Gilde der Jäger - Engelsfall - Nalini Singh - E-Book

Gilde der Jäger - Engelsfall E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

In der Welt der Unsterblichen ist es tödlich, Schwäche zu zeigen ...

Elena Deveraux ist einzigartig: der erste Mensch, der zu einem Engel wird. Als Gefährtin des Erzengels Raphael, dem Herrscher von New York, kann die Jägerin es gar nicht abwarten, endlich die Unsterblichkeit zu erlangen. Doch da geschieht das Unfassbare: Der Prozess stoppt, kehrt sich gar um. Sie wird von Tag zu Tag wieder menschlicher - leichter zu verletzen, leichter zu töten. Elena und Raphael setzen alles daran, diese Entwicklung aufzuhalten und sie gleichzeitig vor den anderen Erzengeln zu verheimlichen. Denn nie zuvor war es gefährlicher, Schwäche zu zeigen ...

"Ich verschlinge die GILDE-DER-JÄGER-Bücher regelrecht. Ich kann gar nicht genug bekommen von dieser epischen Welt mit all ihren Gefahren, Intrigen und berauschenden Verführungen. Die Geschichten sind perfekt!" SYLVIA DAY, SPIEGEL-BESTSELLER-AUTORIN

Band 11 der GILDE DER JÄGER von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nalini Singh






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Seitenzahl: 624

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Inhalt

TitelZu diesem BuchWidmung12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637383940414243444546Die Legion47Die Legion48Die AutorinNalini Singh bei LYXImpressum

NALINI SINGH

Engelsfall

Gilde der Jäger

Roman

Ins Deutsche übertragen von Dorothee Danzmann

Zu diesem Buch

Elena Deveraux ist einzigartig. Sie ist der erste Mensch, der zu einem Engel wird. Doch urplötzlich geschieht das Unfassbare: Der Prozess stoppt, kehrt sich gar um. Sie wird von Tag zu Tag wieder menschlicher – leichter zu verletzen, leichter zu töten. Elenas Wunden verheilen nicht mehr so schnell, ihre Flügel werden schwächer und immer wieder wird die Gildejägerin von Schmerzattacken geplagt, für die es keine medizinische Erklärung gibt. Elena und Raphael setzen alles daran, diese Entwicklung aufzuhalten und sie gleichzeitig vor den anderen Unsterblichen zu verheimlichen. Denn nie zuvor war es gefährlicher, Schwäche zu zeigen, hat doch die Kaskade nach zweieinhalb Jahren Ruhe wieder Fahrt aufgenommen. Favashi, die neue Herrscherin über China, zeigt erste Anzeichen von Wahnsinn und wird unberechenbar. Zeitgleich versinken Afrikas Wüsten in den Fluten eines Monsuns, und in New York öffnet sich aus dem Nichts ein riesiger mit Lava gefüllter Krater. Und als wären das alles nicht schon genug Probleme, wird Elenas Schwager angegriffen und schwer verletzt. Mit ganzer Kraft stürzt sich Elena in die Ermittlungen und versucht gleichzeitig zusammen mit Raphael nicht nur ihr Leben zu retten, sondern auch den fragilen Frieden zwischen den Erzengeln zu bewahren. Ein verzweifelter Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Für Ashwini, die als Testleserin ganz schön hart im Nehmen ist.

Und die sogar eine Autorin erträgt, die oft eher wie ein Vampir lebt und dann mitten in der Nacht am Telefon über ihre neuesten Ideen reden will.

Die auf einem langen Flug neben mir saß und sich alle fünf Minuten stören ließ, weil ich unbedingt eine besonders schwierige Szene mit ihr durchgehen musste.

Danke, Ashwini! Du hast unendlich viel zu diesem Buch beigetragen.

Eine Zeit des Todes.

Eine Zeit des Lebens.

Einer trinkt vergossenes Blut.

Die Schmerzen der Wiedergeburt.

Die letzte Feder sinkt zu Boden.

Ach, dies wilde Feuer in den Augen, diese zerbrochenen Träume.

Eines muss sterben, damit eines leben kann.

Und die Vögel! Ja, die Vögel wissen immer Bescheid.

Erzengel Kassandra, Uralte unter den Uralten, verloren an einen seit Äonen dauernden Schlaf

1

Zuerst nahm sie die Spatzen eher unbewusst wahr.

Die kleinen Vögel tanzten und tauchten vor den Turmfenstern, so nah, dass ihre Flügel beinahe die Scheiben berührten. Elena spürte ganz kurz eine eisige Kälte ihren Nacken hochkriechen, aber da waren die kleinen Wesen auch schon wieder davongeflogen, um ihren Spatzengeschäften nachzugehen, und sie musste sich eingestehen, dass sie überreagiert hatte. Nur weil sich die Vögel der Stadt seit Kurzem sehr seltsam und fast schon unheimlich benahmen, musste nicht gleich jeder Spatz ein Unglücksbote sein.

Manchmal war ein Vogel auch einfach nur ein Vogel.

Achselzuckend wandte sie sich wieder ihrer Scrabble-Partie gegen Vivek zu, bei der wie immer mit harten Bandagen gekämpft wurde.

Zehn Minuten später, die beiden stritten sich gerade heftig und leidenschaftlich über die Zulässigkeit eines bestimmten Wortes, rief Sara an, um Elena einen Auftrag zu erteilen. Sie sollte einen jungen Vampir aufspüren, der wohl der Meinung war, seinem Vertrag entkommen zu können. »Warum eigentlich?«, fragte die Jägerin in die Runde, nachdem sie die Unterhaltung auf Lautsprecher gestellt hatte.

»Weil du Gildejägerin bist und wir von der Gilde nun mal entlaufene Vampire einfangen«, kam Saras trockene Antwort. »Wenn du das bis jetzt noch nicht begriffen hast, liebe Elena, dann besteht nicht viel Hoffnung für dich.«

»Nein, so habe ich das nicht gemeint.« Elena lehnte sich zurück. »Warum eigentlich glaubt immer ein bestimmter Prozentsatz von diesen Baby-Vampiren, dass, erstens, all die schrecklichen, grausamen Dinge, die sie über die alten Engel gehört haben, nicht wahr sind, und dass, zweitens, ausgerechnet sie die hinter den Ohren noch nicht ganz trockenen Idioten sein werden, die den Sprung in die Freiheit schaffen? Obwohl sie längst herausgefunden haben, dass alles absolut der Wahrheit entspricht.«

Elena verstand es wirklich nicht, weder das eine noch das andere. Man musste schon taub, blind und mental nicht ganz auf der Höhe sein, um nicht zu begreifen, dass an Engeln nichts Menschliches war, und zwar weder in ihrer Art, Form noch Gestalt. Wenn ein Wesen tausend Jahre gelebt hatte, warum sollte es dann in Sterblichen und neu erschaffenen Vampiren etwas anderes sehen als Insekten, die man notfalls auch zertreten konnte? Oder Glühwürmchen – zerbrechlich und vielleicht ganz hübsch, wenn man so etwas mochte, aber doch nach einem Herzschlag schon wieder verschwunden und vergessen.

Diese vernichtenden Tatsachen waren Elena hinreichend bekannt, sie spürte sie bis tief in die Knochen hinein, obwohl sie inzwischen die Gefährtin des mächtigsten Unsterblichen Nordamerikas war. Raphael hatte durch die ihn und Elena verbindende Liebe gelernt, menschlicher zu handeln, aber er war kein Mensch, und er würde nie einer sein. So wie ein wilder Tiger nie ganz zahm sein konnte. Ein Ding der Unmöglichkeit – und eine Zerstörung.

Raphael war ganz wunderbare Wildheit. Kraft, Größe, Macht.

So wie Elena ein neugeborener Engel war, deren Herz immer sterblich bleiben würde, selbst wenn sie zehntausend Jahre lebte.

»Ich weiß eine Antwort!« Vivek hob brav wie ein folgsamer Schüler die Hand, das attraktive Gesicht mit den scharf geschnittenen Gesichtszügen zu einem breiten Grinsen verzogen. Die sattbraune Haut schien vor guter Laune zu leuchten.

Elena hatte den Freund schon lange nicht mehr schmollen sehen, und auch von der leicht engstirnigen Kleinlichkeit, die früher ebenso zu ihm gehört hatte wie sein scharfer Verstand, war nichts mehr zu spüren. Vivek hatte damals als Herr über den »Keller« geherrscht, über das Versteck, das die Gilde für diejenigen ihrer Jäger unterhielt, die sich für eine Weile aus der Welt zurückziehen mussten. Wie es zum Beispiel eine gewisse eigensinnige Jägerin hatte tun müssen, weil sie mit ihrem Messer einem Vampir an die Gurgel gegangen war, der so mächtig war, dass er als Stellvertreter eines Erzengels fungierte.

Elena bereute diese Tat nach wie vor nicht. Dmitri hatte es wirklich verdient, die tödliche Klinge ihres Messers zu spüren, er hätte noch viel mehr verdient. Und es hatte ja auch nie die Gefahr bestanden, dass der arrogante Kerl wirklich starb! Er hatte ihr, noch während sich sein Hemd blutrot färbte, zynisch eine Kusshand zugeworfen, denn für einen Vampir seiner Stärke war ein solcher Blutverlust kaum der Rede wert gewesen.

Obgleich ihm die Konfrontation mit Elena keine allzu großen Verletzungen beschert und er an der gewalttätigen Auseinandersetzung mit ihr sogar noch sein perverses Vergnügen gehabt hatte, hatte dies Dmitri nicht daran gehindert, Elena zu stalken. Deswegen hatte sie sich im Keller verstecken müssen, wo Vivek seine Macht als Herrscher über eine Welt im Untergrund sehr genoss. Wer ihm dumm kam, konnte sich von seiner netten Klimaanlage verabschieden und lebte von da an in einer Sauna – und ohne frischen Kaffee. Den konnte man gleich ganz abschreiben. Mittlerweile jedoch regierte jemand anders in der Unterwelt, und Vivek wuchs wie Elena in eine fremde, neue Haut hinein.

In den fünf Jahren seit seiner Erschaffung als Vampir hatte der Gildejäger, der von Kind an aufgrund einer Querschnittslähmung alle vier Gliedmaßen nicht hatte bewegen können, die Kontrolle über seine Arme sowie den größten Teil seines Oberkörpers zurückgewonnen. Und obwohl der untere Teil seines Körpers nach wie vor gefühllos war und er daher immer noch im Rollstuhl saß, haderte Vivek nicht mit seinem Schicksal.

Die Heiler hatten vorausgesagt, er werde Jahrzehnte brauchen, um eine erste, grundlegende Beweglichkeit zu erreichen.

»Klär uns auf!«, bat Sara belustigt. Während sie das sagte, raschelte es in der Leitung, woraus Elena schloss, dass ihre Freundin Papiere durchsah, während sie sich mit ihnen unterhielt. Der Job einer Gildedirektorin kannte nun einmal kaum Pausen.

»Der Übergang vom Menschen zum Vampir«, hob Vivek in feierlichem Vortragston an, »verursacht bei einem kleinen Prozentsatz der neuen Vampire eine Reaktion, die das Idiotengen aktiviert. Dieses Gen«, hier hob er in typischer Lehrermanier den rechten Zeigefinger, »befindet sich am Chromosomenpaar vierundzwanzig, allgemein als Vampir-Chromosom bekannt.«

Elena nickte bedächtig und weise. »Eine faszinierende Hypothese, Professor Kapur. Vielleicht sollten Sie sich um ein Forschungsstipendium der VPA bewerben.«

Vivek konnte sich vor Lachen kaum halten. Die Vampire Protection Agency, auf die Elena sich bezog, war eine Organisation, die sich den Schutz von Vampiren auf die Fahne geschrieben hatte und nur zu existieren schien, um Gildejägern auf die Finger zu klopfen, wenn diese ihrer Meinung nach »übertrieben brutal« vorgegangen waren. Solche Anschuldigungen wurden oft gleich nach einer Jagd vorgebracht, wenn die betreffenden Jäger noch reichlich aus den zahlreichen Biss- und Kratzwunden bluteten, welche die entlaufenen Vampire ihnen beigebracht hatten.

»Wenn ihr zwei Witzbolde fertig seid«, meldete sich Sara, »sähe ich es gern, wenn du dich möglichst bald auf den Weg machtest, Ellie. Die Engelsdame, um deren Vampir es hier geht, ist sehr alt und sehr wütend. Ihr Name ist Imani.«

Elena hätte schon vor Jahren aus der Gilde aussteigen können, denn es nahm viel Zeit in Anspruch, die Gefährtin des Erzengels von New York zu sein. Aber sie hatte es nicht getan, im Gegenteil. Sie hing einfach zu sehr daran, Jägerin zu sein, denn es gehörte zu ihr wie Atmen. Fast noch mehr, denn sie war als Jägerin geboren, war ein Bluthund, der Vampire ihrem Geruch nach orten konnte.

Verfaulte Eiche, Champagner, mit Kampfer vermischter Zucker, ein Wasserfall aus Blüten.

Das waren nur vier von den Millionen Gerüchen, die es auf der Welt gab. Und Elenas Gehirn besaß die Fähigkeit, einen bestimmten Geruch herauszufiltern und bis zu einem bestimmten Vampir zurückzuverfolgen. Vivek zum Beispiel roch nach kaltem, frischem Flusswasser und einer Fülle aquamarinblauer Splitter. Letzteres war kein Geruch, das wusste Elena natürlich, aber nur so konnte sie beschreiben, wie sie ihren Freund wahrnahm.

Was ihr Talent zum Aufspüren von Engeln betraf, das sich bei ihr seit ihrem Erwachen als Engel langsam eingestellt hatte, so blieb diese Fähigkeit bestenfalls launisch und versagte oft ganz.

»Ich kenne Imani«, erklärte Elena jetzt.

»Ich hatte sehr gehofft, dass du das sagst. Sie ist ein bisschen … empfindlich.«

So konnte man die betreffende Engelsdame wohl beschreiben, wobei Elena allerdings noch ein paar ganz andere Bezeichnungen eingefallen wären. »Ich sehe schon zu, dass sie sich wieder beruhigt.«

»Ich habe dir die Einzelheiten auf dein Handy geschickt. Brauchst du ein Halskettchen?«

»Nein, ich schaffe das ohne.« Halskettchen nannten sie in der Gilde das Gerät, mit dem ein Vampir zur Unbeweglichkeit verurteilt werden konnte. Aber warum sollte Elena deswegen extra den Umweg über das Hauptquartier der Gilde einlegen? Mit ihren Flügeln und dem Tropfen unsterblicher Kraft wusste sie auch so genügend Vorteile auf ihrer Seite. Viel war das nicht, denn ihre unsterbliche Stärke war im Vergleich zum Rest der Engelheit sogar eher lächerlich, aber sie ließ sich viel schwerer verletzen als sonst ein Jäger oder eine Jägerin der Gilde. »Wenn ich einen solchen Ausreißer nicht aus eigener Kraft zurückholen kann, dürft ihr mich gern in die Nachhilfeschule für Jäger stecken.«

Während Vivek grinste, sagte Sara: »Komm doch heute Abend auf einen Kaffee vorbei. Es gibt da eine Sache, über die ich gern mit dir reden würde.«

»Ich werde da sein.« Elena beendete das Gespräch und richtete warnend den Zeigefinger auf Vivek. »Dass das Wort existiert, das du da vorhin ›erschaffen‹ hast, bezweifele ich nach wie vor. Denk bloß nicht, es ist vorbei. Ich ziehe meine Herausforderung nicht zurück.«

»Wie du meinst, es ist deine Beerdigung.« Viveks Miene war unergründlich wie die eines Pokerspielers. So sah er immer aus, wenn Elena und er Scrabble spielten. »Ich sichere den Spielstand, speichere das Spiel, und wir machen weiter, wenn du das nächste Mal vorbeikommst.« Hinter ihm, im Kontrollzentrum, piepte es.

Vivek setzte die Hände ein, um seinen Rollstuhl umzudrehen und nachzusehen, was den Alarm ausgelöst hatte. Nach langen Qualen hatte er seinen alten, technisch hoch entwickelten und vernetzten elektronischen Rollstuhl in Rente geschickt, weil ihm dieser manuell zu handhabende Stuhl Gelegenheit bot, den Oberkörper zu trainieren, ohne noch mehr Zeit als ohnehin schon in der Physiotherapie zu verbringen. Vivek hatte sich in den vergangenen zwei Jahren eine Menge Muskeln zugelegt, und seine Schultern wirkten inzwischen recht kräftig, die Armmuskeln gut ausgebildet.

»Ellie? Moment, warte noch.« Vivek lud ein Bild auf einem seiner zahlreichen Monitore hoch. »Draußen in den Catskills gibt es Anzeichen seismischer Aktivität.«

»Mist!« Elena starrte auf die gezackten Linien, die über den Bildschirm tanzten. In ihrem Magen hatten sich mit einem Mal alle möglichen Knoten gebildet, und sie musste an die Spatzen denken, die vorhin vor dem Fenster getanzt hatten. Vor ihrem geistigen Auge tauchte in Großbuchstaben das Wort KASKADE auf.

Im Zusammenfluss von Zeit und anderen, unbekannten, zentralen Ereignissen war es bei den die Welt regierenden Erzengeln schlagartig zu einem Anstieg an Kraft gekommen, eine Entwicklung, die in ihrem Fahrwasser einige dem Anschein nach zufällige, jedoch durchaus verheerende Vorfälle mit sich gebracht hatte. Insgesamt schien diese Kaskade immer mal wieder aufflammen und dann erneut zur Ruhe kommen zu wollen, während sie sich auf ein Endspiel vorbereitete, das niemand vorherzusehen vermochte. Seit dem letzten Vorfall – Elena und Raphael hatten sich gerade in Marokko befunden – waren jetzt zweieinhalb Jahre vergangen, und Elena hatte schon gehofft, das verdammte Ding ruhe inzwischen nicht nur, sondern sei gleich ganz mausetot.

Sie hatte das alles so satt, die Zombies, die unheimlichen Seuchen, die Engel vom Himmel stürzen ließen, die Gewitter und Erdbeben, die ein Muster aus Narben über die Welt gelegt hatten. Und dann war da natürlich der Hudson, der sich rot gefärbt hatte, als blute die ganze Stadt. Ja, das war richtig hübsch gewesen. »Ist es schlimm?«

»Menschen spüren nichts, dazu sind die Aktivitäten zu schwach und finden zu tief unter der Erdoberfläche statt. Mir liegt auch schon ein Bericht der Erdbebenfachleute der Uni vor.« Er las sich die E-Mail rasch durch. »Sie stufen die Aktivitäten als normale Erdbewegungen ein, die nur registriert wurden, weil sie gerade ihre neuen, superempfindlichen, vom Turm mitfinanzierten Geräte testen.«

Elena atmete tief durch. Sofort beruhigte sich ihr Magen wieder. Also doch kein von der Kaskade angezettelter Wahnsinn. Kein Grund, sich ihren Aluminiumhut aufzusetzen, sich in Verschwörungstheorien hineinzureden und das Ende der Welt laut zu beschreien. Es hatte bloß tief im Innern der Erde gezittert, ein ganz kleines bisschen nur, und das war völlig normal. »Melde dich, wenn weitere Warnungen eintreffen, und sieh zu, dass Dmitri Bescheid weiß. Ich mach mich dann mal lieber an die Arbeit.«

Vivek drehte sich und seinen Rollstuhl herum. »Viel Glück.« In seinen Augen, dunkel und intensiv, lag ein wilder Hunger. Fast schien es, als sei ihm beim Übergang in die Existenz als Vampir all seine in zwei Jahrzehnten verzweifelt und entschlossen gepflegte Selbstbeherrschung abhandengekommen.

Denn auch Vivek war als Jäger geboren, und die Jagd lag ihm im Blut.

Dass er nicht schon vor langer Zeit einfach durchgedreht war, zeugte von einer unglaublichen Disziplin. Elena hatte ihn erst kürzlich bei zwei Jobs als Verstärkung angefordert. Beide Male hatte er ihr auf einem Dach sitzend mit einem Scharfschützengewehr Rückendeckung gegeben. Auch andere Jäger hatten ihn schon angefordert, wenn es um ähnliche Gelegenheiten ging, und das schien zurzeit sein Jagdfieber wenigstens einigermaßen zu befriedigen. »Dir auch.« Elena deutete mit dem Kinn auf das Kontrollzentrum. »Herzliche Grüße an deinen Männerschwarm.«

Vivek zeigte ihr den hochgereckten Mittelfinger, ehe er sich wieder seinen Bildschirmen zuwandte, über die ununterbrochen Daten rannen. »Komm zurück, wenn du bereit bist, dich auf dem Altar des Scrabble schlachten zu lassen.«

Ehe Elena das Technikzentrum des Turms verließ, warf sie ihrem Freund über die Schulter hinweg noch zu, er habe das Wort ja doch nur erfunden. Vivek konterte, indem er sie eine ungebildete Maschinenstürmerin nannte. Während sie sich die Einzelheiten des Auftrags durchlas, steuerte Elena die von Raphael und ihr im Turm bewohnte Suite an, denn sie hatte im Moment nur ihre Messer bei sich. Wer sich jedoch zu einer Rückholung auf den Weg machte, tat gut daran, auch noch eine Waffe für größere Entfernungen mitzunehmen.

Ein paar Tropfen unsterbliche Kraft hin oder her – arrogant zu sein war immer noch eine ziemlich sichere Methode, sich umzubringen.

Gerade erst letzte Woche wäre Ransom um ein Haar von einem aggressiven Vampir mit ekelhaft dreckigen Krallen fast ausgeweidet worden. Er war diesem Schicksal wirklich nur um Haaresbreite entkommen. Manche Leute hatten einfach kein Verhältnis zu angemessener Körperhygiene. Ransoms geliebte Lederjacke hatte den Mordanschlag allerdings nicht unbeschadet überstanden.

Und wenn es seiner Frau nicht gelungen wäre, von irgendwoher eine nahezu identische Jacke aufzutreiben, würde er der alten immer noch nachtrauern. Ransoms Frau war Bibliothekarin und als solche unschlagbar, was Recherchen betraf. Nerven aus Stahl besaß sie außerdem, die sie ihrer Beziehung mit einem Gildejäger verdankte, dem sie nach der Vampir-Attacke allerdings streng geraten hatte, sich vor Betreten des gemeinsamen Heims gründlich von allem Vampirblut zu reinigen.

Demarco hatte nur verächtlich geschnaubt und die wie immer ein wenig zu lange und leicht zottelige blonde Mähne geschüttelt, als Ransom diese Geschichte zum Besten gab. »Ich würde mir jedenfalls so etwas von meiner Frau nicht einfach vorschreiben lassen! Man muss doch schließlich in einer Beziehung der Mann bleiben und die Hosen anbehalten.«

»Aber sicher«, hatte Ransom ungerührt gekontert. »Ich gebe deine weisen Worte gern an meine Nyree weiter, wenn sie das nächste Mal meint, wir müssten dich traurige Gestalt mal wieder zum Essen einladen. Ich weiß, wie es in deinem Kühlschrank aussieht. Lass dir das verschimmelte Brot gut schmecken.«

Elena musste unwillkürlich lachen, als sie daran dachte, wie sich Demarco bei diesen Worten theatralisch ans Herz gefasst hatte und vom Stuhl gekippt war. In ihrer Suite angekommen, schnappte sie sich zuerst ihre Armbrust, die sie um den rechten Schenkel schnallte. Die Waffe war leicht und ließ sich gut mit einer neuen, flachen Scheide voller Ersatzpfeile vervollständigen, die Elena um den anderen Schenkel schnallte. Die Jägerin liebte und umsorgte ihre Armbrust, als wären Waffe und Scheide ihre »Preziosen«.

Das waren Ransoms Worte.

Und nur zu wahr.

Sie entschied sich gegen eine Pistole. Zwar blieb sie gern auch auf dem Schießstand im Training, aber die Armbrust, kombiniert mit ein paar Klingen, war eher ihre Sache. Heute steckte sie sich eine lange Klinge in die Scheide auf ihrem Rücken. Das fast weiße Haar hatte sie bereits zu einem festen Zopf geflochten, und ihr Hochleistungs-Jagdmesser steckte im Stiefel, wo es hingehörte. Blieb also nur noch zu prüfen, ob die Messer in den Unterarm-Scheiden alle so saßen, wie sie sollten, und dann war sie fertig.

Ein paar Schritte über den dicken Teppich im Wohnbereich, und sie konnte die Tür zum Balkon ohne Geländer öffnen. Draußen begrüßte sie der Wintertag klirrend kalt und weiß.

Wind und Kälte versetzten ihr einen kräftigen Schlag ins Gesicht.

Mit zusammengebissenen Zähnen dachte sie dankbar an ihr langärmliges, schwarzes Thermotop, das extra für sie entworfen worden war, um ihr auch in höheren Lagen einen gewissen Schutz vor der Kälte zu bieten. Elena ertrug die Kälte nicht wie andere Engel, so weit war sie noch lange nicht. Die Krieger, die heute im Morgengrauen mit Raphael zum Training aufgebrochen waren, trugen höchstwahrscheinlich alle ärmellose Tuniken.

Und Elena klapperten die Zähne.

»Von wegen tough aussehen, das ist mir doch egal«, erklärte sie einer gerade auf dem Balkon gelandeten Taube. »Nicht frieren ist mir lieber.« Sie ging noch einmal zurück in die Suite, um sich die dicke, auf Figur gearbeitete Jacke überzuziehen, die Schlitze für ihre Flügel aufwies und die man mit feschen Schnallen fest um den Körper wickeln konnte. Schnell noch die Scheiden an den Unterarmen über die Jackenärmel geschoben und zu guter Letzt ein paar Handschuhe.

»Okay, jetzt kann es wirklich losgehen.«

Sie schloss die Balkontür hinter sich, weil sie nur ungern bei ihrer Rückkehr arktische Temperaturen vorfinden wollte, und nahm sich einen Moment Zeit, um das glitzernde Panorama der Stadt zu bewundern, die sich nach einer langen, kalten Nacht für den Tag bereit machte. Dann ließ sie sich von der Balkonkante fallen und breitete mit kraftvollem Schwung die Flügel aus. Sofort entfalteten ihre Schwingen ihre gesamte, außergewöhnliche Farbenpracht, von reinem Schwarz an der inneren Rundung über Indigo und tiefes Blau bis hin zu den flüsternden Schatten des Morgengrauens.

Ihre Handschwingen dagegen schimmerten weißgold.

Wunderschöne Flügel, aber Elena hätte sie genauso geliebt, wenn sie so grau und gewöhnlich gewesen wären wie Abwaschwasser, weil sie sie hoch in den Himmel hinauftrugen.

Die Luft war so kalt, dass sie sich scharf wie Glasscherben in ihre Lunge bohrte. Wenigstens stieg am Himmel gerade eine kühle, gelbe Sonne auf, viel zu weit entfernt und zu schwach, um die Schneedecke zu schmelzen, die über der Stadt lag, aber sie reichte aus, um diesen Schnee leuchten zu lassen und das von den Vorsprüngen der Gebäude tropfende Eis in Diamanten zu verwandeln. Unter Elena lag das Haus der Legion in jungfräuliches Weiß gehüllt.

Im Frühling und Sommer überzog lebhaftes Grün dieses Haus, nun jedoch schliefen die Ranken, vom Winter geküsst. Aber sobald Elena das Haus betreten hätte, wäre ihr ein Schwall Hitze entgegengekommen und die satte, erdige Feuchtigkeit einer wachsenden Pflanzenwelt. Innen war das Heim der Legion immer noch grün – lebendig grün.

Die Legion, alterslose Wesen, deren Ursprung im Nebel der Zeiten verloren gegangen war, hatte sich als Reaktion auf eine der Turbulenzen der Kaskade aus dem Meer erhoben. In New York hatten diese Geschöpfe in Zusammenarbeit mit zwei Ingenieuren des Turms für ihr Hochhaus ein Heizsystem entwickelt, das ihre Pflanzen auch in den kältesten Wintermonaten am Leben erhielt, ohne das Stromnetz der Stadt übermäßig zu belasten. Mindestens zehn Legionäre kauerten gerade wie stumme, unbewegliche Wasserspeier auf dem Dach ihres Zuhauses, die fledermausähnlichen Flügel eng auf dem Rücken zusammengefaltet.

Auf den reglosen Körpern hatte sich Schnee gesammelt, den sie nicht abschüttelten und nicht einmal zu spüren schienen.

Elena. Elena. Elena.

Nichts bewegte sich bei diesen Wasserspeiern, und doch hallte ihr Flüstern, einzeln und vielstimmig, durch Elenas Kopf.

Sie winkte der Gruppe rasch zu und flog weiter zum Hudson. Der fror von den Ufern her langsam zu, scharfe Eissplitter ragten wie bei einem abstrakten Gemälde aus dem Fluss. Dieses Eis war jedoch kaum mehr als eine Illusion. Es würde nicht halten, wenn man darauf landete – zu dieser eiskalten Erkenntnis waren gerade gestern erst zwei junge Engel gekommen.

Trotzdem raubte die Schönheit Elena den Atem.

Vielleicht dauerte es deswegen eine ganze Sekunde, bis sie die Spatzen entdeckte.

2

Elena war noch nicht stark genug, um sauber in der Luft schwebend einfach auf der Stelle verharren zu können, aber mithilfe winziger Flügelbewegungen kam sie der Sache schon ziemlich nah. Was sie sah, ließ ihren Mund trocken werden. Raphael? Ohne groß nachzudenken streckte sie in Gedanken die Fühler nach ihrem Erzengel aus, auch wenn er sich höchstwahrscheinlich gar nicht in Reichweite befand. Er hatte nach dem Training mit der Schwadron in einen anderen Staat reisen wollen, um sich dort mit einem der leitenden Engel zu treffen.

Aber schon überfielen wie ein höchst willkommenes Gewitter Wind und mit Salz durchmischter Regen ihr Bewusstsein. Meine Jägerin.

Die Vögel benehmen sich mal wieder seltsam.

Beschreibe mir ihr Verhalten.

Elena drehte sich so, dass sie die fast schon hypnotisierend wirkende Massenbewegung wieder vor Augen hatte. Sie tanzen, alle zusammen. Tausende und Abertausende. Eine gigantische Spirale, die sich wiegt und bewegt wie eine Tanzgruppe mit einstudierter Choreographie.

In ihrem Bewusstsein tobten Gewitterstürme, sie roch Ozon, scharf und unverwechselbar. Selbst über die große Entfernung hinweg empfand sie Raphaels Gegenwart stark und mächtig. Das ist ein Formationsflug, den du da miterlebst. Kannst du erkennen, was das für Vögel sind? Bist du nahe genug dran?

Elena hatte spontan Spatzen sagen wollen, erkannte beim näheren Hinsehen jedoch, dass sie sich geirrt hatte. Stare! Sie schlug sich mit einem Seufzer der Erleichterung mit der Hand an die Stirn. Stare in Flugformation, ungewöhnlich, aber durchaus ein Naturphänomen. Flieg du ruhig weiter zu deinem Treffen. Meine Paranoia und ich, wir sind auf dem Weg hinüber in die Enklave, um einen irregeleiteten Vampir aufzuspüren. Und falls du irgendwem erzählst, dass ich fast durchgedreht wäre, weil ein paar Vögel sich wie Vögel benehmen, dann kipp ich dir Chilipulver in deinen Cognac.

Sein Lachen klang wie eine ganze, wunderschöne Melodie. Bis heute Abend, Hbeebti.

Elena schüttelte den Kopf. Wieso war sie heute nur so schreckhaft; es fehlte nur noch, dass sie am Himmel schwer bewaffnete Engel sah, wo gar keine waren! Inzwischen hatte sie das andere Ufer des Hudson erreicht – der Fluss zeigte brav seine ganz normale Farbe – und flog tief über das Grundstück hinweg, das Raphael und sie als ihr Zuhause betrachteten. Dort war Neuschnee gefallen, seit sie das Haus verlassen hatte, die weiße Decke lag unberührt da, nicht eine Fußspur war zu sehen. Aber im Haus selbst ging es ganz bestimmt sehr geschäftig zu.

Alles andere würde ihr unvergleichlicher Butler Montgomery gar nicht dulden.

Sie suchte sich einen guten Anflugwinkel über den Klippen und versuchte, nicht darauf zu achten, dass ihr Herz beim Weiterflug tiefer in die exklusive Wohngegend hinein schneller schlug. Hier lebten fast ausschließlich Engel, die einzigen Ausnahmen bildeten ein paar sehr alte Vampire und Janvier. Der Vampir der Cajuns war zwar vergleichsweise jung, besaß aber trotzdem bereits ein Anwesen in der Enklave, das ihm ein Engel überschrieben hatte, nachdem Janvier im Rahmen einer Rückholaktion weit über das Maß bloßer Pflichterfüllung hinausgegangen war.

Er war allerdings erst dort eingezogen, nachdem Ashwini und er ein Paar geworden waren.

Kein Sterblicher nannte die Enklave sein Zuhause, und das war wohl auch besser so, wie Elena inzwischen begriffen hatte. Besser für die Sterblichen jedenfalls, genauer gesagt, für ihre Gesundheit. Alte Unsterbliche verhielten sich nicht immer rational und zivilisiert, und wenn es ihnen hinterher auch leidtun mochte, einen unliebsamen sterblichen Nachbarn geköpft zu haben, dann war dieser Nachbar trotzdem tot. Und zwar endgültig.

Während Elena weiterflog, ließ sie sich die Fakten dieses Auftrags noch einmal durch den Kopf gehen. Der Vampir, um den es ging, hieß Damian Hale. Man ging davon aus, dass er in der vergangenen Nacht geflohen war. Es bot sich also an, mit der Suche nach ihm in dem Zimmer anzufangen, das er in Imanis Residenz bewohnte. Dass sein Verschwinden erst am Morgen entdeckt worden war, würde für Elenas Spürnase vermutlich kein Problem darstellen.

Dasselbe galt für das Wetter. Auch das war kein Problem.

Elena hatte seit ihrem Eintritt in die Gilde schon viele Winterjagden absolviert. Sie konnte auch eine unter dem Schnee liegende Spur verfolgen, vorausgesetzt, der Schnee lag nicht gleich meterhoch. Da es an diesem Morgen nur leicht geschneit hatte, würde es sicher auch in dieser Beziehung keine Schwierigkeiten geben.

Sie hatte das richtige Haus entdeckt, klappte die Flügel zusammen und landete auf dem schneebedeckten Rasen des stattlichen Anwesens, das geräumig und beeindruckend seine Umgebung beherrschte wie eine ganz große Dame, die sich ihrer Bedeutung sehr wohl bewusst ist.

Hier wimmelte es im Schnee auf dem Rasen von Fußabdrücken.

Elena verzog das Gesicht. Zu jedem Abdruck gehörte nämlich ein Geruch, und all diese Gerüche stürmten nun in einem einzigen, großen Knotengewirr auf sie ein. Falls sich auch der Duft von Damian Hale darunter befand, würde es außerordentlich schwer sein, ihn herauszufiltern.

»Gefährtin.« Der an der Tür auf sie wartende Vampir trug eine weiße Fliege und zu einem altmodischen Frack ein blütenweißes Hemd. Die Bügelfalten in seiner Hose hätten es mit jedem Rasiermesser aufnehmen können, und seine Schuhe waren so blank geputzt, dass man sich darin spiegeln konnte. Er klappte den langen, dünnen Körper zusammen und verneigte sich präzise und steif in Elenas Richtung. Ebenso steif und präzise wirkte das sauber gestutzte und mit Gel zurückgekämmte schwarze Haupthaar des Mannes.

Elena spitzte die Ohren, fest damit rechnend, hier Gelenke knirschen zu hören.

»Guten Morgen, Taizaki«, sagte sie höflich, wobei sie sich innerlich wand, denn sie hätte auf diese Art von Höflichkeitsbezeugung gut verzichten können. Sie selbst hatte die Hochachtung nicht verdient, die hier zum Ausdruck gebracht wurde, und sie wusste genau, dass alte Vampire und Engel sie nur aus Respekt vor Raphael so behandelten. Dabei warteten sie allesamt nur heimlich darauf, dass die ehemalige Sterbliche eine deftige Bauchlandung machte.

Eine solche Haltung reichte jedenfalls aus, um bei jeder halbwegs vernünftigen Frau Komplexe auszulösen.

Wobei Elena wahrscheinlich nicht gerade als vernünftig bezeichnet werden durfte. Immerhin hatte sie sich unsterblich in ein Wesen verliebt, das ihr mühelos und jederzeit mit dem kleinen Finger das Genick brechen konnte.

»Ich brauche den Duft von Damian Hale«, erklärte sie, sobald sich Imanis Haushofmeister wieder zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte. »Ein ungewaschenes Kleidungsstück wäre ideal, aber ich kann den Geruch auch in seinen Wohnräumen aufspüren.«

»Ich habe ein entsprechendes Kleidungsstück für Sie vorbereitet.« Taizaki, den Gesichtszügen nach japanischer Herkunft, sprach Englisch, jedoch mit so deutlich hörbarem französischem Akzent, dass man ahnte, er nahm diese barbarische Sprache nur ungern in den Mund. »Meine Herrin erwartet Sie im Wintergarten.«

Raphael, hier kannst du mal sehen, wie sehr ich dich liebe.

Wieder brandete in ihrem Kopf das Meer auf, die stürmischen Winde jetzt weiter entfernt, aber immer noch zugegen. Wie sehr denn?

Elena hätte um ein Haar vor Schreck einen kleinen Satz getan. Du kannst mich noch hören?

Murmelst du solche Liebeserklärungen an mich nur vor dich hin, wenn du meinst, ich kann dich nicht hören? Elena, das bricht mir das Herz!

Jetzt wollte der Mann sie aber auf den Arm nehmen! Ohne dich jagte es sich für mich leichter, mehr wollte ich gar nicht sagen. Früher musste ich mich nie von einem höflichen Small Talk mit irgendwelchen Engeln aufhalten lassen.

Dass du mir niemanden abstichst, ja? Das lässt sich so schwer als Unfall deklarieren, da doch alle wissen, wie gut du zielst.

Elena musste sich sehr beherrschen, um nicht zu lächeln. Ich garantiere für nichts.

Sie nickte dem Haushofmeister zu, er möge ihr voran ins Haus gehen, und folgte ihm mit raschen Schritten. Auch Taizaki legte einen Schritt zu, sobald er erkannt hatte, dass die Besucherin nicht vorhatte, gemächlich zu schlendern. Doch er tat es nicht gern. Ganz sicher war sich Elena da nicht, aber sie meinte zu sehen, wie seine Wirbelsäule bei diesem Affront noch ein wenig steifer wurde.

Der arme Mann! Wahrscheinlich rechnete er fest damit, dass dieser unzivilisierte Gast gleich in die kostbaren Fauteuils pinkelte.

Bei der Vorstellung musste Elena sich ein Kichern verkneifen.

Der Wintergarten war ein großer Raum ganz im hinteren Teil des Hauses, auf seiner rechten Seite. Elena war nicht zum ersten Mal in diesem durch und durch für den Empfang offizieller Besucher eingerichteten Zimmer mit den hohen, vom Boden bis zur Decke reichenden Fenstern, denn Imani hatte damals nach Elenas Rückkehr nach New York zu einem Empfang eingeladen, um sie in ihrer neuen Rolle willkommen zu heißen. Die Engelsdame mochte nicht gerade zum Kuscheln sein und ungefähr so amüsant wie ein Bestatter bei einer Beerdigung, aber was die strikte Einhaltung der unter Engeln festgeschriebenen Etikette betraf, da konnte ihr niemand etwas nachsagen.

Während Elena Imani begrüßte, verzog sich der Haushofmeister schnell und diskret, damit die beiden Damen ungestört miteinander reden konnten.

Imani stand am Fenster, ein Engel mit fast weißen Flügeln, die nur hier und dort ein Tupfer Bronze schmückte. Ihre Haut schimmerte rötlich braun und sie trug das dichte, lockige Haar an der linken Schläfe zu feinen, fest anliegenden Zöpfen geflochten, während sich der Rest der schwarzen Pracht in schimmernder Perfektion bis auf die Schultern ergoss.

»Gefährtin. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Gilde ausgerechnet Sie schickt.« Imanis Gewand aus dunkelblauem Samt bewegte sich wie Wasser, als sie sich nun umwandte, um Elena anzusehen.

»Ich habe immer noch gern die Hand mit im Spiel, mein Jagdgeschick soll ja nicht einrosten.«

Sofort wurden Imanis Lippen zu einem dünnen Strich. Sie sah umwerfend aus, selbst für einen Engel. Diese Lippen, die bestimmt unzählige Männerfantasien beflügelt hatten, dazu ihre hohen Wangenknochen, eine fast schon lächerlich reine Haut, das unglaubliche Haar und zimtbraune Augen mit ein paar dunkleren Flecken um die Pupillen herum. Nahm man dazu ihre große, schlanke Gestalt, so hatte man eine Frau vor sich, wie sie sich ein Künstler in seinen Fieberfantasien erträumen mochte, eine Engelsschönheit von königlicher, aber auch durch und durch sinnlicher Ausstrahlung.

Diese Illusion blieb einem, bis Imani den Mund auftat. Nicht, dass ihre Stimme nicht ebenso lieblich gewesen wäre wie der Rest der Frau, aber wenn Imani sprach, dann war sie, genau wie ihr Haus, ganz große Dame, die genau wusste, was sie wollte. Und die absolut nichts für Leute übrig hatte, die sich nicht an die Regeln hielten. Dass Elena nicht gerade ihr Liebling war, musste wohl nicht extra erwähnt werden.

»Ich verstehe«, sagte sie in dem Ton von jemandem, der überhaupt nichts versteht und das auch nicht für notwendig hält. »Es ist allerdings in höchstem Maße unangemessen, wenn in einer solchen Sache plötzlich eine Gefährtin vor einem steht.« Imanis Blick sprach Bände. »Wie dem auch sei, ich nehme an, die Gildedirektorin hat Ihnen die Details genannt? Ich habe darauf bestanden, mit ihr selbst zu sprechen und nicht mit einem ihrer Untergebenen. Die Direktorin ist eine äußerst kompetente Sterbliche.«

Elena nahm sich sofort vor, das Kompliment an Sara weiterzugeben, rief sich aber gleichzeitig streng zur Ordnung. Nein, sie würde sich nicht danebenbenehmen, so schwer es ihr auch fiel, sie würde professionell bleiben. Selbst wenn es ihr immer ein köstlich freches Gefühl der Befriedigung verschaffte, uralten, hochnäsigen Engeln auf den Schlips zu treten, indem sie ihre Vorstellung vom Aussehen und Verhalten einer Gefährtin auf den Kopf stellte. »Ich habe alles, was ich brauche, bis auf Damians Geruch«, sagte sie mit beachtlicher Selbstbeherrschung.

»Den bekommen Sie von meinem Haushofmeister.« Imani klappte mit deutlicher Schärfe die Flügel auf und wieder zu, ehe sie anfing, im Zimmer auf- und abzuschreiten.

Elena stellte sich mit dem Rücken zu der schneebedeckten Gartenanlage hinter den hohen Fenstern so hin, dass sie die andere immer im Auge behalten konnte.

»Ich kann es nicht fassen, dass der Junge dumm genug war, das zu versuchen«, seufzte Imani.

Damian Hale war bei seiner Erschaffung vierunddreißig Jahre alt gewesen und würde dieses Alter die nächsten Hunderte und Aberhunderte von Jahren behalten, wenn nichts dazwischenkam. Eines würde er aber gewiss nicht mehr werden, ein Junge. Natürlich zählte Imani ungefähr achttausend Jahre, da durfte es einen vielleicht nicht verwundern, wie gut sie die Nummer der nörgelnden Großmutter beherrschte.

Wahrscheinlich hatte sie um Riechsalz gebeten, als ruchbar wurde, dass Raphael eine Sterbliche zu seiner Gefährtin erwählt hatte. Wobei die Dame sich auf ihre Art doch auch Mühe gab, wenn man ehrlich sein wollte. Das Buch über die Engelsetikette, das Elena gleich zu Anfang diskret von ihr überreicht worden war, war wahrscheinlich als gütige Geste gemeint gewesen.

Aus diesem Buch hatte Raphael seiner Liebsten mit teuflischem Vergnügen eine Woche lang jeden Abend vorgelesen, während Elena ihren Kopf unter den Kissen vergraben und ihn mit den übelsten Schimpfwörtern bedacht hatte. Gleichzeitig hatte Raphael sie gebeten, Geduld zu haben. »Imani ist nicht grausam oder unfreundlich, meine Jägerin. Sie ist ein uralter Engel, der die moderne Welt als einzigen Missklang empfindet. Und du passt in keine der Schubladen, die sie sich geschaffen hat, um eben diese Welt verstehen zu können.«

Diese Worte gingen Elena jetzt durch den Sinn, als sie sich höflich erkundigte, ob Imani sich einen Grund für Damians Flucht denken könnte.

Sofort wurden Imanis Lippen wieder zu einem dünnen Strich. »Er war einfach zu ungeduldig.« Sie wedelte mit der Hand, die kein einziger Ring, wohl aber ein dünnes mit Diamanten besetztes Kettchen am Handgelenk zierte. »Er war vor seiner Erschaffung unter den Menschen ein Anführer – ein Generaldirektor, so nennt man das wohl –, und es erzürnte ihn sehr, dass er nicht die Erlaubnis hatte, mein Haus zu managen.«

Elena zog eine Braue hoch. »Arrogant?«

»Ein dummes Kind, das sich selbst für einen großen Mann hält.« Imani presste die Lippen zusammen, bis ihr Mund einer platt gedrückten Pflaume glich. »Ich wollte vor der Jagd mit Ihnen sprechen, weil wir gerade festgestellt haben, dass er Waffen mitgenommen hat.«

Elena richtete sich kerzengerade auf. »Welche?«

»Vielleicht gehen wir ein Stück zusammen? Mein Haushofmeister wird uns Bericht erstatten.« Imani war stehen geblieben. »Wie seltsam!«, sagte sie plötzlich, die Stimme voller dunkler, gespenstischer Stärke, die verriet, wie alt sie war.

Elena mochte sich nicht umdrehen, um Imanis Blick aus den Fenstern zu folgen. Ihr war das Blut zu Eis erstarrt, und ihr Herz schlug Purzelbäume, während es in ihren Ohren laut rauschte.

Vögel, dachte sie. Bestimmt waren da draußen Vögel zu sehen, die unerklärliche, nicht in diese Welt gehörende Dinge taten.

Aber es ging nicht um Vögel. Es war schlimmer.

3

Imanis Rosen blühten.

Rosen, die bei Elenas Eintreffen im Wintergarten unter einer dicken Schneeschicht verborgen gelegen hatten.

Rosen, die hätten schlafen sollen, bis der grüne Hauch des Frühlings sie streifte.

Rosen, die verfluchte Vorboten verfluchten Unheils waren!

Elena räusperte sich. »Pflanzen Sie immer ausschließlich rote Rosen?« Vor ihren Augen breitete sich ein endloses, dunkelrotes Meer aus, so rot, wie auch ein gewisser Fluss einmal gewesen war.

Was zum Teufel fand diese Kaskade an der Farbe von Blut?

»Eine kleine Schwäche«, bekannte Imani leise. »Wie es scheint, steht wieder einmal eine Veränderung bevor.« Sie seufzte. »Ich habe Veränderungen so unglaublich ungern.«

Elena musterte die Rosen. Nein, sie würde Raphael nicht schon wieder behelligen. Es war ja nun nicht so, als wüchsen diesen Rosen Füße und sie marschierten als feindliche Armee gegen New York. Es war bloß die Kaskade, die an der natürlichen Ordnung der Dinge herumpfuschte. »Wissen Sie, Imani«, sagte sie leise. »Was Veränderungen angeht, sind Sie und ich vollständig einer Meinung.«

In seltener Harmonie wandten beide Frauen dem seltsamen Blütenmeer, das es eigentlich nicht geben durfte, den Rücken zu und gingen zu dem Zimmer von Damian, wo Taizaki auf sie wartete. Wie sich herausstellte, hatte der Ex-Generaldirektor zwei Pistolen und eine Armbrust mitgenommen. Hale kenne sich im Umgang mit beiden Waffen gut aus, sagte Imani, Elena solle lieber vorsichtig sein.

Als alles besprochen war, erklärte Imani, in ihrem unheimlichen Rosengarten spazieren gehen zu wollen. »Veränderungen sind störend«, erklärte sie, als Elena verwundert die Brauen hochzog, »aber diese dunkle Schönheit wird in der Eiseskälte nicht lange überleben. Nicht einmal ein Unsterblicher kann den Verlauf der Zeit aufhalten.«

Elena sah ihr lange nach. Ein Schauder rann ihr den Rücken hinunter.

Sie schüttelte ihn energisch ab, um dann Vivek anzurufen, der sich in Damian Hales Computer hacken sollte, den der Vampir mit einem Passwort gesichert zurückgelassen hatte. Vivek entdeckte Spuren diverser Buchungen, Tickets für internationale Flüge, die alle am selben Tag und zur selben Uhrzeit starten sollten. Noch interessanter war die Entdeckung, dass sich Hale Zugang zu den Konten des Haushalts und damit ein ordentliches Geldpolster verschafft hatte.

»Ein normaler Ausreißer ist das nicht.« Elenas Herz schlug schneller, ihr Blut wurde heiß. »Ich glaube nicht, dass er in einem dieser Flieger sitzt. Die Spuren hat er nur hinterlassen, damit wir sie finden.«

»Ich bin dran.« Viveks nicht zu überhörende Begeisterung zeigte Elena, dass sie recht daran getan hatte, ihn und nicht das Techniker-Team des Turms hinzuzuziehen.

Sie wollte gerade mit Taizaki das Haus verlassen, als Vivek sich meldete und ihre Vermutung bestätigte. Damian Hale hatte keines der Flugzeuge bestiegen, für die er ein Ticket gekauft hatte. »Ich habe an alle Systeme eine Suchanfrage geschickt. Sobald irgendetwas auftaucht, melde ich mich.«

»Danke, V.« Elena brachte ihr Handy sicher in einer mit einem Reißverschluss gesicherten Jackentasche unter, ehe sie die Tasche öffnete, die das Kleidungsstück mit Hales Geruch enthielt. Sie holte tief Luft. »Espenlaub mit einem Hauch reifen Pfirsichs.«

Ihr leises Gemurmel ließ Taizaki erbleichen.

Elena zuckte lässig die Achseln. »Der Geruch eines Vampirs hat oft nichts mit dessen Stärke oder Gefährlichkeit zu tun.« Nein, sie würde dem arroganten Haushofmeister nicht verraten, dass er nach verbranntem Zucker und gegorener Milch roch.

Denn sie war schließlich höflich und nett, obwohl Taizaki bei ihrer ersten Begegnung verstohlen die Nase gerümpft hatte. Als sei Sterblichkeit ansteckend! Montgomery war da ein ganz anderes Kaliber, er würde sich nicht so weit vergessen, persönliche Gefühle zu zeigen. Bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Raphaels Butler war Elena nichts weiter als eine raubeinige sterbliche Jägerin gewesen, doch er hatte ihr ohne mit der Wimper zu zucken höflich eine Tasse Tee angeboten.

Aber Montgomery war ja auch die Crème de la Crème, was Butler betraf, ihm konnte kein anderer Butler oder Haushofmeister das Wasser reichen. Die arme Imani wäre am Boden zerstört, wüsste sie, welchen Fauxpas ihr erster Diener sich geleistet hatte.

Elena gab die Duftprobe zurück und wandte sich um. Jetzt konnte die Jagd beginnen.

Rosen. Opulent und berauschend und richtig zum Gruseln.

Fest entschlossen, sich von dem überwältigenden Parfüm in der Luft nicht gefangen nehmen zu lassen, das laut nach bösem Omen schrie, biss Elena die Zähne zusammen und ging los, in immer größer werdenden Halbkreisen weiter und weiter vom Haus fort, bis sie etwa fünfzig Meter von der Haustür entfernt Hales Duft wahrnahm. Die Spur führte zu den Bäumen an der Grundstücksgrenze.

Zwanzig Minuten später endete die Spur abrupt, von dem Duft war nichts mehr zu spüren. Hier standen die Bäume so dicht, dass von dem leichten Schneefall am Morgen nichts auf dem Boden gelandet war. Als Elena sich hinkauerte, um den schmutzigen Altschnee mit den Händen beiseitezuschieben, entdeckte sie einen Ölfleck. »Schlaues Kerlchen!«, murmelte sie leise, stand auf und trat aus dem Schutz der Bäume hinaus.

Sie klappte die Flügel auf, weil sie sich in die Lüfte schwingen wollte, um zu sehen, ob es außer dem Fleck noch eine weitere Ölspur gab – da schoss ein heftiger Schmerz durch ihre Muskeln.

Sie erstarrte, wartete atemlos ein paar Minuten, ehe sie es noch einmal versuchte.

Diesmal gelang es ihr, abzuheben, aber nicht ohne Mühe. Ihre Schultern und die innere Flügelmuskulatur taten weh, wie sie nicht mehr wehgetan hatten, seit sie stark genug geworden war, sich an erste Senkrechtstarts zu wagen. Der Schmerz wollte auch nicht vergehen, in den Muskeln pulsierte es wie bei einem entzündeten Zahn.

Verdammt.

Irgendetwas hatte sie wohl falsch gemacht, eine ungeschickte Bewegung, bei der eine Sehne oder ein Muskel gerissen war. Hoffentlich war der Schaden nur gering, und ihr Körper konnte ihn selbst heilen. Die Engelheit kannte begnadete Heiler, doch wegzaubern ließen sich größere Verletzungen auch von diesen nicht, sie konnten den Heilungsprozess nur beschleunigen.

Elenas Fähigkeit zur Selbstheilung war jetzt zwar ausgeprägter als früher, als sie noch sterblich gewesen war, jedoch für einen Engel immer noch kaum der Rede wert. Selbst Babyengel heilten besser als sie. Elena war inzwischen nicht mehr sterblich, richtig unsterblich war sie aber noch lange nicht, und niemand wusste, wie lange ihre Reise dorthin dauern würde. Zwar suchte der von allen Unsterblichen sehr geschätzte Heiler Keir, unterstützt von Jessamy, der führenden Bibliothekarin und Historikerin der Engel, schon seit geraumer Zeit nach Informationen über frühere als Engel Erschaffene, aber bisher hatte die Durchsicht uralter, verstaubter Dokumente den beiden nichts weiter als rote Augen und heftige Niesanfälle eingetragen.

Was alle erheblich frustrierte, wusste doch jeder, dass diese ehemaligen Sterblichen existiert hatten. Sie waren der fleischgewordene Beweis für eine Legende, der zu folge der Körper eines mit all seinen Sinnen tief liebenden Erzengels eine süße, goldene, erotische Substanz produzierte, die Ambrosia genannt wurde. Raphael hatte Elena mit Ambrosia auf den Lippen geküsst, als sie mit gebrochenem Rückgrat und unrettbar zerstörtem Leib zu Boden gestürzt war. Und jetzt? Jetzt besaß sie Flügel, die sie hoch in den Himmel hinauf trugen.

Bei den Unsterblichen nahm man die Existenz von Ambrosia als gegeben hin. Wissenschaftler hatten versucht, diese Substanz eingehender zu studieren, was schwer war, da es weder genaue Aufzeichnungen darüber gab, noch echte Proben. An die Wissenschaft hatte Raphael nun wirklich nicht gedacht, als er Elena damals küsste. Er hatte all seine Ambrosia für Elena gebraucht, bis hin zum letzten Tropfen.

Du musst leben.

Immer wenn Elena an jenen Moment dachte, wurde ihr das Herz ganz weit. Wie wild entschlossen ihr Erzengel geklungen hatte, wie sehr sie beide von ihrer durchdringenden Liebe gezeichnet waren. Aber was war mit den anderen großen Liebenden, die es vor ihnen gegeben hatte? Wo waren sie, wohin waren sie entschwunden?

Man glaubte inzwischen allgemein, dass der letzte Engel vor unendlich langer Zeit erschaffen worden war und man ihn, ebenso wie alle, die seinen oder ihren Namen gekannt hatten, längst an den tiefsten Schlaf verloren hatte. Manchmal fragte sich Elena, wie es wohl wäre, einen ihrer Vorgänger zu treffen. Sie hätte nicht sagen können, ob sie sich eine solche Begegnung wirklich wünschte. Was, wenn diese Vorgänger in all den Äonen ihrer Existenz ihre Menschlichkeit eingebüßt hatten? Was, wenn sie bei ihnen nicht mehr erkennen konnte, dass sie einmal sterblich gewesen waren?

Sie selbst fühlte sich heute sterblich bis in die Knochen, aber da der brennende Schmerz in ihrem Flügel nachgelassen hatte und nicht mehr heftig pulsierte, sondern eher dumpf vor sich hin klopfte, beschloss sie, die Jagd fortzusetzen und bei ihrer Rückkehr in der Krankenstation des Turms vorbeizuschauen.

Auf der Straße konnte sie von oben keine Ölflecken entdecken. Falls es welche gegeben hatte, waren sie vom Verkehr verwischt worden. Bei dieser Jagd musste sie anscheinend mehr als sonst auf die Technik setzen. Als sie Vivek bat, Hales Handy zu orten, befand es sich noch immer in der näheren Umgebung von Imanis Anwesen. »Wahrscheinlich hat er es irgendwo auf dem Gelände versteckt«, meinte Vivek. »Damit wir wie die Irren danach suchen, während er längst über alle Berge ist.«

Direkt vor Elena erhob sich ein Schwarm Stare aus den Bäumen. Hunderte von kleinen Körpern mit scharfen Schnäbeln und schwarzen Äuglein, die nie blinzelten. Tausend und mehr Flügel bewegten sich in der Luft, schlugen gegen Elenas Haut. Endlose, schrille Schreie, die ihr fast das Trommelfell zum Platzen brachten.

Mit einem halb unterdrückten Fluch ließ sie sich fallen, fing sich gerade noch in letzter Sekunde auf, ehe sie zu tief stürzen konnte.

»Ellie!«

»Alles in Ordnung, mir geht’s gut!«, murmelte sie in ihr Handy, während sich die kleinen Vögel in einer Spirale um sie herumdrehten, ehe sie sich im Wind verteilten. »Gab es noch irgendwelche Erdstöße, seit ich von dir weg bin?«

»Nein, bisher blieb es ruhig.« Viveks Stimme klang scharf, besorgt. »Ist wirklich alles okay mit dir?«

»Ja.« Die Kaskade schien sich nach der letzten Ruhepause wieder einmal zu dehnen und zu recken und wach werden zu wollen, aber Elena hatte weiß Gott nicht vor, nach ihrer Pfeife zu tanzen. Niemand wusste ja, wie lange der jeweilige Kraftstoß und das daraus resultierende Chaos dauerten. Wenn sie Pech hatten, ging das ein paar Jahrzehnte lang so. Keiner von ihnen konnte einfach aufhören, sein Leben zu leben.

Und zu Elenas Leben gehörte heute die Jagd nach Damian Hale. Sie musste den Vampir finden. »Was ist mit seinem Auto?«

»Ein Fahrzeug ist auf den Namen von diesem Typen nicht zugelassen«, antwortete Vivek sofort. »Ich habe im Haus angerufen und mit Imanis Haushofmeister gesprochen. Von deren Fahrzeugen fehlt keins. Moment! Eine Sache könnte unser schlauer Igel vergessen haben!«

Elena blieb in der Luft und suchte den Boden ab, während Vivek arbeitete.

»Viele Häuser von Engeln werden von Kameras überwacht, die auf die Straße ausgerichtet sind«, erklärte der Meister der Technik. »Der Turm hat für den Fall feindlicher Angriffe Zugriff auf diese Augen, und so konnte ich die Visage von deinem Flüchtigen gerade in einer roten Limousine entdecken. Nach der fahnde ich jetzt weiter in diversen Kameraaufzeichnungen und bei sämtlichen Mautstellen. Die habe ich vor Jahren mal gehackt, das zählt nicht mal mehr als Vergehen.«

»Ist mir alles gleich, schick mich einfach in die richtige Richtung, mein Freund.« Elenas Haut wurde abwechselnd heiß und eiskalt, jedes einzelne Haar auf ihrem Kopf schien elektrisch geladen. »V?«, schob sie nach, noch ehe er antworten konnte, »ist ein Gewitter im Anzug?«

»Nein. Der Wetterbericht meldet klaren Himmel und geringe Aussichten auf Absurditäten.« Vivek konzentrierte sich wieder auf seine Suche und leitete sie mit klaren Anweisungen bis hin zu einem kleinen, aus einzelnen Hütten bestehenden Hotel am Fuß der Catskill Mountains. Elena verzehrte in der Luft drei Energieriegel, die sie vorsorglich eingesteckt hatte und trank Wasser aus der flachen Flasche, die sie in einer ihrer Hosentaschen bei sich trug.

»Nach dem hier habe ich nichts …« Elena hörte Vivek am anderen Ende der Leitung hörbar nach Luft schnappen. »Sagte ich gerade ›geringe Aussichten auf Absurditäten‹?«

»Ja – und?«

»Der Bericht vorhin, der mit den Erdbewegungen, kam von einem Sensor ganz in der Nähe der Hütten, bei denen du gerade bist.«

»Natürlich kam er von da!«, murmelte Elena vor sich hin, während es auf ihrer Haut kribbelte, als schicke jemand Strom durch ihre Zellen. »Ich lande gleich und melde mich, wenn ich mehr weiß.«

Erst nach zwei Versuchen gelang es ihr, ihr Handy wieder einzustecken und den Reißverschluss zuzuziehen, so sehr lenkte das Gefühl, ihre Fingerspitzen seien elektrisch aufgeladen, sie ab. Noch dazu fühlte sie sich leicht desorientiert, ihre Wangen hatte der eisige Wind verbrannt, und ihre Ohren schienen oben an den Spitzen glühend heiß zu sein.

»Denk an etwas Normales!«, befahl sie sich streng. »Denk sofort an etwas Normales!«

Als sie auf der Suche nach dem besten Landeplatz von Staren umringt wurde, ignorierte sie die Vögel tapfer auch dann noch, als sie hätte schwören können, dass sie ihr etwas zuflüsterten. Die Worte konnte sie ohnehin nicht verstehen, dazu waren sie zu leise, gerade außerhalb ihrer Hörweite, aber dem Ton nach handelte es sich hier eindeutig um eine Warnung.

Die Vögel flogen jetzt höher und tanzten in komplizierten Mustern, die Elena in der Luft hielten, damit sie sie weiterhin, völlig fasziniert, beobachten konnte. Sie wichen allerdings nie ganz von ihrer Seite. Eine seltsame, leise vor sich hin murmelnde Eskorte.

Die geflügelte Eskorte blieb in der Luft, als Elena auf einem großen Areal direkt vor dem Hotel landete. Dort blühten im Sommer bestimmt unzählige Wildgräser und Blumen, aber jetzt lag der Platz in einem reinen, fast unberührten Weiß vor ihr. Elena hielt die Nase kurz in die beißend kalte Luft, und schon hatte sie einige Vampirgerüche eingefangen, jeder einzelne kam klar und eindeutig zum Ausdruck.

Und da war auch schon der Hauch Espenlaub, begleitet von der Extravaganz reifer Pfirsiche.

Stark, deutlich, nicht nur ein Hauch. Damian Hale befand sich genau hier.

Sie atmete den Duft noch einmal tief ein, konzentrierte sich, versuchte, das elektrische Kribbeln auf ihrer Haut zu ignorieren. Der Duft kam eindeutig aus einer bestimmten Hütte. Elena hatte gerade einen Schritt in die entsprechende Richtung getan, als die Luft plötzlich wieder rein war, von elektrischer Aufladung nichts mehr zu spüren. Gleichzeitig verstummten wie auf einen Schlag sämtliche Vögel, und kein Lüftchen regte sich mehr.

Dann bebte die Erde unter Elenas Füßen.

Erst einmal gelang es ihr, stehen zu bleiben. Als sie über sich ein seltsames Geräusch hörte, sah sie auf. Die Stare flogen wieder, zogen hoch über ihrem Kopf endlose Kreise, flüsterten ihr verzweifelt eine unverständliche Warnung zu.

Als Nächstes schüttelte sich die Erde mit Macht.

Als Elena die Flügel ausbreitete, schoss ihr sofort wieder heftig und pulsierend dieser Schmerz in die Muskeln, und sie musste die Zähne zusammenbeißen, um von dem massiv in Aufruhr geratenen Boden abheben zu können. Unter ihr flogen die Türen der Hütten auf, und die Hotelgäste drängten wie orientierungslos gewordene Ameisen zu dem Rasen hin.

Denn unter den Hütten bröselte der Boden und löste sich auf.

Als eine junge Frau wankte und drohte, mit in den Abgrund gerissen zu werden, schoss Elena schnell wie der Blitz herbei, packte sie und schleppte sie in Sicherheit. Noch war sie zu schwach, um eine Erwachsene im Flug über längere Strecken transportieren zu können, aber sie schaffte es, die junge Frau dorthin zu bringen, wo die anderen Gäste sie übernehmen konnten. Sie rief allen laut zu, schneller zu laufen.

Ein Schrei gellte durch die Luft.

Elena wirbelte herum. Damian Hale! Hilflos musste sie mit ansehen, wie der Vampir, wild mit Armen und Beinen um sich schlagend, im Nichts versank, als sich direkt unter seinen Füßen der Boden in einem tosenden Durcheinander von Erde und Felsbrocken auftat. Natürlich versuchte Elena auch hier zu helfen, aber sie kam zu spät, und Hale war schon vom Erdboden verschluckt, als sie die Stelle erreichte, an der er eben noch gestanden hatte.

Dort, wo er im düsteren Schlund der Erde verschwunden war, füllte sich ein erschreckend großes Loch bereits mit rot-goldenem Magma. Von Damian war nichts mehr zu sehen, auch von den Hütten der Hotelanlage nicht, von keiner einzigen. Kein Holzsplitter, kein Hautfetzen, nichts.

Die Erde hörte auf zu beben.

Und die Vögel tanzten.

Unter Elena glühte eine Wunde in der Erde, die eine alles versengende Hitze ausstrahlte.

Dem, der Blut trank, war der Tod bestimmt. Das war sein Schicksal. Er sollte das erste Zeichen sein, das die Zeit markiert.

Als diese Worte in ihrem Kopf auftauchten, rieb sich Elena mit beiden Händen die Oberarme. Es war, als wären es ihre eigenen, als hätte sie sie sich ausgedacht. Nur hatte sie das nicht getan. Sie stammten von jemand anderem und waren doch in ihrem Kopf gewesen.

Fragend sah sie hoch zu den flüsternden Staren – hatten sie ihr die Worte eingegeben? Aber die kleinen Vögel reagierten auf ihren Blick, indem sie ihre Formation auflösten, um sich auf den umliegenden Bäumen oder am Rand des mit Lava gefüllten Kraters niederzulassen. Ein paar flogen dicht an die Hitze heran, wieder wie in einem fast magischen Tanz, und bogen erst ab, als Elena schon fürchtete, sie könnten der Hitze zu nahe kommen und sich verbrennen.

Und plötzlich gab es gar keine Stare mehr an dem von einer strahlenden Sonne erhellten Winterhimmel. Plötzlich gab es nur noch eine vom Schnee schwer und feucht gewordene Rasenfläche mit weinenden, schreienden Menschen, die sich in sicherer Entfernung von einer Grube voll glühender Lava aneinanderdrängten, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Und Elenas linker Flügel streikte. Gerade, als ihr der Schweiß von den Schläfen zu rinnen begann und ihr bewusst wurde, dass sie viel zu dicht über der Lava schwebte, viel zu dicht über dem Zentrum der Grube.

Sie starrte hinunter in den heimtückischen, brodelnden Kessel, während eine unsichtbare Hand sie mit unerbittlicher Kraft vor sich herzuschieben versuchte.

4

Elenas Instinkte setzten sich heftig zur Wehr.

Ihre erste, fast überwältigende Reaktion war, gegen diese Kraft anzukämpfen, als sie begriff, dass der Flügel noch schwächer geworden war – und dass die unbekannte Kraft sie aus der Gefahrenzone hinausdrängte. Nachdem sie nicht weit von der Gruppe der Überlebenden gelandet war, von denen einige vor Schock wie erstarrt schienen, während andere leise vor sich hin weinten, trat sie vorsichtig so dicht wie irgend möglich an den Riss in der Erde heran.

Unter ihr schwappte träge eine dicke, glühende, orangerote Flüssigkeit. Sonst bewegte sich dort unten nichts, alles schien sich beruhigt zu haben, und auch die Erde bebte nicht mehr. Nur die aus dem Krater aufsteigende Luft blieb unverändert so heiß, dass sie einem die Haut zu versengen drohte. Niemand würde eine Berührung mit dem geschmolzenen Magma überleben.

Sich auflösende Knochen, zu einer harten Kruste verbrannte Haut, aufgeplatzte Augäpfel – eine solche Strafe für seine Arroganz und Überheblichkeit hatte Damian Hale nicht verdient. »Ruhe in Frieden, Damian«, flüsterte Elena, während sie sich hinkauerte, um den Kraterrand näher in Augenschein zu nehmen. Imani würde sehr um den Vampir trauern, der ein solches Ende genommen hatte. So viel wusste Elena inzwischen. Wie Raphael gesagt hatte: Mochte Imani auch altmodisch und steif wie ein Stock sein, so war sie doch weder hart noch herzlos.

Elena. Salz und das Meer, eine tosende Welle von gewaltiger Kraft, ihr so vertraut wie der eigene Atem. Die Ozeane sind aufgewühlt, und aufgrund der jüngsten Erderschütterungen steigt der Meeresspiegel. Falls du dich nah an der Küste aufhältst, verschwinde von dort und fliege weiter ins Landesinnere.

Dann hatte sich das Beben also nicht auf das Gebiet hier beschränkt. Ich bin am Fuße der Catskills – und direkt vor meiner Nase liegt ein Krater mit lieblich blubbernder Lava.

Eine winzige, kaum merkliche Pause. Gildejägerin, wir müssen uns dringend mit deiner Vorliebe für gefährliche Situationen befassen! Ich bin schon unterwegs.

Hat New York auch etwas abbekommen? Die Stadt war voller Leute, die sie liebte.

Moment. Dreißig Sekunden später: Schäden sind keine gemeldet, sagt Dmitri. Das Beben war auf weite Flächen ausgedehnt, aber eher schwach. Mit Ausnahme der Bergregion, in der du dich aufhältst.

Die Antwort minderte den Druck, der auf Elenas Brust lastete. Sie stand auf, wobei sie einen leisen Aufschrei unterdrücken musste, denn ihr Flügel hing jetzt richtig durch und tat wahnsinnig weh. Sie hatte den Muskel wohl stärker gezerrt, als ihr bewusst gewesen war. Trotz der Schmerzen achtete sie darauf, den Flügel nicht schleifen zu lassen, als sie jetzt zu den Überlebenden hinüberging.

Wenn sie den Flügel schleifen ließ, weil sie ihre Muskeln nicht richtig einsetzte, verschlimmerte sich die Zerrung womöglich noch, was ja nun wirklich nicht notwendig war.

Unter den dicht beieinanderstehenden Hotelgästen – in der Mehrheit Menschen und junge Vampire – befand sich ein Vampir mit sandfarbenem Haar, der sich einen Laptop unter den Arm geklemmt hatte. Er trug ein braunes Polohemd mit einem Logo auf der Brusttasche, eine Stickerei, die wohl Hütten vor einer Berglandschaft darstellen sollte. »Arbeiten Sie hier?«, erkundigte sich Elena bei dem Mann, der nach Papierschnipseln und zerstoßener Minze roch.

»Manager.« Mehr brachte der Vampir erst einmal nicht hervor, schien er doch immer noch schwer erschüttert. Man sah das Weiße in seinen Augen, und er schaffte es kaum, den leicht glasigen Blick von der Stelle zu lösen, wo eben noch all die Hütten gestanden hatten. Von der braunen, durch den Schock blutlos wirkenden Haut hoben sich wie kleine Inseln zahllose Sommersprossen ab.

»Ich nehme nicht an, dass Sie eine Gästeliste auf dem Laptop haben, oder doch?«, fragte Elena.

Er starrte sie einen Moment lang völlig verständnislos an, ehe er blinzelte und sein Kopf wie bei einer defekten Marionette auf- und abzuhüpfen begann. Das schien ihn wachzurütteln, denn er klappte den Laptop auf, ohne dass Elena ihn noch einmal drängen musste. Während er die Namen seiner Gäste aufrief, um festzustellen, ob jemand fehlte, beantwortete Elena eine SMS von Vivek, der wissen wollte, ob sie alles heil überstanden hatte. Danach hörte auch sie zu, wie die Gästeliste verlesen wurde.

Nur ein Gast meldete sich nicht, als sein Name aufgerufen wurde, ein gewisser »John Smith«. Nun musste man kein Genie sein, um sich denken zu können, wer das gewesen sein mochte, doch Elena ließ sich trotzdem zur Sicherheit vom Manager eine Personenbeschreibung geben. Inzwischen funktionierte der Mann wieder ziemlich gut, man brauchte ihn nicht mehr groß anzutreiben. Hale, alias Smith, war an diesem Tag erst eingetroffen, und der Manager konnte sich sogar noch an die kleine Narbe an der Braue erinnern, die auch Elena bei der Durchsicht der ihr überlassenen Bilder aufgefallen war.

Das Zeichen, das die Zeit markiert.

Diese nicht aus dieser Welt stammende Stimme – Elena schüttelte sich, als sie daran denken musste. Die Erinnerung ließ ihr einen Schauder über den Rücken kriechen. Um ihn loszuwerden, klappte sie kurz und energisch die Flügel auf und wieder zu. Das war etwas ganz Normales, das sie oft machte, wenn sie sich längere Zeit auf dem Boden aufhielt. Normalerweise tat es gut, die Flügel strecken zu können.

Heute allerdings nicht.

Stechende Schmerzen bohrten sich ihr scharf wie Rasierklingen in den Rücken, wo sie zu langen, heißen Nadeln wurden.

Tief Luft holend, versuchte sie, an dem Schmerz vorbeizuatmen. Wenigstens benahmen sich die Überlebenden halbwegs vernünftig, und sie hatte keine Mühe, sie von dem Krater fernzuhalten. Anscheinend mochte sich niemand das Fleisch von den Knochen schmelzen lassen. Damians verzweifelter Schrei war noch nicht allzu lange verhallt, wahrscheinlich hatten sie ihn alle noch im Ohr.

Als der Manager anbot, einen Bus zu organisieren und die Gäste zu Notquartieren in der Stadt zu bringen, erklärten sich sämtliche Anwesenden ohne zu zögern mit dem Vorschlag einverstanden.

Raphael traf ein, noch ehe der Transport begonnen hatte.

Unter den Überlebenden erhob sich ein aufgeregtes Flüstern, als seine weiten, wunderschönen Flügel in Sicht kamen. Und dann brach sich auch schon das Sonnenlicht glitzernd in den weißgoldenen Filamenten, und der bei der Landung entstehende Wind drängte ihm die langen, nachtschwarzen Haare aus dem Gesicht, sodass die klaren, harten Linien deutlich zu sehen waren, die Raphael zu einer schon fast brutal anmutenden maskulinen Schönheit verhalfen.

»Erzengel!«, flüsterte ein leises, weiches Stimmchen, während sich eine ebenfalls weiche kleine Hand in die von Elena schob.