Fesseln der Erinnerung - Nalini Singh - E-Book

Fesseln der Erinnerung E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Der Polizist Max Shannon verfügt über eine besondere Gabe: Er ist den geistigen Manipulationsversuchen der Medialen gegenüber resistent. Umso mehr überrascht es ihn, als er von der mächtigen Medialen Nikita Duncan persönlich auf einen neuen und äußerst brisanten Fall angesetzt wird. Ein Unbekannter hat es auf das Leben von Nikitas engsten Vertrauten abgesehen, und Max soll den Mörder finden, bevor er erneut zuschlägt. Ihm wird die attraktive Mediale Sophia Russo an die Seite gestellt, die ihm bei den Ermittlungen helfen soll. Schon bald hegen die beiden tiefe Gefühle füreinander. Doch ihre Liebe zu Max bringt Sophia in große Gefahr ...

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Inhalt

Titel

Widmung

Justiz

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Epilog

Impressum

Nalini Singh

Roman

Ins Deutsche übertragen von Nora Lachmann

 

Für Kay, Cynthia, Loma, Emily & Akbar

Ihr seid großartig. Habt Dank, meine „Tomodachi“.

Justiz

Nachdem die Medialen sich für Silentium entschieden hatten, nachdem sie ihre Gefühle für immer begraben und sich in eiskalte Individuen verwandelt hatten, denen Liebe und Hass vollkommen gleichgültig waren, versuchten sie zunächst, ihresgleichen von den Menschen und Gestaltwandlern zu isolieren. Denn der dauernde Kontakt mit diesen fühlenden Wesen machte es wesentlich schwerer, die Konditionierung aufrechtzuerhalten.

Vollkommene Isolation wäre die logische Folge gewesen.

Sie erwies sich jedoch als nicht praktikabel. Schon wirtschaftliche Gründe sprachen dagegen – die Medialen waren zwar alle im Medialnet miteinander verbunden, dem großen geistigen Netzwerk, das ihnen mental Halt gab, dennoch waren sie nicht alle gleich. Manche waren reich, andere arm und wieder andere kamen gerade so zurecht.

Aber alle mussten einer Arbeit nachgehen, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Der Rat der Medialen konnte jedoch trotz seiner Macht nicht genügend Arbeitsplätze für alle von ihnen bereitstellen. Die Medialen mussten deshalb ein Teil der chaotischen Welt bleiben, in der Freude und Trauer, Angst und Verzweiflung tobten. Mediale, die unter diesem Druck zusammenbrachen, wurden still und heimlich „rehabilitiert“, ihr Verstand getilgt, ihre Persönlichkeit ausgelöscht. Die anderen arrangierten sich.

Die M-Medialen, deren Gabe es war, in Körper hineinzusehen und Krankheiten zu diagnostizieren, hatten sich nie ganz zurückgezogen. Ihre Fähigkeiten wurden von allen drei Gattungen geschätzt, und sie verdienten in der Regel gut.

Die mit weniger starken Fähigkeiten gesegneten Medialen nahmen ihre normale Arbeit als Angestellte und Ingenieure, Ladenbesitzer und Geschäftsleute wieder auf. Nur empfanden sie nun weder Freude noch Abscheu, ja noch nicht einmal Gleichmut ihrer Tätigkeit gegenüber, sie funktionierten nur noch.

Die mächtigsten Medialen wurden, wenn irgend möglich, in ministeriale Aufgaben eingebunden. Der Rat wollte nicht das Risiko eingehen, die besten Leute zu verlieren.

Dann gab es noch die J-Medialen.

Telepathen, die sich von Geburt an Zugang zu den Erinnerungen anderer verschaffen konnten und diese dann wieder anderen zur Verfügung stellten, waren Teil des Justizsystems, seit sich ein solches entwickelt hatte. Es gab allerdings nicht genügend von ihnen, um über Schuld oder Unschuld eines jeden Angeklagten zu entscheiden – J-Mediale wurden nur in den härtesten Fällen hinzugezogen, bei denen selbst erfahrene Polizisten sich übergaben und auch abgestumpfte Journalisten lieber einen Schritt zurücktraten.

Der Rat hatte selbstverständlich die Vorteile des Zugangs zu einem System erkannt, das sowohl Menschen als manchmal auch die verschwiegenen und eng dem Rudel verbundenen Gestaltwandler belangen konnte, und erlaubte den J-Medialen nicht nur, mit ihrer Arbeit fortzufahren, sondern ihre Beteiligung sogar auszuweiten. Jetzt, Anfang des Jahres 2081, sind die J-Medialen aus dem Justizsystem nicht mehr wegzudenken, niemand wundert sich darüber oder nimmt Anstoß daran.

Und was die unerwarteten Konsequenzen einer längerfristigen Arbeit als J-Medialer betrifft … nun, die Vorteile überwiegen bei Weitem die sporadisch auftretenden Unannehmlichkeiten durch Morde.

1

Man wird nicht durch die Lebensumstände geprägt. Denn sonst hätte ich mit zwölf zum ersten Mal gestohlen, mit fünfzehn den ersten Raubüberfall begangen und wäre mit siebzehn zum Mörder geworden.

– aus den privaten Fallaufzeichnungen von Detective Max Shannon

Sophia Russo saß gerade einem Psychopathen gegenüber, als ihr drei unerbittliche Tatsachen bewusst wurden:

Erstens: Aller Wahrscheinlichkeit nach würde in spätestens einem Jahr ihre umfassende Rehabilitation angeordnet werden. Im Gegensatz zu einer normalen Rehabilitation würde dieser Vorgang nicht nur ihre Persönlichkeit auslöschen und sie als hirnloses Gemüse dahinvegetieren lassen. Umfassend bedeutete, dass neunundneunzig Prozent ihrer Sinne ausgeschaltet würden. Nur zu ihrem eigenen Besten, versteht sich.

Zweitens: Nicht ein einziges Wesen würde sich auch nur an ihren Namen erinnern, nachdem sie aus dem aktiven Dienst ausgeschieden war.

Drittens: Wenn sie nicht sehr aufpasste, würde sie bald so leer und unmenschlich sein wie der Mann, der ihr gegenübersaß … denn das Andere in ihr hätte am liebsten sein Hirn zerquetscht, bis er wimmernd und blutend um Gnade gebettelt hätte.

Das Böse ist schwer zu definieren, aber es sitzt in diesem Raum.

Die Erinnerung an die Worte von Detective Max Shannon rissen sie vor dem verführerischen Abgrund zurück. Aus irgendeinem Grund war die Vorstellung, er könnte sie als böse bezeichnen … keine Option. Er hatte sie anders als andere Männer angesehen, hatte die Narben bemerkt, sie aber offensichtlich als selbstverständlich zu ihrem Körper gehörig betrachtet. Dieses außergewöhnliche Verhalten hatte sie dazu veranlasst, ihm in die Augen zu sehen, um herauszufinden, was er dachte.

Das hatte sich als unmöglich erwiesen. Aber sie wusste, was Max von ihr wollte.

Nur Bonner selbst weiß, wo er die Leichen vergraben hat – wir müssen es aus ihm herausbekommen.

Sophia schloss die Tür zu ihren dunklen Gedanken, öffnete ihr geistiges Auge und erforschte mit ihren telepathischen Sinnen die verschlungenen Wege im Kopf von Gerard Bonner. Im Lauf ihres Berufslebens war sie vielen verrückten Gehirnen begegnet, aber dieses hier war einzigartig. Die meisten, die solche Verbrechen begingen, waren auf irgendeine Art geistig krank. Doch Sophia war geübt darin, mit zusammenhanglosen Erinnerungsfetzen umzugehen.

Bonners Gehirn hingegen war aufgeräumt, jede Erinnerung fein säuberlich abgelegt. Dennoch ergab alles keinen Sinn, da kalte, psychopathische Vorstellungen und Wünsche die Gedanken ordneten. Bonner sah die Welt, wie er es wollte, und so verzerrt, dass es nicht mehr möglich war, hinter dem Netz von Lügen die Wahrheit zu erkennen.

Sophia beendete ihren Rundgang und zentrierte sich, bevor sie auf der körperlichen Ebene die Augen öffnete und in die leuchtend blauen Augen des Mannes sah, den die Medien so faszinierend fanden. In den Nachrichten wurde er als gut aussehend, intelligent und anziehend geschildert. Tatsächlich hatte er einen Abschluss an einer renommierten Hochschule gemacht und stammte aus einer der ersten Familien der Menschen in Boston – noch immer konnten viele kaum glauben, dass er der Schlächter der Park Avenue sein sollte. Diesen Namen hatte die Öffentlichkeit dem Mörder von Carissa White gegeben, deren Leiche auf einem der berühmten „grünen“ Mittelstreifen der Straße gefunden worden war.

Im Frühling wogte dort ein Meer von Tulpen und Osterglocken, doch es war Winter und Carissa lag in einer weißen Märchenlandschaft. Ihr Blut leuchtete dunkelrot, und auf den schneebedeckten Bäumen glitzerten Lichterketten. Sie war das einzige der Opfer, das man bislang gefunden hatte, der öffentliche Fundort der Leiche hatte ihren Mörder auf der Stelle zum Medienstar gemacht. Er wäre auch beinahe gefasst worden – nur der Umstand, dass der Zeuge, der ihn hatte wegrennen sehen, zu weit entfernt gewesen war, um der Polizei eine genaue Personenbeschreibung geben zu können, hatte die Bestie gerettet.

„Danach bin ich vorsichtiger geworden“, sagte Bonner, und auf seinem Gesicht erschien jene Andeutung eines Lächelns, das Leute in dem Glauben wiegen konnte, in ein Geheimnis eingeweiht zu werden. „Beim ersten Mal ist jeder ein wenig unbeholfen.“

Sophia ließ sich nicht anmerken, dass er gerade in „ihren Gedanken gelesen hatte“, das hatte sie nicht anders erwartet. Den Akten nach war Gerard Bonner ein Meister der Manipulation, konnte anhand der Körpersprache und kleinster Veränderungen der Mimik fast schon genial Vorhersagen über sein Gegenüber treffen. Selbst Silentium schien keinen Schutz vor seinen Fähigkeiten zu bieten – Sophia hatte die Aufzeichnungen der Gerichtsverhandlung gesehen, Bonner war dasselbe auch bei anderen Medialen gelungen.

„Darum sind wir ja hier, Mr Bonner“, sagte sie mit einer Ruhe, die bei jeder Befragung kälter zu werden schien – dieser Überlebensmechanismus würde bald die letzten Reste ihrer Seele zu Eis erstarren lassen. „Sie haben sich bereit erklärt, im Gegenzug für bestimmte Privilegien im Gefängnis die Verstecke Ihrer anderen Opfer anzugeben.“ Bonner war dazu verurteilt worden, den Rest seines Lebens im D2 zu verbringen, einem abgelegenen Hochsicherheitsgefängnis in den Bergen von Wyoming. Diese Spezialeinrichtung beherbergte die Straftäter des Landes, die so gefährlich waren, dass eine Unterbringung im normalen Strafvollzug zu risikoreich war.

„Ich mag Ihre Augen“, sagte Bonner, sein Lächeln vertiefte sich, als er sie mit einem Blick ansah, den die Medien als „mörderisch sinnlich“ bezeichneten. „Sie erinnern mich an meine zarten Blumen.“

Sophia ließ ihn reden, alles, was er sagte, war wichtig für die Fallanalytiker, die in dem Raum nebenan waren und das Gespräch auf einem großen Bildschirm mitverfolgten. Es waren auch Mediale dabei, eigentlich unüblich bei einem kriminellen Menschen, aber Bonners geistige Strukturen waren so anormal, dass ihr Interesse geweckt worden war.

Doch nicht die Reaktion der erfahrenen medialen Analytiker interessierten Sophia, sondern die Schlüsse, die Max Shannon zog. Der Polizist hatte keine medialen Fähigkeiten, und im Gegensatz zu dem Schlächter vor ihr war er gertenschlank. Wie ein Puma, dachte sie. Doch wenn es darauf ankam, würde der Puma siegen – sowohl über das Muskelpaket in dem Gefängnisoverall als auch über die schlauen Köpfe der Medialen, die hinzugezogen worden waren, nachdem Bonners perverse Taten auch wirtschaftliche Konsequenzen gehabt hatten.

„Sie waren alle zarte Blumen.“ Bonner seufzte. „So hübsch, so süß. Leicht zu verletzen. Genau wie Sie.“ Er starrte auf eine Narbe, die sich über ihr Jochbein zog.

Sophia ignorierte die offene Provokation. „Was haben Sie mit ihnen gemacht?“ Bonner war durch die Spuren überführt worden, die er an der Leiche seines ersten Opfers hinterlassen hatte. Bei den anderen Fällen hatte es nichts dergleichen gegeben, und man hatte ihn nur mit den Verbrechen in Verbindung bringen können, weil die Umstände ganz ähnlich gewesen waren und weil Max Shannon so hartnäckig ihre Aufklärung betrieben hatte.

„So zart und so zerstört“, murmelte Bonner und sah auf ihre Lippen. „Verletzte Frauen haben mich schon immer angezogen.“

„Sie lügen, Mr Bonner.“ Wie konnten ihn die Leute bloß attraktiv finden – sie konnte die Fäulnis beinahe riechen. „Ihre Opfer waren alle außergewöhnlich schön.“

„Vermutliche Opfer“, sagte er, und die klaren blauen Augen leuchteten auf. „Man hat mich nur des Mordes an der armen Carissa überführt. Obwohl ich natürlich vollkommen unschuldig bin.“

„Sie haben sich bereit erklärt zu kooperieren“, erinnerte sie ihn. Ohne seine Kooperationsbereitschaft konnte sie nicht arbeiten. Denn – „Offensichtlich können Sie Ihre Gedanken bis zu einem gewissen Grad steuern.“ Auf diese Eigenschaft waren die Telepathen des J-Dienstes schon öfter bei psychopathischen Menschen gestoßen – anscheinend entwickelten solche Individuen eine beinahe mediale Fähigkeit, die eigenen Erinnerungen zu verändern. Bonner war ein Meister darin. Bei einer oberflächlichen Suche hatte sie absolut nichts gefunden – tiefer nachzuforschen konnte sein Gehirn für immer schädigen und gerade diejenigen Informationen auslöschen, die sie brauchte.

Aber, meldete sich das Andere in ihr, er musste auch nur lange genug am Leben bleiben, damit die Opfer gefunden werden konnten. Danach …

„Ich bin ein Mensch.“ Er tat übertrieben überrascht. „Das haben sie Ihnen doch bestimmt gesagt – mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war. Darum brauche ich ja eine J-Mediale, die in meinen Kopf eindringt und die zarten Blumen ausgräbt.“

Er spielte mit ihr. Sophia war sicher, dass er bis auf den letzten Zentimeter die genaue Lage jeder einzelnen vergrabenen Leiche beschreiben konnte. Aber Bonner spielte den Unwissenden so gut, dass man sie hinzugezogen und damit Bonner die Chance gegeben hatte, sein krankes Bedürfnis noch einmal zu befriedigen. Sie sollte in seinen Kopf eindringen, damit er sie dort überwältigen konnte – nur so konnte er in seiner jetzigen Lage einer Frau noch wehtun.

„Da ich offensichtlich nichts erreichen kann“, sagte sie und stand auf, „werde ich meinen Kollegen Bryan Ames bitten, die Untersuchung zu übernehmen. Er ist –“

„Nein.“ Der erste Riss in der polierten Oberfläche, doch er verschwand genauso schnell, wie er entstanden war. „Sie bekommen, was Sie brauchen.“

Sie zog das dünne schwarze Kunstleder des Handschuhs der linken Hand bis zur steifen Manschette ihrer weißen Bluse. „Meine Zeit ist teuer, ich möchte sie nicht verschwenden. Bei anderen Fällen könnte ich meine Fähigkeiten bestimmt nützlicher einbringen.“ Mit diesen Worten ging sie hinaus, ungeachtet seines Befehls – denn nichts anderes war es – zu bleiben.

Im Beobachtungsraum wandte sie sich an Max Shannon. „Sie sollten nur noch Männer zu ihm schicken.“

Er nickte knapp, seine Hand umklammerte die Stuhllehne. Seine Haut hatte einen warmen Goldton, der auf asiatische und europäische Wurzeln schließen ließ. Das asiatische Erbe zeigte sich in den schräg stehenden Augen, die europäische Seite hatte sich bei der Körpergröße durchgesetzt – sie schätzte ihn auf etwas unter einem Meter neunzig.

So weit die Tatsachen.

Aber die Wirkung war mehr als die Summe der Einzelteile. Er hatte etwas, das die Menschen Charisma nannten. Mediale vertraten zwar vehement die Ansicht, so etwas existiere nicht, aber sie wussten alle, dass das nicht stimmte. Selbst in der Silentium-Gattung gab es einige, die einen Raum betraten und ihn allein durch ihre Gegenwart ausfüllten.

Sie sah, wie seine Fingerknöchel weiß wurden. „Der hat sich einen runtergeholt bei der Vorstellung, Sie würden in seinen Erinnerungen graben.“ Max erwähnte ihre Narben nicht, aber sie wusste genauso gut wie er, dass sie nicht unerheblich dazu beigetragen hatten, sie für Bonner attraktiv zu machen.

Sie trug sie schon lange, diese blassen Spuren einer lange zurückliegenden Geschichte, die ihre Vergangenheit war. Ohne sie hätte sie überhaupt keine Vergangenheit gehabt. Bei Max Shannon gab es auch so etwas. Doch es zeigte sich nicht in seinem schönen – nicht nur gut aussehenden, sondern wirklich schönen – Gesicht. „Ich habe Schilde.“ Aber diese Schilde bröckelten, ein unabwendbarer Nebeneffekt ihrer Arbeit. Wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, wäre sie keine J-Mediale geworden. Mit acht Jahren war sie vor die Wahl gestellt worden, sich entweder für diesen Beruf zu entscheiden oder zu sterben.

„Ich habe gehört, dass viele J-Mediale ein fotografisches Gedächtnis haben“, sagte Max und sah sie forschend an.

„Das stimmt – aber nur in Bezug auf die Dinge, die wir während der Arbeit wahrnehmen.“ Sie hatte vieles aus ihrem „wirklichen Leben“ vergessen, aber nicht einen Augenblick ihrer jahrelangen Arbeit im J-Dienst.

Max wollte gerade etwas erwidern, als Staatsanwalt Bartholomew Reuben, der mit ihm eng zusammengearbeitet hatte, um Gerard Bonner festzunehmen und zu überführen, sein Gespräch mit zwei Fallanalytikern beendete und herüberkam. „Die Sache mit den männlichen J-Medialen ist ein kluger Schachzug. Wir lassen Bonner ein wenig schmoren – wenn er sich dann kooperativer zeigt, kommen Sie wieder ins Spiel.“

Max’ Kiefer mahlten, als er antwortete. „Er hat uns lange genug hingehalten – die Mädchen sind nichts weiter als Schachfiguren für ihn.“

Bevor Reuben etwas darauf sagen konnte, rief ihn ein anderer Analytiker von ihnen weg, und Sophia war wieder allein mit Max. Überrascht stellte sie fest, dass sie bleiben wollte, obwohl ihr Platz nun, da ihre Aufgabe beendet war, bei den anderen M-Medialen gewesen wäre. Doch Perfektion würde sie nicht am Leben erhalten – so oder so würde sie in spätestens einem Jahr tot sein –, sie konnte also auch ruhig dem Verlangen nachgeben, sich noch weiter mit dem Detective zu unterhalten, dessen Gedanken sie so faszinierten. „Sein Ego wird ihn früher oder später dazu bringen, seine Geheimnisse preiszugeben“, sagte sie, mit narzisstisch gestörten Persönlichkeiten hatte sie schon oft zu tun gehabt. „Er wird zeigen wollen, wie klug er ist.“

„Und, werden Sie sich alles anhören, selbst wenn er das Geheimnis um Daria Xiu zuerst lüftet?“ Seine Stimme hörte sich rau an, als hätte er in letzter Zeit zu wenig geschlafen.

Daria Xiu war der Grund, warum überhaupt eine J-Mediale hinzugezogen worden war, das wusste Sophia. Die Tochter eines einflussreichen Geschäftsmannes der Menschen war wahrscheinlich Bonners letztes Opfer. „Ja“, sagte Sophia, sie würde dem Detective einen Teil der Wahrheit enthüllen. „Bonner weicht genügend von der Normalität ab, um ein wertvolles Studienobjekt für unsere Psychologen abzugeben.“ Vielleicht weil sich das abnorme Verhalten des Schlächters der Park Avenue auch in statistisch relevanter Zahl bei Medialen gezeigt hatte … die nicht mehr völlig unter dem Einfluss von Silentium standen.

Der Rat glaubte, die Bevölkerung wisse nichts davon, und vielleicht war es auch so. Doch für eine J-Mediale wie Sophia, die ihr Leben lang immer tiefer in den Sumpf des Bösen vorgedrungen war, hatten die neuen Schatten im Medialnet eine fast fühlbare Struktur – dick und fett durchlöcherten sie gekonnt das neuronale Netzwerk.

„Und Sie selbst?“, fragte Max und maß sie mit einem solch intensiven Blick, dass es sich anfühlte, als würde er mit seiner raschen Auffassungsgabe Geheimnisse entschlüsseln, die sie über zwei Jahrzehnte gut verborgen hatte. „Was ist mit Ihnen?“

Das Andere in ihr erstarrte, wollte die ungeschminkte, tödliche Wahrheit preisgeben, aber jemand, der sein Leben wie Max Shannon der Gerechtigkeit verschrieben hatte, durfte das niemals erfahren. „Ich tue nur meine Arbeit.“ Dann fügte sie noch etwas hinzu, das eine perfekte Mediale niemals gesagt hätte. „Wir werden sie nach Hause holen. Niemand sollte für immer dort draußen im Dunkeln liegen.“

Max sah Sophia Russo nach, als sie mit den zivilen Beobachtern hinausging, er konnte den Blick einfach nicht von ihr lösen. Ihre Augen hatten es ihm angetan. Rivers Augen, hatte er gedacht, als sie hereingekommen war, sie hat Rivers Augen. Aber er hatte sich geirrt. Sophias Augen waren dunkler, tiefviolett, und so lebendig, dass er fast ihre weichen, vollen Lippen übersehen hätte. Hatte er aber dann doch nicht.

Er war wie vor den Kopf geschlagen.

Denn auch wenn sie Kurven hatte und Narben im Gesicht, hinter denen er gewalttätige Erlebnisse in ihrer Vergangenheit vermutete, war sie immer noch eine Mediale. Eiskalt und an einen Rat gebunden, der mehr Blut an den Händen hatte als Gerard Bonner. Dennoch … ihre letzten Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf.

Wir werden sie nach Hause holen.

Es hatte sich wie ein Schwur angehört. Aber vielleicht hatte er es auch nur so sehen wollen.

Als sie aus seinem Blickfeld verschwunden war, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Reuben zu, der bei ihm geblieben war. „Trägt sie immer Handschuhe?“ Das dünne schwarze Kunstleder verdeckte alles, was unter den Manschetten und den Ärmeln des Jacketts hätte hervorlugen können. Vielleicht hatte sie auch Narben auf den Händen und Handgelenken – doch Sophia Russo wirkte nicht wie jemand, der so etwas verstecken würde.

„Ja. Jedenfalls immer, wenn ich ihr begegne.“ Einen Augenblick lang zeigten sich nachdenkliche Falten auf der Stirn des Staatsanwalts, dann schien er seine Gedanken abzuschütteln. „Sie hat eine exzellente Beurteilung – musste bis jetzt noch nie abgezogen werden.“

„Bei dem Prozess hat sich ja gezeigt, dass Bonner schlau genug ist, sein Gedächtnis zu manipulieren“, sagte Max und sah zu, wie man den Gefangenen aus dem Vernehmungsraum führte. Der blauäugige Schlächter, den die Medien so mochten, starrte höhnisch lächelnd in die Kamera, bis sich die Tür hinter ihm schloss. „Selbst wenn der Typ in seinem Innersten nicht verdreht sein sollte, er kennt sich mit Pharmazeutika aus – hätte sich was beschaffen können.“

„Würde ich dem Scheißkerl sogar zutrauen“, sagte Bart, die Linien um seinen Mund waren tiefe Furchen. „Für Bonners nächsten kleinen Auftritt werde ich ein paar männliche J-Mediale anfordern.“

„Hat Xiu einen solchen Einfluss?“ Der Prozess von Gerard Bonner, Spross des Bostoner Geldadels und der sadistischste Mörder, den dieser Bundesstaat in den letzten Jahrzehnten erlebt hatte, hatte ein Hinzuziehen von J-Medialen unumgänglich gemacht, nachdem sich gezeigt hatte, dass die Erinnerungen des Verurteilten sich als unzugänglich erwiesen hatten.

„Psychopathen haben eine eigene Wahrheit“, hatte ein J-Medialer zu Max gesagt, nachdem er nichts Nützliches aus dem Kopf des Angeklagten hatte holen können.

„Zum Beispiel?“, hatte Max gefragt, den es frustrierte, dass ein Mörder mehrerer junger Frauen wieder einmal durchs Netz geschlüpft war.

„Den Erinnerungen Bonners zufolge hatte Carissa White einen Orgasmus, als er sie erstochen hat.“

Max schüttelte diesen Beweis der verdrehten Wirklichkeit in Bonners Schädel ab und sah Bart an, der eine gerade angekommene SMS auf seinem Handy las. „Xiu?“, riet er.

„Allerdings, scheint, als habe er hochrangige ‚Freunde‘ im Ministerium der Medialen. Sein Unternehmen machte mit ihnen Geschäfte.“ Bart steckte das Handy ein und schob seine Papiere zusammen. „Doch in diesem Fall ist er nur der gramgebeugte Vater. Daria war sein einziges Kind.“

„Ich weiß.“ Die Gesichter der Opfer hatten sich Max eingeprägt. Die einundzwanzigjährige Daria hatte ein unbekümmertes Lächeln, das ihre Zahnlücken zeigte, einen Schopf krausen schwarzen Haars und eine Haut wie glänzendes Mahagoni. Sie hatte nichts mit den anderen Opfern gemein – im Gegensatz zu den meisten pathologischen Mördern war es Bonner egal gewesen, ob seine Opfer weiß oder schwarz waren, lateinamerikanische oder asiatische Wurzeln hatten. Ihr Alter und eine bestimmte Art von Schönheit hatten ihn angezogen.

Max’ Gedanken kehrten zurück zu der Frau, die dem Mörder ohne ein Blinzeln in die Augen geblickt hatte, während er selbst sich dazu hatte zwingen müssen, zuzusehen und nicht einzugreifen. „Sie passt in sein Schema – Ms Russo, meine ich.“ Ihre Augen und ihre Narben machten sie einzigartig – ein wichtiger Aspekt in Bonners kranker Auswahl. Sein Ziel waren Frauen, die in der Menge nicht untergingen – die Gewalt, die aus Sophia Russos Narben sprach, wäre für ihn das Sahnehäubchen auf dem Kuchen gewesen. „Hattest du das arrangiert?“ Max’ Hand umklammerte den Stift, als er Bart beim Aufräumen half.

„Reines Glück.“ Der Staatsanwalt steckte die Papiere in die Aktentasche. „Als Bonner seine Kooperation anbot, haben wir den J-Medialen angefordert, der am nächsten war. Russo hatte gerade einen Fall hier abgeschlossen. Sie ist jetzt auf dem Weg zum Flughafen – ihr Ziel ist unser Zuhause.“

„Liberty?“, fragte Max – das Gefängnis der höchsten Sicherheitsstufe lag auf einer künstlichen Insel vor der Küste von New York.

Bart nickte, während sie den Raum verließen und zur ersten Schleuse gingen. „Sie soll dort einen Insassen treffen, der behauptet, ein anderer Gefangener habe ihm den bislang ungelösten grausamen Mord an einem hohen Tier gestanden.“

Max musste an das denken, was Bonner dem einzigen bislang aufgefundenen seiner Opfer angetan hatte, von der einst knabenhaften Schönheit Carissa Whites war nichts mehr übrig gewesen. Welche Bilder standen Sophia Russo wohl vor Augen, wenn sie nachts einschlief.

2

Nikita Duncan, Ratsfrau und eine der mächtigsten Frauen der Welt, las die biografischen Daten in dem ihr vorliegenden vertraulichen Dokument durch und hielt einen Moment inne, um das digitale Bild zu betrachten.

Der Mensch hatte unverwechselbare Züge. Hohe Wangenknochen und eine Haut, die auf eine komplexe Genstruktur schließen ließ. Den Augen nach musste ein Elternteil aus Zentralasien stammen. Doch das Aussehen von Max Shannon war Nikita im Grunde egal.

Sie interessierte etwas weit Wichtigeres – seine Gedanken.

3

Die Verbindung der Patientin zum Medialnet besteht nicht mehr aus einem einzelnen Strang – ihr Geist hat überlebt, indem sich ihr ganzes Bewusstsein im neuronalen Netzwerk verankert hat. Jeder Versuch, diese Verbindung zu lösen, würde ihre Persönlichkeit vollkommen zerstören und sie töten.

– aus der Krankenakte von Sophia Russo, minderjährig, Alter: 8

Als Sophia am nächsten Morgen das Gefängnis betrat, das paradoxerweise den Namen Liberty – Freiheit – trug, hatte sie seit vierundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen, was aber niemand vermutet hätte, der sie in ihrem schicken Aufzug sah und ihre klare Stimme hörte. Gleich nach ihrer Ankunft wurde sie ins Vernehmungszimmer geführt. Der zuständige Bezirksstaatsanwalt traf eine Minute später ein.

Und weitere fünf Minuten später beschäftigte sie sich schon mit Erinnerungen. Ganz anders als bei Bonner befand sich in dem Kopf dieses Gefangenen nichts weiter als über vierzig Jahre angesammelte Gewalt. Manche unerfahrenen J-Medialen verloren sich in einem solchen Durcheinander, aber Sophia hatte gelernt, Informationen sehr sorgfältig herauszufiltern. Sie begab sich auf direktem Weg zu den Erinnerungen des fraglichen Tages und griff sich nur die relevanten Minuten heraus.

Menschen neigten dazu, Medialen mit Misstrauen zu begegnen, J-Medialen ganz besonders, denn sie fürchteten, diese könnten sich ihrer Geheimnisse bemächtigen. Aber in Wahrheit hatte Sophia schon viel zu viel aus dem Leben anderer im Kopf. Sie wollte nichts mehr davon – erst recht nicht die Erinnerungen, um die man sie unweigerlich immer wieder bat. In all den Jahren waren ihr nur vier Unschuldige begegnet. „Ich habe es gefunden“, sagte sie zum Bezirksstaatsanwalt.

Er bat den Gefangenen und seinen Anwalt, auf ihn zu warten, und ging mit ihr in die Wartehalle vor dem Büro der Wächter. „Könnten Sie mir die Informationen senden?“

Sophia nickte. Diese spezielle Fähigkeit machte aus Telepathen J-Mediale. Die meisten Telepathen konnten Worte oder auch Bilder übermitteln, J-Mediale hingegen konnten nicht nur Erinnerungen aus Köpfen herausziehen, sondern sie auch als Gesamtpaket einem anderen schicken. Der Bezirksstaatsanwalt war ein Mensch und hatte keine Schilde. Das hätte unter anderen Umständen ein Handicap für ihn sein können, aber da er dem Rat weder Vorteile noch Nachteile brachte, wurden seine Gedanken auch nicht von Medialen unterwandert.

„Vielen Dank“, sagte er, nachdem die Übermittlung abgeschlossen war. „Das wirft ein anderes Licht auf die Vorgänge, nicht wahr?“

Sie antwortete nicht, er hatte zu sich selbst gesprochen. Selbst wenn die Frage an sie gerichtet gewesen wäre, hätte sie nichts gesagt. Sie versuchte gerade, die Erinnerungen zu „verdrängen“. Das war zwar vergebliche Mühe, aber manchmal gelang es ihr doch, sich ein wenig davon zu distanzieren.

Der Bezirksstaatsanwalt seufzte. „Ich möchte noch mit dem Zeugen und seinem Anwalt reden. Der Hubschrauber wird bald eintreffen, um Sie aufs Festland zurückzubringen.“ Er sah sich nach dem Wärter um.

„Gehen Sie nur“, sagte sie. „Der Ort ist ausgezeichnet bewacht. Mir wird schon nichts geschehen.“

„Sind Sie sicher?“ Ein besorgter Blick.

„Ich habe schon viel Zeit in Gefängnissen verbracht.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Nun gut, Sie haben ja die Nummer meiner Sekretärin. Rufen Sie an, wenn der Hubschrauber nicht in den nächsten zehn Minuten auftaucht.“

„Mach ich.“ Äußerlich ruhig nickte sie ihm zum Abschied zu und setzte sich. Man hätte sie eigentlich unter keinen Umständen allein lassen dürfen. Nicht etwa, weil ihr Körper sich in Gefahr befand. Das spielte keine Rolle, das hatte sie bereits dem Staatsanwalt erklärt. Zwischen ihr und dem nächsten Insassen lagen mindestens vier doppelt gesicherte elektronische Schranken aus Stahlgittern.

Es lag auch nicht daran, dass sie an diesem kalten, grauen Ort Angst bekommen würde.

Sie hatte unglaublich viele Augenblicke von Gewalt und Schmerz miterlebt, aber sie selbst spürte keine Furcht. Sie empfand gar nichts. Dafür sorgte Silentium, das den Wahnsinn der Medialen auf Eis gelegt hatte, ihre Gefühle aber ebenso. Doch bei Sophia funktionierte Silentium nicht so, wie es sollte. Und jeder wusste das. Die meisten Medialen wären in diesem Zustand längst rehabilitiert worden, aber sie war eine J-Mediale. Diese Kategorie war so selten und so notwendig, dass man ihnen ein paar … Eigenheiten gestattete.

Doch selbstverständlich hätte man J-Mediale nie an dermaßen „verfänglichen“ Orten allein lassen dürfen.

Das Böse ist schwer zu definieren, aber es sitzt in diesem Raum.

Die Erinnerung an Max Shannons harte Worte hielt sie einen Augenblick lang auf. Würde er das hier für böse halten? Könnte schon sein. Aber da sie diesem Mann, der in ihr einen Moment lang den Wunsch geweckt hatte, etwas Besseres zu sein, wohl nie mehr über den Weg laufen würde, konnte sie auch nicht zulassen, dass er ihr Handeln bestimmte. Denn obwohl das, was sie gleich tun würde, in keiner offiziellen Jobbeschreibung stand, hielt sie es wie alle J-Medialen für einen Teil ihres Auftrags.

Vier Minuten später erklang der erste Schrei. Er war schrill und durchdringend, aber niemand hörte ihn. Denn der Mann schrie lautlos, sein Geist war in einem Gefängnis gefangen, das stärker war als der Kunstbeton und Mörtel, der seinen Körper umgab.

Gleichzeitig mit dem Schrei bewegte er sich. Er knöpfte die Hose auf und ließ sie zu Boden gleiten, ging mit schlurfenden Schritten zum Schreibtisch, den ihm sein Anwalt besorgt hatte und zog etwas aus einem Hohlraum im Tischbein. Der Gefangene sei ein gelehrter Mann, hatte der Anwalt argumentiert, es sei grausam und sehr unüblich, ihn dadurch noch mehr zu bestrafen, dass er nicht schreiben und seine Forschungen fortführen könne. Dabei hatte der Anwalt aber vergessen, das kleine, hilflose Opfer zu erwähnen, dass der Gelehrte in einem Hundezwinger festgehalten hatte und dem nicht einmal die grundlegendsten menschlichen Bedürfnisse zugestanden worden waren.

Doch im Augenblick lag es dem Gefangenen fern, an die Annehmlichkeiten zu denken, die er sich verschafft hatte. Seine Hand schloss sich fest um ein Werkzeug, er brabbelte unverständlich vor sich hin, hatte keinen eigenen Willen mehr. Das Werkzeug schnitt in das weiche weiße Fleisch seines Bauches, und dem Mann wurde plötzlich klar, was er tat.

Blut tropfte auf den Boden – es dauerte eine Weile, bis das Werk getan war, denn das Werkzeug war nur eine Art Messer aus dem Griff einer Zahnbürste, den er auf heimlich beschafften Steinen glatt geschliffen hatte, bis er beinahe so scharf wie … ein richtiges Messer war.

Die Amputation war sehr schmerzhaft.

Und lange vorbei, als ein kleiner, vierschrötiger Mann mit schwarzem Haar, das mit einem Hauch von Silber durchzogen war, in die Wartehalle kam. „Tut mir leid wegen der Verspätung, Ms Russo. Ihr Hubschrauber ist schon vor fünf Minuten gelandet, aber ich konnte nicht sofort jemanden entbehren, der sie hinbringt – ein paar Gefangene haben im Hof eine Rauferei angefangen.“

Sophia stand auf, die Aktentasche in der Hand. „Schon in Ordnung, Warden.“ Das Andere in ihr zog sich zurück, die Aufgabe war beendet. „Ich kann den Zeitplan immer noch einhalten.“

Warden Odess begleitete sie durch die erste Sicherheitsschranke. „Das ist jetzt Ihr dritter Besuch in diesem Monat, habe ich recht?“

„Ja.“

„Kommen Sie voran mit dem neuen Fall?“

„Ja.“ Sie passierten die zweite Schranke und näherten sich dem letzten Tor. „Die Ankläger glauben fest an einen Erfolg.“

„Mit Ihnen haben sie ja auch ein Ass im Ärmel. Muss schwer sein, den Unschuldigen zu spielen, wenn Sie in den Erinnerungen kramen.“

„Stimmt“, sagte Sophia. „Aber es wird bei diesen Fällen häufig auf Wahnsinn plädiert oder verminderte Zurechnungsfähigkeit.“

„Kann ich mir vorstellen. Sie können doch in die Köpfe hineinsehen, nicht wahr? Wissen Sie denn immer, was die so denken?“

„Nur wenn es sich auf Äußerungen oder Taten bezieht“, sagte Sophia. „Bei jedem Hauch von Zweideutigkeit ist es ein weites Feld.“

„Und die Verteidigung argumentiert natürlich, dass alles anders ist, als es erscheint.“ Der Beamte schnaubte und trat hinaus in das blendende Licht eines späten Wintertages. Sophia blinzelte. Die Sonne schien viel zu hell, schnitt wie Glassplitter in ihre Augen.

Odess sah sie an. „Ist wohl Zeit, sich wieder mal hineinzubegeben.“

Die meisten Leute wussten nicht, dass J-Mediale nur einen Monat arbeiteten und sich dann in das nächste Rehabilitationszentrum begaben, um ihre Konditionierung überprüfen zu lassen. Aber Odess war schon über zehn Jahre dabei. „Woher wissen Sie das immer?“, fragte sie, denn sie hatten schon öfter zusammengearbeitet.

„Ihre Frage ist schon die Antwort.“

Sie legte den Kopf leicht schräg und sah ihn fragend an.

„Sie verhalten sich immer menschlicher“, sagte er, und in seinen dunklen Augen stand eine Sorge, die sie nie verstehen würde. „Am Anfang, wenn Sie gerade von da zurückkommen, geben Sie nur kurze, knappe Antworten. Und nun … haben wir uns richtig unterhalten.“

„Genau beobachtet“, sagte sie, auch das Neigen des Kopfes war ein Zeichen für Desintegration. „Vielleicht können wir die Unterhaltung dann in einem Monat fortsetzen.“ So lange würde es dauern, bis die Konditionierung sich wieder abzuschwächen begann.

„Bis dann also.“

Sophia ging ohne Eile zu dem wartenden Hubschrauber. Sie traf rechtzeitig in Manhattan ein, genau in dem Moment, als der blutende Mann in seiner Zelle entdeckt wurde.

Max hatte die Nacht damit verbracht, die Akten im Fall Bonner noch einmal durchzugehen, es bestand immerhin eine verschwindend kleine Chance, dass der Mistkerl irgendwann doch den Fundort einer Leiche preisgegeben hatte. Allerdings war es auch so, dass Max jedes Detail der Aussagen des Schlächters auswendig kannte und nie mehr aus dem Kopf bekommen würde, er wollte nur sicher sein können, dass er sich wirklich auf seine Erinnerungen verlassen konnte. Die vielen Toten, ihre Schmerzen und die Arroganz des Mannes, der ihnen das Leben genommen hatte, hatten ihn nicht gerade in die beste Stimmung für das gebracht, was nur ein Medialenscherz sein konnte.

„Commander“, sagte er zu dem Medialen mit den aristokratischen Gesichtszügen, der die New Yorker Polizei leitete, „kann ich offen reden –?“

„Das tun Sie doch fast immer, Detective Shannon.“

Bei den meisten Menschen und Gestaltwandlern hätte Max hinter dieser Aussage so etwas wie trockenen Humor vermutet. Aber Commander Brecht war ein Medialer. Ein Vergewaltigungsopfer würde er mit demselben kühlen Blick messen wie einen vorbeirasenden Amokschützen.

„Dann“, sagte Max und massierte sich mit zwei Fingern die Nasenwurzel, „werden Sie sicher auch verstehen, warum ich mich frage, was um alles in der Welt Sie dazu bewogen hat, mich auf diesen Fall anzusetzen. Die Medialen hassen mich.“

„Hass ist ein starkes Gefühl“, sagte Commander Brecht, der neben einem altmodischen Aktenschrank stand, der auf welchem Wege auch immer allen Modernisierungsversuchen getrotzt hatte. „Sie sind eher unbequem.“

Max spürte, wie sich seine Lippen zu einem freudlosen Lächeln verzogen. Man konnte Brecht auf jeden Fall kaum vorwerfen, nicht den Nagel genau auf den Kopf zu treffen. „Da haben Sie sicher recht.“ Er verschränkte die Arme vor dem frischen weißen Hemd, das er zu einem Termin vor Gericht angezogen hatte. „Und warum möchten Sie, dass jemand Unbequemes die Untersuchung eines medialen Falls leitet?“ Mediale schotteten sich vollkommen ab. Behielten ihre Geheimnisse für sich, während sie die von anderen ununterbrochen ohne Gewissensbisse stahlen. Das wurmte ihn höllisch, aber er konnte nichts weiter tun, als seinen Job zu erledigen. Manchmal gelang ihm trotz ihrer Einmischung ein kleiner Sieg – das machte dann alles wieder wett.

„Sie haben einen natürlichen Schutzschild“, sagte Commander Brecht ohne Umschweife. „Die Tatsache, dass Sie auf diese Weise immun gegen Eingriffe von Medialen sind, könnte sich als Hindernis für Ihre Laufbahn erwiesen haben –“

Max schnaubte. Bei seiner Aufklärungsrate und den Testergebnissen hätte er es längst zum Lieutenant bringen müssen. Aber das würde nie geschehen – die Medialen hatten alle wichtigen Stellen bei der Polizei inne, und seine Fähigkeit, sich gegen jegliche Einflussnahme zu wehren und die Fälle nach eigenem Gutdünken anzugehen, machten ihn zu einer potenziellen Gefahr auf jeder Position, die mit Einfluss verbunden war.

„Was ich sagen wollte“, fuhr der Commander fort, dessen Haar golden in dem matten Licht glänzte, das durch ein kleines Fenster hereinfiel. „Es mag zwar Ihrer Beförderung im Weg stehen, kann aber andererseits auch durchaus von Vorteil sein.“

„Dem möchte ich nicht widersprechen.“ Anders als die meisten Menschen musste sich Max keine Sorgen machen, dass er einen Fall zu früh abschloss oder etwas übersah, weil irgendwer unbemerkt Druck auf ihn ausübte – viele gute Polizisten waren schon zusammengebrochen, weil sie den immerwährenden Zweifel nicht ertrugen, ihre Schlussfolgerungen seien ihnen aufgezwungen worden. Das sagte er auch Brecht. „Ohne den Schild wäre ich Privatdetektiv geworden – war nicht gerade scharf darauf, dass mir jemand hier im Kopf herumwühlt.“

Der Commander trat an seinen Schreibtisch. „Die New Yorker Polizei profitiert von Ihrer Entscheidung zu bleiben – Sie haben die höchste Aufklärungsrate der Stadt. Und Sie sind – wie die Menschen es ausdrücken würden – stur wie ein Maultier.“

Man hatte Max auch schon öfter einen Rottweiler genannt. Er hatte es immer als Kompliment gesehen. „Das beantwortet immer noch nicht meine Frage, warum Sie mich auf diesen Fall angesetzt haben.“ Medialenfälle gingen immer an mediale Polizisten.

Das war Max eigentlich egal – zumindest solange nur Mediale beteiligt waren. Aber er konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn Menschen und Gestaltwandler übers Ohr gehauen wurden, weil ein Medialer mit daran beteiligt war. „Die Sache mit Bonner –“

„Steckt fest, dem Bericht zufolge, den Sie gestern Abend eingereicht haben. Sie warten erst einmal ab, trifft das zu?“

Max löste die Arme und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Ich muss sofort zur Stelle sein, falls er doch noch redet – niemand kennt den Fall so gut wie ich.“ Und obwohl er den Schlächter dingfest gemacht hatte, war seine Aufgabe noch nicht erfüllt – das würde sie erst sein, wenn er jedes Mädchen zu ihren Eltern gebracht und ihrer Familie den Frieden verschafft hatte, ihr Kind anständig zu begraben.

Bis zu diesem Tag würde er den schmalen Körper von Carissa Whites Mutter spüren, die in seinen Armen zusammengebrochen war. In einer schneekalten Winternacht war er zu der schmucken kleinen Villa gegangen, die Carissa noch zwei Wochen zuvor mit glitzernden Lichterketten geschmückt hatte. Mrs White hatte ihm lachend die Tür geöffnet. Später hatte sie sich an seine Jacke geklammert und ihn angefleht, ihr zu sagen, dass es nicht wahr sei und dass Carissa noch lebe.

Und noch später hatte sie ihn gebeten, ihr etwas zu versprechen. Finden Sie ihn. Finden Sie die Bestie, die ihr das angetan hat.

Er hatte sein Versprechen gehalten. Den anderen Eltern hatte er auch etwas versprochen.

Niemand sollte ewig dort draußen im Dunkeln liegen.

„Das wird kein Problem sein.“ Brechts Stimme unterbrach die Erinnerung an die Worte einer anderen Medialen – die so sehr im Gegensatz zu ihrer eisigen Ausstrahlung standen, dass Max ununterbrochen an sie denken musste.

„Der Fall, an dem Sie arbeiten sollen, hat höchste Priorität, lässt aber genügend Freiraum, um nach New York zurückzufliegen, falls es im Bonner-Fall nötig werden sollte.“ Brecht setzte sich hinter den Schreibtisch. „Setzen Sie sich, Detective.“ Max zögerte. „Ihre Fixierung auf Bonner hätte in dem Augenblick ein Ende finden müssen, als Sie einen Psychopathen gefangen nahmen, der ohne jeden Zweifel sonst weitergemordet hätte. Wenn Sie jetzt weiter an dem Fall kleben, machen Sie sich nur unnötige Sorgen, während er es sich hinter Gittern gut gehen lässt.“

Max hob eine Augenbraue. „Haben Sie mit unserem Seelenklempner gesprochen?“

„Ich bin zwar ein Medialer, aber ich war auch mal Detective.“

Max hatte sich die Fallberichte angesehen, Brecht war ein teuflisch guter Polizist gewesen. Darum nahm er das Angebot an und setzte sich.

„Was ich Ihnen jetzt sagen werde, muss unter uns bleiben, selbst wenn Sie den Auftrag nicht übernehmen.“ Brechts Augenfarbe war ein blasses Blaugrau, wie Eis auf Stahl. „Geben Sie mir Ihr Wort darauf?“

„Das ist Sache der Polizei und geht nur die Polizei etwas an.“ Abgesehen von allem anderen glaubte er immer noch an sein Abzeichen, daran, dass sie Gutes taten.

Brecht nickte zustimmend. „In den letzten drei Monaten hat Ratsfrau Nikita Duncan –“

Eine Ratsfrau?

Das war ja hochinteressant.

4

„– drei ihrer Berater auf drei sehr verschiedene Arten verloren. Einer starb an einem Herzinfarkt, die zweite bei einem Verkehrsunfall und der dritte hat anscheinend Selbstmord begangen.“

Max spürte ein Ziehen im Magen, als der Polizist in ihm geweckt wurde. „Könnte sich auch um Zufall handeln.“

„Glauben Sie an Zufälle, Detective?“

„Genauso wenig wie an die Zahnfee.“

Der Commander nickte. „Ratsfrau Duncan geht es ebenso. Sie möchte, dass Sie herausfinden, wer hinter ihren Leuten her ist und warum.“

„Sie lebt in San Francisco“, sagte Max, sein siebter Sinn sagte ihm, dass hinter dieser einfachen, aber dennoch unerklärlichen Bitte, einen Menschen mit einem medialen Fall zu betrauen, weit mehr stecken musste. Aber er würde seinen Vorgesetzten nicht sofort festnageln – es gab bessere Möglichkeiten, sich die gewünschten Informationen zu beschaffen. „Die Polizei da unten wird sich bedanken, wenn ich ihr auf die Füße trete.“

„Sie bekommen den Status eines Sonderermittlers, der landesweit tätig werden kann. Ein ganz normaler Vorgang in Fällen, in denen Ermittler mit besonderen Fähigkeiten gebraucht werden.“

Das entsprach der Wahrheit. Aber etwas anderes war auch nicht von der Hand zu weisen. „Ich habe gehört, die Medialen hätten für solche Fälle eine Spezialtruppe. Würde ein Ratsmitglied“ – insbesondere wenn es so viele Geheimnisse hatte wie Ratsfrau Duncan – „sich nicht eher an diese Leute wenden?“

„Normalerweise schon.“ Der Commander legte einen kleinen Datenkristall auf den Tisch, um Max’ Neugier anzuregen, die ihn zu einem Polizisten machte, der immer, wirklich immer, die entsprechenden Antworten fand. „Doch die Pfeilgarde steht loyal hinter einem anderen Ratsmitglied, und falls dieser Ratherr hinter den Anschlägen steckt, wird Ratsfrau Duncan über die Gardisten nie die Wahrheit erfahren. Ihre eigenen Leute verfügen nicht über die notwendigen Fähigkeiten, um sich der Sache anzunehmen.“

Max rekapitulierte, was er über Nikita Duncan wusste. Sie war eine gestandene Geschäftsfrau, die ununterbrochen ihr Vermögen vervielfachte – doch im Gegensatz zu den Ratsherren Ming LeBon oder Kaleb Krychek war ihr Name nie in Verbindung mit militärischen Operationen aufgetaucht. Es konnte also stimmen, dass sie nicht die entsprechenden Ressourcen hatte, wenn die Pfeilgarde nicht zur Verfügung stand.

„In Ordnung“, sagte er und kniff die Augen zusammen. „Aber abgesehen von meinem Schild muss es doch noch andere Gründe geben, warum die Ratsfrau gerade mich angefordert hat. Welche speziellen Fähigkeiten habe ich denn?“ Er war verdammt gut, aber es gab sicher auch hervorragende Polizisten in San Francisco.

„Sie sollten Ihren Schild nicht so einfach abtun“, antwortete der Commander. „Ein Schild mit einer solchen Kraft ist mir nur selten bei einem Menschen begegnet.“ Quasi die Bestätigung, dass Mediale schon öfter versucht hatten, den Schild zu durchdringen. „Doch Sie haben recht. Es gibt noch einen anderen Grund – Sie haben Freunde im DarkRiver-Leopardenrudel. Ratsfrau Duncan ist der Meinung, das könnte Ihnen die Ermittlungen in der Stadt erleichtern.“

Kälte kroch Max in die Knochen. Clay Bennett, der Gestaltwandler, den Max am besten kannte, war ein harter Hund. Max traute es den Leoparden durchaus zu, ihre Gegner Stück für Stück aus der Welt zu schaffen – schließlich waren sie Raubtiere. Aber – „Ist die Tochter von Ratsfrau Duncan nicht die Gefährtin von Lucas Hunter, dem Alphatier der DarkRiver-Leoparden?“ Sascha Duncans Abkehr von der Welt der Medialen hatte Schlagzeilen gemacht.

„Ja, aber sie haben den persönlichen Kontakt abgebrochen.“

Max nickte, das wusste er, dennoch beruhigte es ihn, dass Sascha Duncan mit Lucas zusammen und damit ein Teil des Rudels war. Denn die Katzen waren zwar Raubtiere, hielten aber viel von Familie. Er glaubte nicht, dass sie sich heimlich an Nikitas Leuten vergriffen. „Wenn ich ermitteln soll“, sagte er, etwas anderes kam jetzt gar nicht mehr infrage, seine Neugier war geweckt, „werde ich ungehinderten Zugang zu allen Informationen brauchen. Ich kann nicht vernünftig arbeiten, sollte die Ratsfrau ihre Leute angewiesen haben, mich an bestimmten Stellen auflaufen zu lassen.“

„Das ist ihr klar.“ Brecht nahm den Datenkristall und hielt ihn Max hin. „Hier sind die nötigen Hintergrundinformationen. Sie können sich sicher vorstellen, dass Sie auch mit Geheimmaterial in Berührung kommen werden. Deshalb wird Ihnen ein medialer Partner zur Seite gestellt, der Sie bei den medialen Aspekten der Ermittlungen unterstützen soll und bestimmte Daten herausfiltern wird.“

Max war klar gewesen, dass man einen medialen Berater hinzuziehen würde, aber der zweite Teil der Aussage brachte ihn dazu, die Faust um den Kristall zu schließen. „Wie zum Teufel soll er denn wissen, was relevant ist und was nicht?“

„Sie“, sagte der Commander, „wird sehr eng mit Ihnen zusammenarbeiten.“

„Das ändert nichts an der Fragestellung – welche Qualifikation hat diese ‚Partnerin‘, um solche Entscheidungen zu fällen?“ Er war nicht nur gewohnt, allein zu arbeiten, diese Art der Ermittlung gefiel ihm auch am besten.

„Sie ist eine J-Mediale“, sagte der Commander. „Vor zwölf Jahren ist sie eingestiegen. Damals war sie sechzehn.“

Eine Ahnung kribbelte in Max’ Nacken. „Wie heißt sie?“

„Sophia Russo.“

Die Reaktion kam sofort – ein Bild flammte vor ihm auf: Augen, die einen verfolgten, in einem von Gewalt gezeichneten Gesicht, eine Stimme, die Worte sagte, die sie nicht sagen durfte, und ein Körper, der in ihm das Verlangen weckte, das Eis daraus zu vertreiben. Er überlegte gerade, ob das möglich wäre, als ihm aufging, was Brecht gerade gesagt hatte. „Zwölf Jahre aktiv? Die meisten J-Medialen halten nicht so lange durch.“

In den elf Jahren als Polizist hatte er zwanzig oder mehr von ihnen bei der Arbeit erlebt. Alle waren in den Ruhestand gegangen, bevor sie dreißig waren, und er hatte nie wieder einen von ihnen zu Gesicht bekommen, wie ihm jetzt bewusst wurde. Im Grunde nicht ungewöhnlich, denn Mediale schickten nun mal keine Weihnachtskarten. Nicht ein einziger war in einer anderen Position im Justizsystem aufgetaucht – entweder gab es eine Art Rentenplan oder … Die Mitleidlosigkeit, mit der der Rat sein Volk behandelte, ließ ihn an Möglichkeiten denken, bei denen ihm das Blut in den Adern gefror. Sophia Russo war zwölf Jahre dabei. Sie musste bald das „Rentenalter“ erreicht haben.

Der Commander reagierte nicht auf die Frage, die hinter Max’ Worten steckte, er erzählte ihm nicht, was mit J-Medialen am Ende ihres Arbeitslebens geschah. „Ms Russo hat viel Erfahrung in der Zusammenarbeit mit Menschen – sie wird Ihnen eine in jeder Hinsicht zufriedenstellende Partnerin sein.“ Der Commander machte eine Pause. „Ich brauche heute noch Ihre Antwort.“

Max ließ den Datenkristall durch seine Finger gleiten. Verdammt noch mal, wie kam er überhaupt darauf, auch nur in Erwägung zu ziehen, für Mediale zu arbeiten oder das zu tun, was auch immer hinter der geheimnisvollen Anfrage Nikita Duncans steckte? Aber wenn man diese ganzen Aspekte einmal wegließ, blieb immer noch eine Sache übrig: Er war Polizist. Und Nikita Duncan war eine Bürgerin dieses Staates. „Ich bin einverstanden.“

Sophia saß dem für sie zuständigen M-Medialen im Pittsburgher Rehabilitationszentrum gegenüber. Ihre Hände lagen ruhig auf dem Tisch, in ihren Augen lag Gleichmütigkeit.

„Ich habe hier den Bericht über einen Zwischenfall im Liberty“, sagte der M-Mediale.

Darauf fiel sie nicht herein. Sie würde nicht antworten, denn er hatte ihr keine Frage gestellt.

„Haben Sie irgendetwas damit zu tun?“

„Um was für einen Zwischenfall handelt es sich?“

Der M-Mediale schaute in seine Notizen. „Ein Päderast hat sich etwas angetan.“

Es fiel ihr leicht, keinerlei Regung zu zeigen – seit sie im Alter von acht Jahren der Euthanasie überantwortet werden sollte, hatte sie sich darin geübt. „Handelt es sich um einen Menschen?“

„Ja.“

„Vielleicht hat er Reue empfunden“, schlug sie vor, obwohl sie wusste, dass die Kreatur in der Zelle nur dazu fähig war, sich selbst zu bemitleiden, weil man sie erwischt und eingesperrt hatte. „Menschen haben nun einmal Gefühle.“

„Für Reue gab es keinerlei Anzeichen.“

Den Gefängnispsychiater hatte er wenigstens nicht an der Nase herumführen können. „Hat er sich dazu geäußert?“

Der M-Mediale schüttelte den Kopf. „Nur unverständliches und zusammenhangloses Zeug.“

„Dann wird man nie erfahren, ob es Reue war“, stellte sie ohne jede Erregung fest. Vielleicht hätte sie Schuldgefühle haben müssen, aber sie war in Silentium. Sie fühlte nichts. Doch sie wusste, was der Gefangene getan hatte, kannte die schrecklichen Einzelheiten dessen, was er einem jungen, noch ungeformten Geist angetan hatte. Nachdem sie diese aus der Psyche des kleinen Jungen geholt hatte, hatte Sophia das Wissen in seinem Kopf begraben. Die Lücke von einer Woche würde sich erst wieder auftun, wenn er alt und stark genug war, die Erinnerung daran zu ertragen.

Leider funktionierte das nicht bei Kindern, die mit den Fähigkeiten eines J-Medialen geboren wurden. Sonst wäre ihr Leben vielleicht anders verlaufen … vielleicht.

Der M-Mediale tippte etwas ein. „Es ist der dritte Zwischenfall während der letzten drei Jahre, bei dem Sie sich in der Nähe befanden.“

„Ich muss oft in Gefängnisse“, antwortete Sophia, obwohl sie in Gedanken in einem ganz anderen Zimmer in einer nur zu bekannten Hütte war, bei dem, was sich dort vor zwanzig Jahren zugetragen hatte. „Das erhöht die Chance, bei einem solchen Zwischenfall in der Nähe zu sein.“

„Das Management hat beschlossen, Sie zur Rekonditionierung zu schicken.“ Der M-Mediale hielt ihr den elektronischen Notizblock hin und zeigte ihr die Anordnung. „Insbesondere, da Sie mit Gerard Bonner in Kontakt waren.“

„Ich habe nichts dagegen.“ Sie würden ordentlich in ihr herumwühlen, aber nichts finden. Das wusste Sophia genau. Zwar konnten weder Teile noch das gesamte Gedächtnis eines J-Medialen gelöscht werden, aber wenn man seinen Lebensunterhalt damit verdiente, die Erinnerungen anderer ans Licht zu bringen, fiel es einem nicht schwer, die eignen mit einem dichten Nebel zu umgeben, wenn es notwendig war. „Könnten wir das gleich heute machen? Ich muss morgen früh als Zeugin bei einem Prozess erscheinen.“

Völlige Rekonditionierung – Rehabilitation genannt – machte einen zu hirnlosem Gemüse. Doch die einfache Rekonditionierung, die Sophia nun schon viele Male hinter sich hatte, war in wenigen Stunden abgeschlossen. Nach ein paar Stunden Schlaf würde sie bei Sonnenaufgang wieder voll funktionsfähig sein.

Der M-Mediale sah in seinen Terminkalender. „Wir könnten Sie um sechs Uhr einschieben.“

Damit würde sie wieder mehrere Stunden ihres Lebens verlieren, in denen sie in einem halb bewusstlosen Zustand dahindämmerte – und gleichzeitig lief ihr die Zeit rasend schnell davon. Doch laut sagte sie nur: „Wunderbar.“

„Da ist noch etwas anderes.“

Sophia sah überrascht hoch. „Bitte?“

„Das Management hat einen neuen Auftrag für Sie.“ Er schickte ihr die Akte auf den Organizer. „Sie werden als Sonderberaterin für Ratsfrau Duncan arbeiten.“

Das war der erste Schritt, dachte Sophia, damit hatte sie schon gerechnet. J-Mediale, die zu viele Risse zeigten, wurden langsam ausgemustert. Wenn sie dann vollkommen von der Bildfläche verschwunden waren, erinnerte man sich nicht einmal mehr an ihren Namen. Niemandem fiel es dann noch auf, wenn ein J-Mediale nie wieder auftauchte. „Was soll ich tun?“

„Ratsfrau Duncan wird Sie darüber unterrichten – morgen um eins sollen Sie bei ihr erscheinen. Das müssten Sie schaffen, der Gerichtstermin liegt ja früh genug.“ Der M-Mediale erhob sich. Zögerte. „Eigentlich dürfte ich Ihnen das gar nicht sagen, aber Sie sollten sich Zeit nehmen, Ihre Angelegenheiten zu ordnen.“

Sophia wartete ab. Die ungewohnten Worte konnten eine Falle sein.

Der nächste Satz gab ihr die Antwort auf die Fragen, die schon seit ein paar Monaten in ihrem Kopf kreisten. „Das ist Ihre letzte Rekonditionierung – Ihre telepathischen Schilde sind zu stark angegriffen, als dass noch eine weitere möglich wäre.“ Er sah sie aus kühlen grünen Augen an. „Haben Sie mich verstanden?“

„Ja.“ Wenn sie sich das nächste Mal in ein Rehabilitationszentrum begab, würde nur eine Hülle mit leerem Blick von ihr übrig sein.

5

Das Kind ist fundamental geschädigt. Jeder Versuch, es zu retten, würde geraume Zeit und Mittel erfordern, wobei ein positives Ergebnis nicht garantiert werden kann.

– aus der Krankenakte von Sophia Russo, minderjährig, Alter: 8

Nur vierundzwanzig Stunden nach dem Gespräch mit Commander Brecht verließ Max die Ankunftshalle des Flughafens in San Francisco, in einer Hand eine Tasche und in der anderen einen stabilen Käfig mit einem ziemlich aufgebrachten Kater. Ein Kater, der so herzzerreißend maunzte, dass die Umstehenden Max mit einem Blick aus zusammengekniffenen Augen bedachten, der sonst Leuten vorbehalten war, die ihren Hund schlugen oder ihr Pferd bis zum Umfallen antrieben.

„Max.“

Er blickte auf und sah sich einer wohlbekannten Gestalt mit lohfarbenem Haar gegenüber. Max stellte Tasche und Käfig ab, zog Talin in seine Arme und küsste sie auf den Mund. „Du siehst verdammt gut aus, Tally.“ Sie strahlte vor Gesundheit, die Sommersprossen hoben sich golden von der Haut ab, die trotz des kalten Januars noch immer leicht gebräunt war.

Das plötzlich einsetzende Knurren stammte von dem dunkelhäutigen Mann mit den grünen Augen, der neben ihnen stand. „Ein Mal ist in Ordnung. Beim nächsten Kuss machst du mit dem Boden Bekanntschaft.“

Grinsend gab Max Talin wieder frei und streckte die Hand aus. „Freut mich auch, dich zu sehen.“

Clay schlug ein. „Hallo, Bulle.“ Dann sah er zu Max’ Füßen hinunter.

Erst jetzt fiel Max auf, dass Morpheus keinen Laut mehr von sich gab, seit sie sich dem Paar genähert hatten. Er sah ebenfalls nach unten, ein schwarzer Ball mit gesträubtem Fell starrte Clay an. „Er versucht wahrscheinlich herauszufinden, welche Art Katze du bist.“

Talin bückte sich und steckte die Hand zwischen die Gitterstäbe, um das Tier zu streicheln.

„Lieber nicht“, sagte Max warnend. „Er beißt.“

„Wenn er Tally beißt“, sagte Clay, dessen Augen auf einmal nicht mehr die eines Menschen waren, „werde ich ihm meine Zähne zeigen.“

„Hört schon auf“, sagte Tally und strich Morpheus sanft über die Stirn. „Er ist nur sauer, weil er eingesperrt ist, nicht wahr, mein Schöner?“ Sie sah Max an und sagte im Bühnenflüsterton: „Clay wird auch unleidlich beim Fliegen.“

„Pass bloß auf“, grummelte Clay, aber seine Mundwinkel zuckten, und Max musste auch grinsen. Der Kerl war wirklich hin und weg von ihr.

„Ich bin froh, dass du ihn mitgebracht hast.“ Talin erhob sich. „Er hätte dich bestimmt vermisst.“

„Nee – der hätte schon einen anderen Trottel gefunden, der ihn mit Futter versorgt“, sagte Max. Der ehemalige Straßenkater war so überlebenstüchtig wie die sprichwörtliche Ratte auf dem sinkenden Schiff. „Aber ich weiß nicht, wie lange das hier dauern wird, und da habe ich mir gedacht, Morpheus könnte sich ruhig ein wenig in der Welt umsehen.“ Er nickte Clay zum Dank zu, als dieser den Koffer nahm, und ergriff selbst den Käfig. „Schön, dass ihr mich abholt.“

„Ich war dafür, dich sitzen zu lassen“, grummelte Clay.

Talin hakte sich bei Max unter. „Nimm’s ihm nicht übel. Heimlich mag er dich.“

„Ganz, ganz heimlich.“ Max’ Herz zog sich auf angenehme Weise zusammen, denn Talin wirkte so glücklich. Die Ermittlungen im Fall einiger vermisster Kinder hatten sie einander nähergebracht, aber auch schon vorher hatten sich ihre Wege in New York gekreuzt. Talin kümmerte sich damals um Kinder aus schwierigen Verhältnissen, die von der Polizei aufgegriffen worden waren.

Doch das allein war es nicht. Talin und ihn verband etwas so Selbstverständliches, dass sie nicht darüber sprechen mussten. Beide hatten als Kind unter staatlicher Fürsorge gestanden und wussten genau, welche Narben davon zurückbleiben konnten. Wer das nicht selbst erlebt hatte, konnte es auch nicht richtig verstehen.

Mit Clay war es etwas anderes. Max wusste nichts von der Vergangenheit des großen Wächters, dennoch färbte die Verbindung mit Talin langsam auch auf ihren Gefährten ab. Bei dem letzten Besuch der beiden in Manhattan war Max mit ihnen essen gegangen und hatte sich mit dem Leoparden nach allen Regeln der Kunst die Nase begossen. Talin hatte sie unter der Drohung, sie würde ihnen das Fell abziehen, nach Hause ins Hotel gelotst, Clay dort sofort ins Bett gesteckt – und Max befohlen, sich nicht von der Couch wegzurühren.

Er musste grinsen, als ihm einfiel, dass sie am Morgen zur Strafe laute Rockmusik angestellt hatte, und blickte auf die lodernde Mähne hinunter. „Wisst ihr, wo die Wohnung liegt?“

„In der Nähe von Fisherman’s Wharf“, sagte Talin. „Unweit des Duncan-Towers. Nette Gegend – viele Geschäfte.“

Clay sah ihn an, nachdem er die Tasche in den Kofferraum gestellt hatte. „Willst du uns nicht sagen, was du für Saschas Mutter erledigen sollst?“ Clays Augen waren wieder die eines Menschen – und blickten so scharfsinnig, wie man es von einem der Top-Leute der DarkRiver-Leoparden erwarten konnte.

„Tut mir leid, ich kann nicht. Noch nicht.“ Max stellte den Käfig auf den Rücksitz. „Vielleicht, wenn ich genauer weiß, um was es geht.“ Er setzte sich neben den immer noch stillen Kater, schnallte sich an, während Talin und Clay ebenfalls einstiegen. Aber … „Was zum –“ An seinem Oberschenkel spürte er etwas und hob eine komische Puppe mit pinkfarbenem Haar und Gelenken an den unmöglichsten Stellen hoch.

Talin drehte sich um. „Ein Metamorphus. Die verwandeln sich in Tiere.“

„Aha.“ Er spielte an der kleinen Puppe herum, entdeckte den Mechanismus und schwupp, hielt er einen rosafarbenen Wolf in Händen. „Wie die Gestaltwandler.“

„Genau. Clay kauft Noor dauernd welche, obwohl sie bestimmt schon mehr als ein Dutzend hat.“ Sie ergriff die Hand ihres Gefährten, neckte ihn aber weiter. „Ein Blick aus den großen braunen Augen, und er schmilzt dahin.“

Clay zog ihre Hand an seinen Mund und küsste sie. „Wenn ich wegen deiner großen grauen Augen dahinschmelze, beklagst du dich nie.“

„Clay!“ Talin errötete, warf ihrem Gefährten aber dennoch eine Kusshand zu. Durch dieses Zwischenspiel ein wenig entspannter, sah Max nach, ob es dem ungewöhnlich stillen Kater noch gut ging und lehnte sich dann zurück. Er dachte an die SMS, die ihm vor dem Abflug vom Büro des Commanders übermittelt worden war.

Sophia Russo wird in San Francisco mit Ihnen zusammentreffen.

Gespannte Erwartung pulsierte in ihm – sein Körper schien nicht akzeptieren zu wollen, dass ihm bei dieser Frau nachts eher die Eier abfrieren würden, als dass sie bereit wäre, sich bei ihm wie eine Frau zu verhalten und das zu tun, was Männer und Frauen eben miteinander tun.

Doch schon mit sechzehn hatte er aufgehört, sich von seinen Hormonen leiten zu lassen. Da spielte es auch keine Rolle, dass diese J-Mediale mit den geheimnisvollen tiefvioletten Augen ihn körperlich dermaßen stark anzog. Vor seinem Abflug hatte er noch ein paar Anrufe gemacht, unter anderem auch bei Bart Reuben, um sich über Bonner auf den neuesten Stand bringen zu lassen. Der Staatsanwalt hatte ihm nichts Besonderes berichten können, aber als Max erwähnt hatte, dass er mit Sophia zusammenarbeiten würde, hatte Bart ihm eröffnet: „Ich war neugierig und habe Nachforschungen angestellt.“

Überrascht hatte Max eine heftige Welle von Eifersucht verspürt. „Warum denn das?“

„Wegen der Handschuhe“, hatte Bart ihm geantwortet. „Mir ist eingefallen, dass ich genau solche schon einmal bei einem J-Medialen gesehen habe. Ist lange her. Sie haben etwas zu bedeuten, aber es ist mir noch nicht gelungen herauszufinden, was es ist. Aber etwas anderes Interessantes ist dabei herausgekommen.“

Max unterdrückte die heftige Reaktion auf Barts Spionage und zwang sich, einen leichten Ton anzuschlagen. „Muss ich das etwa aus dir herausprügeln?“

„Nein, eine Flasche Single-Malt-Whiskey tut’s auch.“ Er konnte seinen Freund lachen hören. „Anscheinend hat unsere Ms Russo im letzten Jahr die Angewohnheit entwickelt, sich in der Nähe von bösen Buben aufzuhalten, die dann auf sehr kreative Weise Hand an sich gelegt haben.“

„Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, wie lange sie schon dabei ist.“ Ein Polizist müsste sich schon absichtlich blind stellen, um den mörderischen „Zug“ in der Persönlichkeit der J-Medialen zu übersehen. Natürlich konnte man ihnen nie etwas nachweisen, selbst wenn ein Polizist sich trotz der Straftaten der Individuen, die sich die J-Medialen aussuchten, dazu bemüßigt fühlen sollte, genauer nachzuforschen. Doch der J-Medialen-Dienst sorgte selbst für Ordnung – denn es war nicht gut für sein Image, wenn Mitglieder des Dienstes in aller Öffentlichkeit dem Wahnsinn verfielen.

Als ihm das durch den Kopf ging, verspürte Max eine gewisse Unruhe bei der Vorstellung, Sophia Russo könne allmählich wahnsinnig werden. „Warum hat man sie nicht schon längst vom aktiven Dienst abgezogen?“ Das kam schärfer heraus, als es sollte.

Bart hatte zum Glück nichts bemerkt. „Sie erledigt ihre Aufgabe als J-Mediale sehr, sehr gut“, antwortete er. „Doch auch sie hat ein Verfallsdatum. Irgendwann in nächster Zeit wird sie genauso wie all die anderen J-Medialen verschwinden, die ich durch meine Zusammenarbeit kennengelernt habe.“

Der Wagen bog in das Auf und Ab der Straßen von San Francisco ein, und Max dachte an die letzten Sätze von Sophia Russo. Er spürte, wie Wut in ihm aufstieg bei der Vorstellung, sie habe tatsächlich so etwas wie ein „Verfallsdatum“.

Sophia setzte sich. Ihr Gegenüber war eine Frau mit exotischem Äußeren, die vielleicht den Befehl zu ihrer endgültigen Rehabilitation unterzeichnen würde, sobald sie hier nicht mehr gebraucht würde. Diese Tatsache hätte sie, wenn auch nur intellektuell, beunruhigen sollen, aber im Augenblick berührte sie kaum etwas.

So kurz nach einer Rekonditionierung, mit vollkommen klarem Geist, waren bestimmte Dinge nicht zu leugnen: Ihre Schilde im Medialnet waren felsenfest – aus dem einfachen Grund, weil alle J-Medialen gnadenlos darauf getrimmt wurden, diese Fähigkeit meisterlich zu beherrschen –, aber die Schilde, die sie telepathisch vor den Gedanken anderer abschirmten, waren dünn wie Papier. Alles Mögliche konnte zu einer zerstörerischen Welle für sie werden.

Das konnte von Schock über geistige Verwirrung bis zum Tod reichen.

Ratsfrau Nikita Duncan hob die Augen von der Akte auf ihrem Schreibtisch in dem Moment, als Sophia gerade zu dem Schluss gekommen war, dass ihr ein schneller Tod lieber als der psychische Zusammenbruch wäre. Es war besser, schnell und schmerzhaft zu sterben, als geschwächt auf die Gnade derjenigen angewiesen zu sein, die selbst keine Gnade kannten. Einmal in ihrem Leben war sie hilflos gewesen – das durfte nie wieder geschehen.

„Ms Russo.“ Nikita Duncan sprach sehr artikuliert. „Meinen Informationen nach hatten Sie heute früh einen Gerichtstermin?“

„Ja, um neun“, antwortete Sophia prompt. „Um halb elf war ich fertig und habe mich auf den Weg hierher gemacht.“

„Dann hatten Sie also Gelegenheit, die Akte zu lesen, die ich Ihnen als Anhang hatte zukommen lassen?“

„Ja, ich bin sie während des Fluges durchgegangen.“ Sie sagte nicht, dass sie die meiste Zeit das digitale Bild angeschaut hatte, das einen Mann zeigte, von dem sie angenommen hatte, ihm nie mehr im Leben zu begegnen.

Es war Anfang des Jahres aufgenommen worden, und so, wie es aussah, hatte der Fotograf auf den Auslöser gedrückt, kurz nachdem Max Shannon über irgendetwas gelacht hatte, seine leicht schräg gestellten Augen leuchteten. Was für ein Unterschied zu dem grimmigen Ausdruck auf seinem Gesicht, als sie zusammen vor dem Fenster zum Vernehmungsraum in Wyoming gestanden hatten.

„Haben Sie irgendwelche Fragen?“, wollte Nikita wissen.

„Im Augenblick nicht – mein Auftrag ist sehr klar und einfach.“ Wenn man einmal davon absah, dass sie dabei mit einem Menschen zusammengespannt sein würde, der sie an Dinge denken ließ, die nicht nur unmöglich, sondern so völlig unvorstellbar waren, dass sie sich fragte, ob sie nicht jetzt schon dem Wahnsinn verfallen war.