Schweinsgalopp - Terry Pratchett - E-Book + Hörbuch

Schweinsgalopp E-Book

Terry Pratchett

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Beschreibung

Auch auf der Scheibenwelt gibt es so etwas Ähnliches wie einen Weihnachtsmann: Er hat einen Bart und eilt alljährlich mit einem Schlitten voller Gaben durch die Lüfte herbei. Dieses Jahr bleibt er allerdings verschwunden, und so muss niemand Geringerer als Tod für ihn einspringen. In der Zwischenzeit begibt sich seine Enkelin Susanne auf die Suche nach dem Verschollenen ...

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Seitenzahl: 478

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Terry Pratchett, geboren 1948, ist einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart. Von seinen Romanen wurden weltweit rund 65 Millionen Exemplare verkauft, seine Werke in 37 Sprachen übersetzt. Er lebt mit seiner Frau Lyn in der englischen Grafschaft Wiltshire.

Informationen zu Terry Pratchett auch unter www.pratchett-buecher.de und www.pratchett-fanclub.de.

Terry Pratchett bei Goldmann und Manhattan:

Die Romane von der bizarren Scheibenwelt:

Voll im Bilde · Alles Sense! · Total verhext · Einfach göttlich · Lords und Ladies Helle Barden · Rollende Steine · Echt zauberhaft · Mummenschanz · Hohle Köpfe Schweinsgalopp · Fliegende Fetzen · Heiße Hüpfer · Ruhig Blut! · Der fünfte Elefant Die volle Wahrheit · Der Zeitdieb · Die Nachtwächter · Weiberregiment · Ab die Post · Klonk! · Schöne Scheine · Der Club der unsichtbaren Gelehrten · Steife Prise

Märchen von der Scheibenwelt:

Maurice, der Kater · Kleine freie Männer · Ein Hut voller Sterne · Der Winter- schmied · Das Mitternachtskleid

Zwei Scheibenwelt-Romane in einem Band:

Total verhext/Einfach göttlich · Lords und Ladies/Helle Barden · Rollende Steine/ Echt zauberhaft · Mummenschanz/Hohle Köpfe · Schweinsgalopp/Fliegende Fetzen

Von der Scheibenwelt außerdem erschienen:

Wahre Helden. Ein illustrierter Scheibenwelt-Roman · Die Kunst der Scheibenwelt Das Scheibenwelt-Album. Illustriert von Paul Kidby · Mort. Der Scheibenwelt-Comic . Illustriert von Graham Higgins · Wachen! Wachen! Der Scheibenwelt-Comic. Illustriert von Graham Higgins · Nanny Oggs Kochbuch. Mit Rezepten von Tina Hannan. Illustriert von Paul Kidby · Die Straßen von Ankh-Morpork. Eine Scheibenwelt -Karte · Die Scheibenwelt von A - Z · Mythen und Legenden der Scheibenwelt · Witz und Weisheit der Scheibenwelt · Narren, Diebe und Vampire. Die besten Geschichten aus zehn Jahren Scheibenwelt-Kalender

Dazu ist erschienen:

Die gemeine Hauskatze. Illustriert von Gray Jolliffe · Eine Insel. Roman

Außerdem sind Johnny-Maxwell-Romane von Terry Pratchett erschienen:

Nur du kannst die Menschheit retten/Nur du kannst sie verstehen/Nur du hast den Schlüssel. Drei Romane in einem Band

Weitere Bücher von Terry Pratchett sind in Vorbereitung.

Inhaltsverzeichnis

WidmungCopyright

Für den Geschäftsführer des Guerilla-Buchladens,von Freunden »Ppint« genannt –vor vielen Jahren richtete er jene Frage an mich,die Susanne in diesem Buch stellt.Ich bin erstaunt, daß sie nicht noch mehrLeuten in den Sinn kam.

Und für zu viele abwesende Freunde.

Alles beginnt irgendwo, obwohl viele Physiker anderer Meinung sind.

Die Leute haben immer gewußt, daß die Anfänge der Dinge problematisch sind. So fragen sie sich zum Beispiel, wie der Fahrer des Schneepflugs zur Arbeit kommt oder wo die Autoren von Wörterbüchern die richtige Schreibweise von Wörtern nachschlagen. Dennoch ist der Wunsch allgegenwärtig, in den ausgefransten, verhedderten und verknoteten Netzen der Raum – Zeit einen Punkt zu finden, auf den man deuten und sagen kann, daß hier, genau hier alles begann…

Etwas begann, als die Assassinengilde Herrn Kaffeetrinken aufnahm, der die Dinge anders sah als die meisten Leute: Er sah in den meisten Leuten Dinge. (Später meinte Lord Witwenmacher, Präsident der Gilde: »Wir hatten Mitleid mit ihm, weil er schon früh Vater und Mutter verloren hat. Im nachhinein betrachtet, wäre es vermutlich besser gewesen, genauer über diesen Punkt nachzudenken.«)

Viel früher vergaßen die Leute, daß es in den ältesten aller Geschichten früher oder später um Blut geht. Später nahmen sie das Blut heraus, weil sie glaubten, dadurch wären die Geschichten besser für Kinder geeignet – beziehungsweise für die Leute, die sie Kindern vorlasen (Kinder haben nichts gegen Blut, wenn es von den Verdienstvollen1 vergossen wird). Anschließend fragten sie sich, was aus den Geschichten wurde.

Noch früher hockte etwas in der Finsternis tiefer Höhlen und dunkler Wälder und dachte: Was sind das für Geschöpfe? Ich werde sie beobachten…

Und noch viel, viel früher formte sich die Scheibenwelt. Sie ruht auf dem Rücken von vier Elefanten, die ihrerseits auf dem Panzer der Sternenschildkröte Groß-A’Tuin stehen.

Während sie sich dreht, ergeht es ihr vielleicht wie einem Blinden, der durch ein Haus voller Spinnweben irrt. Möglicherweise verfängt sie sich immer wieder in hochspezialisierten Raum-Zeit-Fäden, die versuchen, in jeder historischen Struktur, mit der sie in Kontakt geraten, Wurzeln zu schlagen – um die betreffende Geschichte zu dehnen und zu verzerren, ihr eine ganz neue Form zu geben.

Aber vielleicht stimmt das alles nicht. Der bekannte Philosoph Didaktylos hat eine alternative Hypothese formuliert: »Dinge passieren einfach, und damit hat es sich.«

Die ältesten und ranghöchsten Zauberer der Unsichtbaren Universität blickten zur Tür.

Wer auch immer sie verriegelt hatte: Es konnte kein Zweifel daran bestehen, daß sie geschlossen bleiben sollte. Dutzende von Bolzen verbanden sie mit dem Türrahmen. Mehrere Bretter waren quer darauf genagelt. Und bis zu diesem Morgen hatte sie sich hinter einem Bücherschrank verborgen.

»Und dann das Schild, Ridcully«, sagte der Dekan. »Du hast es doch gelesen, oder? Das Schild mit der Aufschrift: ›Diese Tür darf auf keinen Fall geöffnet werden‹?«

»Natürlich habe ich es gelesen«, erwiderte der Erzkanzler. »Warum möchte ich die Tür wohl öffnen?«

»Äh… warum?« fragte der Dozent für neue Runen.

»Um herauszufinden, warum sie geschlossen bleiben soll.«2

Ridcully winkte Modo zu. Der Zwerg kümmerte sich um den Garten der Universität und erledigte auch andere Arbeiten, fungierte als »Mädchen für alles«. Diesmal hielt er eine Brechstange.

»Also los, Junge.«

Modo salutierte. »Zu Befehl, Herr.«

Während Holz knirschte, fuhr Ridcully fort: »Auf den Bauplänen habe ich gesehen, daß dies hier einst ein Badezimmer gewesen ist. Vor Badezimmern braucht man sich nicht zu fürchten, um Himmels willen. Ich möchte ein Badezimmer. Ich hab’s satt, mit euch anderen herumzuplanschen. Das ist unhygienisch. Da kann man sich was holen. Mein Vater hat mich darauf hingewiesen. Wenn viele Leute zusammen baden, macht der Warzengnom mit einem kleinen Beutel die Runde.«

»Könnte man ihn mit der Zahnfee vergleichen?« fragte der Dekan voller Sarkasmus.

»Ich bin hier der Boß und verlange ein eigenes Badezimmer«, sagte Ridcully mit Nachdruck. »Damit dürfte wohl alles geklärt sein. Ich will ein eigenes Bad, und zwar rechtzeitig bis Silvester, kapiert?«

Das ist eine der Schwierigkeiten mit den Anfängen. Wenn man es mit okkulten Sphären zu tun hat, in denen die Zeit große Freiheit genießt, bekommt man die Wirkung manchmal vor der Ursache.

Irgendwo am Rand des akustischen Horizonts erklang ein leises Klingelingelingelingeling, wie von kleinen Silberglocken.

Etwa zur selben Zeit, als der Erzkanzler ein eigenes Bad forderte, saß Susanne Sto-Helit im Bett und las im Schein einer Kerze.

Der Frost malte Eisblumen ans Fenster.

Sie mochte den frühen Abend sehr. Wenn sie die Kinder zu Bett gebracht hatte, gab es praktisch nichts mehr zu tun. Frau Gamasche vermied es tunlichst, ihr Anweisungen zu erteilen, obgleich sie ihr Lohn zahlte.

Was natürlich nicht bedeutete, daß der Lohn eine große Rolle spielte. Es kam Susanne in erster Linie darauf an, sie selbst zu sein und eine richtige Arbeit zu haben. Und die Pflichten einer Gouvernante waren richtige Arbeit. Ein wenig knifflig wurde es, als ihre Arbeitgeberin feststellte, daß sich eine Herzogin in ihren Diensten befand. In Frau Gamasches ganz privatem Buch der Regeln (eher eine Broschüre, der Text in ziemlich großer Handschrift) hieß es, daß die vornehmen Leute nicht arbeiteten, sondern auf sehr würdevolle Art faulenzten. Susanne hatte sie mehrmals aufgefordert, nicht vor ihr zu knicksen.

Ein kurzes Flackern ließ sie ihren Kopf drehen.

Die Kerzenflamme brannte jetzt horizontal, zitterte wie in starkem Wind.

Susanne hob den Kopf. Die Gardinen wölbten sich fort vom Fenster, das …

… mit lautem Klappern aufsprang.

Doch es wehte kein Wind.

Zumindest nicht in dieser Welt.

Bilder formten sich vor dem inneren Auge der jungen Frau. Ein roter Ball… Der typische Duft von frisch gefallenem Schnee… Beides löste sich auf, und statt dessen sah Susanne …

»Zähne?« brachte sie hervor. »Schon wieder?«

Sie blinzelte und schloß die Augen. Als sie die Lider einige Sekunden später wieder hob, war das Fenster geschlossen, und die Gardinen rührten sich nicht. Die Kerzenflamme brannte ganz normal.

O nein, wiederholte es sich etwa? Nach so langer Zeit? Bisher war alles gutgegangen …

»Fufanne?«

Sie blickte sich um. Die Tür war geöffnet worden, und eine kleine Gestalt stand auf der Schwelle, gekleidet in ein Nachthemd.

Susanne seufzte. »Ja, Twyla?«

»Ich habe Angst vor dem Ungeheuer im Keller, Fufanne. Es will mich freffen.«

Susanne schloß das Buch und hob einen mahnenden Zeigefinger.

»Was habe ich dir über den Versuch gesagt, auf einschmeichelnde Weise süß zu sein, Twyla?« fragte sie.

»Du hast gesagt, ich soll es lassen«, antwortete das Mädchen. »Du hast gesagt, absichtlich zu lispeln sei eine schlimme Sache und ich wolle damit nur Aufmerksamkeit erregen.«

»Gut. Welches Ungeheuer ist es diesmal?«

»Ein grofef haarigef mit…«

Susanne hob erneut den Finger. »Nun?«

»Ein großes haariges mit acht Armen«, sagte Twyla.

»Was, schon wieder? Na schön.«

Susanne stand auf, streifte den Morgenmantel über und versuchte ruhig zu bleiben, während das Mädchen sie beobachtete. Sie kommen also zurück. Nicht die Ungeheuer im Keller – die waren kaum ein Problem. Nein, sie meinte die Erinnerungen an zukünftige Ereignisse.

Die junge Herzogin schüttelte den Kopf. Wie schnell man auch weglief: Früher oder später holte man sich selbst ein.

Mit Ungeheuern konnte man leicht fertig werden. Das hatte Susanne inzwischen gelernt. Sie nahm den Schürhaken aus dem Kamin des Kinderzimmers und ging die Hintertreppe hinunter, gefolgt von Twyla.

Familie Gamasche veranstaltete eine Abendgesellschaft. Gedämpfte Stimmen drangen aus dem Eßzimmer.

Als Susanne vorbeischlich, öffnete sich die Tür, und gelbes Licht fiel in den Flur.

»Meine Güte!« ertönte es. »Hier ist eine junge Frau im Nachthemd, und sie hat einen Schürhaken in der Hand!«

Silhouetten zeichneten sich vor dem hellen Hintergrund ab, und Susanne erkannte die besorgte Miene von Frau Gamasche.

»Susanne? Äh… was machst du hier?«

Die Gouvernante blickte kurz auf den Schürhaken und sah dann wieder zu der Frau. »Twyla fürchtet sich vor einem Ungeheuer im Keller, Frau Gamasche.«

»Und du willst es mit dem Schürhaken angreifen?« spekulierte ein Gast. Es roch nach Brandy und Zigarren.

»Ja«, erwiderte Susanne schlicht.

»Susanne ist unsere Gouvernante«, erklärte Frau Gamasche. »Äh… ich habe euch von ihr erzählt.«

Die aus dem Eßzimmer starrenden Gesichter veränderten sich und brachten so etwas wie amüsierten Respekt zum Ausdruck.

»Sie kämpft mit Schürhaken gegen Ungeheuer?« fragte jemand.

»Eigentlich gar keine schlechte Idee«, meinte jemand anders. »Das Kind hat sich in den Kopf gesetzt, es gäbe ein Ungeheuer im Keller. Sie geht mit einem Schürhaken hinunter und macht ein bißchen Lärm, und alles ist in bester Ordnung. Die junge Dame hat Phantasie. Sehr vernünftig und modern.«

»Hast du so etwas vor, Susanne?« fragte Frau Gamasche, die noch immer recht besorgt wirkte.

»Ja, Frau Gamasche«, bestätigte Susanne gehorsam.

»Das muß ich mir ansehen, bei Io! Man erlebt nicht jeden Tag, wie Ungeheuer von einer jungen Frau verprügelt werden«, sagte der Mann hinter ihr. Seide raschelte, und Wolken aus Zigarrenrauch trieben in den Flur, als die Gäste das Eßzimmer verließen.

Susanne seufzte erneut und ging zur Kellertreppe. Twyla setzte sich in aller Seelenruhe auf die oberste Stufe und schlang die Arme um ihre Knie.

Eine Tür schwang auf und fiel wieder zu.

Es war kurz still, und dann erklang ein gräßlicher Schrei. Eine Frau sank ohnmächtig zu Boden, und einem Mann fiel die Zigarre aus der Hand.

»Es besteht kein Grund zur Besorgnis«, sagte Twyla gelassen. »Susanne gewinnt immer. Gleich ist alles in Ordnung.«

Es pochte und klirrte. Kurz darauf surrte etwas, und schließlich blubberte es.

Susanne öffnete die Tür und hob einen Schürhaken, der in mehreren rechten Winkeln geknickt war. Nervöser Applaus erhob sich.

»Ausgezeichnet«, kommentierte ein Gast. »Sehr pschikologisch. Gute Idee. Das mit dem krummen Schürhaken, meine ich. Ich schätze, jetzt hast du keine Angst mehr, Kleine, oder?«

»Nein«, antwortete Twyla.

»Sehr pschikologisch.«

»Susanne sagt immer, man soll sich nicht fürchten, sondern wütend werden«, erklärte Twyla.

»Äh… danke, Susanne.« Frau Gamasche schien einem Nervenzusammenbruch nahe zu sein. »Und… äh… Sir Geoffrey und die anderen, wenn ihr euch jetzt bitte zum Wohnzimmer begeben würdet… äh… ich meine zum Salon…«

Die Abendgesellschaft wanderte erneut durch den Flur. Bevor sie die Tür schloß, hörte Susanne noch: »Wirklich enorm überzeugend, wie sie den Schürhaken verbogen hat und so…«

Sie wartete.

»Sind sie alle weg, Twyla?«

»Ja.«

»Gut.« Susanne kehrte in den Keller zurück und zog etwas Haariges mit acht Beinen hervor. Irgendwie gelang es ihr, das Geschöpf die Treppe hochzuzerren und durch den Flur bis zum Hinterhof zu ziehen. Dort gab sie ihm einen letzten Tritt – bis zum nächsten Morgen hatte es sich bestimmt aufgelöst.

»So verfahren wir mit Ungeheuern«, sagte sie.

Twyla beobachtete alles.

»Und jetzt wird’s Zeit für dich.« Susanne hob das Mädchen hoch.

»Kann ich den Schürhaken mit in mein Zimmer nehmen?«

»Meinetwegen.«

»Er tötet doch nur Ungeheuer, nicht wahr…?« fragte Twyla müde, als Susanne sie durchs Haus trug.

»Ja«, sagte die Gouvernante. »Alle Arten von Ungeheuern.«

Sie legte das Mädchen neben seinen Bruder und lehnte den Schürhaken an den Spielzeugschrank.

Das Objekt bestand aus billigem Metall und hatte einen Knauf aus Messing. Susanne hätte es zu gern an der früheren Gouvernante der Kinder ausprobiert.

»G’Nacht.«

»Gute Nacht.«

Susanne zog sich wieder in ihr kleines Schlafzimmer zurück, ging dort zu Bett und warf einen argwöhnischen Blick zum Fenster.

Es wäre schön gewesen zu glauben, daß sie sich alles nur eingebildet hatte. Unglücklicherweise wäre das auch ziemlich dumm gewesen. Seit fast zwei Jahren bin ich normal, dachte Susanne. Seit fast zwei Jahren komme ich gut in der richtigen Welt zurecht, ohne mich jemals an die Zukunft zu erinnern…

Vielleicht steckte doch nicht mehr dahinter als ein Wachtraum. (Aber selbst Träume konnten die Realität widerspiegeln…)

Sie versuchte, den kleinen Wachsbuckel zu ignorieren, der verriet, daß die Kerze für wenige Sekunden im Wind gebrannt hatte.

Während Susanne versuchte einzuschlafen, saß Lord Witwenmacher in seinem Arbeitszimmer und erledigte Schreibarbeiten.

Lord Witwenmacher war ein Mörder. Besser gesagt: Er war ein Assassine. Dieser feine Unterschied trennte einfache Halunken, die Leute für Geld umbrachten, von ehrenwerten Gentlemen, deren Dienste gelegentlich von anderen ehrenwerten Gentlemen in Anspruch genommen wurden. In den meisten Fällen ging es darum, gegen Entgelt unangenehme Rasierklingen aus der Zuckerwatte des Lebens zu entfernen.

Die Mitglieder der Assassinengilde hielten sich für kultivierte Männer, die gute Musik, erlesenes Essen und hohe Literatur schätzten. Sie kannten den Wert des menschlichen Lebens, in den meisten Fällen bis auf den letzten Pfennig.

Lord Witwenmachers Arbeitszimmer war mit Eichenholz vertäfelt und mit einem dicken Teppich geschmückt. Die alten Möbel wirkten auf eine Weise abgenutzt, die nur im Verlauf von Jahrhunderten eintritt. Es waren gereifte Möbel.

Ein Feuer brannte im Kamin. Davor schliefen zwei Hunde und bildeten ein Knäuel, das für alle besonders haarigen Hunde im Multiversum typisch ist.

Abgesehen von einem gelegentlichen Hundeschnarchen und leisem Knacken im Kamin, erklang nur das dumpfe Kratzen von Lord Witwenmachers Feder, die emsig übers Pergament strich. Dazu tickte die Großvateruhr an der Tür. Es waren kleine, private Geräusche, denen es mühelos gelang, der Stille mehr Tiefe zu geben.

Bis sich jemand räusperte.

Solch ein Räuspern sollte nicht etwa störende Keksreste oder dergleichen entfernen. Sein Zweck bestand vielmehr darin, möglichst höflich auf die Präsenz des betreffenden Halses hinzuweisen.

Witwenmacher hörte auf zu schreiben, hob jedoch nicht den Kopf.

Nach einigen nachdenklichen Sekunden sagte er in neutralem Tonfall: »Die Türen sind verschlossen und die Fenster verriegelt. Die beiden Hunde schlafen weiterhin. Die quietschenden Dielen sind still geblieben. Andere kleine Dinge, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, haben in keiner Weise reagiert. Das schränkt die Möglichkeiten stark ein. Ich bezweifle, daß du ein Geist bist, und Götter kündigen sich normalerweise nicht so höflich an. Du könntest natürlich der Tod sein, aber ich glaube kaum, daß der sich mit solchen Feinheiten aufhält. Außerdem fühle ich mich recht gut. Hmm.«

Etwas schwebte vor seinem Schreibtisch.

»Meine Zähne sind in einem guten Zustand – du kannst also nicht die Zahnfee sein. Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß man auf die Dienste des Sandmanns verzichten kann, wenn man vor dem Schlafengehen einen doppelten Brandy trinkt. Und da mit mir auch ansonsten alles in Ordnung ist, erwarte ich nicht den Besuch von Des Alten Mannes Schwierigkeiten. Hmm.«

Die Gestalt schwebte ein wenig näher.

»Ein Gnom könnte vielleicht durch ein Mauseloch kriechen, aber ich habe dort unten Fallen aufgestellt«, fuhr Witwenmacher fort. »Schwarze Männer sind dazu fähig, durch Wände zu gehen, aber sie zeigen sich nicht gern. Offen gestanden: Ich bin ratlos. Hmm?«

Er sah auf.

Eine graue Kutte hing in der Luft. Jemand schien in ihr zu stecken, denn sie hatte eine klar ausgeprägte Form, doch die entsprechende Person blieb unsichtbar.

Es prickelte in Witwenmacher, als er dachte: Vielleicht blieb der Besucher unsichtbar, weil er sich im physischen Sinne an einem ganz anderen Ort aufhielt.

»Guten Abend«, sagte er.

Guten Abend, Lord Witwenmacher, erwiderte die Kutte.

Das Gehirn des Assassinen nahm die Worte zur Kenntnis, doch seine Ohren schworen, sie nicht gehört zu haben.

Nun, man wurde nicht zum Präsidenten der Assassinengilde, indem man sich leicht Angst einjagen ließ. Außerdem war die Erscheinung nicht furchterregend. Sie wirkte eher … langweilig. Wenn monotone Tristheit Form gewinnen konnte, würde sie sich für diese Gestalt entscheiden.

»Du scheinst ein Phantom zu sein«, sagte Witwenmacher.

Eine Antwort erreichte den Kopf des Assassinen: Unser Wesen steht hier nicht zur Debatte. Wir haben einen Auftrag für dich.

»Möchtest du jemanden inhumieren lassen?« fragte Witwenmacher.

Wir möchten, daß eine gewisse Existenz beendet wird.

Witwenmacher dachte darüber nach. Es war nicht so ungewöhnlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mochte. Es gab Präzedenzfälle. Jeder konnte die Dienste der Gilde kaufen. Einige Zombies hatten Gildenmitglieder bezahlt, um Rechnungen mit ihren Mördern zu begleichen. Lord Witwenmacher hielt die Gilde für das beste Beispiel praktischer Demokratie. Man brauchte weder Intelligenz noch einen hohen gesellschaftlichen Rang oder Schönheit beziehungsweise Charme, um ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Man brauchte nur Geld, und das stand – im Gegensatz zu den genannten Eigenschaften – allen zur Verfügung. Abgesehen von den Armen, aber einigen Leuten konnte man eben nicht helfen.

Eine Existenz beenden… Witwenmacher fand diese Ausdrucksweise seltsam.

»Wir können…«, begann er.

Die Bezahlung wird der Schwierigkeit des Auftrags angemessen sein.

»Unsere Gebühren…«

Wir bezahlen drei Millionen Ankh-Morpork-Dollar.

Witwenmacher lehnte sich zurück. Das war viermal mehr als das bisher höchste von einem Gildenmitglied erzielte Honorar – und in jenem Fall hatte sich der Auftrag auf eine ganze Familie sowie einige übernachtende Gäste bezogen.

»Und es sollen keine Fragen gestellt werden, nehme ich an?« vermutete Witwenmacher.

Es werden keine Fragen beantwortet.

»Aber wenn die Höhe des Honorars dem Schwierigkeitsgrad entspricht… Ist der Klient gut geschützt?«

Überhaupt nicht. Doch es dürfte fast unmöglich sein, ihn mit konventionellen Waffen zu tilgen.

Witwenmacher nickte. Darin sah er kaum ein Problem. Im Lauf der Zeit hatte die Gilde einige recht ungewöhnliche Waffen entwickelt. Tilgen? Wieder eine seltsame Ausdrucksweise.

»Wir würden gern wissen, für wen wir arbeiten«, sagte er.

Das glauben wir.

»Ich meine, wir müssen deinen Namen erfahren. Beziehungsweise eure Namen – wobei ich euch versichern darf, daß wir diese Informationen streng vertraulich behandeln. Wir brauchen die Angaben für unsere Akten.«

Wir sind die… Revisoren.

»Ach? Und was überprüft ihr?«

Alles.

»Ich glaube, wir müssen etwas mehr über euch erfahren.«

Wir sind diejenigen mit den drei Millionen Dollar.

Witwenmacher beugte sich dieser Logik, auch wenn sie ihm nicht gefiel. Mit drei Millionen Dollar konnte man sich viele nicht gestellte Fragen kaufen.

»Wie ihr meint«, erwiderte er. »Nun, da ihr neue Kunden seid, bitten wir um Zahlung im voraus.«

Wie du wünschst. Das Gold befindet sich jetzt in eurem Tresor.

»Ihr meint, das Gold wird sich bald in unserem Tresor befinden«, sagte Witwenmacher.

Nein. Es hat immer in eurem Tresor gelegen. Das wissen wir, weil wir es gerade dort untergebracht haben.

Witwenmacher beobachtete die leere Kutte einige Sekunden und wandte den Blick nicht von ihr ab, als er nach dem Sprachrohr griff.

»Herr Zählgut?« fragte er, nachdem er hineingepfiffen hatte. »Ah, gut. Nun, wieviel Geld haben wir derzeit im Tresor? Oh, ungefähr. Sag mir einfach, wie viele Millionen es sind.« Er hielt das Sprachrohr weg vom Ohr, wartete eine Zeitlang und sprach dann erneut hinein. »Nun, sei so gut und sieh trotzdem nach.«

Witwenmacher hängte das Sprachrohr an den Haken und legte die Hände flach auf den Schreibtisch.

»Kann ich euch etwas zu trinken anbieten, während wir warten?«

Ja.

Witwenmacher stand nicht ohne eine gewisse Erleichterung auf und ging zum alten, kostbaren Getränkeschrank. Dort verharrte seine Hand kurz über den Karaffen, deren Etiketten Aufschriften wie Mur, Nig, Trop und Yksihw trugen. 3

»Was möchtet ihr trinken?« fragte er und überlegte, wo sich der Mund der Revisoren befinden mochte. Die Hand wandte sich der kleinsten Karaffe zu – auf ihrem Etikett stand Tfig.

Wir trinken nicht.

»Aber eben habt ihr doch gesagt, daß ich euch etwas zu trinken anbieten kann…«

Ja. Wir glauben, daß du dazu fähig bist.

»Oh.« Witwenmacher zögerte kurz, blickte auf die Whisky-Karaffe hinunter und überlegte es sich dann anders.

Das Sprachrohr pfiff.

»Ja, Herr Zählgut? Ach? Tatsächlich? Ich habe häufig die eine oder andere Münze unter Sofakissen gefunden, ich finde es erstaunlich, wie… Nein, nein, ich wollte nicht… Ja, ich hatte Grund zu der Annahme… Nein, es liegt mir fern, irgendwelche Vorwürfe gegen dich zu erheben … Nein, ich glaube kaum, daß … Ja, geh nur und leg dich hin, gute Idee. Danke.«

Witwenmacher hängte das Sprachrohr erneut an den Haken. Die Kutte hatte sich nicht gerührt.

»Wir müssen natürlich wissen, wann, wo und wer«, sagte er.

Die Kutte nickte. Der Ort ist auf keiner Karte angegeben. Wir möchten, daß der Auftrag innerhalb einer Woche erledigt wird. Das ist sehr wichtig. Was das Wer betrifft…

Eine Zeichnung erschien auf Witwenmachers Schreibtisch, und in seinem Kopf bildeten sich die Worte: Nennen wir ihn den Dicken.

»Soll das ein Witz sein?« fragte Witwenmacher.

Wir machen keine Witze.

Nein, das habe ich auch nicht erwartet, dachte der Assassine. Seine Finger trommelten auf den Schreibtisch.

»Viele Leute würden sagen, daß diese… Person gar nicht existiert«, meinte er.

Er muß existieren. Wie solltest du sonst sein Bild erkennen können? Man schreibt ihm viele Briefe.

»Nun, ja, er existiert in gewisser Weise…«

In gewisser Weise existiert alles. In diesem Fall interessiert uns vor allem das Ende der Existenz.

»Es dürfte schwierig sein, ihn zu finden.«

Wende dich an eine der Personen auf der Straße. Bestimmt kann man dir seine ungefähre Adresse nennen.

»Ja, schon.« Witwenmacher fragte sich, wie man die Leute auf der Straße als »Personen« bezeichnen konnte. »Aber ihr habt vorhin selbst darauf hingewiesen: Ich bezweifle, daß mir jemand den Ort auf einer Karte zeigen kann. Und selbst wenn das möglich wäre… Wie soll man den Dicken inhumieren? Vielleicht mit einem Glas vergiftetem Sherry?«

Die Kutte lächelte nicht – ihr fehlte das Gesicht.

Wir fürchten, du hast unsere Anweisungen falsch verstanden, ertönte es in Witwenmachers Kopf.

Das ging ihm gegen den Strich. Assassinen nahmen keine Anweisungen entgegen. Man beauftragte oder engagierte sie, aber man erteilte ihnen keine Anweisungen. Die blieben Bediensteten vorbehalten.

»Was habe ich falsch verstanden?« fragte er.

Wir bezahlen. Du findest die Mittel und Wege.

Die Kutte löste sich auf.

»Wie kann ich Kontakt mit euch aufnehmen?« erkundigte sich Witwenmacher.

Wir setzen uns mit dir in Verbindung. Wir wissen, wo du bist. Wir wissen, wo alle sind.

Die Gestalt verschwand. Einen Augenblick später sprang die Tür auf, und der Gildenschatzmeister Zählgut erschien. Er schien völlig außer sich zu sein.

»Entschuldige bitte, Herr, aber ich mußte zu dir kommen!« Er warf einige kleine Scheiben auf den Schreibtisch. »Sieh dir das an!«

Witwenmacher griff nach einer der gelben Scheiben. Das Ding sah wie eine Münze aus, aber …

»Kein Nennbetrag!« entfuhr es Zählgut. »Weder Kopf noch Zahl! Nichts! Es sind einfach nur Scheiben, ohne irgendeine Prägung!«

Witwenmacher öffnete den Mund, um »Sind sie wertlos?« zu fragen. Ein Teil von ihm gab sich dieser Hoffnung hin. Wenn sie – wer auch immer sie waren – mit wertlosem Metall bezahlt hatten, gab es keinen Vertrag. Doch hier konnte von Wertlosigkeit nicht die Rede sein. Assassinen lernten sehr früh, Geld als solches zu erkennen.

»Kleine Scheiben«, sagte Witwenmacher. »Aus Gold.«

Zählgut nickte stumm.

»Daran gibt es nichts auszusetzen«, stellte der Gildenpräsident fest.

»Bestimmt steckt Magie dahinter!« ereiferte sich Zählgut. »Und wir akzeptieren kein magisches Geld!«

Witwenmacher ließ die Münze – die Scheibe – auf den Schreibtisch fallen. Sie verursachte ein angemessenes, nach kostbarem Metall klingendes Geräusch. Nein, dies war kein magisches Geld. Magisches Geld sollte den Betrachter täuschen. Diese Scheiben hingegen hielten sich nicht damit auf, etwas so Banales wie von Menschen erfundene Währung nachzuahmen. Dies ist Gold, teilten sie den Fingern mit. Willst du uns oder nicht?

Witwenmacher nahm Platz und überlegte, während Zählgut stand und sich Sorgen machte.

»Wir nehmen das Geld«, sagte er schließlich.

»Aber…«

»Danke, Herr Zählgut«, sagte Witwenmacher. »Es ist meine Entscheidung.« Eine Zeitlang starrte er ins Leere, dann lächelte er. »Ist Herr Kaffeetrinken noch im Haus?«

Zählgut wich zurück. »Ich dachte, der Rat hätte beschlossen, ihm die Mitgliedschaft in der Gilde abzuerkennen«, sagte er steif. »Nach der Sache mit…«

»Herr Kaffeetrinken sieht die Welt nicht so wie andere Leute.« Witwenmacher griff nach dem Bild auf dem Schreibtisch und betrachtete es nachdenklich.

»Ja, das steht fest.«

»Bitte schick ihn zu mir.«

Witwenmacher wußte: Die Gilde zog alle Arten von Leuten an. Er fragte sich, welchen Reiz sie auf Zählgut ausgeübt hatte. Man konnte sich kaum vorstellen, daß er jemandem ein Messer ins Herz stach – dadurch konnte Blut auf die Brieftasche des Opfers geraten. Herr Kaffeetrinken hingegen…

Nun, die Gilde nahm Jungen auf und gewährte ihnen eine hervorragende Erziehung. Zufälligerweise lehrte sie auch, wie man tötete, auf eine saubere, leidenschaftslose Art, für Geld und zum Wohle der Gesellschaft – zumindest zum Wohle jener Teile der Gesellschaft, die Geld besaßen – und gab es eigentlich andere?

Manchmal kam es vor, daß jemand wie Herr Kaffeetrinken zu ihnen kam, für den Geld etwas Nebensächliches war. Herr Kaffeetrinken hatte einen glänzenden Verstand, aber er glänzte in der Art eines zerbrochenen Spiegels: Die einzelnen Facetten schimmerten in allen Farben des Regenbogens, doch letztendlich stellten sie etwas Zerbrochenes dar.

Herr Kaffeetrinken amüsierte sich zu sehr. Meistens mit Hilfe anderer Leute.

Witwenmacher hatte insgeheim beschlossen, daß Herr Kaffeetrinken irgendwann einen Unfall erleiden würde. Wie viele Leute ohne eigentliche Moral hatte der Gildenpräsident gewisse Maßstäbe, und er fand Herrn Kaffeetrinken abscheulich. Die Tätigkeit des Assassinen war ein sorgfältig gestaltetes Spiel, bei dem man es mit Leuten zu tun bekam, die die Regeln kannten oder es sich leisten konnten, auf die Dienste entsprechender Personen zurückzugreifen. Ein sauber ausgeführter Auftrag brachte große Zufriedenheit. Schmutzige Arbeit hingegen sollte keinen Spaß machen. Durch so etwas kam man ins Gerede.

Andererseits eignete sich Herr Kaffeetrinkens korkenzieherartiger Verstand gerade für diese Sache. Wenn er keinen Erfolg erzielte… Das war wohl kaum Witwenmachers Schuld.

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Schreibarbeiten zu. Wirklich erstaunlich, wie schnell sich das Zeug ansammelte. Man mußte irgendwie damit fertig werden. Nun, wenigstens waren es keine Mörder…

Es klopfte an der Tür. Witwenmacher schob die Dokumente beiseite und lehnte sich zurück.

»Herein, Herr Kaffeetrinken«, sagte er. Es konnte nie schaden, einen Besucher zu beeindrucken.

Ein Gildenbediensteter, der ein Teetablett auf einer Hand balancierte, öffnete die Tür.

»Ah, Carter«, sagte Lord Witwenmacher, ohne sich seine Überraschung anmerken zu lassen. »Stell es dort drüben auf den Tisch, ja?«

»Sehr wohl, Herr«, erwiderte Carter. Er drehte sich um und nickte. »Ich gehe und hole noch eine Tasse, Herr.«

»Was?«

»Für deinen Gast, Herr.«

»Welchen Gast? Oh, wenn Herr Kaffeetr…«

Er unterbrach sich und drehte den Kopf.

Ein junger Mann saß auf dem Kaminvorleger und spielte mit den Hunden.

»Herr Kaffeetrinken!«

»Es heißt Kaf-feh-trin-ken«, erwiderte der junge Mann, und seine Stimme klang dabei ein wenig vorwurfsvoll. »Alle sprechen den Namen falsch aus.«

»Wie hast du das angestellt?«

»Oh, es war nicht weiter schwer. Allerdings habe ich mich bei den letzten Metern leicht verbrannt.«

Einige Rußbrocken lagen auf dem Kaminvorleger. Witwenmacher erinnerte sich nun daran, daß er sie fallen gehört hatte, ohne dem Geräusch Beachtung zu schenken. Niemand konnte das Arbeitszimmer durch den Kamin erreichen – dafür sorgte ein schweres, festsitzendes Gitter am Ende des Rauchabzugs.

Kaffeetrinken schien seine Gedanken zu lesen. »Hinter der alten Bibliothek gibt es einen vergessenen Kamin, und die Rauchabzüge sind unter den Gittern miteinander verbunden. Es war kaum mehr als ein Spaziergang, Herr.«

»Ach?«

»Ja, Herr. Ein Kinderspiel.«

Witwenmacher nickte. Alte Gebäude waren meist von den Rauchabzügen zugemauerter Kamine durchzogen – von dieser Tatsache erfuhr jeder Assassine schon zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn. Und dann vergißt man es wieder, dachte Witwenmacher. Normalerweise zahlte es sich auch aus, Vorgesetzte zu beeindrucken – das hatte er ebenfalls vergessen.

»Die Hunde scheinen dich zu mögen«, sagte er.

»Mit Tieren komme ich gut zurecht, Herr.«

Kaffeetrinkens Gesicht war offen und freundlich. Besser gesagt: Es lächelte dauernd. Doch der positive Effekt wurde für die meisten Leute durch den Umstand ruiniert, daß der junge Mann nur ein Auge hatte. Das andere war irgendeinem rätselhaften Zwischenfall zum Opfer gefallen und durch eine Glaskugel ersetzt worden. Woraus sich ein… beunruhigender Effekt ergab. Das andere Auge – jenes Exemplar, das hier als »normal« bezeichnet werden soll – erschien Witwenmacher noch viel seltsamer. Eine so kleine und scharfe Pupille hatte er nie zuvor gesehen. Kaffeetrinken schien die Welt durch ein winziges Loch zu beobachten.

Er stellte fest, daß er wieder hinter dem Schreibtisch stand. Auch das war typisch für Kaffeetrinken – man fühlte sich immer besser, wenn man etwas zwischen ihm und sich selbst wußte.

»Tiere gefallen dir, nicht wahr?« fragte er. »Ich habe hier einen Bericht, in dem es heißt, daß du Sir Georges Hund an die Decke genagelt hast.«

»Er durfte nicht bellen, während ich arbeitete.«

»Andere Leute hätten ihn betäubt.«

»Oh.« Ein oder zwei Sekunden lang wirkte Kaffeetrinken betrübt, dann erhellte sich seine Miene wieder. »Aber der Vertrag ist erfüllt, Herr. Daran kann kein Zweifel bestehen, Herr. Ich habe Sir Georges Atem wie vorgesehen mit einem Spiegel überprüft. Darauf weise ich in meinem Bericht ausdrücklich hin.«

»Ja, in der Tat.« Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kopf des Mannes etwa einen Meter neben dem Rest des Körpers gelegen. Witwenmacher empfand tiefes Unbehagen bei der Vorstellung, daß Kaffeetrinken so etwas vielleicht nicht für ungewöhnlich hielt.

»Und… die Bediensteten…?« fragte der Gildenpräsident.

»Ich konnte nicht zulassen, daß sie einfach hereinplatzten.«

Witwenmacher nickte, fühlte sich halb hypnotisiert von dem Glasauge und der winzigen Pupille. Nein, die Bediensteten durften nicht einfach hereinplatzen. Ein Assassine stellte sich professionellem Widerstand, vielleicht sogar in Form von Personen, die von denselben Lehrern ausgebildet worden waren. Aber ein Greis und ein Dienstmädchen, die nur das Pech hatten, sich zur selben Zeit im Haus zu befinden…

Es gab keine Vorschriften für diesen Fall – das mußte Witwenmacher zugeben. Allerdings hatte die Gilde im Laufe der Jahre einen gewissen Ethos entwickelt, und ihre Mitglieder legten Wert darauf, ihre Arbeit möglichst sauber und ordentlich zu erledigen. Sie räumten sogar auf und schlossen die Türen hinter sich, wenn sie gingen. Den Harmlosen und Unbeteiligten Leid zuzufügen… damit bohrte man nicht nur ein Loch ins moralische Gewebe der Gesellschaft – man verstieß gegen die Regeln der guten Manieren. Es war sogar noch schlimmer, denn es war eine Geschmacklosigkeit. Aber es gab keine Vorschriften…

»Daran gibt es doch nichts auszusetzen, oder?« fragte Kaffeetrinken und gab sich besorgt.

»Nun… einer solchen Vorgehensweise mangelt es an Eleganz«, sagte Witwenmacher.

»Oh. Danke, Herr. Ich lasse mich immer gern auf Fehler und Versäumnisse hinweisen. Beim nächstenmal werde ich daran denken.«

Witwenmacher atmete tief durch.

»Genau darüber wollte ich mit dir reden.« Er hob das Bild, das den – wie hatte die Erscheinung ihn genannt? – Dicken zeigte.

»Sag mir… Wie würdest du diesen Herrn hier inhumieren?«

Ein anderer Assassine hätte jetzt gelacht oder »Soll das ein Witz sein?« gefragt. Kaffeetrinken hingegen beugte sich nur ein wenig vor, und in seinem Gesicht zeigte sich eine seltsame Art von Aufmerksamkeit.

»Eine schwierige Sache, Sir.«

»Ja, ich glaube auch«, bestätigte Witwenmacher.

»Ich brauche Zeit, um einen Plan auszuarbeiten, Herr«, fügte Kaffeetrinken hinzu.

»Natürlich. Und…«

Es klopfte an der Tür, und Carter kam mit einer zweiten Tasse herein. Er nickte dem Gildenpräsident respektvoll zu und schlich wieder fort.

»Alles klar, Herr«, sagte Kaffeetrinken.

»Wie bitte?« fragte Witwenmacher geistesabwesend.

»Ich habe jetzt einen Plan, Herr«, meinte Kaffeetrinken geduldig.

»Tatsächlich?«

»Ja, Herr.«

»Du hast nicht viel Zeit gebraucht, um dir einen einfallen zu lassen.«

»Nein, Herr.«

»Lieber Himmel…«

»Nun, Herr, du weißt doch, daß uns die Ausbilder ermutigen, hypothetische Probleme durchzudenken…«

»Oh, ja. Eine sehr nützliche Übung…« Witwenmacher unterbrach sich und musterte den jungen Mann verblüfft.

»Soll das heißen, du hast dir wirklich Zeit genommen, über die Inhumierung des Schneevaters nachzudenken?« brachte er hervor. »Du hast dich tatsächlich hingesetzt und dir alles genau durch den Kopf gehen lassen? Du warst wirklich bereit, kostbare Freizeit dafür zu opfern?«

»Ja, Herr. Übrigens ging es dabei nicht nur um den Schneevater, sondern um die Seelenkuchenente und den Sandmann. Und um Tod.«

Witwenmacher blinzelte. »Du hast allen Ernstes darüber nachgedacht, wie man…«

»Ja, Herr. Die entsprechende Akte ist ziemlich dick und sehr interessant. Natürlich habe ich nur in meiner freien Zeit an den Plänen gearbeitet.«

»Ich möchte ganz sicher sein, Herr Kaffeetrinken. Du hast dir wirklich überlegt, wie man… den Tod töten kann?«

»Nur als Hobby, Herr.«

»Nun, ja, mit Hobbies ist das so eine Sache. Ich habe früher Schmetterlinge gesammelt.« Witwenmacher erinnerte sich an das erwachende Vergnügen beim Gebrauch von Gift und Nadel. »Aber…«

»Die allgemeine Methodik unterscheidet sich eigentlich nicht von der, die bei Menschen zur Anwendung kommt, Herr. Gelegenheit, Ort, Technik… Man muß mit den Dingen arbeiten, die über das betreffende Individuum bekannt sind. In diesem Fall weiß man eine ganze Menge.«

»Du hast alles ausgearbeitet, nicht wahr?« fragte Witwenmacher. Es klang fasziniert.

»Oh, ja, Herr, schon vor langer Zeit.«

»Wann, wenn ich fragen darf?«

»Während einer Silvesternacht, glaube ich. Als ich im Bett lag und nicht schlafen konnte.«

Bei den Göttern, dachte Witwenmacher. Und ich habe damals immer den Schlittenglocken gelauscht.

»Meine Güte«, sagte er.

»Vielleicht muß ich das eine oder andere Detail überprüfen, Herr. Es wäre schön, wenn ich auf die Bücher in der Dunklen Bibliothek zurückgreifen könnte. Wie dem auch sei: Ich glaube, ich weiß bereits, worauf es ankommt.«

»Aber… manche Leute sind der Ansicht, daß die… äh… fragliche Person in gewisser Weise… unsterblich ist.«

»Jeder hat einen schwachen Punkt, Herr.«

»Selbst Tod?«

»O ja. Er hat sogar mehrere.«

»Ach?«

Erneut trommelten Witwenmachers Finger auf den Schreibtisch. Der Bursche kann unmöglich einen richtigen Plan haben, dachte er. In Kaffeetrinkens Verstand mochte irgend etwas krumm sein – Krumm? Sein Selbst ist eine Spirale! – , aber der Dicke war nicht einfach irgendein Ziel in einem Haus. Bestimmt hatte man schon des öfteren versucht, ihm eine Falle zu stellen.

Zufriedenheit regte sich in Witwenmacher. Kaffeetrinken würde bei diesem Auftrag versagen, vielleicht sogar auf eine fatale Weise, wenn sein Plan dumm genug war. Möglicherweise verlor die Gilde dadurch das Gold – oder auch nicht.

»Nun gut«, sagte er. »Ich brauche nicht zu wissen, woraus dein Plan besteht.«

»Um so besser, Herr.«

»Wie meinst du das?«

»Ich hatte ohnehin nicht die Absicht, dir Einzelheiten zu nennen. Du würdest sie sicher mißbilligen.«

»Mich erstaunt deine feste Überzeugung, daß alles wie vorgesehen funktioniert.«

»Ich gehe einfach logisch an das Problem heran, Herr«, sagte der junge Mann, und wieder glaubte Witwenmacher, einen vorwurfsvollen Unterton zu hören.

»Logisch?« wiederholte der Gildenpräsident.

»Vielleicht sehe ich die Dinge einfach nur anders als die meisten Leute«, sagte Kaffeetrinken.

Es war ein ruhiger Tag für Susanne. Allerdings trat Gawain auf dem Weg zum Park auf einen Riß im Pflaster, und zwar mit Absicht.

Bei den pädagogischen Maßnahmen der früheren Gouvernante hatte das Prinzip des Entsetzens eine große Rolle gespielt  – daher stammte der Hinweis, daß hungrige Bären hinter der nächsten Straßenecke Kindern auflauerten, die auf Risse im Pflaster traten.

Susanne verbarg den Schürhaken unter ihrem ehrbaren Mantel. Für gewöhnlich reichte ein Schlag. Es verblüffte die Bären, daß jemand sie sehen konnte.

»Gawain?« fragte Susanne und beobachtete einen nervösen Bären, der sie bemerkt hatte und nun versuchte, unauffällig fortzuschleichen.

»Ja?«

»Du bist mit Absicht auf den Riß getreten. Damit ich ein armes Geschöpf schlagen muß, dessen einzige Schuld sein Wunsch ist, dich zu zerfleischen.«

»Ich bin nur ein bißchen gehüpft…«

»Oh, na klar. Normale Kinder springen nicht so herum – es sei denn, sie stehen unter Drogen.«

Der Junge lächelte.

»Wenn ich dich noch einmal dabei erwische, verknote ich dir die Arme hinterm Kopf«, sagte Susanne ruhig.

Gawain nickte und lief los, um Twyla von der Schaukel zu stoßen.

Susanne entspannte sich zufrieden. Es war ihre eigene Entdeckung. Absurde Drohungen beunruhigten die Kinder überhaupt nicht, aber sie gehorchten. Vor allem dann, wenn man ihnen besonders anschaulich drohte.

Die frühere Gouvernante hatte versucht, mit diversen Ungeheuern und Monstren für Disziplin zu sorgen. Immer gab es irgend etwas Schreckliches, das kleine Mädchen und Jungen fortholte, wenn sie Verbrechen begingen. Auf der Liste kindlicher Kriminalität standen zum Beispiel Stottern sowie trotziges und vorsätzliches Schreiben mit der linken Hand. Scherenmänner freuten sich, wenn kleine Mädchen am Daumen lutschten, und immer lauerte ein Schwarzer Mann im Keller. Aus solchen Ziegeln der Unschuld wurde das Gebäude der Kindheit errichtet.

Susanne hatte zunächst versucht, Gawain und Twyla davon zu überzeugen, daß solche Schrecken gar nicht existierten. Doch das machte alles nur schlimmer.

Twyla fing an, ins Bett zu machen. Vielleicht setzte sie sich damit unbewußt gegen das entsetzliche Klauenwesen zur Wehr, von dem das Mädchen wußte, daß es unter dem Bett lag.

Susanne erfuhr während einer der ersten Nächte davon, als das Kind aufwachte und weinte – angeblich versteckte sich ein Schwarzer Mann im Schrank.

Sie hatte geseufzt und nachgesehen. Und dann wurde sie so zornig, daß sie den Schwarzen Mann aus dem Schrank zerrte, seinen Kopf mit dem Schürhaken bearbeitete, ihm die eine Schulter ausrenkte und ihn schließlich durch die Hintertür nach draußen stieß.

Die Kinder lehnten es aus gutem Grund ab, ihren Glauben an Ungeheuer aufzugeben. Sie wußten genau, daß sie existierten.

Aber Susanne hatte festgestellt, daß sie auch hingebungsvoll an die Wirkung des Schürhakens glauben konnten.

Sie nahm nun auf einer Bank Platz, öffnete ein Buch und las. Jeden Tag brachte sie die Kinder zu einem Ort, wo sie mit Gleichaltrigen zusammensein konnten. Wenn sie auf dem Spielplatz zurechtkamen, so fand Susanne, brauchten sie sich vor der Welt der Erwachsenen nicht zu fürchten. Außerdem war es ganz angenehm, die Stimmen spielender Kinder zu hören, vorausgesetzt, man wahrte eine sichere Distanz, so daß man nicht hörte, worüber die Jungen und Mädchen sprachen.

Für später stand Unterricht auf dem Programm. Damit klappte es jetzt weitaus besser, nach der Verbannung von Lesebüchern über Gummibälle und Hunde namens Fiffi. Susanne hatte es geschafft, Gawains Interesse an den Feldzügen des General Taktikus zu wecken, die angemessen blutig waren. Ein anderer, noch wichtigerer Aspekt war, daß derartige Lektüre als zu schwierig für Kinder in Gawains Alter galt. Inzwischen verdoppelte sich sein Wortschatz mit jeder Woche, und er brachte es fertig, bei ganz normalen Gesprächen Ausdrücke wie »Eviszeration« zu benutzen. Welchen Sinn hatte es, Kindern beizubringen, sich wie Kinder zu verhalten? In dieser Hinsicht hatten sie ohnehin eine natürliche Begabung.

Nach einer Weile nahm Susanne erschrocken zur Kenntnis, daß sie mit den Kindern gut umgehen konnte. Sie fragte sich argwöhnisch, ob das vielleicht in der Familie lag. Ein weiteres Indiz dafür war, daß ihr Haar verdächtig leicht zu einem Knoten gebunden werden konnte. Ließ sich daraus der Schluß ziehen, daß sie für den Rest ihres Lebens solche Arbeit verrichten mußte?

Es war die Schuld ihrer Eltern. Obwohl sie natürlich kein solches Resultat angestrebt hatten. Das hoffte Susanne jedenfalls.

Sie waren stets bestrebt gewesen, ihre Tochter zu schützen, sie von den anderen Welten fernzuhalten, sie von einer Sphäre abzuschirmen, die gemeinhin als okkult galt und… Nun, letztlich lief es darauf hinaus, daß Susanne so wenig wie möglich mit ihrem Großvater zu tun haben sollte. Sie gewann den Eindruck, daß durch diesen Umstand in ihrem Leben irgend etwas … verbogen war.

Man konnte Eltern natürlich nicht vorwerfen, daß sie ihre Kinder schützten – das war eine ihrer Aufgaben. Außerdem gab es in der Welt so viele enge Kurven, daß man keinen Platz in ihr fand, wenn man nicht ein wenig verbogen war. Susannes Vater und Mutter waren stets gewissenhaft, gewährten ihr ein gutes Zuhause und sogar eine ordentliche Erziehung.

Erst später merkte sie, daß mit der Erziehung auch die Bildung kam. Das bedeutete zum Beispiel: Wenn jemand das Volumen eines Kegels berechnen mußte, konnte er auf Susanne Sto-Helit zählen. Wer sich nicht an die Feldzüge des General Taktikus oder die Quadratwurzel von 27,4 erinnerte, durfte hoffen, von Susanne Antwort zu bekommen. Wenn man jemanden brauchte, der in fünf Sprachen über Haushaltsgegenstände und andere Objekte reden konnte, die in Geschäften verkauft wurden, stand Susanne ganz vorn in der Kandidatenschlange. Erziehung und Bildung waren ganz einfach.

Die Probleme begannen erst mit dem Lernen von gewissen Dingen.

Eine gute Erziehung zu bekommen… Damit verhielt es sich so wie mit einer ansteckenden Geschlechtskrankheit. Sie machte einen für viele Jobs ungeeignet, und gleichzeitig verspürte man den Drang, sie weiterzugeben.

Susanne wurde Gouvernante. Das war eine der wenigen Tätigkeiten, die für eine gebildete Frau in Frage kamen. Und sie gewöhnte sich daran. Sie hatte folgendes geschworen: Wenn sie sich jemals dabei überraschen sollte, wie sie mit Schornsteinfegern auf Dächern tanzte, wollte sie sich mit ihrem eigenen Regenschirm erschlagen.

Nach dem Tee las sie den Kindern eine Geschichte vor. Sie mochten ihre Geschichten. Die im Buch waren eher langweilig, aber Susannes Versionen weckten ihr Interesse. Sie übersetzte und redigierte beim Lesen.

»… und dann hackte Jack auch noch den Bohnenstengel durch, fügte den bereits erwähnten Vergehen – Diebstahl, Verführung und unbefugtes Betreten – noch Mord und ökologischen Vandalismus hinzu, aber er kam damit durch und lebte glücklich und zufrieden, ohne die geringsten Gewissensbisse. Was beweist, daß man sich als Held praktisch alles erlauben darf, denn niemand wagt es, unangenehme Fragen zu stellen. Und jetzt…« Susanne schloß das Buch. »…wird’s Zeit fürs Bett.«

Die frühere Gouvernante hatte Gawain und Twyla ein Gebet beigebracht, das die Hoffnung ausdrückte, irgendein Gott möge die Seele der Kinder annehmen, falls sie im Schlaf sterben sollten – vermutlich hatte Susannes Vorgängerin sich das gewünscht.

Sie nahm sich vor, diese Frau einmal zur Rede zu stellen.

»Susanne?« erklang Twylas Stimme irgendwo unter der Decke.

»Ja?«

»In der letzten Woche haben wir dem Schneevater Briefe geschrieben, weißt du noch?«

»Ja?«

»Aber… im Park hat Rachel gesagt, daß es ihn gar nicht gibt und er eigentlich dein eigener Vater ist. Und alle anderen gaben ihr recht.«

Im zweiten Bett raschelte und knisterte es. Twylas Bruder hatte sich umgedreht und lauschte.

Ach du meine Güte, dachte Susanne. Sie hatte gehofft, dies vermeiden zu können. Vielleicht bahnte sich jetzt eine Wiederholung der Sache mit der Seelenkuchenente an.

»Spielt es eine Rolle, solange du trotzdem Geschenke bekommst?« fragte sie in einem direkten Appell an die Habsucht.

»Ja.«

Meine Güte, meine Güte. Susanne nahm auf der Bettkante Platz und fragte sich, wie sie diese Angelegenheit hinter sich bringen sollte. Sie klopfte auf Twylas sichtbare Hand.

»Sieh es mal so«, sagte sie und atmete in Gedanken tief durch. »Wo immer Leute begriffsstutzig und absurd sind, wo sie selbst nach sehr großzügigen Maßstäben die Konzentrationsspanne eines Huhns im Sturm und das Ermittlungsgeschick einer einbeinigen Kakerlake haben … und wo immer Leute viel zu leichtgläubig sind und sich auf erbärmliche Weise an die Gewißheiten der Kindheit festklammern, dabei die Realität des tatsächlich existierenden Universums ebensogut verstehen wie eine Auster die Kunst des Bergsteigens … Ja, Twyla, an solchen Orten gibt es den Schneevater.«

Es war still unter der Decke, doch Susanne spürte, daß ihr Tonfall die gewünschte Wirkung erzielt hatte. Die Worte bedeuteten eigentlich gar nichts. Genau darin kam das innere Wesen der Menschheit zum Ausdruck, hätte Susannes Großvater vielleicht kommentiert.

»G’Nacht.«

»Gute Nacht«, sagte Susanne.

Es war keine Taverne, sondern ein Raum, in dem Leute tranken, während sie auf andere Leute warteten, mit denen sie Geschäfte abschließen wollten. Bei den Geschäften ging es meistens darum, daß gewisse Dinge den Besitzer wechselten – was bei den meisten Geschäften der Fall ist.

Fünf Geschäftsleute saßen an einem runden Tisch, auf dem eine Kerze in einer Untertasse brannte. Eine offene Flasche wurde herumgereicht, und man achtete darauf, daß sie der Kerzenflamme nicht zu nahe kam.

»Es is’ schon nach sechs«, sagte ein großer Mann. Er trug aus dünnen Haarsträhnen geflochtene Zöpfchen und einen Bart, in dem man Ziegen halten konnte. »Die Uhr hat schon vor einer ganzen Weile geschlagen. Er kommt nicht mehr. Laßt uns gehen.«

»Setz dich, Mann. Assassinen kommen immer zu spät. Das gehört zu ihrem Stil, klar?«

»Der Bursche ist übergeschnappt.«

»Er ist exzentrisch.«

»Worin besteht der Unterschied?«

»Aus einer Menge Geld.«

Die drei anderen Individuen, die bisher noch nicht gesprochen hatten, wechselten Blicke.

»Wie bitte?« brummte Hühnerdraht. »Du hast nicht gesagt, daß er ein Assassine ist. Er hat nie gesagt, daß er ein Assassine ist, oder, Banjo?«

Plötzliches Donnern schien ein Gewitter anzukündigen. Das Geräusch stammte von Banjo Blütenweiß – er räusperte sich.

»Schtimmt«, ertönte eine Stimme von ziemlich weit oben. »Du es nie gesagt hast.«

Die anderen warteten, bis das Grollen verklang. Selbst Banjos Stimme war massig.

»Er ist…« Der erste Sprecher gestikulierte und versuchte darauf hinzuweisen, daß jemand ein Korb mit Lebensmitteln, mehrere Klappstühle, ein komplettes Kochgerätesortiment und ein nach einem leckeren Picknick suchendes Ameisenvolk war. »…irre. Und er hat ein komisches Auge.«

»Es besteht nur aus Glas«, sagte der Mann namens Katzenauge und winkte dem Kellner zu, um vier Bier und ein Glas Milch zu bestellen. »Außerdem bezahlt er jedem von uns zehntausend Ankh-Morpork-Dollar. Mir ist völlig gleich, wie seine Augen beschaffen sind.«

»Ich habe gehört, es soll aus dem gleichen Glas sein wie die Kristallkugeln von Hellsehern. Wollt ihr etwa behaupten, so etwas sei in Ordnung? Und er sieht einen damit an«, sagte der erste Sprecher. Man nannte ihn Pfirsich, aber den Grund dafür hatte noch niemand herausgefunden.4

Katzenauge seufzte. Herr Kaffeetrinken war tatsächlich ein wenig seltsam, kein Zweifel. Aber alle Assassinen hatten etwas Seltsames. Außerdem zahlte der Mann gut. Viele Assassinen griffen auf die Dienste von Informanten und Schlossern zurück. Eigentlich verstieß das gegen die Regeln, aber mit Ethik und Moral ging es überall bergab. Meistens bezahlten Assassinen zu spät und zu wenig, verhielten sich so, als seien sie es, die einem einen Gefallen erwiesen. Mit Kaffeetrinken war soweit alles in Ordnung. Sicher, wenn man ein paar Minuten mit ihm gesprochen hatte, begannen die Augen zu tränen, und man verspürte das Bedürfnis, seine eigene Haut auch an der Innenseite zu schrubben, aber niemand war perfekt, oder?

Pfirsich beugte sich vor. »Wißt ihr was? Vielleicht ist er schon hier. Verkleidet! Und lacht über uns! Nun, wenn er hier ist und über uns lacht…« Er ließ die Fingerknöchel knacken.

Mittlerer Dave Blütenweiß, letzterer der fünf Männer, sah sich um. Es gab tatsächlich einige einsame Gestalten in dem dunklen Zimmer. Die meisten von ihnen trugen lange Mäntel mit großen Kapuzen. Sie saßen allein in den finsteren Ecken, die Gesichter unter den Kapuzen verborgen. Keine von ihnen wirkte sehr freundlich.

»Sei nicht dumm, Pfirsich«, erwiderte Katzenauge.

»Es ist typisch für Assassinen«, beharrte Pfirsich. »Sie sind Meister der Tarnung.«

»Und sein Glasauge?«

»Der Bursche am Kamin trägt eine Augenklappe«, sagte Mittlerer Dave. Er sprach nur selten und beobachtete viel.

Die anderen drehten sich um und sahen in die entsprechende Richtung.

»Bestimmt wartet er, bis wir keine Überraschungen mehr erwarten, und dann macht er Ahahahaha«, prophezeite Pfirsich.

»Assassinen dürfen einen nur dann umbringen, wenn sie dafür bezahlt werden«, sagte Katzenauge. Doch jetzt lag ein Hauch von Skepsis in seiner Stimme.

Sie starrten den Mann mit der Augenklappe an. Er erwiderte den Blick mit seinem einen Auge.

Auf die Frage, womit sie sich den Lebensunterhalt verdienten, hätten die fünf Männer am Tisch vermutlich geantwortet: »Mit diesem und jenem.« Oder: »Ich schlage mich durch.« Banjo hätte wahrscheinlich erwidert: »Hä?« Nach den Maßstäben einer gleichgültigen Gesellschaft waren sie Kriminelle, aber sie selbst hielten sich keineswegs für Verbrecher und konnten nicht einmal Wörter wie »verrucht« buchstabieren. Für gewöhnlich bewegten sie Dinge. Manchmal befanden sich die Dinge auf der falschen Seite einer stählernen Tür, noch dazu im falschen Haus. Manchmal waren die Dinge Personen, die nicht genug Bedeutung hatten, um sich an die Assassinengilde zu wenden, die sich jedoch am falschen Ort aufhielten und viel besser auf den Grund des nächsten Meeres paßten.5 Die fünf Männer gehörten nicht zu einer der Gilden in Ankh-Morpork. Ihr Kundenkreis bestand überwiegend aus Leuten, die sich aus ganz persönlichen Gründen nicht an die Gilden wenden wollten – vielleicht deswegen, weil sie selbst Gildenmitglieder waren. Katzenauge und die anderen hatten viel Arbeit. Es gab immer etwas, das von A nach B bewegt werden mußte, beziehungsweise auf den Grund von C.

»Es könnte jeden Augenblick soweit sein«, sagte Pfirsich, als der Kellner Bier und Milch brachte.

Banjo räusperte sich, womit er darauf hinwies, daß ein weiterer Gedanke eingetroffen war.

»Was ich nich’ verstehe…

»Ja?« fragte sein Bruder.6

»Was ich nich’ verstehe, is’… Seit wann es hier gibt Kellner?«

»Guten Abend«, sagte Kaffeetrinken und stellte das Tablett ab.

Sie starrten ihn stumm an.

Er lächelte freundlich.

Pfirsichs große Hand klatschte auf den Tisch. »Du hast dich an uns herangeschlichen wie…«, begann er.

Wer in ihrer Branche arbeitete, entwickelte schon bald einen gewissen Instinkt. Mittlerer Dave und Katzenauge, die rechts und links neben Pfirsich saßen, lehnten sich automatisch zur Seite.

»Hallo«, sagte Kaffeetrinken. Etwas bewegte sich schemenhaft, und eine halbe Sekunde später zitterte ein Messer zwischen Pfirsichs Daumen und Zeigefinger.

Die Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel »Hogfather« bei Victor Gollancz Ltd., London.

Copyright © der Originalausgabe 1996 by Terry und Lyn Pratchett

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Agt. Schlück/Josh Kirby Satz: Uhl+Massopust, Aalen

Redaktion: Michael Ballauff V. B. · Herstellung: Sebastian Strohmaier

eISBN 978-3-641-09813-1

www.goldmann-verlag.de

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www.randomhouse.de

Leseprobe

1

Gemeint sind Personen, die es verdienen, Blut zu vergießen. Oder vielleicht auch nicht. Bei manchen Kindern weiß man nie.

2

Diese Worte drücken praktisch alles aus, was man über die menschliche Zivilisation wissen muß, vor allem über jene Teile von ihr, die sich nun auf dem Meeresgrund befinden, hinter hohen Sicherheitszäunen liegen oder noch immer qualmen.

3

Es ist traurig und peinlich, daß hochwohlgeborene Leute ihre Bediensteten zu täuschen versuchten, indem sie Spirituosenkaraffen mit rückwärts geschriebenen Worten beschrifteten. Darüber hinaus gibt es in der Geschichte zahlreiche Beispiele für politisch bewußte Butler, die durchaus darauf vertrauen durften, daß ihre Arbeitgeber den Whisky selbst dann tranken, wenn er mit Niru gestreckt war.

4

Pfirsich gehörte nicht zu den Leuten, denen man Fragen stellte. Es sei denn, sie klangen so: »Wenn, wenn, wenn, wenn ich dir mein ganzes Geld gebe, verzichtest du dann darauf, mir auch das andere Bein zu brechen, bitte?«

5

Hühnerdraht verdankte seinen Namen seinem Beitrag, den er der Wissenschaft jener besonders spezialisierten Form der Abfallbeseitigung, die Überschuhe aus Beton verwendete, geleistet hatte. Sie wies den bedauerlichen Nachteil auf, daß sich nach einer Weile Teile vom Klienten lösten und zur Oberfläche aufstiegen, was Gerede in der Bevölkerung nach sich zog. Mit genug Hühnerdraht ließ sich dieses Problem lösen. Außerdem bekamen Krabben und Fische dadurch Gelegenheit, ihren notwendigen Recycling-Aktivitäten nachzugehen.

6

Ankh-Morporks Unterwelt war so groß, daß die Oberwelt darauf balancierte wie eine sehr kleine Henne auf einem Nest mit Straußenküken. Sie hatte bereits den Großen Dave, Dicken Dave, Irren Dave, Kleinen Davey und Schlaksigen Dai hervorgebracht. Jeder mußte ein Plätzchen für sich finden.