Für immer die Deine - Jana Voosen - E-Book

Für immer die Deine E-Book

Jana Voosen

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Beschreibung

Wie hält man zusammen, wenn die Welt um einen herum zerbricht?

Altes Land, 1939: Es ist ein Skandal, der das Dorf Jork wochenlang in Atem hält. Die erst 17-jährige Tochter des wohlhabenden Obstbauern Landahl erwartet ein Kind vom Sohn des Pfarrers. Trotz überstürzter Hochzeit und angekratztem Ruf ist das junge Paar glücklich. Doch als der Zweite Weltkrieg ausbricht, muss Fritz an die Front, und Klara schlägt sich mit ihrem Sohn alleine in einer kleinen Wohnung in Hamburg durch. Als sie entdeckt, dass der alte Mann in der Dachgeschosswohnung nicht der ist, für den er sich ausgibt, trifft Klara eine folgenschwere Entscheidung.

Hamburg, 2019: Die frisch getrennte Journalistin Marie stößt bei Recherchen zu einem Artikel auf die Lebens- und Liebesgeschichte von Klara und Fritz Hansen. Sie ahnt nicht, dass die Begegnung mit den beiden ihr eigenes Leben maßgeblich beeinflussen wird.

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Das Buch

Altes Land, 1939: Es ist ein Skandal, der das Dorf Jork wochenlang in Atem hält. Die erst 17-jährige Tochter des wohlhabenden Obstbauern Landahl erwartet ein Kind vom Sohn des Pfarrers. Trotz überstürzter Hochzeit und angekratztem Ruf ist das junge Paar glücklich. Doch als der Zweite Weltkrieg ausbricht, muss Fritz an die Front, und Klara schlägt sich mit ihrem Sohn allein in einer kleinen Wohnung in Hamburg durch. Als sie entdeckt, dass der alte Mann in der Dachgeschosswohnung nicht der ist, für den er sich ausgibt, trifft Klara eine folgenschwere Entscheidung.

Hamburg, 2019: Die frisch getrennte Journalistin Marie stößt bei Recherchen zu einem Artikel auf die Lebens- und Liebesgeschichte von Klara und Fritz Hansen. Sie ahnt nicht, dass die Begegnung mit den beiden ihr eigenes Leben maßgeblich beeinflussen wird.

Die Autorin

Jana Voosen, Jahrgang 1976, studierte Schauspiel in Hamburg und New York. Es folgten Engagements an Hamburger Theatern. Seitdem war sie in zahlreichen TV-Produktionen (»Tatort«, »Marienhof«, »Hochzeitsreise zu viert« u. a.) zu sehen. Außerdem hat sie zehn Romane, zwei Drehbücher und drei Theaterstücke geschrieben. Jana Voosen lebt und arbeitet in Hamburg.

Lieferbare Titel

Er liebt mich …

JANA VOOSEN

Für immer die Deine

ROMAN

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe 08/2019 Copyright © 2019 by Jana Voosen Copyright © 2019 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Printed in Germany Redaktion: Tamara Rapp Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München unter Verwendung von Trevillion Images / CollaborationJS; Alamy Stock Foto / The Natural History Museum Satz: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-23643-4V001www.heyne.de

1.

Gemeinde Jork im Alten Land, im Februar 2019

Die Trauergemeinde war überschaubar.

Klara Hansen saß neben ihrem Mann in der dritten Reihe und ließ den Blick über die etwa zwanzig Personen in der Friedhofskapelle schweifen. Es roch so intensiv nach den Lilien, die den weißen Sarg schmückten, dass es einem den Atem raubte. Die ersten Töne von Der Mond ist aufgegangen erklangen, scheppernd und ein wenig verzerrt. Die Stereoanlage hatte ihre besten Zeiten hinter sich. Wie wir alle, dachte Klara. Ganz vorne saßen Ilses Kinder Bernd und Heidi, blass, verweint und weißhaarig. Über die Hälfte der Anwesenden war weißhaarig. Sogar Ilses Enkel Martin hatte schon graue Schläfen. Wie alt sie alle sind, wie vom Leben gezeichnet, mit ihren gebeugten Schultern, der faltigen Haut und den morschen Knochen. Und wir sind die Ältesten, stellte sie fest, und wieder einmal überraschte sie diese Erkenntnis. Sie griff nach Fritz’ Hand und drückte sie. Kurz sah sie hinunter auf ihre beiden Hände, ineinander verschlungen, von Altersflecken übersät, knochig, die Haut so dünn wie Pergament, dann hinauf in Fritz’ Gesicht. Aus seinem Augenwinkel kullerte, unnatürlich vergrößert durch die dicken Brillengläser, eine Träne und verschwand in seinem weißen Bart. Mit einer verlegenen Geste wischte er sie weg.

Wann war das bloß passiert? Wann waren sie so alt geworden? Wann waren die Hochzeiten, Taufen und Konfirmationen, die sie früher gefeiert hatten, abgelöst worden von den Beerdigungen, an denen sie nun fast wöchentlich teilnahmen?

Dem kleinen blonden Mädchen auf Martins Schoß, Ilses Urenkelin – wie hieß sie doch gleich? Emma? Oder Anna? –, wurde das Stillsitzen zu langweilig. Vielleicht ertrug es auch die bedrückte Stimmung nicht mehr. Es entwand sich dem Griff seines Vaters, trat in den Gang zwischen den ebenfalls mit Lilien geschmückten Stuhlreihen hinaus und begann zu tanzen. Hüpfte auf und nieder und drehte sich im Kreis, den getragenen Takt der Musik missachtend, die Arme erhoben.

»Ella«, flüsterte Martin. Richtig, so hieß die Kleine! »Hör auf. Komm her, das macht man nicht.«

Klara hingegen wäre am liebsten aufgestanden, um mitzutanzen. Nicht dass ihr klappriger Körper zu derlei noch in der Lage gewesen wäre. Aber sie fühlte sich Ella verbundener als jedem anderen im Raum. Tief in ihrem Inneren, unter der arthritischen, faltigen Hülle, war sie doch noch genauso lebendig wie sie.

Der Pastor gab sich alle Mühe, den Anwesenden Ilses Leben nahezubringen, doch natürlich konnte er nicht einmal annähernd ausdrücken, was Klaras Freundin ausgemacht hatte. Er hatte sie nicht von Kindesbeinen an gekannt, Höhen und Tiefen mit ihr durchlaufen, war wohl nicht einmal halb so alt wie sie. Siebenundneunzig Jahre war Ilse gewesen. Genauso alt wie Klara.

Die Trauerfeier war vorbei. Unter der leiernden Musikbegleitung aus dem CD-Spieler – Klara nahm sich vor, der Kirche eine neue Anlage zu spenden – erhob sich die kleine Versammlung, um Ilse das letzte Geleit zu geben. Zu dem Grab, in dem sie beigesetzt werden würde. Neben ihrem Mann Hans, den sie vor fast zwanzig Jahren dort beerdigt hatten. Bei dem Gedanken, dass sie fast einen halben Kilometer bis dorthin würde laufen müssen, bis ans andere Ende des Friedhofs, biss Klara sich auf die Unterlippe. Dann griff sie nach Fritz’ Hand und stemmte sich hoch. Sehr vorsichtig trat sie mit dem linken Fuß auf, konnte aber dennoch einen leisen Schmerzenslaut nicht unterdrücken. Wie immer, wenn sie eine Weile gesessen, gestanden oder gelegen hatte, durchzuckte ein scharfer Schmerz ihr Knie, sobald sie es belastete.

»Geht’s?«, erkundigte sich Fritz und bot ihr seinen Arm an.

»Ja doch. Natürlich geht es.« Dennoch nahm sie die Stütze dankbar an. »Pass du lieber auf, wo du hintrittst. Der Boden ist sehr uneben.«

»Das sehe ich selber«, behauptete er, dabei stimmte das gar nicht. Trotz der dicken Brille erkannte er nicht mehr viel. Manchmal, wenn sie morgens in den Spiegel sah, war sie froh darüber. Sicher fiel es ihm so leichter, sich das Bild von ihr als die junge, hübsche Frau zu bewahren, die sie einmal gewesen war.

Gemeinsam traten sie aus der Kapelle hinaus in das Sonnenlicht dieses kalten, klaren Wintertages, folgten der kleinen Gruppe im Schneckentempo.

»Die Lahme und der Blinde geben der Tauben das letzte Geleit«, murmelte Klara kopfschüttelnd, und obwohl heute, da sie ihre älteste und beste Freundin zu Grabe trugen, ein trauriger Tag war, kicherten sie beide leise in sich hinein.

Kaum waren sie nach dem Beerdigungskaffee wieder zu Hause, in dem alten Gutshof, der seit Generationen im Besitz von Klaras Familie war, trat sie an das antike Telefontischchen in der Eingangshalle. Sie ließ sich auf der danebenstehenden Sitzbank nieder, griff nach dem in dunkelbraunes Leder gebundenen Adressbuch und schlug es auf. Kopfschüttelnd sah Fritz auf sie hinunter.

»Klara, das ist doch wirklich makaber, findest du nicht auch?«

»Ganz und gar nicht.« Sie blätterte durch die Seiten, bis sie bei dem Buchstaben W angekommen war. Da war sie. Ilse Winter, mitsamt ihrer Adresse und den beiden Telefonnummern, von denen die untere zu dem Handy gehörte, das Martin ihr zum neunzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Ein etwas sinnloses Geschenk für eine Frau, die selbst dann nur noch die Hälfte verstand, wenn man in den Hörer schrie. Ilse hatte sich trotzdem darüber gefreut und immer dafür gesorgt, dass sich das Gerät voll aufgeladen und eingeschaltet in ihrer Handtasche befand. Da es beim Klingeln zusätzlich vibrierte, hatte es durchaus passieren können, dass sie den einen oder anderen Anruf mitbekam.

Die Adressen direkt über und unter der von Ilse waren bereits mit kräftigen Kugelschreiberstrichen übermalt worden, genau wie noch ein paar andere auf der Seite. Klara hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nach jeder Beerdigung als Erstes ihr Adressbuch zu aktualisieren. Makaber hin oder her, sie zog damit einen Schlussstrich. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Entschlossen setzte sie die Spitze des Stiftes auf den Anfangsbuchstaben von Ilses Namen und hielt dann plötzlich inne. Eine Träne lief ihre Nase herunter und fiel auf das Papier, verwischte die Tinte.

»Ach, Ilse«, flüsterte Klara. Die Freundin von früher erschien vor ihrem inneren Auge. Das sanfte Mädchen mit den dunklen Haaren, das mit Klaras Bruder verlobt gewesen war. Obwohl es ein ganzes Leben her war, fast sechsundsiebzig Jahre, versetzte ihr der Gedanke an Willi einen Stich. Viel zu früh war er gestorben, auf einem Schlachtfeld irgendwo in Russland.

»Das kleine Mädchen, das getanzt hat«, sagte Fritz plötzlich, während er seinen dunklen Mantel an die Garderobe hängte und in dessen Tasche herumnestelte, »sie hat mich irgendwie an dich erinnert.«

»Mich auch.« Klara lächelte unter Tränen, gab sich einen Ruck und machte Ilses Namen mit einigen raschen Strichen unkenntlich. Mach’s gut, meine Liebe, dachte sie dabei, und grüß Willi von mir.

Fritz hatte endlich gefunden, wonach er suchte. Er zog seine abgeschabte Brieftasche hervor, öffnete sie und holte ein Bild heraus.

»Schau mal, was mir gestern in die Hände gefallen ist!« Er reichte ihr die verblichene Schwarz-Weiß-Fotografie. Darauf saßen nebeneinander drei Kinder auf einem Baumstumpf. Die beiden Mädchen, das eine mit wildem Lockenkopf, das andere mit streng geflochtenen Zöpfen, schauten Hand in Hand in die Kamera. Der kleine Junge im Matrosenanzug sah schüchtern zu Boden.

»Guck bloß, wie klein wir sind. Das muss in den Zwanzigern gewesen sein.« Klara schüttelte ungläubig den Kopf, drehte dann das Foto um und las die altdeutsche Schrift auf der Rückseite. »Klara Landahl mit Ilse und Fritz, 1928.«

2.

Gemeinde Jork im Alten Land, 21. Mai 1928

Ein süßer, blumiger Duft lag in der Luft und umhüllte das Alte Land wie eine Wolke. Die weiten Apfelplantagen standen in voller Blüte. Inmitten der Pracht aus Weiß und Rosa lag, wie eine Insel im Meer, der Gutshof des Obstbauern Jakob Landahl. Die gewundene Auffahrt führte durch einen gepflegten Garten zum reetgedeckten Haupthaus. Mit seinem weiß gestrichenen Fachwerk aus Eichenholz, dem mit traditionellen Ornamenten geschmückten Eingangsportal und den reich verzierten Giebeln war es nicht das größte, aber eines der schönsten Gutshäuser in der Umgebung. Jakob Landahl hatte den Hof von seinem Vater übernommen und lebte hier mit seiner Frau Elisabeth und ihren drei Kindern Luise, Wilhelm und dem Nesthäkchen Klarissa, das alle nur Klara nannten. Außerdem gab es zwei Dienstmädchen – Esther und Heidrun – sowie die Köchin Hannah. Die zur Erntezeit angestellten Saisonarbeiter wurden in einem der früheren Kuhställe untergebracht. Jakob Landahl war sehr stolz auf die zu diesem Zweck umgebauten Unterkünfte, in denen es sogar fließendes Wasser gab, und die Erntehelfer dankten es ihm mit Fleiß und Treue.

Undeutlich drang die Stimme des Radiosprechers durch das geöffnete Küchenfenster, dessen geblümte Vorhänge sich im lauen Wind bewegten. Eigentlich lief das uralte Radio, in dessen Lautsprechern es immer unangenehm zu knacken begann, wenn jemand den Lautstärkeregler einen Millimeter zu weit nach rechts drehte, den ganzen Tag in der Küche des Gutshofs. Esther und Heidrun summten die Melodien des Musikprogramms mit, während sie Kartoffeln für das Mittagessen schälten oder den Abwasch erledigten.

Heute, am 21. Mai 1928, hatten sich die Erwachsenen um das Gerät versammelt; man war gespannt gewesen auf die Ergebnisse der vierten Reichstagswahl der Republik. Elisabeth Landahl legte ihrem Mann die Hand auf den Unterarm. Er hatte diesem Tag mit großer Sorge entgegengesehen. Doch Gott sei Dank verkündete der Sprecher soeben einen eindeutigen Sieg der Linken. Auf hundertdreiundfünfzig Sitze verbesserten sich die Sozialdemokraten, während die Nationalsozialisten auf zwölf Mandate zurückgefallen waren.

Jakob atmete hörbar aus. Vielleicht hatte er doch zu sehr schwarzgesehen. Schließlich war die Wirtschaft der Weimarer Republik stabil, die Arbeitslosenzahlen sanken, und die propagandistischen Reden von Adolf Hitler fielen bei den Deutschen offensichtlich nicht auf fruchtbaren Boden. Jakob legte den Arm um seine Frau, die er um Haupteslänge überragte. Sie lächelte zu ihm auf, und er lächelte zurück.

»Bis heute Abend.« Er drückte Elisabeth einen Kuss auf die roten, im Nacken zu einem Dutt zusammengefassten Locken. Sie sah ihm nach, wie er aus der Küche ging, nur ein kaum wahrnehmbares Humpeln deutete auf die Holzprothese hin, die seinen linken Unterschenkel ersetzte.

Die sechsjährige Klara hatte in diesem Moment ganz andere Sorgen als das politische Weltgeschehen. Mit Fritz, dem Sohn des Pfarrers, und ihrer Freundin Ilse wollte sie Mutter-Vater-Kind spielen. Sie hatte alle Vorkehrungen getroffen, ihr Puppenporzellan in der Küche blank geschrubbt und dann nach draußen in die Laube geschleppt, die sich ganz hinten im Garten befand, verborgen unter hochgewachsenen Lindenbäumen. Gegen den Widerstand ihrer Mutter hatte sie ihr blau-weißes Matrosenkleid angezogen, dazu weiße Schuhe und Strümpfe. Davon ließ sie sich auch nicht abbringen, als ihre Mutter meinte: »Das hübsche Kleid ist doch viel zu schade. Zieh lieber deinen Spielkittel an.«

Mit einem Blick auf das Kleidungsstück aus unempfindlichem rot kariertem Flanell hatte Klara den Kopf geschüttelt. »Aber ich bin die Mutter. Da kann ich doch nicht den alten Spielkittel anziehen. Dann sucht der Fritz sich vielleicht eine andere Frau.«

Gegen dieses Argument war Elisabeth machtlos gewesen.

Und nun, da Klara in ihrem schönen Kleid bei den anderen stand, fiel es plötzlich Ilse ein, dass sie die Mutter spielen wollte. Schweigend musterten die beiden Mädchen einander, keins bereit, auch nur einen Zentimeter von seiner Meinung abzuweichen. Fritz, der auf einem Baumstumpf zwischen ihnen saß und den Streit verfolgt hatte, meldete sich zu Wort.

»Ihr könnt doch beide meine Frau sein«, schlug er vor. Zwei Mädchenköpfe, einer mit dunkelbraunen Zöpfen, der andere rot gelockt, wandten sich ihm zu.

»Auf gar keinen Fall«, sagte Ilse empört.

»Nein, jeder Mann darf nur eine Frau haben und jede Frau nur einen Mann«, ergänzte Klara.

»Ich dachte ja nur«, murmelte Fritz und zog den Kopf ein.

»Ich hab eine Idee«, verkündete Ilse und klatschte in die Hände. »Fritz soll wählen, wer seine Frau werden soll.« Sie lächelte ihrem Freund zu, der bei dieser Aufforderung blass wurde. Die beiden Freundinnen sahen gespannt auf ihn hinunter.

»Na los«, drängelte Ilse. Fritz öffnete den Mund, schloss ihn wieder und sah gequält zwischen den beiden Mädchen hin und her. In seinem Kopf arbeitete es. Wie sollte er sich bloß zwischen den beiden entscheiden, ohne eine von ihnen zu kränken? Die Sekunden dehnten sich, und Fritz wäre am liebsten im Erdboden versunken – als ihm unerwartet Klara zu Hilfe kam. Sie ließ sich ins Gras plumpsen und zuckte mit einem ergebenen Seufzer die Schultern.

»Na schön«, sagte sie, »dann bin ich eben das Kind. Von mir aus!«

»Und ich bin die Mutter.« Ilse lächelte glücklich, ging zu Fritz und schlang die Arme um ihn. Über ihre Schulter hinweg schaute dieser Klara dankbar an, die so tat, als bemerkte sie seinen Blick nicht. Stattdessen begann sie, Grashalme und Gänseblümchen auszurupfen. Ilse ging bereits ganz in ihrer Rolle auf und drückte Fritz einen Kuss auf die Wange. »Hallo, mein lieber Mann, war die Arbeit sehr anstrengend? Warte, ich werde dir ein schönes Abendbrot kochen.« Damit drückte sie ihn auf den Baumstumpf zurück, wo Fritz es sich gemütlich machte. Die Erleichterung war ihm anzumerken. Er beobachtete Ilse, die geschäftig in der Laube hin und her lief und den Tisch mit Klaras Puppengeschirr deckte. Dann sah sie auf die noch immer am Boden sitzende Klara hinunter.

»Steh sofort auf, Klara! Du machst ja dein schönes Kleid schmutzig. Wenn du auf dem Boden herumtoben willst, hättest du eben was anderes anziehen müssen.«

Der Blick, den Klara ihr zuwarf, war so finster, dass Fritz eilig von seinem Baumstamm hüpfte und zwischen die beiden Mädchen trat.

»Komm, ich helfe dir.« Er hielt Klara seine Hand hin und zog sie hoch. Dabei flüsterte er so leise, dass Ilse es nicht mitbekam: »Wenn ich groß bin, dann wirst du meine Frau. Versprochen.«

3.

Hamburg, Zeitgeist-Verlag, April 2019

Die Redaktionssitzung war bereits in vollem Gange, als Marie die Tür zum Konferenzraum erreichte. Dennoch blieb sie einen Moment stehen, um sich zu sammeln und ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Souveränität war das Zauberwort, das dem zu Wutausbrüchen neigenden Chefredakteur den Wind aus den Segeln nahm. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch das kurz geschnittene Haar, ein zum Scheitern verurteilter Versuch, ihre dunkelbraunen, in alle Richtung wuchernden Locken zu bändigen und sich wenigstens einen Hauch von Seriosität zu verleihen. Sie rückte die silberne Nickelbrille auf ihrem Nasenrücken zurecht. Die Gläser waren aus Fensterglas. Marie hatte sie sich angeschafft, kurz nachdem sie den Job beim Zeitgeist angetreten hatte. Sie war fest angestellte Journalistin, doch immer wieder hielt man sie für die Volontärin. Und tatsächlich wirkte sie trotz ihrer vierunddreißig Jahre mit den weit auseinanderstehenden grünen Augen, der Stupsnase und den unzähligen Sommersprossen wie eine Studentin.

Marie atmete noch einmal tief ein, drückte dann entschlossen die Türklinke hinunter und betrat den Raum. Der typische Geruch von verbrauchter Luft, Kaffee und altem Teppichboden schlug ihr entgegen, während sich fünfzehn Augenpaare auf sie richteten. Frank, der Chefredakteur, stand am Ende des langen Konferenztisches und hob bei ihrem Anblick die Brauen in Richtung seines lichter werdenden Haaransatzes.

»Verzeihung«, sagte sie schnell, um ihn gar nicht erst zu Wort kommen zu lassen, »Recherche.« Auf der Suche nach einem freien Platz ließ sie den Blick schweifen und traf den von Jost. Er grinste und klopfte mit der Hand auf den Stuhl neben sich, doch Marie ignorierte die Aufforderung. Sie ließ sich auf dem Platz direkt neben Frank nieder und sah ihm fest in die Augen. »Das Interview hat länger gedauert als erwartet.«

»Schön, dass du es trotzdem einrichten konntest«, sagte Frank mit von Ironie triefender Stimme, aber Marie spürte, dass die Sache damit erledigt und sie glimpflich davongekommen war. Innerlich atmete sie auf. »Ich war gerade dabei, unser Special für den Herbst zu besprechen.« Gespannt hob Marie den Kopf. Die Sonderausgaben des Zeitgeist waren stets eine gute Möglichkeit, um ordentlich zu punkten und in Journalistenkreisen auf sich aufmerksam zu machen. Frank lächelte ob ihres kaum verhohlenen Eifers. »Und dieses Mal, Leute, haben wir wirklich was Besonderes vor. Wer kann mir denn sagen, welches Jubiläum wir im Herbst diesen Jahres begehen?«

Ein unterdrücktes Stöhnen ging durch die Anwesenden. Der fünfundfünfzigjährige Chefredakteur war als Seiteneinsteiger zum Journalismus gekommen, nachdem er seine ersten Berufsjahre als Gymnasiallehrer für Politik und Geschichte verbracht hatte. Hin und wieder ging seine schulmeisterliche Vergangenheit mit ihm durch, und es bereitete ihm ein geradezu diebisches Vergnügen, seine Mitarbeiter, egal ob Praktikanten, Volontäre oder alteingesessene Journalisten und Redakteure, auf die Probe zu stellen.

»Den 80. Todestag von Siegmund Freud?«, schlug Gregor vor.

»Oder den 200. Geburtstag von Clara Schumann?«

»Nicht schlecht, nicht schlecht«, sagte Frank, während er gleichzeitig den Kopf schüttelte. »Vielleicht muss ich mich deutlicher ausdrücken: Welches Jubiläum begehen wir, das es wert ist, dafür eine Spezialausgabe mit einhundertfünfzig Seiten und broschiertem Umschlag herauszubringen?«

»Bill Kaulitz wird dreißig«, versuchte einer der Volontäre einen Scherz und zog den Kopf ein, als ihn Franks eisiger Blick traf. Bevor er seine unberechenbare Wut auf den Neuling richten konnte, meldete sich Marie zu Wort.

»Am 1. September 2019 jährt sich der Beginn des Zweiten Weltkriegs zum achtzigsten Mal.«

»So ist es. Danke, Marie. Nun gibt es zum Thema Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus natürlich schon so viel Material, dass es einem zu den Ohren rauskommt, richtig?« Die zögernde Zustimmung unter den Anwesenden ignorierend, fuhr er fort. »Nicht richtig! Ich brauche wohl niemandem der hier Anwesenden zu erklären, dass die Themen Rechtsextremismus und Faschismus kein Phänomen der Vergangenheit sind. Sondern erschreckend aktuell. Außerdem sind wir der Zeitgeist. Wir bringen keine alten Kamellen! Wir bringen Geschichten, die noch keiner gehört hat. Wir suchen die Zeitzeugen von damals und lassen sie zu Wort kommen.«

»Die Zeitzeugen? Aber sind die nicht mittlerweile …?«

»Tot?«, vollendete Frank den Satz. »Genau das ist der springende Punkt. Die meisten von ihnen sind tot. Zumindest diejenigen, die an den Krieg mehr als eine blasse Kindheitserinnerung haben. Die ihn als junge Erwachsene miterlebt haben. Diese Herren und Damen wären heute Ende neunzig. Die meisten aus der Generation sind damit, wie Gregor sehr richtig geschlussfolgert hat, tot. Aber nicht alle. Und diese wenigen wollen wir finden. Ihre Geschichten hören und aufschreiben und für die Welt konservieren. Denn in fünf oder zehn Jahren ist es damit vorbei. Endgültig. Die Zeitzeugen sterben aus, und dann wird nie wieder ein Journalist aus erster Hand etwas über diese Zeit erfahren. Sicher, wir können googeln und Bücher lesen und Dokumentationen ansehen, aber eins können diese Medien eben nicht: Unsere Fragen beantworten. Es ist ein Wettlauf mit der Zeit. Die Geschichten, die wir jetzt nicht ausgraben, werden für immer verloren sein.«

4.

Gemeinde Jork im Alten Land, Februar 1937

»Ach, hier steckst du, ich hab dich schon überall gesucht«, rief Klara erleichtert. Fritz saß auf einer Holzbank auf der Rückseite des Pfarrhauses, wo er mit seinen Eltern lebte. Das Fachwerkhaus neben der Jorker Kirche war nicht groß und wirkte im Vergleich zu Elisabeth Landahls perfekt geführtem Haushalt manchmal ein klein wenig verwahrlost, aber Klara liebte die Gemütlichkeit und Wärme im Haus von Pfarrer Hansen und seiner Frau.

Fritz hockte zusammengekauert, die langen Arme um seine angewinkelten Beine geschlungen, und starrte über die kahlen Apfelbäume, deren Äste sich unter der Last des Schnees krümmten, hinweg in die Ferne. Ein Lächeln huschte über sein schmales Gesicht, als er die Freundin erblickte, die durch den tiefen Schnee auf ihn zustapfte, mit geröteten Wangen und leuchtenden Augen. Ihre roten Locken quollen unter einer weißen Pudelmütze hervor.

»Was machst du denn hier draußen, ist dir nicht kalt?«, erkundigte sie sich und zog ihren dunkelgrünen Wintermantel fester um sich. »Du hast ja ganz blaue Lippen. Willst du etwa hier festfrieren?« Sie ließ sich neben ihm auf der Bank nieder, hob die Füße an und schlug sie gegeneinander, dass der Schnee nur so von ihren braunen Schnürstiefeln spritzte. Dann fiel ihr die melancholische Stimmung auf, in die sie offenbar geplatzt war. »Was ist mit dir?« Sie griff nach seiner klammen, rot gefrorenen Hand und schob sie gemeinsam mit ihrer in die Tasche ihres Mantels.

»Nichts«, wehrte er ab, doch sie schüttelte den Kopf.

»Nichts, nichts, das sagst du immer. Mit dir stimmt doch was nicht. Entweder rückst du jetzt gleich mit der Sprache raus, oder ich bohre so lange nach, bis du es dann schließlich doch tust. Aber dann sollten wir nach drinnen gehen.«

»Es ist nichts.« Über den vorwurfsvollen Blick aus ihren hellgrünen Augen musste er trotz allem lachen. »Na schön. Es ist wegen der HJ. Mein Vater will nicht, dass ich hingehe.«

»Na und? Sei doch froh. Oder hast du Lust, im Gleichschritt durch die Gegend zu marschieren und Heil Hitler zu brüllen?«

»Das nicht, es ist … Alfred hat es mir heute erzählt. Angeblich vergeben sie Universitätsstipendien nur noch an Leute, die bei der Hitlerjugend waren. Du weißt doch, dass ich Arzt werden will. Aber meine Eltern haben nicht genug Geld und deshalb …«

»Das ist bestimmt nur ein Gerücht«, versuchte Klara ihn zu trösten. Ihre warmen Finger schlangen sich in der gefütterten Höhle der Manteltasche um seine. »Hitlerjugend ist doch doof, allein diese Klamotten! Hast du dir Ilse mal angeguckt in ihrer schrecklichen Klettweste? Wer hat die Dinger bloß entworfen? Ehrlich, der Schnitt ist ja schon unvorteilhaft genug, aber dann noch diese Farbe … Sieht aus wie Erbrochenes, findest du nicht?«

»Na ja.«

»Ich bin froh, dass ich nicht zu dem Verein gehöre. Lagerfeuer hin oder her. Das mit deinem Studium kriegen wir schon irgendwie hin.« Aufmunternd lächelte sie ihn an. »Komm, wir gehen ein bisschen Schlittschuh laufen. Das bringt dich auf andere Gedanken.«

Sie beide hatten zu Weihnachten Schlittschuhe geschenkt bekommen und fast den gesamten Winter auf dem großen, zugefrorenen Ententeich hinter dem Hof von Klaras Eltern ihre Pirouetten gedreht.

»Ist gut«, stimmte Fritz zu.

»Aber nicht auf dem langweiligen Ententeich. Es ist kalt genug, da können wir auf der Elbe laufen«, bestimmte Klara.

»Das geht doch nicht«, erhob Fritz Einspruch, während sie ihn schon hinter sich herzog. »Es ist nicht erlaubt. Was ist, wenn wir einbrechen?«

Sie wandte sich um und blitzte ihn herausfordernd an. »Das Leben ist viel lustiger, wenn man ab und zu ein Risiko eingeht.«

»Ja. Oder viel kürzer.«

»Feigling!«, grinste Klara.

Zehn Minuten später schnallten sie sich die Kufen unter ihre Schuhe und traten auf die zugefrorene Oberfläche der Elbe, die unter einer Schicht Neuschnee lag. Die Luft war schneidend kalt, der Himmel stahlblau.

»Siehst du, kein Problem!« Klara streckte Fritz die Hand hin, und gemeinsam glitten sie hinaus aufs Eis. Der Wind pfiff ihnen ins Gesicht, Klaras lange kupferfarbene Haare flatterten, und der aufwirbelnde Schnee zu ihren Füßen stob nach allen Seiten.

»Und jetzt ein Kreisel«, rief Klara und bremste so abrupt, dass Fritz gegen sie taumelte. Sie umschlang ihn mit den Armen, um ihn am Fallen zu hindern. Obwohl seine Nase sich vor lauter Kälte schon ganz taub anfühlte, konnte er Klaras Geruch wahrnehmen, diese Mischung aus Vanille, Sandelholz und Seife. Er wusste, dass sie seit Langem schon heimlich das Parfüm ihrer Mutter benutzte. »Also los.« Sie streckte ihm die gekreuzten Arme entgegen, ergriff seine Hände und begann, sich mit ihm zu drehen, wie sie es schon so oft auf dem Ententeich getan hatten. Schneller und immer schneller wirbelten sie um die gemeinsame Achse.

»Stopp, Klara, nicht so schnell!«

Sie lachte und warf den Kopf zurück. Dann knirschte es laut unter ihren Füßen.

Klara stieß einen Schrei aus, als die Eisdecke mit einem lauten Krachen zerbarst. Im nächsten Moment schlug das eiskalte Wasser über ihnen zusammen.

Klaras dicker Wintermantel und das Kleid darunter fühlten sich bleischwer an. Etwas schien ihr die Lungen zusammenzupressen, sie riss erschrocken die Augen auf und sah als Erstes ihr eigenes Haar, das wie fremdartige rote Algen im Wasser schwamm. Über ihr brachen die Strahlen der Wintersonne durch die Wasseroberfläche. Eine Hand schloss sich fest um ihren Arm und zerrte sie nach oben. Zeitgleich mit Fritz tauchte sie aus dem Wasser und rang keuchend um Atem. Die eiskalte Luft brannte wie Feuer in ihren Lungen, und sie begann zu husten. Zum Glück hatten sie sich wieder näher in Richtung Ufer bewegt, sodass Fritz, der im letzten Jahr in die Länge geschossen war und sie mittlerweile um Haupteslänge überragte, im Wasser stehen konnte. Besorgt strich er ihr die nassen Haare aus dem Gesicht.

»Geht’s dir gut? Geht’s dir gut?«, fragte er immer wieder und schlang die Arme um sie. »Klara, geht es dir gut?«

»Ich hasse es, wenn du recht hast«, erwiderte sie hustend, und er grinste.

Während Klara noch immer nach Luft rang, begann Fritz, mit der Faust eine Schneise in das sie umgebende Eis zu schlagen und zog sie mit sich in Richtung Ufer.

»Haben wir ein Glück, dass uns das nicht weiter draußen passiert ist. Komm, wir müssen schleunigst aus den Sachen raus, sonst bekommst du noch eine Lungenentzündung.«

Ach ja, und was ist mit dir?, verkniff sie sich zu sagen, als er ihr aus dem Wasser half. Seine Lippen waren bereits dunkelblau, und er schlotterte am ganzen Körper.

»Los, zu euch nach Hause!« Fritz eilte voran, doch Klara hielt ihn am Arm zurück.

»Auf keinen Fall, bist du wahnsinnig?« Auch wenn sie sich nichts sehnlicher wünschte, als so schnell wie möglich die nassen Kleider loszuwerden und in eine heiße Badewanne zu steigen, so war sie doch nicht scharf darauf, irgendjemandem zu Hause ihren Tauchgang in der Elbe erklären zu müssen. Was seine jüngste Tochter betraf, hatte Jakob Landahl einen ausgeprägten Beschützerinstinkt, und vermutlich würde er Fritz vorwerfen, nicht genug auf sein Mädchen aufgepasst zu haben. Es würde rein gar nichts bringen, ihm zu erklären, dass es Klaras Idee gewesen war. »Kannst du dir vorstellen, was mein Vater sagt, wenn er uns so sieht?«

Auch Fritz wurde bei diesem Gedanken sichtbar mulmig zumute. »Aber immer noch besser, als zu erfrieren, oder?«, fragte er zögernd.

»Da bin ich mir nicht so sicher. Komm, wir gehen in unsere Scheune«, bestimmte Klara und lief voran. »Die ist auch näher.« Mit brennenden Lungen legten sie die gut dreihundert Meter zu den Landahl-Obstfeldern zurück, an deren Rand die Scheune lag. Fritz machte sich an dem metallenen Riegel zu schaffen, während Klara bibbernd danebenstand.

»Also, eins steht fest«, brachte sie mühsam hervor, während ihre Zähne vor Kälte aufeinanderschlugen, »d-d-d-dich nenne ich lieber nicht n-n-noch mal Feigling.«

Fritz rang sich ein Grinsen ab und stieß dann die Holztür auf.

»Bitte sehr, mein Fräulein«, sagte er mit einer einladenden Handbewegung und betrat hinter ihr die geräumige Scheune. Der Geruch von Rost, Gummi und feuchtem Holz schlug ihnen entgegen. Im hinteren Teil stapelten sich ausrangierte und reparaturbedürftige Arbeitsgeräte, auf der linken Seite befand sich ein großer Vorrat an Feuerholz, fein säuberlich übereinandergeschichtet. Auch hier war es natürlich nicht eben warm, aber zumindest waren sie vor dem pfeifenden Wind geschützt. »Wir müssen aus den Sachen raus. Guck mal da hinten, ich glaube, da sind ein paar Decken.« Damit schälte Fritz sich auch schon aus seiner klatschnassen Winterjacke und lief hastig zur Rückseite der Scheune.

Klara ließ ihren kiloschweren Mantel zu Boden fallen und öffnete die Knöpfe ihres Kleides. In Unterwäsche und Strumpfhaltern schlang sie sich die Arme um den Oberkörper.

»Fritz, ich erfriere«, rief sie, woraufhin dieser mit einem Deckenberg auf dem Arm herbeieilte, bei ihrem Anblick allerdings wie angewurzelt stehen blieb. »Was ist denn?« fragte sie.

Er brauchte einen Moment, um sich von dem Schreck zu erholen. Die weiße Wäsche, durch das Wasser so gut wie durchsichtig geworden, verhüllte kaum etwas von Klaras Körper. Der dünne Stoff klebte an ihrer Silhouette und gab den Blick frei auf ihre festen Brüste, deren Brustwarzen sich durch die Kälte aufgerichtet hatten, ihre schlanke Taille und die Rundung ihrer Hüften. Fritz schluckte schwer, ging dann rasch auf sie zu und breitete eine der Decken wie einen Sichtschutz vor ihr aus.

»Du musst den Rest auch noch ausziehen. Ich schau auch nicht hin«, versprach er und richtete den Blick auf seine Füße.

»Du hast mich doch schon tausendmal nackt gesehen«, sagte Klara und wand sich blitzschnell aus ihren restlichen Kleidern.

Ohne auf ihren Kommentar einzugehen, wickelte er sie in die grobe Decke, bemüht, ihren schneeweißen, nackten Körper dabei zu ignorieren. Dann legte er eine weitere Decke um ihre Schultern und eine dritte zusammengefaltet auf den grauen Steinfußboden, damit sie sich setzen konnte.

»Ist ja gut, danke«, lachte sie, während sie sich daraufplumpsen ließ, »nun sieh zu, dass du auch endlich aus den nassen Sachen rauskommst.« Erwartungsvoll sah sie ihn von unten herauf an, und für einen Moment fragte er sich, ob sie tatsächlich so unschuldig war, wie sie tat. Er schnappte sich die letzten zwei noch verbliebenen Decken und verdrückte sich damit in eine Ecke des Schuppens, um sich ihren Blicken zu entziehen.

Als er sich eine Minute später, nackt unter seiner Decke, neben sie setzte, bibberte Klara vor sich hin.

»Mir ist kalt«, jammerte sie kläglich.

»Du musst deine Beine aneinanderreiben und dich ein bisschen bewegen«, erklärte er und hauchte in seine eisigen Hände.

Sie versuchte, seinen Anweisungen zu folgen, doch die schnellsten Bewegungen führten ihre Kiefer aus, die in hohem Tempo aufeinanderschlugen.

Besorgt musterte Fritz sie, dem es nicht anders ging. »Ich fürchte, wir werden beide krank. Es tut mir wirklich leid. So was Blödes.«

»Wieso tut es dir leid? Es war doch meine Idee!«

»Aber ich hätte sie dir ausreden müssen«, gab er zurück, und sie lachte leise.

»Jetzt fängst du auch schon an wie mein Vater. Du weißt genau, dass ich mache, was ich will, und mir von niemandem was sagen lasse. Nicht mal von dir«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

»Tja, das ist wohl so.« Er zog eine Grimasse.

Klaras Blick fiel auf den Berg nasser Kleidungsstücke vor ihnen, und das Lachen blieb ihr im Halse stecken.

»Wie kriegen wir die Sachen bloß wieder trocken?« Sie sah zu den aufgestapelten Holzscheiten hinüber. »Ob wir ein Feuer machen können?«

»Hier drin? Klar, wenn du unbedingt die Scheune über unseren Köpfen abfackeln willst, nur zu!«

»Wenigstens wäre uns dann warm«, sagte Klara mit schiefem Grinsen. »Und wir können doch nicht die nassen Kleider wieder anziehen.«

»Was soll ich denn tun? Ich wollte ja nicht in die Scheune«, sagte er ungeduldig.

»Nein, du wolltest patschnass bei mir zu Hause reinspazieren. Tolle Idee«, gab sie zurück.

»Und du glaubst, dein Vater sieht uns lieber beide nackt und in Decken eingewickelt?«

Klara betrachtete das schmale Jungengesicht mit den sensiblen bernsteinfarbigen Augen und den bebenden Lippen. Die braunen Locken klebten nass an seiner Stirn.

»Vielleicht hast du recht«, sagte sie und legte den Kopf schief. »Ich sollte wohl doch ab und zu mal auf dich hören.«

»Ich erinnere dich das nächste Mal dran.«

»Komm, wir wärmen uns gegenseitig.« Sie schlüpfte zu Fritz unter die Decke und kuschelte sich in seine Arme. Er spürte die glatte, kalte Haut ihres Oberschenkels und ihrer Hüfte an seiner. Sie schlang die Arme um seinen Oberkörper und rieb mit ihrer Handfläche über seinen Rücken.

»Was machst du denn da?«, fragte er, und seine eigene Stimme kam ihm auf einmal seltsam fremd vor. Die Spitze ihrer linken Brust streifte seinen Oberkörper. Mit der anderen Hand bemühte sie sich, ihm Brust und Bauch zu wärmen, als er sich plötzlich mit einem Ruck abwandte. Aber sie hatte schon gespürt, was er um jeden Preis vor ihr zu verheimlichen suchte.

»Fritz …«

Schweigend saß er neben ihr, das Gesicht zur Seite gedreht und die Lippen aufeinandergepresst.

Einen Augenblick war sie ratlos, dann senkte sie den Kopf und küsste mit kalten Lippen seine Schulter. Er wandte sich ihr zögernd wieder zu, und sie sahen einander an. Minutenlang saßen sie so da, nackt unter ihrer Decke und unfähig, sich zu rühren.

Wie schön sie ist, schoss es Fritz durch den Kopf.

Er sieht so anders aus, dieser Ausdruck in seinen Augen, ich erkenne ihn kaum wieder, dachte Klara.

Dann endlich fasste Fritz sich ein Herz, beugte sich zu ihr hinüber und drückte seine Lippen auf ihre.

Natürlich hatten sie sich schon oft geküsst, auch auf die Lippen, kindliche, schmatzende Küsse – aber diesmal war es anders.

Verwundert registrierte Klara, dass Fritz seinen Mund auf ihrem ließ und seine Augen schloss. Sie tat es ihm nach und öffnete schließlich die Lippen, ohne genau zu wissen, warum. Sie spürte seinen Arm, der sich um ihre Taille legte und sie zu sich heranzog. Und plötzlich geschah alles wie von selbst. Ihre Arme schlangen sich um seinen jungenhaften Körper, als er sie zu Boden drückte und sich über sie beugte.

»Es tut mir leid«, murmelte Fritz hinterher, als sie Arm in Arm nebeneinanderlagen.

»Wirklich? Mir nicht«, gab Klara zurück und streichelte seine unbehaarte Brust.

»Na ja, mir eigentlich auch nicht.« Er lächelte und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen. Seine Hand glitt über Klaras Körper, und er konnte ihre Gänsehaut spüren.

»Dir ist immer noch kalt«, stellte er besorgt fest.

»Ach was«, sie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Na ja, ein bisschen«, gab sie dann zu.

»Komm, wir gehen nach Hause.«

»Und wenn mein Vater dich umbringt?«

»Dann sterbe ich als glücklicher Mann.« Fritz küsste sie erneut, und sie sah ihn an. Obwohl sie nur gescherzt hatten, schossen ihr die Tränen in die Augen.

»Du darfst nicht sterben. Das könnte ich nicht aushalten.«

Er legte ihr die Hand an die Wange. »Schon gut.«

»Versprich’s mir.«

»Ich werde mir die größte Mühe geben, nicht zu sterben.«

»Nicht vor mir. Das könnte ich nicht aushalten«, wiederholte sie, und eine Träne kullerte ihr die Wange hinunter. Er küsste sie weg.

»Meinst du denn, ich könnte es ohne dich aushalten?«, fragte er und schüttelte den Kopf.

»Dann sterben wir einfach zusammen«, sagte sie, und ihre Finger verschränkten sich mit den seinen. »Hand in Hand.«

»Ja. Hand in Hand.«

»Das ist gut«, flüsterte sie. »Dann lass uns jetzt nach Hause gehen.«

5.

Hamburg, Zeitgeist-Verlag, April 2019

Während Marie ihren Schreibtisch aufräumte – sie brachte es nicht über sich, die Redaktion übers Wochenende zu verlassen, ohne wenigstens ein Mindestmaß an Ordnung zu schaffen –, sah sie Jost am anderen Ende des Großraumbüros mit einem der anderen Fotografen zusammenstehen. Er bemerkte ihren Blick und hob die Hand, sie nickte ihm zu, griff nach Tasche und Mantel und ging in Richtung der Aufzüge davon. Sie zählte das Aufleuchten der Ziffern mit, welche die Fahrt des Lifts in den zwölften Stock anzeigten – vier, fünf, sechs –, als er ihr von hinten die Hand auf die Schulter legte.

»Du hast es aber eilig.«

Sie wandte sich um und schaute in seine braunen Augen, die von nach oben gebogenen Lachfältchen umkränzt waren. »Wer, ich? Nein, gar nicht.« Sie lächelte und trat in den Aufzug, dessen Türen sich in diesem Moment vor ihr öffneten. »Also, hab ein angenehmes Wochenende.«

»Das hoffe ich doch«, sagte er und betrat schnell hinter ihr die Kabine. »Hast du denn was Schönes vor?«

Marie drückte den Knopf für die Tiefgarage. Mit einem leichten Ruck setzte der Fahrstuhl sich in Bewegung.

»Tja, morgen Abend …« Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel. »Verdammt, wo ist denn das blöde Ding schon wieder? Ach, da.« Sie wandte sich Jost zu. »Wo waren wir?«

Er grinste. »Bei deiner Wochenendplanung.«

»Richtig. Morgen Abend werde ich mit dir ins Kino gehen und dich danach in meinem Schlafzimmer begrüßen.«

»Das klingt nach einem verdammt guten Plan.« Die Türen des Aufzugs öffneten sich mit einem leisen Pling, und der Geruch von Abgasen, Gummi und Feuchtigkeit schlug ihnen entgegen. Marie betrat die Tiefgarage und betätigte den Türöffner ihres VW-Polos. Ein paar Meter entfernt leuchteten seine Scheinwerfer auf. Sie warf einen Blick zurück und sah Jost im Neonlicht der Fahrstuhlkabine stehen. Wie fast alle in der Redaktion trug er Jeans, Turnschuhe und T-Shirt und wirkte trotz seiner fast fünfzig Jahre geradezu unverschämt jugendlich.

»Willst du nicht aussteigen?«, fragte Marie.

»Bin mit dem Fahrrad da.« Er lächelte schelmisch und drückte auf die Knopfleiste. »In meinem Alter muss man sich fit halten. Also, bis morgen.«

Nachdem sie die fünf Stockwerke zu ihrer Zwei-Zimmer-Dachgeschosswohnung in Hamburg-Uhlenhorst erklommen hatte, beschloss Marie, dass sie ihr Fitnessprogramm damit für heute erfüllt hatte. Statt sich ihre Sporttasche zu greifen und zum Pilates zu hetzen, wie sie es für gewöhnlich am Freitagabend zu tun pflegte, machte sie es sich mit einem Glas Rotwein und Ente süß-sauer vom chinesischen Lieferservice auf der Couch gemütlich. Kurz war sie versucht, sich einfach vom Fernsehprogramm berieseln zu lassen, zog sich dann aber doch ihren Laptop heran. Die Redaktionssitzung hatte sie in einen Zustand freudiger Erregung versetzt. Sie war nun schon seit zwei Jahren beim Zeitgeist, hatte aber das Gefühl, dass Frank sie noch immer nicht für voll nahm. Das war für sie, die in ihrem vorherigen Job bei der Zeitschrift Sonja eine Titelgeschichte nach der anderen geschrieben hatte, eine ziemliche Umstellung. Und zwar keine angenehme. Andererseits ließ sich natürlich ein Frauenjournal nicht mit einem Magazin wie dem Zeitgeist vergleichen. Sie hatte ohnehin Glück gehabt, dass Frank ihr trotzdem eine Chance gegeben hatte. Allzu leicht landete man in dieser Branche in einer Schublade und kam dann nie wieder heraus.

Simon hatte sie damals gewarnt: Willst du ein großer Fisch im kleinen Teich sein – oder ein kleiner Fisch im großen Teich? Die Antwort war einfach: Marie wollte ein großer Fisch im großen Teich werden. Die Sonderausgabe war ihre Chance, und sie würde sie zu nutzen wissen. Der Zeitgeist würde in den kommenden Wochen einen Aufruf starten, auf den sich die Zeitzeugen von damals melden sollten. Doch wie viele knapp Hundertjährige würden aktiv diesem Aufruf folgen, um von einer Zeit zu erzählen, die viele von ihnen sicherlich am liebsten vergessen würden? Marie begann, ziellos im Internet herumzusurfen, und verließ sich dabei auf ihren journalistischen Instinkt, der sie ganz sicher irgendwohin führen würde. Während sie gerade einen Artikel des Statistischen Bundesamts über die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung überflog, klingelte ihr Handy und kündigte den Anruf ihres Ex-Ehemannes an – jedenfalls würde er das bald sein. Wie immer begann ihr Herz schneller zu schlagen, und wie immer ärgerte sie sich über sich selbst. Ja, sie waren acht Jahre zusammen gewesen, aber nun schon so lange kein Paar mehr. Fast zwei Jahre. Sie atmete tief durch und drückte die Annahmetaste.

»Hallo Simon!« Marie schob den Laptop beiseite und griff nach ihrem Weinglas. »Wie geht’s?«

»Ganz gut. Viel Arbeit. Ich weiß nicht, was dieses Jahr los ist. Die Station platzt aus allen Nähten. Lauter Kinder mit schwerer Bronchitis und sogar Lungenentzündung.«

»Oje, das klingt hart.«

»Na ja, das ganz normale Los eines Kinderarztes. Ich hab aber nicht angerufen, um dir was vorzujammern. Wie geht es dir denn?«

»Alles bestens, danke.« Sie erzählte von der heutigen Redaktionssitzung und der damit für sie verbundenen Chance.

»Klingt, als wäre das genau das Richtige für dich. Du solltest dich mal mit Oma Liesel unterhalten.«

Vor Maries innerem Auge erschien die winzige, alte Dame mit der lila Dauerwelle, die auf ihrer Hochzeit vor fünf Jahren beinahe noch mehr Freudentränen vergossen hatte als sie selbst. Das war jedoch nicht der einzige Grund, wieso Marie heute, nach ihrer Trennung von Simon, nicht besonders erpicht auf ein Wiedersehen mit Liesel war.

»Na ja …«, sagte sie, um Zeit zu schinden, als Simon sie auch schon unterbrach.

»Lass dich nicht davon täuschen, dass sie dir mittags nicht mehr sagen kann, was sie zum Frühstück hatte. Ihr Langzeitgedächtnis ist vollkommen intakt.«

»Mag sein.«

»Sie weiß, dass es nicht deine Schuld war«, sagte Simon nach einer kurzen Pause. »Also, falls du denkst, sie ist dir irgendwie böse oder so.«

»Gut zu wissen.« Marie lachte ein bisschen gezwungen. »Trotzdem …« Wollte sie sich zu ihrer Ex-Schwiegergroßmutter auf das geblümte Sofa setzen, Filterkaffee trinken und Fragen wie »Warst du in der Hitlerjugend?«, »Kanntest du Juden?« oder »Wusstet ihr von den Konzentrationslagern?« stellen? Es würde vermutlich schon schwer genug werden, irgendjemandem diese Fragen zu stellen, ohne dass gleich die Schotten runtergingen. Gut, in ihrer Funktion als Journalistin traute sich Marie diese Aufgabe durchaus zu. Doch für Liesel war sie eben kein professionelles Gegenüber. Sondern die Frau, die ihrem Enkel das Herz gebrochen hatte. Und dabei war es, egal, was Simon auch erzählte, vollkommen gleichgültig, dass der zuerst ihr das Herz gebrochen hatte. Blut war dicker als Wasser, und Marie wollte sich nicht in einer Situation wiederfinden, in der sie sich dafür rechtfertigen musste, Simon wegen seines Seitensprungs verlassen zu haben. Selbst wenn es nur ein einziges Mal gewesen war. Und angeblich nichts bedeutet hatte.

»Du kannst es dir ja überlegen«, sagte er jetzt. »Ganz wie du willst, es war ja nur ein Angebot.«

»Danke.«

»Sag mal, was ich noch fragen wollte, kann ich morgen das Auto haben?«

Sie überlegte kurz und ließ den Blick durch ihr Wohnzimmer schweifen. Obwohl sie schon seit eineinhalb Jahren hier lebte, war die Einrichtung noch immer nicht komplett. Von der Decke baumelte eine nackte Glühbirne, die auf einen Lampenschirm wartete; und auch das ein oder andere Bild an den Wänden oder vielleicht eine schöne Bodenvase hätten dem Gesamteindruck der Wohnung gutgetan. »Eigentlich wollte ich morgen zu IKEA fahren.«

»Kein Problem.«

»Nein, nein«, sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, obwohl er das nicht sehen konnte, »natürlich kannst du es haben. Ist ja auch dein Auto.«

»Stimmt, es ist unser Auto«, erwiderte er, und sie zog eine Grimasse, die er zum Glück ebenfalls nicht sah. Ja, es war ihr gemeinsames Auto. Sie hatten es zusammen gekauft. Nur eins der Dinge, die sie bei der Scheidung mühsam würden auseinanderdividieren müssen. »Ich sag dir was: Ich komme morgen Vormittag bei dir vorbei, und wir fahren gemeinsam zu Ikea. Dann schlepp ich dir die Einkäufe nach oben und nehme anschließend den Wagen mit. Einverstanden?«

Sie musste lächeln. »Ist lieb von dir, aber so dringend ist es gar nicht. Das Auto steht direkt vor meiner Tür, du kannst es dir jederzeit abholen.«

Sie beendeten das Gespräch, und einen Moment lang starrte Marie gedankenverloren vor sich hin. Sie wusste immer noch, warum sie Simon damals geheiratet hatte. Weil er eben so ein verdammt netter Kerl war, immer hilfsbereit und sofort zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Aber sie wollte nicht mit ihm durch ein Möbelhaus schlendern und sich möglicherweise schlussendlich noch die Wohnzimmerlampe von ihm anbringen lassen. Es war vorbei, und solche Dinge würde sie fortan allein auf die Reihe kriegen. Sie bezweifelte, dass Jost ebenso selbstverständlich seine Hilfe anbieten würde, doch sie legte auch gar keinen Wert darauf. Sie war vierunddreißig Jahre alt, und es war an der Zeit, auf eigenen Füßen zu stehen.

Marie ging zu dem überquellenden Bücherregal hinüber. Aus den zahlreichen Geschichtsbüchern, die sich im Laufe ihres Studiums angesammelt hatten, zog sie einen dicken Wälzer zum Thema Zweiter Weltkrieg hervor und machte es sich damit auf der Couch gemütlich. Recherche war das A und O in ihrem Beruf. Die richtigen Fragen konnte nur stellen, wer wusste, wovon er sprach. Marie blätterte zurück in das Jahr 1939.

6.

Gemeinde Jork im Alten Land, März 1939

Es war ein erstaunlich lauer Tag für Anfang März, und Klara und Fritz hatten die Chance für ein Treffen in der Scheune genutzt. Beide waren froh über das Ende des langen und kalten Winters. Im Dezember waren sie von den Schneemassen geradezu überrollt worden, welche sie zunächst, als die ersten Flocken fielen und Wiesen und Felder mit einer pudrigen, weißen Schicht überzogen, begeistert aufgenommen hatten. Gemeinsam waren sie durch die Apfelplantagen gelaufen, hatten wie kleine Kinder herumgetollt, Schneemänner gebaut und sich gegenseitig das Gesicht mit Schnee eingerieben. Zudem hatte Fritz ihnen aus Holz, Tauen und Leim einen Schlitten zusammengezimmert, der jedoch nach wenigen Tagen bei einer besonders rasanten Rodelfahrt ächzend unter den beiden zusammenbrach. Doch schon nach wenigen Tagen der Begeisterung machte das Wetter keinen Spaß mehr. Es hörte und hörte nicht auf zu schneien. Keinen Hund jage man bei diesem Wetter vor die Tür, schimpfte die Köchin Hannah, während sie die Vorratskammer nach Zutaten für das Mittagessen der Familie durchstöberte. Einkaufen war so gut wie unmöglich, denn man versank sofort bis zur Taille im Weiß. Den heimlichen Treffen von Klara und Fritz wurde so ein ziemlich abruptes Ende gesetzt, und sie vermissten einander schmerzlich.

Als Ende Januar der ständige Schneefall endlich aufhörte und die Sonne ihre wärmenden Strahlen schickte, saß Klara stundenlang in ihrem Lieblingssessel in der Bibliothek und starrte hinaus, als könnte sie durch bloße Willenskraft den Schnee draußen zum schnelleren Schmelzen überreden.

Und irgendwann war er geschmolzen. Die ersten Krokusse, Narzissen und Leberblümchen reckten scheu ihre Köpfe aus der Erde, der Frühlingssonne entgegen.

Zur Feier des Tages hatte Klara eine Flasche Rotwein aus dem Keller ihres Vaters stibitzt, und nun lagen sie und Fritz nebeneinander im Heu, jeder einen Becher Wein in der Hand, und genossen die Nähe des anderen.

Als sich die Flasche dem Ende zuneigte, schlug Fritz Klaras dunkelblaues Kleid nach oben und begann mit routinierter Zärtlichkeit, ihre Strümpfe zu lösen. Und dann sprach er dummerweise das Thema an, das Klara liebend gerne noch ein wenig vertagt hätte: den alljährlichen Tanzabend des ortsansässigen Schützenvereins.