit bescheren konnte. Vor noblen alten Knackern wie ihm musste man sich in Acht nehmen, sonst fanden sie vielleicht jemanden, der einem die Zähne mit einer Zange bearbeitete, so wie es dem Abdecker Wally widerfahren war, den man wegen eines lumpigen Shillings übel zugerichtet hatte. Deshalb blieb Dodger artig und brav, als man ihn durchs dunkle Haus nach oben in ein kleines Schlafzimmer führte, das durch die Anwesenheit des Doktors, der sich gerade in einer winzigen Schüssel die Hände wusch, noch kleiner wirkte. Der Mann maß Dodger mit beiläufigem Blick, in dem ziemlich viel Verdammung lag, und wandte sich dann an Charlie, der von ihm ein Lächeln geschenkt bekam, wie es reichen Leuten oft zuteil wird. Dodger hatte, wie zu Recht von Charlie angenommen, keine richtige Schulbildung genossen. Stattdessen hatte sein ganzes bisheriges Leben aus Lernen bestanden, was sich als überraschend anders erwies, und er konnte in einem Gesicht deutlicher lesen als in einer Zeitung.[1]

Der Doktor sagte zu Charlie: »Eine üble Sache, Sir, eine sehr üble Sache. Ich habe mein Möglichstes getan, und die Nähte sind mir sehr gut gelungen, wenn ich das sagen darf. Im Grunde ist sie eine recht robuste junge Frau, und das war auch nötig, wie sich herausstellte. Jetzt braucht sie vor allem gute Pflege und den besten aller Ärzte: Zeit.«

»Und natürlich die Gnade Gottes, der von allen am wenigsten dafür verlangt«, sagte Charlie und drückte dem Mann einige Münzen in die Hand. Als der Doktor zur Tür ging, fügte Charlie hinzu: »Selbstverständlich werden wir dafür sorgen, dass die junge Dame zumindest zu essen und zu trinken bekommt. Danke, dass Sie sich um sie gekümmert haben, und gute Nacht.«

Der Arzt warf Dodger einen weiteren finsteren Blick zu und eilte die Treppe hinunter. Ja, wenn man auf der Straße lebte, musste man wissen, wie man ein Gesicht las, kein Zweifel. Inzwischen hatte Dodger Charlies Gesicht zweimal gelesen und wusste daher, dass Charlie den Doktor nicht sonderlich mochte, vielleicht ebenso wenig, wie der Doktor Dodger mochte, und seinem Ton war zu entnehmen, dass Charlie gutem Essen und Wasser mehr vertraute als Gott – einer Person, die Dodger nur vom Hörensagen kannte und über die er fast nichts wusste. Mit der Ausnahme vielleicht, dass Gott viel mit reichen Leuten zu tun hatte. Das klammerte praktisch alle Menschen aus, die Dodger kannte, abgesehen von Solomon, der oft mit Gott verhandelt hatte und ihm gelegentlich einen Rat erteilte.

Als die Leibesfülle des Doktors nicht mehr übermäßig viel Platz in dem kleinen Zimmer beanspruchte, konnte Dodger die junge Frau besser sehen. Er schätzte ihr Alter auf nicht mehr als sechzehn oder siebzehn, obwohl sie älter aussah, was bei Zusammengeschlagenen immer der Fall war. Sie atmete langsam, und er sah einen Teil ihres Haars, das ihm wie Gold erschien. Spontan sagte er: »Nichts für ungut, Mister Charlie, aber hätten Sie was dagegen, wenn ich bis morgen früh über die Dame wache? Natürlich rühre ich sie in keiner Weise an, und ich habe sie wirklich noch nie gesehen, ich schwör’s. Ich weiß nicht warum, aber ich würde gern ein wenig auf sie aufpassen.«

Die Haushälterin kam herein, und der Blick, mit dem sie Dodger maß, bestand aus reinem Hass. Der zweite Blick, der Charlie galt, war glücklicherweise freundlicher. Sie hatte fast so etwas wie einen Schnurrbart, und darunter brummte es. »Ich will nicht vorlaut sein, Sir. Ich habe nichts dagegen, sozusagen eine weitere Weide des Sturms im Haus zu haben, aber für dieses Schmuddelkind übernehme ich keine Verantwortung, wenn Sie gestatten. Ich hoffe, mir macht niemand Vorhaltungen, wenn er Sie heute Nacht alle in Ihren Betten ermordet. Womit ich natürlich niemandem zu nahe treten möchte.«

An solche Leute war Dodger gewöhnt. Leute wie diese dumme Frau hielten jedes Straßenkind für einen Dieb, der einem innerhalb eines Sekundenbruchteils die Schnürsenkel aus den Stiefeln stahl und sie einem dann zum Kauf anbot. Er seufzte innerlich. Natürlich traf das auf die meisten von ihnen zu – auf fast alle, um ganz ehrlich zu sein –, aber das war noch lange kein Grund für solche pauschalen Anschuldigungen. Dodger war kein Dieb, ganz und gar nicht. Er war … Nun, er verstand sich gut darauf, Dinge zu finden. Immerhin fiel manchmal etwas von Karren und Kutschen, oder? Er hatte nie die Hand in eine fremde Hosentasche gesteckt. Abgesehen vielleicht von zwei oder drei Gelegenheiten, bei denen die Taschen so weit aufklafften, dass etwas herausfallen musste. Dodger war einfach nur rechtzeitig zur Stelle gewesen, um es aufzufangen, bevor es zu Boden fallen konnte. Von Stehlen konnte keine Rede sein. Nein, er half, die Straße sauber zu halten, und außerdem passierte es nur … wie oft? Ein- oder zweimal die Woche? Es war eine Form der Reinlichkeit, doch gewisse kurzsichtige Menschen mochten dennoch auf den Gedanken verfallen, einen dafür zu hängen – aufgrund eines Missverständnisses. Aber sie bekamen nie Gelegenheit, Dodger misszuverstehen, o nein, denn er war schnell und mit allen Wassern gewaschen und bestimmt viel gerissener als die dumme alte Frau, die die Worte durcheinandergebracht hatte. Überhaupt, was war eine Weide des Sturms? Wie brachte man sie ins Haus, und welche Tiere grasten darauf? Das war doch bescheuert! Aber vielleicht wurde man bescheuert, wenn man in einem solchen Haus arbeitete. Was Dodger betraf … er mied die sogenannte Arbeit. Ganz anders sah es natürlich mit dem Toshen aus. Oh, wie sehr er das liebte! Das Toshen war keine Arbeit, sondern ein Lebensstil – oder mehr noch: das Leben selbst. Hätte er nicht diesen dämlichen Fehler begangen, wäre er jetzt in der Kanalisation, um dort das Ende des Gewitters abzuwarten. Nach einem solchen Regenguss öffnete sich eine ganze Welt von Möglichkeiten. Er war gern dort unten unterwegs, aber im Augenblick lag Charlies Hand fest auf seiner Schulter.

»Höre dies, mein Freund: Diese Frau hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Wenn du hier Dschingis Khan spielst und ich davon erfahre, setze ich gewisse mir bekannte Leute auf dich an. Verstanden? Und ich werde eine Waffe schwingen, die sich Dschingis Khan nie erträumt hätte, und sie wird genau auf dich zielen, mein Freund. Nun muss ich diese arme junge Dame deiner Obhut und dich der Aufsicht von Missus Sharples überlassen, von deren Wort dein Leben abhängt.« Charlie lächelte und fuhr fort: »Weide des Sturms – nicht schlecht. Das werde ich mir notieren.« Zur Überraschung von Dodger und wahrscheinlich auch von Missus Sharples holte Charlie ein sehr kleines Notizbuch hervor und kritzelte etwas mit einem sehr kurzen Stift hinein.

In den Augen der Haushälterin glänzte freudige Boshaftigkeit, als sie Dodger ansah. »Sie können mir vertrauen, Sir, jawohl, das können Sie. Wenn dieser Bursche irgendwelche Mätzchen macht, bringe ich ihn sofort aus dem Haus und zur Polizei.« Dann schrie sie und wies nach unten. »Er hat ihr schon was gestohlen, Sir, sehen Sie nur!«

Dodger erstarrte mit der Hand auf halbem Weg zum Boden. Es folgte ein recht angespannter Augenblick.

»Ah, Missus Sharples, Sie haben in der Tat die Augen von … wie soll ich sagen … Argos Panóptes«, sagte Charlie glatt. »Zufälligerweise habe ich bereits gesehen, was der junge Mann gerade aufheben wollte. Es liegt schon seit einer ganzen Weile neben dem Bett – die junge Dame hat es zuvor in der Hand gehalten. Mister Dodger wollte sicher nur dafür sorgen, dass es niemand übersieht. Bitte gib es mir, Dodger!«

Dodger hatte einen ziemlichen Schreck bekommen, hob den Gegenstand auf und reichte ihn dem Mann. Es handelte sich um ein billiges Kartenspiel, und da er Charlies Blick spürte, verzichtete er darauf, es sich genauer anzusehen.

Charlie ging Dodger ziemlich auf den Geist, und jetzt sagte er: »Ein Kartenspiel für Kinder, Missus Sharples, feucht und recht juvenil für eine junge Dame ihres Alters. Ein Quartett, Glückliche Familie genannt. Ich habe davon gehört.« Er drehte das Kartenspiel hin und her und sagte: »Dies ist ein Rätsel, meine liebe Missus Sharples. Ich möchte es in die Hände von jemandem legen, der Himmel und Erde in Bewegung setzt, um das Geheimnis am Schwanz zu packen und ans Licht zu ziehen. Damit meine ich Mister Dodger.« Er gab das Kartenspiel dem erstaunten Dodger zurück und fügte munter hinzu: »Wage mich nicht zu hintergehen, Dodger! Glaub mir, ich kenne dich in- und auswendig, und was ich gerade gesagt habe, meine ich ernst. So, und jetzt muss ich gehen. Es ist spät genug.«

Dodger glaubte, dass Charlie ihm zuzwinkerte, bevor er das Zimmer verließ.

Die Nacht verging schnell, weil schon ein großer Teil von ihr ins Gestern geschlüpft war. Dodger saß auf dem Boden, lauschte dem langsamen Atmen der jungen Frau und dem Schnarchen von Missus Sharples, die es schaffte, beim Schlafen ein Auge offen zu halten. Der Blick dieses einen Auges blieb die ganze Zeit auf Dodger gerichtet wie eine Kompassnadel, die immerzu nach Norden zeigt. Warum hatte er sich das angetan? Warum fror er hier auf dem Boden? Er hätte doch auch gemütlich an Solomons warmem Ofen liegen können (einer wunderbaren Vorrichtung, mit der sich auch Gold einschmelzen ließ, wenn genug davon vorhanden war).

Die Unbekannte war trotz ihrer Verletzungen schön, und er beobachtete sie, während er die feuchten, schmuddeligen und albernen Karten in seinen Händen hin und her drehte. Er betrachtete das Gesicht, das nur aus Blutergüssen zu bestehen schien. Die Mistkerle hatten sie nach Strich und Faden verprügelt, sie als Boxsack benutzt. Sie hatten Dodgers Brechstange zu spüren bekommen, aber das genügte nicht, nein, bei Gott, das war bei Weitem nicht genug! Er würde sie finden, jawohl, und windelweich schlagen …

Dodger erwachte am Boden, in einer Düsternis, die nur von schwach flackerndem Kerzenlicht erhellt wurde. Er wusste nicht, wo er war, bis er seine Umgebung erkannte, zu der auch Missus Sharples in ihrem Sessel gehörte – sie schnarchte noch immer wie ein Mann, der ein Schwein durchzusägen versucht. Aber viel wichtiger war eine leise, zitternde Stimme, die sagte: »Kann ich vielleicht ein bisschen Wasser haben?«

Die Bitte versetzte Dodger kurz in Panik, doch dann entdeckte er den Wasserkrug neben der kleinen Schüssel und füllte ein Glas. Die junge Frau nahm es sehr vorsichtig entgegen, trank und bedeutete ihm, es noch einmal zu füllen. Dodger blickte zu Missus Sharples hinüber, schenkte das Glas erneut voll, reichte es der Unbekannten und flüsterte: »Bitte, nenn mir deinen Namen!«

Die junge Frau sprach nicht, sondern krächzte eher, aber es war ein damenhaftes Krächzen, wie man es vielleicht von einer Froschprinzessin erwarten durfte, und sie sagte: »Es ist besser, wenn ich meinen Namen nicht verrate, aber du bist sehr freundlich.«

Dodger stand förmlich in Flammen. »Warum haben dich die Kerle zusammengeschlagen? Kannst du mir wenigstens ihre Namen nennen?«

Die traurige Stimme erhob sich erneut. »Nein, lieber nicht.«

»Darf ich dann deine Hand halten in dieser kalten Nacht?« Das war angeblich eine christliche Geste – so hatte er jedenfalls gehört. Dennoch erstaunte es ihn ein wenig, als ihm die junge Frau tatsächlich die Hand darbot. Er ergriff sie, betrachtete mit großer Aufmerksamkeit den Ring an ihrem Finger. Das ist ein Haufen Gold, dachte er. Und es zeigte ein Wappen. Oh, mit einem Wappen konnte man schnell in Schwierigkeiten geraten. Auf dem Wappen waren Adler zu sehen, und hinzu kamen einige ausländische Worte. Ein Ring, der etwas bedeutete, hatte Charlie gesagt. Ein Ring, den jemand bestimmt nicht verlieren wollte. Und die Adler wirkten irgendwie böse.

Die junge Frau bemerkte seinen Blick. »Er hat behauptet, dass er mich liebt … mein Ehemann. Dann ließ er mich schlagen. Aber meine Mutter hat immer gesagt, dass man frei ist, wenn man nach England kommt. Bitte, lass nicht zu, dass man mich zurückbringt, Sir! Ich will nicht zurück.«

Dodger beugte sich vor und flüsterte: »Ich bin kein Sir, Miss. Ich bin Dodger.«

»Dodger?«, wiederholte die junge Frau schläfrig, und er glaubte, einen deutschen Akzent herauszuhören. »Kommt das von dodge, von ausweichen und sich hin und her wenden? Ich danke dir, Dodger. Du bist nett, und ich bin müde.«

Dodger fing das Glas auf, als die junge Frau in die Kissen zurücksank.

[1] Im Gegensatz zu seiner Behauptung Charlie gegenüber konnte Dodger sehr wohl lesen – er hatte es vom Uhrmacher Solomon gelernt, bei dem er wohnte, und die Zeitung war der Jewish Chronicle. Aber es war immer besser, den Leuten nicht mehr zu sagen, als sie unbedingt wissen mussten.

2

Dodger begegnet einem Sterbenden, und ein Sterbender sieht die Lady – und Dodger wird König der Tosher

Missus Sharples erwachte, als die Glocken fünf Uhr schlugen, und gab ein Geräusch von sich, das wie Blort! klang. Ihre Augen füllten sich mit Gift, als sie Dodger gewahr wurden, und sofort hielt sie im Zimmer Ausschau nach Anzeichen von Kriminalität.

»Also gut, du junger Schlingel, du hast eine angenehme warme Nacht in einem christlichen Schlafzimmer verbracht, wie es dir versprochen war – vermutlich zum ersten Mal in deinem Leben. Geh und sei gewiss, dass ich wie ein Adler ein Auge auf dich habe, bis du durch die Hintertür verschwunden bist, lass dir das gegart sein.«

Gemein und undankbar waren diese Worte, o ja, und Missus Sharples sprach sie auch noch in einem gemeinen Ton aus, als sie Dodger die dunkle Hintertreppe nach unten und in die Küche brachte, wo sie die Hintertür mit solcher Wucht öffnete, dass diese von der Wand abprallte und wieder zufiel, sehr zur Erheiterung der Köchin, die das Theater beobachtete.

Die Tür hing vorwurfsvoll in den Angeln, als Dodger sich an Missus Sharples wandte. »Sie haben Mister Charlie gehört, Missus, er ist ein sehr wichtiger Mann und gab mir einen Auftrag, und so habe ich jetzt eine Mission, und wer eine Mission hat, bekommt ein ordentliches Frühstück, bevor man ihn nach draußen in die Kälte schickt. Und ich denke, Mister Charlie wäre nicht begeistert, wenn ich ihm von dem Mangel an Gastfreundschaft berichte, den ich hier erfahren habe, Missus Schnappig.«

Er veränderte den Namen der Haushälterin ohne einen bewussten Gedanken, war mit dem Ergebnis aber recht zufrieden. Missus Sharples schien die Verballhornung gar nicht zu bemerken, im Gegensatz zur Köchin, deren Lachen eine gehörige Portion Spott enthielt. Mit Büchern kannte sich Dodger nicht besonders gut aus; andernfalls hätte er das Gesicht der Köchin vielleicht mit einem leicht zu lesenden Buch verglichen. Es war erstaunlich, wie viel man einem Blick, einem kurzen Schnauben oder sogar einem Furz an der richtigen Stelle in einem Gespräch entnehmen konnte. Hier gab es die übliche Sprache und dort die andere, die aus Betonungen, kurzen Blicken und winzigen Bewegungen im Gesicht bestand, aus kleinen Angewohnheiten, von denen der Betreffende nichts wusste. Wer sein Gesicht für eine Maske hielt, die nichts verriet, begriff nicht, dass er seine geheimsten Gedanken für alle jene zur Schau stellte, die die Zeichen zu erkennen verstanden. Und das Zeichen, das gerade wie von einem Engel gehalten mitten in der Luft schwebte, verkündete, dass die Köchin die Haushälterin nicht mochte und sich sogar in Dodgers Beisein über sie lustig machte.

Also veränderte Dodger vorsichtig das eigene Gesicht, damit er etwas müder, schüchterner und auch bittender aussah. Sofort winkte ihn die Köchin zu sich und sagte leise, aber laut genug, damit auch die Haushälterin es hörte: »Also gut, Junge, ich habe Porridge auf dem Herd, davon kannst du was haben. Und Hammelfleisch, das nicht mehr ganz frisch ist, aber ich wette, du hast schon Schlimmeres gegessen, oder?«

Dodger brach in Tränen aus. Es waren gute Tränen – gewissermaßen Tränen mit Leib und Seele –, und dann sank er auf die Knie und faltete die Hände und sagte mit tiefer Aufrichtigkeit: »Gott segne Sie, Missus, Gott segne Sie.«

Diese schamlose Vorstellung brachte ihm einen großen Teller Porridge mit einer durchaus angemessenen Menge an Zucker ein. Das Hammelfleisch hatte noch nicht den Zustand erreicht, in dem es von allein gehen konnte, und so nahm er es dankbar entgegen – immerhin ließ es sich für einen Eintopf verwenden. Es war in Zeitungspapier eingehüllt, und er steckte es rasch in die Tasche, aus Furcht, dass es plötzlich verschwand. Was den Porridge betraf … Er schwang den Löffel, bis nichts mehr übrig war, was bei der Köchin ganz offensichtlich Anklang fand, einer Frau, die überall dort wabbelte, wo etwas wabbeln konnte, das Kinn eingeschlossen.

Dodger hatte sie als Verbündete verzeichnet, zumindest gegen die Haushälterin, die ihn noch immer unheilvoll anstarrte, doch dann ergriff sie plötzlich seine Hand und rief lauter als nötig: »Komm mit mir in die Speisekammer, dann sehen wir, wie viel du gestohlen hast, Bürschchen!«

Dodger versuchte sich aus ihrem Griff zu lösen, aber die Köchin war, wie bereits erwähnt, recht kräftig gebaut, was bei Köchen oft der Fall ist. Als er sich noch hin und her wand, beugte sie sich zu ihm hinüber und flüsterte: »Wehr dich nicht! Bist du etwa ein verdammter Narr? Halt den Mund und tu, was ich dir sage!« Sie öffnete eine Tür und zerrte ihn einige steinerne Stufen hinab in einen Raum, der nach Essig roch. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, entspannte sie sich ein wenig. »Die alte Schrulle von Haushälterin wird Stein und Bein schwören, dass du während der Nacht das eine oder andere gestohlen hast, und du kannst sicher sein, dass sie besagte Dinge selbst hat verschwinden lassen. Wodurch eventuelle Freundschaften, die du hier vielleicht geschlossen hast, wie Morgentau in der Sonne verschwänden. Die hiesige Familie ist recht anständig und hat immer ein offenes Ohr für die traurige Geschichte eines vom Pech verfolgten Handwerkers oder einer gefallenen Frau, die gern wieder aufstehen täte. Ich habe sie kommen und gehen gesehen. Ziemlich viele von ihnen waren keine Schwindler, das kann ich dir flüstern. Ich weiß Bescheid.«

So höflich wie möglich versuchte Dodger die Hände der Köchin von seiner Person zu entfernen. Sie schien ihn gründlicher abzuklopfen, als unbedingt nötig war. Ein gewisser Enthusiasmus kam darin zum Ausdruck, begleitet von einem Glanz in den Augen.

Sie bemerkte seinen Gesichtsausdruck und sagte: »Ich bin nicht immer die dicke alte Schachtel von heute gewesen. Einmal bin ich gefallen, vom Boden abgeprallt und wieder auf die Beine gekommen. So muss man das sehen, Junge. Jeder kann hochkommen, genug Hefe vorausgesetzt. Ich war nicht immer so, o nein. Du wärst erstaunt und wahrscheinlich auch belustigt, in ein, zwei Fällen vielleicht sogar verlegen.«

»Ja, Missus«, sagte Dodger. »Und würden Sie bitte damit aufhören, mich abzuklopfen!«

Die Köchin lachte, was ihr Mehrfachkinn in Bewegung versetzte, und dann sagte sie erheblich ernster: »Vom Küchenmädchen habe ich gehört, was man sich über dich erzählt. Angeblich hast du letzte Nacht ein süßes Mädchen vor Schlägern gerettet, und ich weiß – ich weiß es einfach –, dass man dir irgendetwas vorwerfen wird, wenn ich dir nicht zeige, wo’s langgeht. Also, Bürschchen, gib Tante Quickly alles, womit du dich aus dem Staub machen wolltest, und ich sorge dafür, dass es dorthin zurückkehrt, wohin es gehört. Ich mag diese Familie und möchte nicht, dass sie bestohlen wird, nicht einmal von einem so aufgeweckten Jungen wie dir. Wenn du also alle Sünden bekennst, so wird dir vergeben, und dann kannst du dieses Haus ohne einen Schandfleck verlassen, was ich gern auch von deinen anderen Flecken behaupten würde.« Sie rümpfte die Nase, als sie den Zustand seiner Hose begutachtete.

Dodger grinste, reichte ihr einen silbernen Löffel und sagte: »Ein Löffel – nur weil ich ihn in der Hand hielt, als Sie mich hier heruntergezogen haben«, sagte er. Dann holte er das Kartenspiel hervor. »Und dies, Missus, habe ich von Mister Dickens bekommen.«

Trotzdem klopfte ihn die Köchin noch einmal ab, wenn auch mit einem gutmütigen Lächeln, fand dabei sein Messer, den Schlagring und die Brechstange. Sie schenkte diesen Dingen demonstrativ keine Beachtung und forderte ihn auf, die Schuhe auszuziehen, woraufhin sie angesichts des Geruchs eine Grimasse schnitt und ihm zu verstehen gab, dass er die Schuhe schnell wieder anziehen solle. »Du hast doch nichts im Hintern, oder? Wärst nicht der Erste, der es auf diese Weise versuchen täte. Nein, ich werde nicht nachsehen, keine Sorge. Du hast mehr Fleisch auf den Rippen als die meisten anderen Jungen deiner Sorte, was bedeutet, dass du entweder sehr unschuldig oder sehr clever bist. Ich tippe auf Letzteres – es würde mich sehr überraschen, wenn Ersteres der Fall wäre. Als Nächstes wird Folgendes geschehen: Ich zerre dich die Treppe hoch und schimpfe dich als den Dreckskerl aus, der du bist, und zwar so laut, dass es die alte Schrulle nicht überhören kann. Ich werde rufen, dass ich dich gründlich durchsucht habe, trotz der Gefahr für meine Gesundheit, und dass ich dich mit völlig leeren Händen hinauswerfe. Anschließend versetze ich dir einen Tritt durch die Hintertür, damit alles echt aussieht, und dann setze ich meine Arbeit fort, die mir beim Gedanken daran, dass die alte Zicke vor Wut schäumt, viel mehr Spaß machen wird als vorher.« Sie maß Dodger mit einem langen Blick und sagte: »Du bist ein Tosher, nicht wahr, ein Dreckwühler?«

»Ja, Missus.«

»Viel Arbeit für wenig Geld, habe ich gehört.«

Man gebe so wenig wie möglich preis, dachte Dodger und erwiderte: »Oh, na ja, ich weiß nicht, Missus, ich komme irgendwie über die Runden.«

»Ach, lassen wir das Theater für die Leute, die Gefallen an so etwas finden tun! Hinaus mit dir, aber denk dran: Komm und besuch Missus Quickly, wenn du eine Freundin brauchst. Ich meine, was ich sage – du brauchst nur zu pfeifen, schon bin ich für dich da. Und wenn ich in schweren Zeiten an deine Tür klopfe, so lass sie nicht verschlossen.«

Draußen war die Sonne in der Mischung aus Rauch, Dunst und Nebel kaum zu erkennen, aber für einen wie Dodger bedeutete es helles Tageslicht. Gegen ein bisschen Sonnenschein gab es nichts einzuwenden, fand er, denn es half, die Kleidung zu trocknen, doch er liebte vor allem die Schatten, und wenn möglich die Kanalisation, und derzeit verlangte es ihn nach dem Trost der Dunkelheit.

Also hebelte er mit seiner Brechstange den nächsten Gullydeckel hoch, kletterte hinab und stand wenige Sekunden später auf einer Oberfläche, die eigentlich gar nicht so übel war. Das Unwetter der vergangenen Nacht war so freundlich gewesen, die Kanalisationstunnel in einen etwas erträglicheren Ort zu verwandeln. Natürlich waren hier unten andere Tosher unterwegs, aber Dodger hatte einen Riecher für Gold und Silber.

Solomon behauptete, sein Hund Onan besitze eine Spürnase für Schmuck. Dodger gestand ihm das gern zu, denn ihm tat der arme Hund leid, der manchmal ganz schön peinlich sein konnte. Doch aus irgendeinem Grund schien Onans spitze kleine Schnauze regelrecht aufzuglühen, wenn er Rubine roch. Manchmal nahm Dodger ihn mit in die Finsternis, und wenn Onan dann irgendwo im Dunkeln etwas von Wert entdeckte, bekam er dabei von Solomon zur Belohnung eine zusätzliche Portion Hühnergekröse.

Dodger bedauerte, dass ihn der Hund diesmal nicht begleitete, denn Onan hatte so gute Ohren, dass er einen plötzlichen Schauer meilenweit stromaufwärts hörte und mit einem Bellen darauf hinwies. Aber er begann seine Tour an der falschen Stelle und hatte keine Zeit, den Hund zu holen, was bedeutete, dass er allein zurechtkommen musste, und darauf verstand er sich gut. Wenn man gescheit und flink war wie Dodger, dann befand man sich schon wieder oben an der frischen Luft, wenn der erste Schwall Flutwasser kam.

Doch das Gewitter der vergangenen Nacht schien den Himmel geleert zu haben. An diesem Tag war es in dem Tunnel völlig ruhig. Es gab nur ein paar Pfützen hier und dort sowie ein kleines Rinnsal in der Mitte. Nach dem Unwetter roch es nach … nun, nach nassen toten Dingen, nach verfaulten Kartoffeln … und neuerdings auch nach Scheiße. Das ärgerte Dodger immer. Solomon hatte ihm erzählt, dass Typen namens Römer die Kanalisation gebaut hatten, damit der Regen zur Themse floss und nicht in die Häuser der Bewohner. Aber heutzutage legten feine Pinkel hier und dort Leitungen von den Senkgruben zu den Abwasserkanälen, und das hielt Dodger für eine Unverschämtheit. Mit den Ratten hier unten war es schlimm genug, auch ohne dass man ständig darauf achten musste, nicht in einen Haufen zu treten, die manchmal auch wie Würste aussahen, allerdings kaum damit verwechselt werden konnten – der Geruch war Warnung genug.

Dodger wusste nicht viel über die Römer, aber die von ihnen erbaute Kanalisation war alt und dem Verfall preisgegeben. Oh, gelegentlich kamen Arbeitstrupps, um das eine oder andere zusammenzuflicken, aber der allgemeine Zustand der Röhren und Tunnel veränderte sich dadurch kaum. Die Arbeiter, die manchmal in amtlichem Auftrag unterwegs waren und notwendige Reparaturen vornahmen, machten Jagd auf Tosher, wenn sie welche fanden, doch sie waren nicht so jung wie Dodger, der ihnen leicht entkam. Außerdem waren es Leute mit festen Arbeitszeiten, und ein Tosher arbeitete manchmal die ganze Nacht lang, wenn die Nacht gut war, suchte dort, wo Mauersteine fehlten oder wo der Boden nicht ganz eben war. Am besten waren die Stellen, wo das Wasser kleine Strudel bildete, denn dort sammelten sich Münzen an: Pennys, Sixpences, Viertelpennys, halbe Viertelpennys und – wenn man großes Glück hatte – sogar Sovereigns, halbe Sovereigns und Kronen. Gelegentlich verirrten sich auch Broschen, silberne Hutnadeln, Monokel, Uhren und goldene Ringe dorthin. Sie alle drehten sich in dem dunklen Karussell, Teil eines klebrigen großen Schlammballs. Und wenn du ein guter Tosher warst und an die Lady der Tosher glaubtest, dann konntest du – ja, du – vielleicht das Glück haben, eines Tages einen Schlammball wie einen großen Plumpudding zu finden, von den Toshern Tosheroon genannt: einen Ball, der ein Vermögen enthielt, genug für ein ganzes Leben.

Dodger hatte alle erwähnten Dinge gefunden, nacheinander, von Zeit zu Zeit, manchmal zwei oder drei von ihnen zusammen in einem kleinen Nest, das sich in einem Spalt gebildet hatte. Solche Stellen merkte er sich, er verzeichnete sie in der Karte, die er im Kopf mit sich herumtrug, und natürlich kehrte er dorthin zurück. Es geschah nicht selten, dass er mit Fundgut heimkehrte, über das sich Solomon freute, aber die große Pastete aus Dreck, Schmuck und Geld, die Tür und Tor für ein besseres Leben geöffnet hätte, war bisher noch nicht dabei gewesen.

Doch gab es ein besseres Leben als das Toshen, wenn man ein Dodger war? Die Welt – London, mit anderen Worten – schien wie für ihn geschaffen, nur für ihn. Sie arbeitete für ihn, als hätte die Lady es so bestimmt. Goldener Schmuck und Münzen waren schwer und blieben leicht irgendwo stecken, wohingegen tote Katzen, Ratten und Haufen gern schwammen, was gut war, denn es wäre nicht sehr angenehm gewesen, ständig durch Scheiße stapfen zu müssen. Während sich Dodger fast geistesabwesend an der Mauer des Abwasserkanals entlangtastete, bekannte Fundstellen überprüfte und nach neuen Ausschau hielt, überlegte er, was ein Tosher machen würde, wenn er einen richtigen Tosheroon fand. Er kannte sie alle, die Tosher, und woraus bestand ihre Beute, wenn sie einen guten Tag hatten? Was stellten sie mit dem hart erarbeiteten Geld an, für das sie im Dreck gewühlt hatten? Sie vertranken es, und je größer der Fund, desto mehr tranken sie. Wenn sie vernünftig waren, legten sie etwas beiseite, für eine Mahlzeit und ein Bett für die Nacht – am nächsten Morgen würden sie wieder arm sein.

Etwas klimperte unter seinen Fingern. Es war das Geräusch von zwei Sixpence-Münzen an der Stelle, die er Auf dich ist Verlass nannte – ein guter Anfang.

Dodger wusste, dass er den anderen Toshern überlegen war; deshalb hatte er sich über alle Tosherregeln hinweggesetzt und war während eines Unwetters in die Kanalisation eingestiegen. Sicher hätte er Erfolg gehabt, wenn der Kampf nicht stattgefunden hätte und der ganze Rattenschwanz danach nicht passiert wäre. Wenn man sich ganz auf die Suche konzentrierte, ließen sich in den Tunneln Plätze finden, wo man in einer Luftblase ausharren konnte, während ringsum die Welt tobte. Er hatte einen solchen guten Platz entdeckt. Dort war es zwar recht kalt, aber er hätte von dort aus als Erster die Gunst der Stunde nutzen und die Ernte der Nacht einbringen können. Jetzt musste er sich beeilen, denn andere Tosher kamen durch die Kanalisation auf ihn zu, und plötzlich glänzte etwas in der Düsternis weiter vorn. Der Glanz verschwand sofort wieder, aber er hatte die Stelle in Gedanken markiert und arbeitete sich langsam dorthin vor, wo er das Etwas gesehen hatte. Was er kurz darauf fand, war ein Haufen Unrat auf einer kleinen Sandbank, wo ein kleinerer Abwasserkanal in diesen einmündete. Und dort, in dem noch feuchten Dreck …

Eine tote Ratte lag da, im Maul etwas Glänzendes, das erst nach einem Goldzahn aussah, sich bei genauerem Hinsehen aber glücklicherweise als halber Sovereign erwies, fest eingeklemmt zwischen Herrn Rattes Zähnen. Man berührte nie eine Ratte, wenn man es irgendwie vermeiden konnte, und deshalb nahm Dodger seine kleine Brechstange immer mit nach unten. Er machte zusammen mit seinem Messer Gebrauch davon, hebelte das Maul der Ratte auf und stieß den halben Sovereign heraus. Anschließend balancierte er die Münze auf der Messerklinge und hielt sie ins Wasser, das über die Wand rann – auf diese Weise wusch er sie ein wenig sauber.

Wenn doch nur jeder Tag so gut wäre wie dieser! Wer wollte an einem solchen Tag oben einer Arbeit nachgehen? Ein geschickter Kaminkehrer musste eine Woche schuften, um das Geld zu verdienen, das Dodger gerade gefunden hatte. Oh, ein Tosher zu sein, an einem solchen Tag!

Dann hörte er das Stöhnen …

Dodger schlich an der Ratte vorbei in den kleineren Siel, in dem sich jede Menge Kram angesammelt hatte, ein großer Teil davon Holzteile, manche von ihnen scharf wie Messer. Hinzu kam viel anderes Geröll, von der Flut der vergangenen Nacht hierhergeschwemmt. Aber zu Dodgers großem Erstaunen schien der größte Teil des Schutts aus einem Mann zu bestehen, und dieser Mann sah nicht gesund aus. Wo sich eigentlich ein Auge befinden sollte, gab es nicht mehr viel, und das andere öffnete sich soeben und blickte Dodger unverwandt ins Gesicht. Es stank, das Gesicht, in das Dodger sah, und er schauderte, denn es war ihm vertraut.

»Das bist du, Opa, nicht wahr?«

Der älteste Tosher von London erweckte den Eindruck, gefoltert worden zu sein, und Dodger übergab sich fast, als er den übrigen Körper sah. Er musste allein gearbeitet haben, so wie Dodger, und war dann in die Flut geraten, in der zahlreiche Gegenstände herumgeschwommen waren, die Leute weggeworfen oder verloren hatten, die sie verstecken oder loswerden wollten. Viele dieser Gegenstände waren gegen Opa gekracht, der aufrecht zu sitzen versuchte – trotz der vielen blauen Flecken, des Bluts und der anderen Scheußlichkeiten, die einem nur die Kanalisation bescheren konnte.

Opa spuckte Schlamm – zumindest hoffte Dodger, dass es nur Schlamm war – und sagte: »Oh, du bist’s, Dodger. Freut mich, dich in so guter Verfassung zu sehen. Du bist ein braver Bursche und gescheiter, als ich es jemals gewesen bin. Was ich von dir möchte … Bitte hol mir eine Flasche vom schlechtesten Brandy, den du auftreiben kannst. Bring sie her und kipp sie in die Öffnung, die mal meine Kehle war, ja?«

Dodger versuchte einen Teil des Krams wegzuziehen, unter dem der Alte halb begraben lag. »Mich hat’s ganz schön erwischt, das kannst du mir glauben. Was bin ich doch für ein Narr! In meinem Alter … Ich hätte es besser wissen sollen. Ich schätze, diesmal habe ich zu viel abgekriegt. Wird Zeit für mich abzutreten. Sei ein guter Junge und hol mir den Fusel! In meiner rechten Hand befinden sich ein Sixpence, eine Krone und fünf Pennys. Die Münzen sind noch immer da, denn ich fühle sie, und sie sind alle für dich, du glücklicher Junge.«

»He«, sagte Dodger, »ich nehme nichts von dir, Opa!«

Der alte Tosher schüttelte den Kopf oder was davon übrig war, und sagte: »Zunächst einmal bin ich gar nicht dein Opa. Ihr Jungs habt mir diesen Namen nur deshalb gegeben, weil ich älter bin als ihr. Und bei der Lady – du wirst meine Sachen nehmen, wenn ich hinüber bin, denn du bist ein Tosher, und ein Tosher nimmt sich, was er findet. Nun, ich weiß, wo ich bin, und daher weiß ich auch, dass sich hinter der nächsten Ecke stromaufwärts ein Getränkeladen befindet. Brandy, habe ich gesagt, den schlechtesten, den sie haben, und dann behalt mich in guter Erinnerung. Mach dich auf die Socken, wenn dich nicht der Fluch eines sterbenden Toshers verfolgen soll!«

Dodger kam rennend aus dem nächsten Gully, fand den schmierigen Fuselladen, kaufte zwei Flaschen von einem Brandy, der roch, als könne er einem Mann das Bein abschneiden, und kletterte wieder in die Kanalisation hinab, kurz nachdem das Echo des angedrohten Fluchs verklungen war.

Opa war noch da und sabberte etwas Schreckliches, aber es lag so etwas wie ein Lächeln in seinem entstellten Gesicht, als er Dodger sah, der ihm die erste offene Flasche reichte – er leerte sie mit einem großen, langen Gluck. Einige Tropfen flossen ihm aus dem Mund, als er nach der zweiten Flasche winkte und sagte: »Dies ist genau richtig, so sollte ein Tosher aus dem Leben scheiden, o ja«. Dann senkte er die Stimme zu einem Flüstern, und mit der einen Hand, die noch einigermaßen in Ordnung war, packte er Dodger. »Ich habe sie gesehen, Junge. Die Lady höchstpersönlich. Sie stand dort, wo du jetzt stehst, scharlachrot und golden, und sie leuchtete wie die Sonne auf einem Sovereign. Dann warf sie mir eine Kusshand zu, winkte und verduftete, natürlich auf würdevolle Art, wie es der Lady geziemt.«

Dodger wusste nicht, was er dazu sagen sollte, schaffte es aber, es trotzdem auszusprechen. »Du hast mir viel beigebracht, Opa. Du hast mir von der Lady und den Ratten erzählt. Also, spül dir den Geschmack der Kanalisation aus dem Mund, und dann bringe ich dich irgendwie fort von hier, an einen besseren Platz. Lass es uns wenigstens versuchen, bitte!«

»Die Mühe können wir uns sparen, Junge. Wenn du mich hochhebst … Ich fürchte, ich falle auseinander. Aber es wäre schön, wenn du noch ein wenig bei mir bleiben könntest.« In der Dunkelheit gluckerte es erneut, als Opa einen weiteren großen Schluck vom feurigen Brandy nahm, und dann fuhr er fort: »Du hast verdammt schnell gelernt, das muss ich dir lassen. Ich meine, die meisten Jungs, die ich hier unten sehe, haben einfach nicht den richtigen Riecher fürs Toshen. Aber du … Es war mir eine große Freude zu sehen, wie du’s immer besser hingekriegt hast, so wie einer der Professoren oben, die ihre Nase in Bücher stecken. Ich hab gesehen, wie du einen ganzen Berg von Scheiße angestarrt hast, und dann war da ein Funkeln in deinen Augen, als hättest du gewusst, dass sich darunter etwas Wertvolles verbarg. So machen wir’s, Junge. Wir finden Wertvolles in dem Zeug, das die Leute oben wegwerfen, das sie nicht mehr haben wollen. Und das gilt auch für Menschen. Ich hab dich toshen sehen, Junge, und da wusste ich sofort: Ihm liegt das Toshen im Blut, so wie mir.« Der Alte hustete, und die Glieder seines geschundenen Leibs bewegten sich in einem gespenstischen Tanz. »Ich weiß, wie man mich nennt, Dodger – König der Tosher. So wie ich das sehe, trittst du meine Nachfolge an, und du hast meinen Segen.« Die Überbleibsel des Munds lächelten. »Hab nie erfahren, wer dein Vater ist. Weißt du es, Junge?«

»Nein, Opa«, erwiderte Dodger. »Ich hab’s nie gewusst, und wahrscheinlich wusste es auch meine Mutter nicht. Ich weiß nicht mal, wer sie war.« Wasser tropfte von der Decke, als Dodger eine Zeit lang ins Leere blickte und dann sagte: »Aber du bist immer Opa für mich gewesen. Dich kenne ich, und wenn du mich nicht das Toshen gelehrt hättest, wüsste ich überhaupt nichts von all den besonderen Plätzen hier unten, wie dem Mahlstrom, dem Schlafzimmer der Königin, dem Goldenen Irrgarten, der Sovereign Street, dem Hier-geht’s-rund und Atme-leicht. O ja, der Platz hat mir mehrmals die Haut gerettet, als ich noch lernte! Danke dafür, Opa. Opa …? Opa!«

Dann bemerkte Dodger etwas in der Luft, vielleicht ein leises Geräusch, das eben noch da gewesen war und plötzlich aufgehört hatte. Aber etwas war noch immer da, und als sich Dodger vorbeugte, hörte er den letzten Atem einige letzte Worte hauchen, und er lauschte Opas Seele, die den Körper bereits verlassen hatte. »Ich sehe die Lady, Junge, ich sehe sie …«

Opa lächelte, und das Lächeln verblasste erst, als das Licht aus seinen Augen verschwand. Dodger beugte sich vor, öffnete respektvoll die Hand des Toten und nahm sein Erbe entgegen, das ihm der Alte ausdrücklich vermacht hatte. Zwei Münzen legte er Opa auf die Augen, denn das musste sein, weil es der Tradition entsprach. Dann blickte er ins Dunkel und sprach: »Lady, ich schicke dir Opa, einen anständigen alten Typen, der mir alles Wissenswerte übers Toshen beibrachte. Versuch bitte, ihn nicht zu verärgern, denn er kennt einige üble Flüche.«

Dodger verließ die Kanalisation, als wären alle Dämonen der Hölle hinter ihm her. Er befürchtete, dass sie es tatsächlich auf ihn abgesehen haben könnten, und rannte die kurze Strecke nach Seven Dials und in die vergleichsweise Sicherheit der kleinen Mietshausmansarde, die Solomon Cohen als Heim und Werkstatt diente. Sie befand sich am Ende einer langen Treppe und gewährte ihm von weit oben einen Blick auf Dinge, die er wahrscheinlich gar nicht sehen wollte.

3

Dodger bekommt einen Anzug, der an einer empfindlichen Stelle zwickt, und Solomon kriegt die Wut

Es regnete wieder, als Dodger die Mansarde erreichte – ein grässlicher, trister Nieselregen fiel auf die Stadt. Er wartete draußen, während Solomon mit dem komplizierten Vorgang des Aufschließens begann. Als die Tür schließlich aufschwang, stürmte Dodger so schnell hindurch, dass er den alten Mann in Drehung versetzte. Solomon war klug genug, den feuchten, recht streng riechenden Dodger hinten in der Mansarde auf der alten Strohmatratze liegen zu lassen, bis jener bereit war, wieder lebendig zu werden und nicht nur ein Bündel Kummer zu sein. Dann erhitzte Solomon, der wie sein Namensvetter recht weise war, ein wenig Suppe, deren Geruch den Raum erfüllte – bis Onan, der friedlich neben seinem Herrchen geschlafen hatte, erwachte und winselte, was nach einem schrecklichen Korken klang, der aus einer furchtbaren Flasche gezogen wurde.