Eine kleine Ewigkeit - Toni Waidacher - E-Book

Eine kleine Ewigkeit E-Book

Toni Waidacher

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Beschreibung

Mit dem Bergpfarrer hat der bekannte Heimatromanautor Toni Waidacher einen wahrhaft unverwechselbaren Charakter geschaffen. Die Romanserie läuft seit über 13 Jahren, hat sich in ihren Themen stets weiterentwickelt und ist interessant für Jung und Alt! Toni Waidacher versteht es meisterhaft, die Welt um seinen Bergpfarrer herum lebendig, eben lebenswirklich zu gestalten. Er vermittelt heimatliche Gefühle, Sinn, Orientierung, Bodenständigkeit. Zugleich ist er ein Genie der Vielseitigkeit, wovon seine bereits weit über 400 Romane zeugen. Diese Serie enthält alles, was die Leserinnen und Leser von Heimatromanen interessiert. Viktoria Leitner atmete erleichtert auf, als sie von der Autobahn abfuhr und auf die Bundesstraße einbog. Hier war es geradezu idyllisch, kaum Verkehr, keine Hektik, während eben noch die Lastwagen und Pkws mit einem Höllentempo an ihr vorbeigerauscht waren. Nun genoss sie die Ruhe, fuhr auf einen Parkplatz und stieg für ein paar Minuten aus. Einige Schritte weiter stand eine Bank. Die junge Frau hatte einen Apfel aus der Tasche auf dem Beifahrersitz genommen und setzte sich. Genüsslich biss sie ab und ließ ihren Blick schweifen. In der Ferne zeichneten sich die Zwillingsgipfel ab, ›Himmelspitz‹ und ›Wintermaid‹. Lächelnd dachte Viktoria an die Sennerhütten unterhalb der schneebedeckten Gipfel und an die vielen Touren, die sie mit dem Bergpfarrer dort oben unternommen hatte. Meine Güte, wie lang' war das jetzt her? Der Vierundzwanzigjährigen kam es wie eine kleine Ewigkeit vor, dabei war es gerade mal drei Jahre her, dass sie St. Gleich nach der bestandenen Prüfung zur Hotelfachfrau hatte sie sich in einem Hotel in der bayerischen Landeshauptstadt beworben. Ihr damaliger Chef, Sepp Reisinger, der Inhaber des Hotels ›Zum Löwen‹ in St. Johann, hatte sie dabei unterstützt und ihr, neben einem erstklassigen Zeugnis, auch eine Empfehlung an den Münchner Kollegen, der er noch von früher kannte, mit auf den Weg gegeben. Im Hotel ›Royal‹ hatte Vicki dann auch sofort eine Anstellung gefunden und war, bis vor ein paar Tagen, dort noch angestellt gewesen. Nun kehrte sie in die Heimat zurück. Die Silhouette der Berge verschwamm vor ihren Augen, und für Sekunden tauchte das Bild eines Mannes vor ihr auf. Thomas Brunner, der gut aussehende Koch im ›Royal‹, ein ewig lustiger Typ und Hansdampf in allen Gassen. Im Sturm hatte er Viktorias Herz erobert, und beinahe drei Jahre lang waren sie ein Paar gewesen. Wie oft hatten sie von einem eigenen kleinen Hotel oder Restaurant geträumt! »Eines Tags«

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Seitenzahl: 119

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Der Bergpfarrer – 277 –Eine kleine Ewigkeit

Viktorias Heimkehr weckt Gefühle

Toni Waidacher

Viktoria Leitner atmete erleichtert auf, als sie von der Autobahn abfuhr und auf die Bundesstraße einbog. Hier war es geradezu idyllisch, kaum Verkehr, keine Hektik, während eben noch die Lastwagen und Pkws mit einem Höllentempo an ihr vorbeigerauscht waren. Nun genoss sie die Ruhe, fuhr auf einen Parkplatz und stieg für ein paar Minuten aus.

Einige Schritte weiter stand eine Bank. Die junge Frau hatte einen Apfel aus der Tasche auf dem Beifahrersitz genommen und setzte sich. Genüsslich biss sie ab und ließ ihren Blick schweifen. In der Ferne zeichneten sich die Zwillingsgipfel ab, ›Himmelspitz‹ und ›Wintermaid‹. Lächelnd dachte Viktoria an die Sennerhütten unterhalb der schneebedeckten Gipfel und an die vielen Touren, die sie mit dem Bergpfarrer dort oben unternommen hatte.

Meine Güte, wie lang’ war das jetzt her?

Der Vierundzwanzigjährigen kam es wie eine kleine Ewigkeit vor, dabei war es gerade mal drei Jahre her, dass sie St. Johann verlassen hatte, um in München ›die Welt zu erobern‹ …

Gleich nach der bestandenen Prüfung zur Hotelfachfrau hatte sie sich in einem Hotel in der bayerischen Landeshauptstadt beworben. Ihr damaliger Chef, Sepp Reisinger, der Inhaber des Hotels ›Zum Löwen‹ in St. Johann, hatte sie dabei unterstützt und ihr, neben einem erstklassigen Zeugnis, auch eine Empfehlung an den Münchner Kollegen, der er noch von früher kannte, mit auf den Weg gegeben. Im Hotel ›Royal‹ hatte Vicki dann auch sofort eine Anstellung gefunden und war, bis vor ein paar Tagen, dort noch angestellt gewesen.

Nun kehrte sie in die Heimat zurück.

Nicht ganz freiwillig, eher der Not gehorchend …

Die Silhouette der Berge verschwamm vor ihren Augen, und für Sekunden tauchte das Bild eines Mannes vor ihr auf. Thomas Brunner, der gut aussehende Koch im ›Royal‹, ein ewig lustiger Typ und Hansdampf in allen Gassen. Im Sturm hatte er Viktorias Herz erobert, und beinahe drei Jahre lang waren sie ein Paar gewesen.

Wie oft hatten sie von einem eigenen kleinen Hotel oder Restaurant geträumt!

»Eines Tags«, hatte Thomas immer wieder versprochen, »ist’s so weit, dann haben wir unsren eignen Laden. Dann sind wir zwei selbstständig, und dann, Spatzl, dann wird geheiratet!«

Phrasen, heiße Luft, leere Versprechungen, mehr waren seine Worte nicht. Dabei hätte sie es besser wissen müssen. Mehr als einmal war sie von Kollegen gewarnt worden.

»Der Thomas ist ein Hallodri«, hieß es dann.

»Der ist viel zu schön für eine allein!«, lautete eine andere Warnung.

Indes tat Vicki die gut gemeinten Ratschläge als Unsinn ab, Äußerungen, aus Neid gesagt, weil man ihr den feschen Koch missgönnte. Doch leider stellte es sich als nur allzu wahr heraus. Viktoria fiel aus allen Wolken, als sie dahinterkam, dass der Mann, den sie über alles liebte, mit dem sie ihr Leben verbringen, die Zukunft gestalten wollte, sie betrog. Nicht nur einmal, zweimal …, sie wollte gar nicht wissen, wie oft.

Gerade erst hatten sie sich ein Restaurant angesehen, das ideal für ihre Pläne war, nun saß sie hier auf einem Parkplatz auf der Bank, kaum mehr als zehn Kilometer von St. Johann entfernt, und wischte sich die Tränen aus dem hübschen Gesicht, die sie nicht unterdrücken konnte, weil der Schmerz der Erinnerung größer war, als die Kraft, die sie hatte.

Endlich gab sie sich einen Ruck. Viktoria Leitner stieg wieder in ihr Auto und fuhr weiter. Keine fünf Minuten später passierte sie das Ortsschild.

Sie war wieder daheim.

*

»Warum hast’ denn net angerufen und gesagt, dass du kommst?«

Barbara Leitner sah ihre Tochter fragend an. Es war, gelinde gesagt, ein kleiner Schock, als es an der Haustür klingelte, und Vicki so unversehens vor ihr stand.

Im ersten Moment hatte die Mutter schon das Schlimmste befürchtet – wie schlimm die Geschichte ihrer Tochter indes war, ahnte sie noch nicht.

»Ich wollt’ dich halt überraschen«, antwortete Viktoria und nahm sich noch eine Semmel.

Ihre Mutter hatte rasch den Tisch für ein zweites Frühstück gedeckt und war dann zur Bäckerei Terzing gelaufen, um Semmeln und Kuchen zu holen.

»Hast’ denn so einfach Urlaub bekommen?«, forschte Barbara nach. »Ich denk’, grad jetzt, zur Ferienzeit, habt ihr im Hotel viel zu tun?«

Die Tochter drehte nachdenklich die Tasse in ihren Händen, dann trank sie einen Schluck.

Gut, irgendwann musste sie ja mit der Sprache herausrücken.

Warum also nicht gleich?

»Ich arbeite net mehr im ›Royal‹«, sagte sie, mit belegter Stimme.

Ihre Mutter sah sie mit großen Augen an.

»Net mehr im Royal? Aber warum …?«

Plötzlich lächelte sie.

»Sag bloß, der Thomas und du …, habt ihr etwa ein geeignetes Objekt gefunden? Ist’s jetzt so weit, mit der Selbstständigkeit?«

»Wir sind net mehr zusammen. Ich hab’ mich von Thomas getrennt.«

Totenstille trat ein, man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können.

»Was ist passiert?«, fragte Barbara Leitner tonlos.

Vicki erzählte es ihr, schnörkellos, ohne Emotionen, grad so, als würde sie nicht über sich, sondern über eine andere sprechen.

»Unter diesen Umständen wollte ich net mehr länger im Hotel bleiben«, schloss sie.

»Das versteh’ ich freilich«, nickte ihre Mutter. »Aber, was willst’ jetzt anfangen? Ich glaub’ net, dass der Herr Reisinger jetzt noch jemanden einstellt.«

Ihre Tochter schüttelte den Kopf.

»Ich find’ schon wieder eine Anstellung«, meinte sie. »Wie ich gehört hab’, hat doch in Engelsbach ein neues Hotel eröffnet, ›Ransingerhof‹ heißt es, glaub’ ich. Aber ich will mich noch gar net irgendwo bewerben. Erst einmal möcht’ ich ein bissel Urlaub machen und ausspannen.«

Und vergessen, setzte sie in Gedanken hinzu.

Barbara lächelte und griff über den Tisch nach Vickis Hand.

»Es ist schön, dass du heimgekommen bist«, sagte sie. »Auch wenn ich dich hin und wieder mal in München besucht hab’, drei Jahr’ sind doch eine lange Zeit. Ich bin sicher, dass es eine ganze Menge Leute gibt, die sich freuen, dich wiederzusehen.«

Nach dem Frühstück holte Viktoria ihr Gepäck herein. Die kleine Wohnung, die sie in München gehabt hatte, war ausgeräumt, die Möbel hatte sie verkauft, ein paar allerdings bei einer Freundin untergestellt. Irgendwann würde sie die Sachen dort abholen.

In den beiden Koffern und den zwei Reisetaschen befanden sich ihre Kleider und andere persönliche Dinge, auf die sie nicht verzichten konnte.

»Ich geh’ dann mal zum Friedhof«, sagte Vicki. »Zum Mittag bin ich wieder da.«

Ihre Mutter nickte.

»Was magst’ denn essen?«, erkundigte sie sich. »Ich kann’s ja schon mal vorbereiten?«

Viktoria lächelte.

»Das weißt du doch, Mama, am liebsten deinen Topfenschmarren mit Äpfeln.«

»Gut«, schmunzelte ihre Mutter, »dann sollst’ den auch bekommen!«

Im Flur überprüfte Vicki noch einmal ihr Aussehen und bürstete das lange blonde Haar durch. Dann steckte sie ihre Geldbörse in die Hosentasche und verließ das Haus.

In dem kleinen Einkaufszentrum hatte vor Kurzem die ortsansässige Gärtnerei, die am anderen Ende des Dorfes lag, einen kleinen Laden eröffnet, in dem frische Schnittblumen und Topfpflanzen verkauft wurde. Vicki ließ sich einen hübschen Strauß zusammenstellen und ging zur Kirche weiter.

In Gedanken versunken ging sie den geharkten Kiesweg hinauf.

Wie oft war sie hier gegangen!

Zur ersten Firmung, zur Heiligen Kommunion, später als Ministrantin zu den Gottesdiensten. Lebhaft waren ihr noch die Jugendfreizeiten in Erinnerung, zu denen sie und die anderen mit Pfarrer Trenker oder Vikar Moser gefahren waren. Und vor allem die unvergesslichen Bergtouren, die der gute Hirte von St. Johann mit ihnen unternommen hatte.

Schöne Erinnerungen an eine unbeschwerte Jugend.

Warum machte es das Leben bloß einem so schwer, wenn man erwachsen geworden war?

Sie öffnete die eiserne Pforte und betrat den Friedhof. Das Grab ihres Vaters, er war verstorben, als sie noch in der Lehre war, befand sich weiter hinten, an der Hecke zum Pfarrgarten hin. Vicki stellte die Blumen in eine Vase, die die Mutter hinter dem Grabstein deponiert hatte, und nahm den Rechen, der daneben lag. Nachdem sie ringsum ein wenig geharkt und saubergemacht hatte, stand die junge Frau vor dem Grab und sprach ein stummes Gebet.

Sie wollte sich gerade wieder abwenden, als jemand sie ansprach.

»Grüß dich, Vicki. Ich hab’ mir schon gedacht, dass du herkommen würdest.«

Pfarrer Trenker stand auf der anderen Seite der Hecke und lächelte sie an.

»Grüß Gott, Hochwürden«, antwortete sie. »Woher wissen Sie überhaupt, dass ich in St. Johann bin?«

Sebastian schmunzelte noch mehr.

»Ach, du weißt doch, wie schnell sich so etwas herumspricht. Deine Mutter hat wohl vorhin beim Bäcker davon erzählt, vermutlich hat die Maria net weit entfernt gestanden …«

Die Rede war von Maria Erbling, der Witwe des letzten Poststellenleiters in St. Johann, die alle Neuigkeiten zuerst wusste und weiter verbreitete.

Im Dorf ging das Gerücht, dass man, wenn man wollte, dass sich etwas schnell herumsprach, es Maria nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen musste und sicher sein konnte, dass es sich wie ein Lauffeuer herumsprach.

»Aber sag’«, fuhr Sebastian fort, »magst net einen Moment hereinkommen? Warst ja doch ein paar Jahre fort.«

»Aber einige Male hab’ ich die Mama besucht«, entgegnete sie und lächelte. »Aber ich geb’s zu, es war nur kurz.«

Der Geistliche öffnete die Pforte, die es ihm gestattete, vom Pfarrgarten aus den Friedhof zu betreten, und Vicki schlüpfte hindurch. Sie setzte sich auf die Terrasse, und Sebastian sah die junge Frau fragend an.

»Wie kommst’s denn, dass du hier bist?«, erkundigte er sich. »Hast’ vielleicht Urlaub bekommen?«

Viktoria Leitner schüttelte den Kopf.

»Nein, Urlaub hab’ ich net«, erwiderte sie leise, »ich hab’ meine Zelte in München abgebrochen und bin für ganz wieder nach Haus’ gekommen.«

Der gute Hirte von St. Johann zeigte sich überrascht.

»Das wundert mich«, sagte er. »Deine Mutter hat erzählt, dass du dich zusammen mit deinem Freund selbstständig machen wolltest. Was ist aus den Plänen geworden?«

Sie holte tief Luft. Es machte Viktoria nichts aus, dem Bergpfarrer ihr Herz auszuschütten, sie wusste, dass der Geistliche, der immer ein offenes Ohr für seine Schäfchen hatte, auch ihr Problem verstehen würde.

»Thomas ist der Grund, warum ich zurückgekommen bin«, begann sie und erzählte, genauso schlicht, wie vorhin daheim, ihre Geschichte.

Sebastian hörte zu, ohne sie zu unterbrechen.

»So gesehen, war es wohl die richtige Entscheidung«, sagte er dann zu ihr. »Und hast’ schon überlegt, was du nun anfangen willst?«

Viktoria zuckte die Schultern.

»Das hat die Mama mich auch schon gefragt. Auf jeden Fall erst einmal ein bissel faulenzen. Ich hab’ in den letzten zwei Jahre nur wenig Urlaub gehabt, das will ich jetzt nachholen.«

»Das kann ich gut verstehen. Vielleicht können wir ja mal wieder zusammen eine Bergtour machen.«

Ihre Augen leuchteten sofort.

»Ach, Hochwürden, das wäre herrlich!«, rief sie begeistert.

»Ich will mal schau’n, wann es passt, und meld’ mich dann bei dir.«

Sophie Tappert trat auf die Terrasse.

Die Haushälterin des Bergpfarrers lächelte, als sie Vicki sah.

»Ja, grüß dich«, sagte sie. »Eben hör’ ich beim Metzger, dass du wieder da bist, und schon sitzt’ hier auf der Terrasse.«

Sie schüttelten sich die Hände.

»Grüß Gott, Frau Tappert«, sagte Vicki. »Schön, Sie zu sehen. Geht’s gut?«

»Ach, wunderbar«, winkte die Haushälterin ab.

»Na ja, so gesund wie S’ ausschau’n, werden S’ sicher hundert Jahr’ alt!«

»Bestimmt«, lachte Sophie Tappert. »Ich kann ja Hochwürden net im Stich lassen.«

»Ich würd’ auch gar keine andre Haushälterin einstellen«, lachte Sebastian.

Vicki stand auf und verabschiedete sich.

»Noch mal, herzlich willkommen daheim«, sagte der Bergpfarrer, als er sie zur Pforte hinausgelassen hatte. »Und unsre Tour ist fest verabredet.«

»Dank’ schön, Hochwürden«, antwortete Viktoria Leitner. »Ich freu’ mich schon!«

Sie winkte noch einmal und ging dann durch die Grabreihen. Sebastian sah ihr hinterher, bis sie seinen Blicken entschwand.

*

Vicki überquerte die Straße und ging an dem Hotel vorüber, in dem sie ihre Lehre gemacht hatte. Immer wenn sie zum Besuch ihrer Mutter nach St. Johann gekommen war, hatte sie auch Irma und Sepp Reisinger guten Tag gesagt, oft auch Grüße ihres Münchner Chefs ausgerichtet. Heute jedoch ging sie am ›Löwen‹ vorüber. Sicher würde sie die nächsten Tage noch Gelegenheit finden, vorbeizuschauen und sich mit dem Ehepaar zu unterhalten.

Die junge Frau wollte gerade in den Tannenweg einbiegen, in dem das Haus ihrer Mutter stand, als hinter ihr gehupt wurde. Sie drehte sich um und blickte überrascht in das Gesicht der Fahrerin. Im ersten Moment hätte sie Anja Berggruber fast nicht erkannt.

»Du hast ja die Haare abgeschnitten!«, stellte sie erstaunt fest, als die frühere Klassenkameradin und Freundin ausgestiegen war. »Schick, steht dir.«

Anja drehte den Kopf, ihre Haare waren sehr kurz.

»Wirklich?«

»Aber ja, ganz bestimmt.«

»Weißt’, ich war erst ein bissel unsicher«, meinte Anja, »aber inzwischen hab’ ich mich an meinen Anblick im Spiegel gewöhnt. Und wenn du auch sagst …«

Sie unterbrach sich.

»Sag’ mal, was machst’ eigentlich hier?«, wollte sie wissen. »Musst’ gar net arbeiten?«

Vicki schüttelte den Kopf.

»Ich hab’ gekündigt.«

»Nein!«

Anja Berggruber sah sie beinahe entsetzt an.

»Aber wieso? Und dein Freund?«

Die Heimkehrerin winkte ab.

»Das hängt beides zusammen«, antwortete sie. »Eine lange Geschichte.«

»Wenn du reden willst? Ich hätt’ grad Zeit«, bot Anja ihr an.

Viktoria Leitner zuckte die Schultern.

»Mutter wartet mit dem Essen«, erwiderte sie. »Aber wie wär’s mit heut’ Nachmittag? Ich könnt’ zu euch rauskommen.«

»Eine prima Idee«, stimmte Anja zu. »Mutter wird sich auch freuen, dich wiederzusehen.«

Sie umarmten sich, und Anja stieg wieder ein, Vicki winkte ihr hinterher und bog in den Tannenweg ein.

Als sie an der Pension vorbeikam, war die Wirtin im Garten beschäftigt.

»Grüß dich, Ria«, rief Vicki über den Zaun.

Ria Stubler richtete sich auf.

»Ja, grüß dich, Vicki«, rief sie zurück. »Willkommen daheim. Ich hab’ schon gehört, dass du wieder zurück bist aus München.«

Komisch, wer alles schon davon weiß, dachte Viktoria Leitner schmunzelnd. Sie winkte Ria noch mal und ging zu ihrem Elternhaus weiter.

Schon als sie in den Flur trat, schlug ihr der köstliche Zimtduft entgegen. Mutter streute immer ein wenig von dem leckeren Gewürz auf die Äpfel.

Für den Schmarrn hatte Barbara Leitner einen Teig aus Eiern, Mehl, Milch und Topfen hergestellt. Dazu trennte sie die Eier und schlug das Eiklar zu festem Schnee, den sie unter den Teig hob, der mit einer Prise Salz, geriebener Zitronenschale und Vanillezucker gewürzt war. Dann wurden Apfelscheiben in Butterschmalz angebraten, mit Zimt bestreut und der Teig in die Pfanne gefüllt. Wenn die Unterseite gebräunt war, riss Vickis Mutter den Schmarren mit zwei Gabeln in kleine Stücke, bestreute sie mit Zucker und schob die Pfanne für ein paar Minuten in das Backrohr, wo der Schmarren schön aufging und luftig und locker wurde.

»Kommst grad recht«, empfing die Mutter ihre Tochter. »Kannst rasch den Tisch decken.«