Gilde der Jäger - Engelsgift - Nalini Singh - E-Book

Gilde der Jäger - Engelsgift E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Endlich! Venoms Geschichte!

Unnahbar, verboten gut aussehend und gefährlich charmant — Venom, Leibwächter des Erzengels von New York, genießt seinen Status und seine Unsterblichkeit. An tiefere Gefühle verschwendet er keine Gedanken. Doch als er den Auftrag bekommt, eine junge Vampirin zu beschützen, auf die ein Kopfgeld ausgesetzt ist, gerät seine Welt aus den Fugen. Mit ihrer aufbrausenden und leidenschaftlichen Art ist Holly Chang eine Herausforderung für den eleganten Vampir mit den Schlangenaugen. Und entfacht Gefühle in Venom, die dieser niemals zuvor gespürt hat ...

"Es war — wie Holly und Venom füreinander — perfekt!" The Alliterates

Band 10 der Spiegel-Bestseller-Reihe von Nalini Singh



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Inhalt

TitelZu diesem BuchGeburt1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738Die AutorinNalini Singh bei LYXImpressum

NALINI SINGH

Engelsgift

Gilde der Jäger

Roman

Ins Deutsche übertragen von Dorothee Danzmann

Zu diesem Buch

Holly Chang war eine ganz gewöhnliche junge Frau – bis sie und ihre Freundinnen von einem abtrünnigen Erzengel entführt und gefoltert wurden. Während Uram ihre Freundinnen tötete, zwang er Holly, sein Blut zu trinken, und verwandelte sie so in eine Vampirin. Ihre ehemals braunen Augen haben ein stechendes Grün angenommen, sie kann ihre Opfer mit bloßem Blick hypnotisieren und ihr Biss ist tödlich. Vier Jahre hat es gedauert, bis sie die Trauer über den grausamen Tod ihrer Freundinnen überwand und ihre neuen, noch nicht ausgereiften Fähigkeiten in den Griff bekam. Doch nun arbeitet sie für den Engelsturm von New York und überwacht für Raphael, den Herrscher über die Metropole, deren Unterwelt. Hollys schlummernde Macht ist eine unbekannte Größe im ewigen Kampf der Unsterblichen um die Vorherrschaft und macht sie extrem gefährlich. Und so ist es unausweichlich, dass ein Kopfgeld auf die junge Vampirin ausgesetzt wird, um sie aus dem Spiel zu nehmen. Der Einzige, der ihr helfen kann, ihren Verfolgern zu entkommen, ist Venom, Leibwächter des Erzengels von New York und das jüngste Mitglied von Raphaels Sieben – unnahbar, verboten gut aussehend und noch gefährlicher als Holly selbst. Doch ist Venom der mysteriösen Kraft gewachsen, die in Holly zu erwachen droht und die die ganze paranormale Welt in Atem hält? Oder bringt er sich durch die unerwarteten Gefühle, die die aufbrausende und leidenschaftliche Vampirin in ihm entfacht, selbst in größte Gefahr?

Geburt

Noch einmal presste sie mit einem letzten stummen Schrei, und dann war es auf der Welt, dieses Kind, das eigentlich nicht existieren durfte und das sie mit jeder Faser ihres Seins zu lieben gedachte. Als sie die Arme nach dem so sehr ersehnten Wesen ausstreckte, sah sie, dass die Heilerin es gar nicht hochgenommen hatte, sondern stattdessen mit vor Schreck geweiteten Augen zur Tür zurückgewichen war.

Heftiger, wilder Zorn ließ sie sich aufsetzen, um ihr hilfloses Kind zu retten. Da sah sie …

1

Holly umarmte ihre Schwester ein letztes Mal. Das Herz tat ihr weh, so schwer fiel ihr dieser Abschied. »Los!«, drängte sie, als Mia kurz vor dem Eingang zum Sicherheitsbereich noch einmal zögerte. »Wenn du nicht bald in Gang kommst, fliegen sie ohne dich.«

Immer noch zögernd, kaute Mia an ihrer vollen Unterlippe. Die weißen Neonlichter des Terminals ließen ihren kinnlangen Bob schwarz und glänzend wie Obsidian schimmern. »Ich habe jetzt schon Heimweh!«

»Es wird schon alles gut gehen!« Holly, die genau wusste, wie sehr ihr die ältere Schwester und beste Freundin fehlen würde, nahm Mias Gesicht in beide Hände und blickte entschlossen in die braunen Augen, die genauso aussahen wie früher ihre eigenen. »Du bist so klug, du schaffst das mit links!«, versicherte sie. »So klug wie du ist niemand, den ich sonst kenne.« Ihrer Schwester, frischgebackene Ärztin, war am Massachusetts General in Boston eine der heiß begehrten Stellen zur Facharztausbildung angeboten worden.

»Aber ich bin dann so weit weg von allen.«

Dabei erreichte man Mias neuen Wirkungsbereich von New York aus in wenigen Stunden Fahrt – noch schneller sogar, wenn man Holly hieß und einen bestimmten Fahrstil pflegte. Aber das erwähnte Holly nicht, denn sie wusste, was Heimweh war und wie sehr man darunter leiden konnte. Sie selbst hatte einst mitten in dieser quirligen Stadt, der Heimat ihrer Familie, Heimweh nach ihren Leuten gehabt. Damals, als sie sich monatelang von allen abgeschottet hatte, in den Nachwehen des Angriffs, bei dem aus ihr ein Wesen geworden war, das weder Mensch noch Vampir genannt werden konnte.

Dieser Unsinn, sich zu verstecken, lag jetzt glücklicherweise hinter ihr, und ihre Familie liebte sie genug, um ihr zu verzeihen. Natürlich rieb ihr ihre Mutter die Sache bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase, was allerdings nicht anders zu erwarten gewesen war. Daphne Chang erwähnte auch immer noch gern, wie sich Holly mit siebzehn eines Abends ohne Erlaubnis aus dem Haus gestohlen hatte, nur um wenige Stunden später heulend anzurufen und um Hilfe zu bitten, weil ihr blödes Date sie einfach irgendwo in den finsteren Straßen des Stadtteils Queens hatte sitzen lassen.

Nach wie vor durfte Holly mit ihren Eltern, den jüngeren Brüdern und Mia nicht über alles reden, was ihr neues Leben betraf, aber diese Wahrung bestimmter Geheimnisse diente lediglich dem Schutz ihrer Lieben. Sterbliche brauchten wirklich nichts von einem blutgeborenen Erzengel zu wissen. Was ihre Eltern und Geschwister betraf, waren Holly und ihre Freundinnen von einem geistesgestörten Sterblichen entführt und mit einem lebensgefährlichen Virus infiziert worden. Ein Engel hatte Holly gerettet, indem er versucht hatte, sie in einen Vampir zu verwandeln, allerdings war die Wandlung aufgrund des Virus in ihrem Blut nicht glatt vonstattengegangen.

Hollys Familie hatte keinen Grund, die Geschichte nicht zu glauben.

»Ich fahre hoch und werde dich besuchen, wann immer du dich allein fühlst!«, versicherte sie jetzt ihrer Schwester, die unerschütterlich und dickköpfig darauf bestanden hatte, Holly auch dann noch zu lieben, als diese selbst es nicht getan hatte, es nicht hatte tun können. »Ein Anruf genügt.«

»Ich hab dich lieb, Hollster!« Noch eine kräftige Umarmung, alles an Mia bestand aus weichen, weiblichen Rundungen.

Mia war so völlig anders gebaut als Holly, die immer noch hoffte, ihre Brüste würden sich irgendwann doch noch besinnen und wenigstens ein bisschen größer werden, wenn sie es sich nur stark genug wünschte. Solange sie das nicht taten, gab es in dieser Frage nur einen Silberstreif am Horizont: in BHs brauchte Holly ihr Geld nicht zu investieren. »Und ich liebe dich noch mehr, Mimi.« Holly hatte einen Kloß im Hals. Nicht, weil ihre Schwester heute zu einem neuen Abenteuer aufbrach, sondern weil sie sich auf grauenhafte Art der Tatsache bewusst war, dass sich das Leben ohne Vorwarnung plötzlich ändern konnte. Wie schnell aus einem Menschen, der eben noch gelebt und gelacht hatte, eine blutüberströmte Leiche werden konnte.

Holly ließ die Menschen, die sie liebte, nur ungern aus den Augen. Das hatte sich zu einem ernsthaften psychologischen Problem entwickelt. Und weil es so war, zwang sie sich jetzt, ihre Schwester loszulassen, denn sie hatte nun wirklich nicht vor, Mias Träume zu zerstören, nur weil sie selbst von Albträumen gequält wurde. »Los jetzt!« Sie strich über Mias weiche, graue Strickjacke und versetzte der Schwester einen leichten Stoß. »Geh schon!«

Endlich riss Mia sich los und folgte den Absperrungsbändern bis zum Sicherheitsbereich, den kleinen Handgepäckkoffer hinter sich herziehend. »Ich werde dich an dein Versprechen erinnern!«, rief sie Holly über die Schulter hinweg zu.

Da der Sicherheitsbereich hinter einer Glasscheibe lag und somit einsehbar war, sah Holly Mia so lange nach, wie es irgend ging. Und die ganze Zeit musste sie gegen den heftigen Drang ankämpfen, einfach über die Absperrung zu springen und ihre Schwester wieder dorthin zu zerren, wo sie auf sie aufpassen, wo sie sie beschützen konnte. Dann schenkte ihr die ältere Schwester ein letztes, nervöses Lächeln, winkte noch einmal und verlor sich im Strom der Reisenden aus der Stadt, die Holly ebenso heftig liebte wie hasste.

Jingle bells, jingle bells, jingle all the way!

»Ashwini, nein wirklich!«, stöhnte Holly, während sie ihre Taschen nach ihrem Handy durchsuchte.

Das war nichtder Klingelton, den sie programmiert hatte!

Es dauerte ein bisschen, bis sie das ärgerlich fröhliche singende Streifenhörnchen zum Schweigen gebracht hatte. Mit dem Handy am Ohr eilte sie aus dem Terminal. »Sag deiner Frau, ich bringe sie um, wenn sie mir das nächste Mal über den Weg läuft!«

Janvier schien solche Drohungen seiner geliebten Ashwini gegenüber nicht weiter schlimm zu finden, er lachte nur. »Bist du am Flughafen, Hollyberry?«, erkundigte er sich im schleppenden Tonfall des Südens Louisianas, ein Akzent, der schon so manchen hinters Licht geführt hatte. Wer Janvier nicht kannte, konnte leicht meinen, er achte nur beiläufig auf die Welt um sich herum.

»Lass das!«, zischte Holly aufgebracht. »Vipernauge kannst du gleich mit auf die Liste meiner zukünftigen Mordopfer setzen.«

Hollyberry – diesen lächerlichen Spitznamen hatte Venom ihr zu einer Zeit verpasst, als sie selbst darauf bestanden hatte, von allen Sorrow genannt zu werden. Damals hatte sie den Namen passend gefunden, denn immerhin bedeutete Sorrow ja Kummer. Im Nachhinein musste sie sich allerdings eingestehen, dass sie vielleicht ein wenig überdramatisiert hatte.

Und wenn schon, sollten sie sie doch verklagen! Immerhin war sie von einem mächtigen, aber zutiefst gestörten Erzengel entführt und unglaublich brutal misshandelt worden. Über ihrem Leben hatte von einem Moment auf den anderen der Pesthauch schrecklicher, alles ausblendender Schmerzen gelegen. Gerade einmal dreiundzwanzig Jahre alt, war sie Nacht für Nacht von Albträumen heimgesucht worden, die ihr die Seele in Stücke rissen, war fast jeden Morgen stumm zu einem Ball aus Angst zusammengerollt in ihrem Schrank erwacht, als hätte ihr Unterbewusstsein gehofft, das Monster mit den roten Augen könnte sie dort nicht finden.

Natürlich hatte es sie doch gefunden.

Jedes Mal.

Denn dieses Monster lebte nun in Hollys vergiftetem Blut.

Da durfte ihr ein wenig Dramatik doch wohl gestattet sein.

Und außerdem: Was hatte dieser Venom schon für eine Ahnung? »Jawohl«, grummelte Holly. »Ich bin am Flughafen. Wollte gerade zurück nach Manhattan.«

»Du musst zu unserem Privatflugplatz, jemanden für mich abholen.«

»Ach nee!« Holly hielt mitten im Gehen inne. Sie wusste genau, wer heute mit dem Flugzeug nach New York zurückkehren würde. »Das ist dein Job!«

»Bloß stecke ich leider im Stau«, klärte Janvier sie auf. »Direkt vor mir hat ein Laster jede Menge Hühner auf die Fahrbahn gespuckt.«

»Sehr witzig. Ich lege jetzt auf.«

»Das ist kein Witz, Klein-Hollyberry.« Holly hörte, wie ein Autofenster heruntergelassen wurde. Wenig später drang das indignierte Gackern einer Hühnerschar aus ihrem Handy. »Siehst du, Janvier lügt nicht«, fuhr der nervige Cajun fort. »Ich bin von frustrierten Autofahrern umzingelt, und ein Ausweg ist nicht in Sicht. Du dagegen befindest dich nur zehn Minuten von dem Flugplatz entfernt. Bitte hol den Typen ab.«

»Ist das ein Befehl?« Janvier und Ashwini waren offiziell zu Hollys Chefs ernannt worden, als vor sieben Monaten das gesamte für ihre Ausbildung und geistige Gesundheit zuständige Team einhellig befunden hatte, sie habe die verdorbene und giftige Kraft, die sie als Schöpfung des Erzengels Uram kennzeichnete, mittlerweile ausreichend im Griff.

Wenn Holly an diesen Tag dachte, hätte sie vor Stolz jedes Mal fast platzen können. Das Team hatte ihr sein Vertrauen ausgesprochen, darauf wollte sie sich konzentrieren, auch wenn sie weiterhin an der Leine gehalten wurde. Janvier und Ashwini waren bereit gewesen, Hollys Fähigkeit zur Freundschaft mit jenen anzuerkennen, die eher im Schatten der Stadt lebten, und daher gehörte sie jetzt zu einer kleinen, aber effizienten Gruppe, die den schmutzig grauen Untergrund New Yorks im Auge behielt. Ein Ort, der sich erheblich von der Nachbarschaft des Engelsturms unterschied, wo eher die Macht als irgendetwas sonst zu Hause war.

Bevor ihr Leben in einer Fontäne aus Blut, Angst und Qualen auseinandergebrochen war, hatte Holly nichts von einer Hierarchie in der Welt der Unsterblichen geahnt. Sie hatte die hoch über den Wolkenkratzern dahinjagenden Engel und die die Straßen unsicher machenden Vampire in ein und demselben Licht betrachtet, als gefährlich starke, verstörend schöne Wesen. Heute kannte sie zweihundert Jahre alte Vampire, die als obdachlose Drogenabhängige auf der Straße lebten und weniger ihr Eigen nannten als sie selbst. Und sie wusste auch, dass einem Wesen, das zu lange lebt, jegliche Vorstellung von Menschlichkeit und Mitleid abhandenkommen kann.

Viele Unsterbliche erlebten nur noch durch Sex oder Folter, oft miteinander verwoben, irgendeine Art von Freude.

»Oui, das ist ein Befehl«, erwiderte Janvier auf ihre leicht ungehalten vorgebrachte Frage. »Ich kann durchaus Chef sein, wie du siehst.«

Nun musste Holly doch noch lächeln, obwohl sie es gar nicht gewollt hatte. »Okay. Dann fahr ich los und hole das Gift ab.«

»Benimm dich! Nicht dass mir hinterher Klagen kommen.«

Holly streckte dem Telefon die Zunge raus, ehe sie den Anruf beendete. Ein kleiner Junge mit einem winzigen blau-gelb gestreiften Rucksack auf dem Rücken hatte sie beobachtet und streckte ihr nun seinerseits kichernd die Zunge raus. Holly zwinkerte ihm zu, er warf im Weitergehen einen Blick über seine Schulter und winkte.

Holly winkte ebenfalls.

Was für ein süßer Kleiner! Er ahnte ja nicht, dass sie das Werk eines mordgierigen Psychopathen war, dass sie oft ein ganz schreckliches Verlangen plagte und in kalten Schweiß ausbrechen ließ. Er sah nur eine zierliche, chinesisch-amerikanische Frau in engen schwarzen Jeans mit aufgestickten schwarzen Rosen am linken Bein, einem Top aus fließender orangefarbener Seide und mit glänzenden schwarzen Stiefeletten mit kleinen goldenen Schnallen.

Diese ganz gewöhnliche Frau hatte sich die schwarzen, mit Strähnchen in allen Farben des Regenbogens durchsetzten Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein gerade geschnittener schwarzer Pony rahmte ihre Stirn, und die Nägel hatte sie sich in einer wilden Mischung aus allen nur erdenklichen Farben lackiert.

Lediglich eines ließ sie in dieser Stadt, in der die stilistisch Abenteuerlustigen beileibe keine Minderheit darstellten, aus der Menge herausragen: das stechende Grün ihrer Iris. Früher hatte Holly braune Augen gehabt, seit der Tragödie jedoch nicht mehr. Das Grün war anfangs noch dunkler gewesen, hatte stärker dem lebhaften Grün des Erzengels geglichen, der sie als menschliches Spielzeug missbraucht hatte, aber im Lauf des vergangenen Jahres hatte sich eine gewisse grelle Helligkeit herauskristallisiert, und so war die Farbe nun geblieben. Säuregrün.

Fremde gingen automatisch davon aus, dass Holly Kontaktlinsen trug. Das passte gut zu dem ersten Eindruck von einer Frau, die ohnehin so aussah, als hätte man sie in einen Farbtopf getunkt.

Vielleicht einen Tick schrullig oder sonderbar, aber auf jeden Fall menschlich. Normal.

Holly sehnte sich jeden Tag danach, diese normale Frau zu sein, die Fremde in ihr sahen. In den vier Jahren, die vergangen waren, seit man sie nackt ausgezogen und gezwungen hatte, zuzusehen, wie ihren Freundinnen bei lebendigem Leib die Gliedmaßen ausgerissen wurden, als ihr Hals von ihren Schreien wund und rau geworden war, hatte sie die ersten vier Stadien der Trauer durchlaufen: das Leugnen, die Wut, das Verhandeln und die Depression.

Fehlte noch die Akzeptanz, wozu sie noch verdammt viel Zeit brauchen würde, dachte sie nun, während sie in das ihr vom Turm zur Verfügung gestellte Fahrzeug stieg. Als Janvier ihr damals mitgeteilt hatte, als sein und Ashwinis Lehrling stünde ihr ein Auto aus dem Fuhrpark zu, hatte sie missmutig mit irgendeinem lahmen Kleinwagen gerechnet. Nur hatte sie dabei wohl vergessen, was für Leute für den Erzengel Raphael arbeiteten.

Kleinwagentypen gehörten ganz sicher nicht dazu. Hollys Auto war ein glänzend schwarzes Ding, das aussah wie ein fliegender Pfeil. Nicht neu, sozusagen das Gegenteil, und auch nicht ohne Kratzer und Beulen, die perfekte Tarnung, um darin in den düsteren Ecken der Stadt herumzustromern. Die Reifen waren okay, aber nicht so gut, dass jemand sie hätte stehlen mögen, und beim Radio bekam man gerade mal fünf Sender rein.

Holly liebte ihren Wagen heiß und innig, mit der Glut von tausend Sonnen.

Saß sie darin, dann konnte sie frei sein, konnte fliegen.

Keine Leine. Kein Blut, das nach Monströsem verlangte. Keine aufblitzenden Erinnerungen an eine rostrote, streichelnde Hand auf ihrem Haar, an die sanfte Stimme, die ihr zu trinken befahl, die zu dem Schlachtfeld, dem Blutbad, von dem Holly umgeben war, in krassem Widerspruch stand.

Heute, auf ihrem Weg zu dem Flugplatz, der für die Privatflugzeuge des Turms bestimmt war, schlängelte sie sich wie immer in einem irrsinnigen Tempo durch den Verkehr und ließ bei ihren Manövern oft nur wenige Zentimeter Abstand zwischen sich und den anderen Fahrzeugen. Bestimmt nicht die sicherste Art, ein Auto zu lenken, aber Holly achtete sehr darauf, niemanden in Gefahr zu bringen. Nur sich selbst.

Ja, sie brauchte auf jeden Fall eine gute Therapie!

Aber an Selbstmord dachte sie nicht mehr. In ihrem Kopf herrschte zugegebenermaßen ein ziemlich verkorkstes Durcheinander, aber die letzte, unwiderrufliche Entscheidung zu treffen, das würde sie ihrer Familie nicht antun. Ihre Mutter, ihr Vater, Mia, ihre jüngeren Brüder, sie alle hatten in den Tagen und Wochen unmittelbar nach dem Blutbad genug gelitten. Und auch in den Monaten, in denen Holly sich verwirrt, zornig und verängstigt von allen zurückgezogen hatte.

Erst Janvier hatte ihr damals klarmachen können, welche Konsequenzen sich aus ihrem Verhalten ergeben könnten.

»Meine Schwestern fehlen mir sehr, und sie werden mir jeden Tag meiner Existenz als Vampir fehlen«, hatte er nach einer Trainingsstunde im Nahkampf zu ihr gesagt, als sie sich im Gras ausruhten, Holly so erschöpft, dass ihr ganzer Körper nur aus Schmerzen zu bestehen schien. »Ich habe eine große Familie, die mich sehr liebt, aber die Leute, mit denen wir aufgewachsen sind, kleine Holly – das ist eine völlig andere Bindung.« In den Augen von Hollys tödlich gefährlichem Chef, deren Farbe an das Grün des Mooses der Bayous erinnerte, war ein verräterischer Glanz erschienen, den eben dieser gefährliche Chef nicht zu verbergen versucht hatte. »Amelie und Jöelle leben hier.« Er hatte sich die Faust auf die Brust gelegt, dort, wo das Herz saß. »Und hier werden sie für immer sicher verwahrt sein.«

Janviers Augen waren hinüber zu seiner Frau gewandert, die gerade mit der beherrschten Hingabe einer Jägerin eine Kata übte. »Und meine gefährliche Liebste, meine Ashblade, trauert um ihren Bruder und ihre Schwester.« Er war aufgestanden, um Ashwini an sich zu ziehen und ihr einen Kuss zu geben, wobei sich die Finger der Gildejägerin in seinem kastanienbraunen Haar vergruben. Da hatte Holly angefangen, zu begreifen. Mehr noch: Es war ihr mit Macht wie Schuppen von den Augen gefallen.

Eines Tages würde Mia nicht mehr da sein.

Alvin und Wesley würden nicht mehr leben.

Ihre Eltern würden tot sein.

Sie würde diese Zeit jetzt nie mehr zurückbekommen.

Eine Stunde später hatte sie sich in die U-Bahn gesetzt und war nach Hause gefahren, wo sie mit Tränen und Umarmungen und ihrem Lieblingsessen begrüßt worden war. Anschließend jedoch war sie so hochnotpeinlichen Verhören unterzogen worden, dass ihr noch bei der Erinnerung daran die Haare zu Berge standen.

Diese Erinnerung hütete sie tief in ihrem Innern – gegen eine unbekannte Zukunft.

Sie schoss in eine Parklücke vor dem kleinen Terminal am Ende einer langen und leeren Privatstraße, stieg aus und zeigte dem Wachmann am Tor den Ausweis, der sie als Mitarbeiterin des Turms auswies.

Der Wachmann musterte sie trotzdem mit scharfem Blick von oben bis unten, murmelte ihren Namen in ein an seinem makellos weißen Hemdkragen befestigtes Mikrofon und presste sich anschließend mit dem Finger den dazugehörenden Empfänger fester ins Ohr.

Was immer er am anderen Ende zu hören bekam, schien ihn zu befriedigen, er nickte. »Sie haben die entsprechende Befugnis.« Sein Mund verzog sich zu einem kaum merklichen Lächeln. »Nettes Outfit. Ich wusste gar nicht, dass der Turm jetzt schon Fünfjährige fahren lässt.«

Holly kniff die Augen zusammen. »Haben Sie Ihren Anzug bei Schicke Vampire sind wir! gekauft?«, erkundigte sie sich in zuckersüßem Ton. »Ich habe einen Freund, den das interessieren könnte.«

Im Handumdrehen war das Lächeln im Gesicht des Vampirs wie weggewischt, und er starrte Holly an, ohne mit der Wimper zu zucken. Holly starrte ebenso unverwandt zurück. Sie hatte nicht vor, sich einschüchtern zu lassen, obwohl der Wachmann mindestens fünfhundert Jahre alt war, wenn sie ihrem im Laufe des letzten Jahres entwickelten inneren Chronometer glauben konnte.

Hinter ihren Augen kribbelte es.

Mist.

Sie senkte die Lider und holte tief Luft, auch wenn Nachgeben im Prinzip gegen die Dogmen ihrer persönlichen Religion verstieß. Als sie die Augen wieder aufschlug, grinste der Vampir sie unverschämt an. Mit zusammengebissenen Zähnen verkniff sie sich den höhnischen Hinweis darauf, dass sie ganz kurz davor gewesen war, ihn mit ein bisschen Hypnose in ein gackerndes Huhn zu verwandeln, und betrat das Terminal, ein vergleichsweise kleines Gebäude mit einer Glaswand, durch die hindurch man die Landebahn beobachten konnte.

Weit oben über allem thronten die Leute von der Luftüberwachung in ihrem eigenen kleinen Kontrollturm.

Nicht zum ersten Mal fand Holly es komisch, dass es diese Flugüberwachung auch hier gab, immerhin bewegten sich die Engel am Himmel doch sonst wo und wie sie wollten. Aber sobald sie im Flugzeug unterwegs waren, galten auch für sie die allgemeinen Regeln des Luftraums. Nicht, dass der Mann, den sie abholen sollte, Flügel gehabt hätte. Venom war ein Vampir und gehörte zur Gruppe der Sieben, Raphaels persönlicher Wache. Was leider, leider auch bedeutete, dass er viel stärker war, als er es mit seinen dreihundertfünfzig Jahren eigentlich hätte sein dürfen.

Jeder der Sieben besaß unglaubliche Macht und Stärke.

»Towers Airways Flight Three zur Landung angesetzt.«

Mit einem überraschten Lächeln im Gesicht sah Holly hoch zu den Lautsprechern unter der Decke. »Sehr witzig, Trace!« Sie hatte die Stimme sofort erkannt.

Aus den Lautsprechern drang Männerlachen. »Ich dachte, meine kleine Abenteuerreisende in unbekannte Welten könnte ein bisschen Unterhaltung gebrauchen«, erklärte der Vampir mit seiner warmen Tenorstimme. »Magst du hochkommen?«

Aber Holly hatte gerade das zur Landung ansetzende Flugzeug entdeckt, und ihr Herz fing sofort an, schneller zu schlagen. Trat sozusagen schon mal in Vorleistung. Denn zwischen ihr und Venom, da herrschte immer Krieg. »Das geht leider nicht, vielen Dank. Seit wann bist du unter die Fluglotsen gegangen?«

»Ich leiste Andreja Gesellschaft.«

Trace beendete seine Durchsage mit einer Gedichtzeile, die Hollys Herz höherschlagen ließ.

Die Freundschaft zwischen ihr und Trace basierte auf Worten, auf der Poesie, die sie beide bewunderten und in der sie Trost fanden.

Und dann gab es da diesen Mann, der gleich aus dem Flugzeug steigen würde, dessen Fahrgestell gerade mit sanftem Aufprall auf dem Asphalt der Landebahn aufgesetzt hatte. Er war fast unmittelbar nach dem grauenhaften Tag Teil ihres Lebens geworden, an dem sie hilflos, ihr Körper gelähmt vom vergifteten Blut, hatte mit ansehen müssen, wie ein wahnsinniger Erzengel der laut schreienden Shelly den Arm vom Rumpf riss wie einem Schmetterling die Flügel, und dann innehielt, um Holly mit rot verschmiertem Mund zu küssen.

»Ganz ruhig.«

Holly presste sich die Hände in die Seiten, während sich ihr die Nackenhaare aufstellten, und schob resolut die Vergangenheit beiseite, um sich ganz auf den Mann zu konzentrieren, den sie hier abholen sollte. Ein Mann, der sie praktisch von der ersten Begegnung an irritiert und wütend gemacht hatte.

Den sind wir los! hatte sie sich zwei Jahre zuvor gefreut, als der Turm Venom Arbeit außerhalb New Yorks zugeteilt hatte. Aber dann hatte sie feststellen müssen, dass ohne ihn niemand in der Stadt den Teil von ihr mehr wirklich sah, der kalt und tödlich und auf eine unheimliche Art nicht menschlich war. Die Unsterblichen, die sie umgaben, waren allesamt stark und tödlich, doch niemand sonst war so seltsam anders wie sie.

Venom war nicht nur gegen ihre Fähigkeit zur Hypnose immun, er war auch die einzige Person, die ihr den Umgang mit dieser Fähigkeit beibringen konnte, was zur Folge hatte, dass sie sich seine nervige Stimme während seiner Abwesenheit einmal die Woche am Telefon hatte anhören müssen. Wo er sich aufgehalten hatte, wusste sie nicht, niemand hatte ihr gegenüber den Ort je mit Namen erwähnt. Eigentlich hatte er auch relativ bald zurückkommen und weiterhin direkt mit ihr arbeiten sollen, aber in der unsterblichen Welt war es zu seltsamen, unheimlichen Spannungen gekommen, weshalb Venom zwei Jahre lang nicht mehr nach New York zurückgekehrt war.

Jetzt stieg er da drüben aus dem Privatflugzeug.

Natürlich wie immer in einem schwarzen, maßgeschneiderten Anzug, dazu trug er ein schwarzes Hemd und keine Krawatte. Eine verspiegelte Panoramasonnenbrille verdeckte seine Augen. Bis jetzt hatte Holly nicht herausfinden können, ob er die Brille trug, weil seine Augen lichtempfindlich waren, oder damit Leute, die ihn nicht kannten, nicht gleich ausflippten, oder weil er einfach ein Angebertyp war, dem es gefiel, wenn andere ihn für undurchschaubar hielten.

Wenn Holly hätte wetten müssen, hätte sie auf Letzteres getippt.

Er stieg langsam die Flugzeugtreppe herunter, die auf elegante Weise abgetragene Reisetasche aus Leder lässig über die Schulter geworfen, drehte sich am Fuß der Treppe noch einmal um und erhob die Hand kurz zum Cockpit. Das Licht des frühen Nachmittags fing sich in seiner klaren Kinnlinie und ließ die braune Haut wie blank poliert leuchten. Das etwas zu lange schokoladenbraune Haar fiel genau so, wie es sollte, keine Strähne lag dort, wo sie nicht hingehörte.

Der ganze verdammte Mann sah aus wie frisch einer Reklame für feinen Whiskey oder Luxusuhren entsprungen.

Holly hatte gerade verärgert die Stirn gerunzelt, als Venom durch die Gläser hindurch ihren Blick auffing. Trotz der verspiegelten Brille wusste sie genau, dass er sie ansah. Sie richtete sich auf, die Arme vor der Brust verschränkt, die Füße ein Stück weit auseinander, und starrte zurück.

Woraufhin er lächelnd die Sonnenbrille abnahm.

Erstaunlich grüne, schräg geschnittene Augen, wie die einer Viper, sahen sie an. Wie ich sehe, hast du mich vermisst, Kitty!, formten seine Lippen.

Holly zeigte ihm ein süßliches Lächeln – und den Stinkefinger.

2

Lachend setzte sich Venom die Sonnenbrille wieder auf und stand wenige Augenblicke später vor Holly im Wartebereich. Sofort stürmte mit voller Macht die rohe Kraft, die er verkörperte, auf sie ein. Obwohl ihr doch gerade einige Gedanken zu diesem Mann durch den Kopf geschossen waren, hatte sie offenbar vergessen, welche Stärke er besaß. Immer – er zog hier kein Powerplay ab, das wusste Holly genau. Er legte es nicht absichtlich darauf an, sie zu überwältigen.

Was sie spürte, war einfach nur das, was er war: ein Vampir, hundertmal gefährlicher als der Wachmann da draußen.

»Verdammt«, begrüßte sie ihn mit Jammermiene. »Ich hatte gehofft, du wärst in eine Felsspalte gefallen!« Venom hatte bei ihrem letzten Telefonat erwähnt, dass er auf eine Bergtour gehen wollte. »Da habe ich wohl Pech gehabt.«

»Wie ich sehe, sind deine winzigen Babyzähnchen niedlich wie eh und je, Kitty-Kätzchen.«

Am liebsten hätte sie ihn jetzt angefaucht, ein Bedürfnis, das sie sich letztlich nur verkniff, weil er sich ja doch bloß darüber lustig machen würde. Und weil sie in der Zeit seiner Abwesenheit gelernt hatte, die am deutlichsten hervorstechenden nichtmenschlichen Aspekte ihres Wesens eisern zu beherrschen.

Was die grauenhafte Stimme anging, die ihr Sachen einzuflüstern versuchte, sobald sie abgelenkt war, so würde sie auch ihr noch den Garaus machen. »Wo ist dein restliches Gepäck?«

»Mehr habe ich nicht.«

Holly verdrehte die Augen und stemmte die Hände in die Hüften. »Aber sicher. Und was hast du die letzten beiden Jahre getragen?« Venom besaß für jeden Tag des Monats einen eigenen Anzug.

»Du musst nicht immer glauben, dass du alles weißt, Kitty.«

Die Welt nahm einen säuregrünen Farbton an.

Venom lächelte zufrieden. »Na bitte!« Er setzte die Sonnenbrille wieder ab, und zum Vorschein kamen Augen, die noch gespenstischer wirkten als Hollys eigene. »Buh!«

Nach wie vor gelang es Holly, ihre Wut mit reiner Willenskraft und unter erheblichen Anstrengungen unter Kontrolle zu halten. Sie warf einen Blick hoch zu den Lautsprechern. »Tschüss, Trace! Ich wünsche dir und Andreja einen wunderschönen Tag. Mich wird man wohl bald wegen Mordes verhaften, du besuchst mich doch im Knast, ja?«

»Adieu, mein schönes Mädchen!«, ertönte galant und fröhlich die Stimme von Trace. »Und was dich angeht, alter Freund, wie schön, dich wieder bei uns zu haben, auch wenn du unsere Holly reizt, bis ihr nach Mord ist.«

»Ich freue mich auch, wieder hier zu sein.« Venom setzte sich die Sonnenbrille auf und sah Holly an. »Bist du meine Chauffeuse?«

»Ich bin die Frau, mit der du dich lieber nicht anlegen solltest, wenn du nicht zu Fuß zum Turm gehen willst.« Holly stürmte mit großen Schritten hinaus zu ihrem Auto.

Venom blieb noch kurz stehen, um den Wachmann am Tor mit Handschlag zu begrüßen, ehe er ihr folgte und seine Reisetasche im Kofferraum verstaute. Bevor er einsteigen konnte, musste er erst einmal den Beifahrersitz ganz nach hinten schieben, um Platz für seine Beine zu schaffen. Er mochte zwar gertenschlank sein, besaß aber breite Schultern, lange Beine und jede Menge Muskeln. Und wenn er wollte, bewegte er sich so schnell wie eine Kobra beim Angriff.

»Dann lassen sie dich jetzt also fahren!«, sagte er in provokant staunendem Ton, der Holly einfach unter die Haut gehen musste. »Da ist man mal zwei Jahre fort, und schon hat man die entscheidenden Schritte in Kittys Leben verpasst. Hat denn wenigstens jemand Fotos für das Babyalbum gemacht, das ich euch geschickt habe?«

»Das ist voll mit hübschen Bildern.« Holly zeigte Zähne. »Honor macht sich allerdings ein bisschen Sorgen, weil ich dich immer mit abgeschlagenem Haupt zeichne.« Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. »Als Künstlerin muss man wohl seinen Instinkten folgen.«

»Ach Hollyberry, dann konntest du mich also nicht vergessen? Ich bin tief gerührt.«

Holly ließ mit voller Absicht die Reifen quietschen, als sie vom Parkplatz schoss, und auf der Straße legte sie aus dem Stand ein solches Tempo vor, dass Venoms Kopf eigentlich gegen die Nackenstütze hätte fliegen müssen. Tat er aber nicht. Venom stützte sich lachend mit der Hand am Rahmen des offenen Beifahrerfensters ab, während sein Duft mit all seiner Wildheit über Hollys Haut strich. »Das mit der Selbstbeherrschung hast du ja ziemlich im Griff, wie ich sehe.«

»Ach, b…« Holly konnte sich gerade noch auf die Zunge beißen und sich das Beiß mich doch! verkneifen. Sie wusste genau, wie die Antwort ausfallen würde.

»Ich freue mich so auf frisches Blut.« Der Klang von Venoms Stimme rann wie flüssiger Honig durch das Wageninnere, während er selbst so lässig in seinem Sitz hing, wie es einem Menschen einfach nie möglich wäre. »Blut heiß aus der Ader, ist doch viel besser als das kalte Zeug in Flaschen, findest du nicht?«

Holly klammerte sich an das Lenkrad und versuchte, sich die Übungen ins Gedächtnis zu rufen, die Honor ihr beigebracht hatte, als Holly sich am liebsten selbst in Stücke gerissen hätte und lernen musste, ihre Gedanken und Gefühle besser zu kontrollieren. Sie brauchte diese Übungen eigentlich schon seit einer ganzen Weile nicht mehr. Venom war eben eine ganze Weile nicht in der Stadt gewesen.

Einatmen, ausatmen, einatmen …

Blut, das pulsierend durch die Adern ihres Opfers rinnt, das durch unnennbare Angst immer mehr an die Oberfläche gesogen wird.

… ausatmen. Ein, aus, ein. Verdammt! Aus.

Der Geschmack von heißem Eisen auf ihrer Zunge ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Verbissen konzentrierte sich Holly ganz und gar auf die Straße, weigerte sich, dem mächtigen und anormalen Hunger nachzugeben, den Venoms Worte in ihr geweckt hatten. Sie brauchte nicht viel Blut, um zu überleben. Und sie würde ganz sicher keinem hilflosen Sterblichen die Kehle herausreißen, um sich in einem heißen, dunklen Strom aus Rot zu baden.

Bei den Bildern, die ihr Hirn zu überfluten drohten, verwandelte sich Hollys Magen in einen Klumpen, und in ihrer Kehle arbeitete es heftig. Schreckliche, albtraumhafte Bilder waren es, direkt aus einem Heim für mordgeile Irre.

»Wehrst du dich immer noch gegen die Tatsache, dass du eine Vampirin bist?«

»Bin ich nicht.« Holly war die unglaubliche Angst nicht anzuhören, die sie quälte – weil sie es gewöhnt war, den in ihr lauernden Wahnsinn zu verbergen. »Ich habe vampirische Tendenzen, aber ich brauche nicht so viel Blut wie du.« Was sie brauchte und was sie begehrte, das waren zwei verschiedene Paar Schuh. Was sie begehrte, war eine viel tödlichere, gewalttätigere Sache. »Außerdem sind einige Aspekte an mir überhaupt nicht vampirisch.«

»Die Fähigkeit, Beute zu hypnotisieren, meinst du das? Ich sag das ja nur ungern, Kitty, aber hypnotisieren kann ich auch, und ich bin Vampir. Und anders als bei dir ist meine Fähigkeit nicht auf Sterbliche und sehr junge Vampire beschränkt.«

Holly wusste ziemlich genau, dass er sie nur verspotten wollte, denn Venom war durchaus klar, was sie sonst noch alles zu tun imstande war. »Ich muss essen«, fuhr sie fort, denn solch ein Schlagabtausch mit Venom kam ihrer Version von »normal« ziemlich nahe, und um »normal« ging es ihr gerade. »Daran hat sich nichts geändert seit dem Tag, an dem der Turm beschloss, Manhattan sei ohne deine bezaubernde Wenigkeit besser dran.«

»Hör auf, hör auf, das ist zu viel des Guten! So viel Begeisterung zu meiner Begrüßung kann ich wirklich nicht verkraften.« Unerschüttert, zutiefst belustigt, streckte Venom seine langen Beine aus. »Isst du immer noch so gern Samosas?«

»Nein.« Holly war in der vergangenen Woche dreimal in ihrem bevorzugten indischen Restaurant gewesen, um sich mit den köstlichen, gebratenen … Moment! »Wieso weißt du das noch?«, erkundigte sie sich misstrauisch, denn das Eingeständnis dieser Leidenschaft für Samosas war ihr ein einziges Mal herausgerutscht, und zwar bei einer ihre Trainingssessions per Telefon.

»Weil das ein weiterer Beweis für die Seltsamkeit unserer Hollyberry ist, den ich meiner wachsenden Sammlung hinzufügen konnte.«

»Du bist und bleibst ein Arsch.« Dieser Schlagabtausch, dachte Holly, fasste Venoms und ihre Beziehung ziemlich gut zusammen. Die vom Flugfeld wegführende Privatstraße war so gut wie leer, bot also kaum Ablenkung, aber zum Glück mündete sie schon bald in eine mehrspurige, stärker befahrene Straße, und sie durfte Venom getrost ignorieren, ohne sich etwas zu vergeben. Das Kribbeln auf ihrer Haut, das sich in seiner Nähe unweigerlich bei ihr einstellte, wollte jedoch einfach nicht weggehen.

»Und? Was machen Kätzchen so an ihren freien Tagen?«

»Sei still. Ich fahre.«

»Ach, so nennst du das? Ich fühle mich eher wie bei einer aus dem Ruder gelaufenen Achterbahnfahrt.«

»Noch sehe ich dich nicht zu Fuß – Herrgott noch mal!« Holly riss das Lenkrad scharf nach rechts, als ein großer schwarzer Geländewagen sie aus der Fahrspur zu drängen drohte. Sie hatte sich nicht falsch verhalten, der Fehler lag beim Fahrer des anderen Fahrzeugs, das ihren Wagen immer noch unverhohlen aggressiv bedrängte, als gebe es außer dieser Fahrspur keine andere.

Jetzt hupte dieser Schweinehund auch noch!

»Halt an«, befahl Venom mit eiskalter Stimme. »Ich kümmere mich darum.«

Normalerweise legte Holly großen Wert darauf, ihm immer und auf jeden Fall zu widersprechen, schon rein aus Prinzip, aber der Volltrottel am Steuer des anderen Fahrzeugs verlieh dem Begriff gefährliches Fahrverhalten gerade eine ganz neue Definition. Wenn er so weitermachte, könnte es zu einem verheerenden Zusammenstoß kommen, und in den anderen Fahrzeugen hier auf der Straße saßen wahrscheinlich nicht nur Vampire, die allerhand mehr vertrugen als Menschen.

Also lenkte Holly ihr Auto auf den Seitenstreifen und hielt an. Der Geländewagen kam mit quietschenden Bremsen ebenfalls zum Stehen und zwar nicht hinter, sondern neben ihr. »Na klasse«, stöhnte Holly, »der Typ scheint einer von denen zu sein, die sich auf der Straße wohl nicht im Griff haben!« Mit einem Ruck stieß sie ihre Tür auf, wobei ihr egal war, welche Spuren sie dabei auf dem glänzenden Lack des Geländewagens hinterlassen würde. Es war eng zwischen den beiden Fahrzeugen, aber für eine Frau ihrer Figur reichte es allemal.

Venom stand bereits ebenfalls auf ihrer Seite des Wagens, der Mann war einfach heimtückisch schnell. Als Holly ausstieg, hörte sie, wie die Türen des anderen Wagens aufgingen und eine barsche männliche Stimme befahl: »Schnappt euch das Mädchen.«

Schnappt euch das Mädchen?

Wohl eher nicht!

Dem ersten Schlägertypen trat Holly die Knarre aus der Hand. Der zweite flog zurück gegen den Wagen, ohne dass sie auch nur eine Bewegung von Venom registriert hätte. Der dritte warf einen Blick auf Hollys Begleiter und wurde kreidebleich: »Sie dürften eigentlich gar nicht hier sein!«

Holly bekam den ängstlichen Aufschrei durchaus mit, als sie mit einem gezielten Tritt dafür sorgte, dass der Kopf des ersten Schurken zur Seite flog. Aber der Bursche war stark, ein mindestens dreihundert Jahre alter Vampir, der Holly immer wieder angriff. Wenn es so schnell gehen musste wie jetzt, konnte Holly keine ihrer neuen Fähigkeiten einsetzen. Sie musste sich mit dem begnügen, was sie von Honor, Ashwini und Elena gelernt hatte.

Alle drei waren Jägerinnen der Gilde, alle drei waren daran gewöhnt, gegen stärkere, schnellere Gegner anzutreten.

Holly war kleiner als die, die sie ausbildeten. ›Klein-Hollyberry‹ nannte Janvier sie manchmal, in der Schule war sie ›Shorty‹ gewesen. Aber das war jetzt egal, jetzt zählte nur, was sie gelernt hatte. Die Jägerinnen, Janvier und auch Venom hatten ihr beigebracht, ihre Körpergröße zu ihrem Vorteil einzusetzen, sie zu nutzen, statt ein Handicap darin zu sehen. Sie duckte sich unter der fleischigen Faust ihres Angreifers hindurch und revanchierte sich für die Attacke mit einem beidhändigen Schlag gegen seinen Unterleib, gut gezielt, genau dahin, wo es richtig wehtat.

Sein gequälter Aufschrei war Musik in ihren Ohren. Gleich darauf flog der Mann mit solcher Wucht gegen sein Auto, dass sich seine Umrisse anschließend als Delle im Blech der Karosserie abzeichneten – eine Delle, die gut zu der passte, die schon Schurke Nummer zwei dort hinterlassen hatte.

»Den hatte ich voll im Griff!«, empörte sich Holly mit heftig wogender Brust.

Venom strich sich über das Jackett, das eigentlich gar nichts abbekommen hatte, um glatt gezogen werden zu müssen. »Nichts zu danken«, meinte er trocken, während er einem der Schurken mit einem im Designerschuh steckenden Fuß in die Seite trat. »Der hier sieht noch am lebendigsten aus. Wollen mal sehen, was er uns zu sagen hat.«

Nicht viel, wie sich rasch herausstellte.

»Es gibt ein Kopfgeld, wenn man sie schnappt.« Es kostete den Schurken all seine Willenskraft, nicht zu zittern, als er vor Venom stand. Seine kränklich blasse Haut wirkte erhitzt und zeigte hektische rote Flecken.

»Wie viel? Und wer steckt dahinter?«

»Das weiß ich nicht, Mike hat alle Details, aber ich glaube, dem haben Sie den Schädel eingeschlagen.«

»Der wacht schon wieder auf. Irgendwann mal.« Ein eiskaltes Lächeln. »Und dann wird er die wahre Bedeutung des Wortes ›Schmerz‹ begreifen lernen.«

Jetzt fingen die Zähne des Schurken doch noch an zu klappern. »Ich schwöre, wir wollten ihr nicht wehtun«, schluchzte er. »Wir wollten sie nur kidnappen, für das Kopfgeld.«

Holly verdrehte die Augen. »›Sie‹ steht direkt hier, Schwachkopf.«

Besagter Schwachkopf stand wie erstarrt vor Venom und zwar ohne dass dieser ihn hypnotisierte, das merkte Holly genau. »Mehr weiß ich nicht«, plapperte er hektisch, während seine Lippe, die einen Schlag abbekommen hatte und einen Riss zeigte, sichtlich anschwoll. »Wir hatten sie beobachtet, mitbekommen, dass sie ihre Schwester zum Flughafen bringt, und sind jetzt davon ausgegangen, dass sie allein nach Hause fährt.«

»Und ihr habt euch nichts dabei gedacht, als ihr bemerkt habt, dass ich einen Umweg zu unserem privaten Flugfeld mache?« Alle wussten doch, dass dieser Flugplatz zum Turm gehörte.

Die Augen des Schurken blieben unverwandt auf Venom gerichtet. »Sie fährt wie eine Wahnsinnige.«

Venom lachte. »In der Frage dürften wir einer Meinung sein.« Sein Lachen ließ den stiernackigen Schurken zusammenzucken. »Und jetzt den Rest, wenn ich bitten darf.«

Der Mann redete so schnell, dass zwischen den einzelnen Worten kaum Lücken blieben. »Sie ist uns gleich hinter dem großen Flughafen abhandengekommen. Wir haben fünfzehn Minuten gewartet und sind dann zu einer Tankstelle gefahren, um uns einen Kaffee zu holen und einen neuen Plan zu schmieden. Wir saßen gerade wieder im Wagen, da flog ihr Auto an uns vorbei.«

Und da hatten die Schurken geglaubt, es sei ihr Glückstag. Vollkommen aufgedreht von der Aussicht auf Jagdbeute hatten sie sich nicht gefragt, warum Holly nicht schon längst wieder in Manhattan war, da sie doch so schnell raste, dass sie sich nicht an sie hatten dranhängen können. So viel Dummheit – Holly fand es nicht der Mühe wert, darüber den Kopf zu schütteln. »Wie sollte der Kontakt zu der Person aufgenommen werden, die das Kopfgeld ausgesetzt hat?«, fragte sie.

»Mike hat eine Adresse, glaube ich, an die er ein Foto mailen soll.« Der Schurke fuhr sich schluckend mit der Zunge über die Lippen. »Als Beweis, verstehen Sie?«

Holly ging zu dem Gangster, der seitlich am Kopf eine so schwere Verletzung davongetragen hatte, dass Hirnmasse austrat. Nicht hübsch, aber bei Weitem nicht das Schlimmste, das Holly je gesehen hatte. Rasch durchsuchte sie die Taschen des Mannes, bis sie sein Handy gefunden hatte. Sie entsperrte es mithilfe seines Daumenabdrucks und sah die SMS durch.

Nichts.

Sie wollte gerade die E-Mails checken, als auf dem Bildschirm eine Erinnerung auftauchte: Holly Chang entführen, per E-Mail Foto schicken. Es folgte eine Mailadresse.

Holly verschlug es die Sprache. Hatte sich der Vampir wirklich von seinem Handy daran erinnern lassen, dass er vorhatte, eine Frau zu entführen? War das nicht irgendwie eher eine Sache, die man nicht so schnell vergaß? Sie zeigte Venom das Display.

Er sah sie fragend an. »Kannst du so tun, als wärst du zusammengeschlagen worden?«

Nein. So wollte sie nie wieder aussehen.

»Nein«, meinte Venom leise. »Das hatte ich mir gedacht.«

Holly, deren Schultern erst wieder locker wurde, als er die Idee fallen gelassen hatte, dachte schnell nach. »Ich kann so aussehen, als wäre ich bewusstlos. Das kriege ich hin.« Sie zupfte sich ein paar Strähnen aus dem Pferdeschwanz und ließ sich auf den Rücksitz des Geländewagens fallen, den Kopf wie haltlos zur Seite gesunken. Einer der Schläger hatte ihr das funkelnagelneue Top zerrissen. Damit und mit den zerrupften Haaren machte sie einen angemessen abgekämpften Eindruck.

Venom schoss ein Foto mit dem Handy des vergesslichen Mike und schickte die Mail los. Als ein Team aus dem Turm eintraf, um die Kopfgeldjäger einzusammeln, warteten Holly und er immer noch auf eine Antwort. Ein Abschleppwagen tauchte ebenfalls auf, um den Geländewagen abzuholen, denn als Venom einen der Schläger auf die Kühlerhaube geknallt hatte, war dabei der Motor beschädigt worden.

»Es könnte sein, dass unser Kopfgeldspender die Leute observieren lässt, bei denen er am ehesten mit einem Erfolg rechnet«, überlegte Venom, als Holly und er wieder in Hollys Auto unterwegs zum Turm waren und das Handy im Becherhalter weiterhin hartnäckig stumm blieb. »In dem Fall hätten diese Beobachter gesehen, wie wir die Kopfgeldjäger fertiggemacht haben.«

Holly schnaubte. »Wenn bei diesen dreien am ehesten mit Erfolg zu rechnen ist, dann haben sie die Messlatte aber ernsthaft niedrig angesetzt.«

»Wen wundert es, Kitty? Man muss schon ziemlich dumm oder sehr verzweifelt sein, um sich eine zum Turm gehörende Frau vorzunehmen.«

Holly trommelte nachdenklich mit den Fingern auf das Lenkrad. »Vielleicht ist das nicht allgemein bekannt«, murmelte sie vor sich hin. »Ich habe erst seit sieben Monaten ein Zimmer im Turm und versuche, meine Verbindung nicht gerade an die große Glocke zu hängen.« Die schwächsten Unsterblichen, die, die das Tageslicht mieden, wussten nur, dass sie mächtige Vampire und Engel kannte und so ihren Anliegen Gehör verschaffen konnte. Holly selbst wurde allgemein nicht als Bedrohung wahrgenommen.

Wie ich ihnen doch allen Sand in die Augen streue.

Sie wollte das Lenkrad aus der Verankerung reißen, wollte ihre Wut laut schreiend aller Welt kundtun. Zu schade, dass Superstärke nicht zu den Fähigkeiten gehörte, die sie mit dem verdorbenen Blut erworben hatte – schade auch, dass sie den Albtraum ihrer Erschaffung nicht vergessen konnte. Holly hasste die Gefühle, die sie während des Entführungsversuchs überkommen hatten, Gefühle, die immer noch in ihrem Körper ihr Unwesen trieben.

Uram hatte sie entführt, als sie gerade mit ihren Freundinnen unterwegs gewesen war. Sie hatten ins Kino gehen wollen, alle in bester Laune. Sie hatten gelacht und sich auf die Mint Chocolate Frappuchinos gefreut, die sie sich im Kino holen wollten. Holly hatte ein kurzes gelbes Kleid getragen, dazu Riemchenschuhe mit hohen Absätzen, um ein bisschen größer zu wirken, und ihr Make-up war perfekt gewesen, sie hatte eine Stunde damit zugebracht, es aufzutragen.

Mia hatte ihr beim Lidstrich geholfen.

Dann kam der Horror.

Dieses Gefühl totaler Hilflosigkeit, absoluter Ohnmacht, lag wie ein Stein in ihrem Unterleib. Eine Erinnerung, die sie nicht mehr loswurde, nachdem sie sich ungefähr zweieinhalb Jahre nach dem Erlebnis selbst wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins gedrängt hatte. Als hätte Holly noch nicht genug Schreckliches mit ansehen müssen.

Mehr als achtzehn Monate waren seit dem ersten, angsteinflößenden Auftauchen der Erinnerung vergangen, und immer noch wollten die Echos des Albtraums nicht schwächer werden. Sie hatte geschrien, bis sie heiser war, hatte gekämpft, um ihre Freundinnen zu retten, aber Uram hatte sie eine nach der anderen vor Hollys Augen ausgeweidet, als würde er einem interessierten Publikum seine Kunst vorführen. Nur Holly war übrig geblieben, ein blutüberströmtes, nacktes Häuflein Elend, halb von Sinnen, als Elena sie fand.

In den Tagen danach hatte sie sich oft gewünscht, auch in jenem Leichenhaus ums Leben gekommen zu sein. Es war so unendlich schwer, zu leben und zu wissen, dass Shelly nie wieder atemlos kichernd lachen würde, dass Cara und Maxie nie wieder endlos über die richtige Lippenstiftfarbe diskutieren würden, dass Raina und Ping sich nie wieder genussvoll tratschend über die Männer in ihrem Leben auslassen würden.

In dem Lagerhaus in Brooklyn hatte es noch zwei weitere Opfer gegeben, Frauen, die bereits tot gewesen waren, ihr Blut ausgesaugt, als Uram Holly und ihre Freundinnen in sein Haus der Schrecken verschleppte. Holly hatte ihre Namen erst viel später erfahren: Kimiya und Nataja.

Sie hatte zu keiner der Beerdigungen gehen können und schaffte es nach wie vor nicht, ihre Gräber zu besuchen. Sie konnte es nicht ertragen. Es tat zu weh, sich vorzustellen, dass ihre Freundinnen und die beiden anderen, die sie nie kennengelernt hatte und nun auch nicht mehr kennenlernen würde, dort unten in der Erde lagen.

»Was ich nicht verstehe: Was will jemand mit einem Kitty- Kätzchen mit winzigen kleinen Fangzähnchen?«

3

Venoms belustigte Bemerkung riss Holly aus dem irren Kreislauf von Kummer, Verlust, Horror und Zorn. »Rutsch rüber, und ich zeig dir, wie hilflos diese Babyzähnchen sind!« Ihre Fangzähne sonderten eine grüne, säurehaltige Substanz ab. Die Wissenschaftler im Turm hatten sie analysiert: Es handelte sich um ein tödliches Gift.

»Es würde dir nichts bringen, mich zu beißen, Kitty, tut mir leid. Wo mir doch die meisten Frauen versichern, so gut wie mein Blut schmecke sonst keins.«

Holly tat so, als müsse sie sich übergeben, einen Moment lang unglaublich froh über den nervigen Mann neben sich, der sie so gut abzulenken verstand. Allerdings hätte sie sich lieber den Kopf abgehackt, als das zuzugeben. »Manche Frauen tun eben alles, um in den Turm zu kommen.«

»Das war gemein, Hollyberry! Du bist ja die reinste Giftschlange!«

Bei jedem anderen hätte sie die letzte Bemerkung als hässliche Beleidigung werten müssen. Bei Venom … »Hast du mir da gerade ein Kompliment gemacht?«, erkundigte sie sich fassungslos. »Nimm es sofort zurück!« Mit einem Venom, der in irgendeiner Form, Art oder Gestalt nett zu ihr war, konnte sie nun wirklich nicht umgehen.

»Natürlich ist dein Gift nicht annähernd so stark wie meins«, sagte er.

Sie wollte gerade kontern, Männer müssten doch immer glauben, ihrer sei der Größere, als die Bedeutung seiner Worte zu ihr durchdrang. »Der Turm hat sie miteinander verglichen?«

»Wir beide sind die einzigen giftigen Mitarbeiter im Turm. Der Sire muss genau wissen, wie stark wir sind.«

»Wie viel stärker bist du denn?«, erkundigte sie sich zähneknirschend. Dabei überraschte es sie nicht, dass Venoms Gift wirksamer war als ihr eigenes. Er sah zwar aus wie ungefähr siebenundzwanzig, hatte aber schon mehr Lebenszeit auf dem Buckel, als Holly sich vorstellen konnte.

Dabei würde er immer so aussehen wie jetzt, ein durch und durch sexuelles Wesen. Niemand würde es wagen, ihn ›Junge‹ zu rufen. Holly dagegen steckte mit dem Gesicht einer Dreiundzwanzigjährigen fest, dem immer noch eine gewisse jugendliche Weichheit angehaftet hatte, als Uram ihre Existenz grundlegend veränderte. Noch ein Jahr, und dieses Weiche wäre verschwunden gewesen, das wusste Holly. Sie hatte Mias Transformation vom Mädchen zur jungen Frau beobachtet.

Aber Holly hatte dieses eine Jahr nie bekommen, um in ihre Haut zu wachsen, um zur Frau zu werden.

Der Vampirismus, oder was auch immer durch ihr Blut strömte, würde ihre Gesichtszüge im Laufe der Jahre wahrscheinlich schon ein wenig erwachsener aussehen lassen, aber sie würde immer sehr jung wirken. Auch in fünfhundert Jahren noch, wenn sie überhaupt so alt würde. Vielleicht wäre ein langes, beinahe unsterbliches Leben für sie ja wirklich das Beste, was ihr passieren könnte.

»Ich bin inzwischen stark genug, um eine ganze Reihe von Engeln in der Stadt niedermachen zu können«, erklärte Venom lässig. »Das ist ein Geheimnis, und der Tower lässt dich exekutieren, wenn du es weitererzählst, also lass es lieber sein. Ich kann die Jungen in einen Schockzustand versetzen, in einen intensiven unfreiwilligen Schlaf, der der Meinung der Heiler nach zum Tode führen könnte. Den Älteren könnte ich mit meinem Gift so starke Schmerzen zufügen, dass sie damit praktisch ausgeschaltet wären.«

Holly runzelte die Stirn. »Du erzählst doch nur Lügen!«, sagte sie verächtlich, um gleich darauf automatisch zusammenzuzucken. Ihre Mutter würde drohen, ihr den Mund mit Seife auszuwaschen, wenn sie das eben gehört hätte. Daphne Chang war egal, was ihre Tochter war, solange Holly sich wie eine Dame benahm und auch so sprach. Immerhin war sie gut erzogen worden. Holly gab sich auch wirklich Mühe, allerdings nur, wenn ihre Mutter in der Nähe war und es mitbekam.

Nie wieder würde Holly willentlich ihrer Mom Kummer bereiten. Ihrer Mom, die sie nie, auch nicht eine Sekunde lang angesehen hatte, als wäre sie etwas anderes als ihr geliebtes Kind. Ihr Vater zeigte seine Liebe nicht so demonstrativ, legte aber immer wieder in seinem Laden Kleidungsstücke für sie zur Seite, Sachen, die farbenfroh und witzig und durch und durch Holly waren.

Liebe zeigt sich auf vielfältige Weise.

»Nein, ich habe nicht gelogen, es stimmt wirklich.« Venoms Haar flatterte ein wenig im Wind, der durch sein offenes Fenster wehte. Sein Profil wirkte so rein, so unglaublich perfekt, dass Holly einen Moment lang der Atem stockte. »Ich bin gefährlicher als die gefährlichste Schlange der Welt und besitze die Fähigkeit, auch starke Unsterbliche zu beeinflussen. Aber du liegst gar nicht mal so weit hinter mir.«

»Versuch du mal, dich von einem durchgeknallten Erzengel als Kauknochen benutzen zu lassen. Wirkt Wunder für dein Gift, hab ich mir sagen lassen.«

Niemand wusste genau, was Uram mit ihr angestellt hatte – abgesehen davon, dass er sie gezwungen hatte, sein Blut zu trinken. Das wusste sie inzwischen wieder, diese ekelhafte Erinnerung hatte sie endlich wiedererlangen können. Aber vieles andere aus der Zeit nach der Ermordung ihrer Freundinnen blieb nach wie vor verschollen. Holly war entweder bewusstlos gewesen, oder Uram hatte dafür gesorgt, dass sie sich nicht mehr daran erinnerte. Einfach toll zu wissen, dass einem ein blutgeborener Erzengel im Bewusstsein herumgestochert haben könnte.

Wer konnte schon ahnen, was er dort zurückgelassen hatte.

Holly wusste inzwischen eine Menge mehr über die Biologie der Engel als sogar die meisten älteren Vampire. Sie hatte sich diese Informationen einfach beschaffen müssen, um zu begreifen, was da mit ihr geschah.

»Aber wie ich schon sagte«, fuhr Venom soeben fort, »bin ich gegen deinen giftigen Biss immun.«

Holly runzelte verärgert die Stirn. Sie hatte ihn ein-, zweimal gebissen, damals, während der psychotischen Phase ihrer posttraumatischen Belastungsstörung. Er hatte die Vorfälle achselzuckend abgetan. Aber diese Bisse waren eher Kratzer gewesen, weil ihr Giftbiss zu der Zeit noch nicht zu seiner eigentlichen Form gefunden hatte. »Die Wissenschaftler haben die Wirkung unserer Gifte gegeneinander getestet?«

Venom streckte die Hand aus, um mit den Enden ihres Pferdeschwanzes zu spielen, den sie sich sofort nach Versenden des Fotos neu gebunden hatte. »Du siehst aus wie ein Spielzeugpony mit Einhornschweif.«

Verärgert wehrte sie seine Hand ab. »Beantworte gefälligst meine Frage. Und Einhornhaar war in diesem Fall durchaus beabsichtigt, wovon du ja keine Ahnung haben kannst. Du lässt ja immer nur schneiden und trocknen.« Manchmal überkam Holly das heftige Bedürfnis, Venom anzuspringen und zu zerzausen.

»Vollständige Neutralisierung.« Venom drehte sich leicht in seinem Sitz, um Hollys Profil vor sich zu haben – und das Kribbeln auf ihrer Haut verwandelte sich in einen Schwarm stechender Bienen. »Mein Gift schaltet deines aus und umgekehrt ebenso.«

Holly starrte geradeaus. »Ist mein Gift dasselbe wie deines?« Das war eine Frage, die sie eigentlich gar nicht hatte stellen wollen. »Wie das einer Viper oder Kobra oder einer anderen Schlange?«

»Nein.« Seine Antwort ließ ihr Herz lauter und schneller schlagen. »Meins könnte man so definieren, auch wenn es eine einmalige Mischung und nicht nur einer einzigen Schlange zuzuordnen ist. Aber deins ist anders als alles andere auf diesem Planeten, und es nimmt an Giftigkeit zu.«

Holly spürte, wie sich all ihre Muskeln anspannten. Dieses Ding in ihr, dieser irre Tumor, dem sie nicht davonlaufen konnte, wurde stärker. Sie wusste es, hatte es gespürt. Wo würde es enden? Im Tod? In psychotischem Wahnsinn, wie bei dem Erzengel, der ihr Blut-Sire gewesen war? Schlimmer noch?

»Wir könnten es testen«, sagte Venom in dem lässig sinnlichen Ton, den sie schon gehört hatte, wenn er mit Frauen sprach, die ihm hinterherliefen. »Wir könnten unsere Gifte tauschen.«

Holly landete mit einem Knall wieder im Hier und Jetzt. »Oh, Wahnsinn, was für eine tolle Idee! Lass mich nachdenken.« Kokett klimperte sie mit den Wimpern. »Die Antwort ist – ein dickes, fettes Nein.« Sie wusste genau, dass Venom sie nur provozieren wollte, er hielt sie für ein wütend um sich tretendes, spuckendes Baby. Sie hielt ihn für lästig und arrogant. Das war unter dem Strich die Quintessenz ihrer Beziehung.

»Warum will dich jemand so dringend haben, dass er ein Kopfgeld auf dich aussetzt?« Diesmal klang Venom ganz ernst. »Denn sie waren eindeutig hinter dir her, Holly Chang, auch bekannt als Sorrow. Es gab einen kurzen Bericht über dich und auch ein Foto.«

Holly nickte. »Hab ich gesehen.« Sie hatten beides auf dem Handy des Oberschurken entdeckt, das Foto zeigte Holly beim Verlassen des Cafés, in das sie ihre Mutter zu Tee und Kuchen eingeladen hatte. Daphne Chang hatte eine Schwäche für Kuchen, die Holly voll und ganz ausnutzte, wenn sie sich bei ihrer Mutter einschmeicheln wollte.

»Der Auftraggeber muss gewusst haben, wie du erschaffen wurdest«, fuhr Venom fort, während sich seine Kraft einer Welle gleich einmal um Holly schlang, um kurz darauf wieder zu verschwinden. »Oder er – sie – vermutet es zumindest.«

Holly fiel es schwer, weiterhin gleichmäßig zu atmen. Die Welle eben … Venom hatte nicht mit ihr gespielt. Er spielte gern mal Spielchen, aber keine solchen, keine, bei denen sie keine ebenbürtigen Gegner waren. Wenn sie seine Kraft so lebhaft gespürt hatte, dann entweder, weil sie aufgrund der immer noch in ihrem Körper stattfindenden Veränderungen eine größere Sensibilität entwickelt hatte, oder weil Venom in den zwei Jahren, in denen sie ihn nicht persönlich gesehen hatte, stärker geworden war.

Oder beides.

»Dein Blut ist einiges wert«, fuhr Venom fort.

»Leider.« Holly trug zwar nicht das tödliche Gift in sich, das bei Uram zu Mordgier und Wahnsinn geführt hatte, aber irgendetwas anderes schon. Etwas, das weder in der sterblichen noch in der unsterblichen Welt zur Standardausrüstung gehörte.

Was es war, hatte bisher niemand genau herausfinden können. Man wusste nur, dass Holly ein Unikum war, eine »Absonderlichkeit, die so in der Natur noch nie beobachtet wurde«, wie es einer der mit ihrem Fall beschäftigten Heiler einmal formuliert hatte.

»Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte Venom. »Du bist einmalig, und einmalige Dinge laufen einem im unsterblichen Leben nicht oft über den Weg. Irgendein Sammler könnte sich für dich interessieren, so wie sich Zhou Lijuan für die ungewöhnlichen Engelsflügel interessiert, die sie sammelt.«

Der Name des dem Wahnsinn verfallenen Erzengels von China ließ Holly innerlich zittern. »Wie kann sie Engelsflügel sammeln?«, erkundigte sie sich entsetzt. »Reißt sie den Engeln die Flügel aus?«

Venoms Antwort ließ ihr das Blut gefrieren. »Nein. Sie bevorzugt Flügel und Körper als Einheit. Als würde man einen toten Schmetterling an die Wand nageln.«

»Scheiße! Unsterbliche sind echt verkorkst!« Und jetzt war deren Welt auch ihre. »Haben sie auf dich damals auch so reagiert? Wie auf eine Kuriosität oder ein Sammlerstück?«

»Ich stellte für meine Umgebung keinen solchen Schock dar. Alle wussten ja, wer mich erschaffen hatte.«

Erzengel Neha, Königin der Schlangen und der Gifte.

»Aber ich bin unter den von ihr erschaffenen Vampiren der einzige, der so viel von dem in sich trägt, was sie ausmacht«, fuhr Venom langsam und nachdenklich fort, als müsse er sich Hunderte von Jahren zurückliegende Ereignisse erst wieder ins Gedächtnis rufen. »Nach dem Ablauf meines Vertrages haben viele Leute versucht, mich von ihrem Hof abzuwerben.«

Holly war gegen ihren Willen fasziniert. »Gehörte Raphael auch zu diesen Leuten?«

Venoms warmes Lachen passte nicht so recht zu einem Mann, der die Augen einer Viper hatte. »Der Sire hat nie um jemanden werben müssen, Kitty.«

Jetzt hatte sie doch noch wütend gefaucht, ehe sie sich davon abhalten konnte! Glücklicherweise waren sie inzwischen beim Erzengelturm von Manhattan angekommen, der wie ein glänzender, die Wolken durchbohrender Speer in den Himmel ragte, und Holly konnte mit voller Wucht auf die Bremse steigen. »Wir sind da. Los, schlängel dich weg!«, befahl sie, als Venom keine Anstalten machte, sich vom Fleck zu rühren.

»Du kommst mit mir mit.« Das war eine klare Anordnung. »Dmitri wird alles über die versuchte Entführung erfahren wollen.«

Holly wurde leicht übel. Genau das hatte sie befürchtet. Mit Venom kam sie klar, dem konnte sie schon deshalb fröhlich trotzen, weil der Typ so unglaublich nervte. Aber Dmitri? Das war etwas ganz anderes. Nicht weil sie Angst vor ihm gehabt hätte, sicher nicht, obwohl Dmitri ziemlich Furcht einflößend sein konnte. Sie wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen, das war das Problem.

Schweigend schlug sie das Steuer nach links ein und fuhr den Wagen in die Tiefgarage des Turms, wo sie immer noch schweigend einparkte und ausstieg. Venom holte seine Reisetasche aus dem Kofferraum und folgte ihr in den geschmeidigen Bewegungen, die Holly für affektiert gehalten hatte, bis sie Venom hatte kämpfen sehen. Da hatte sie gewusst, dass einen die Augen dieses Mannes nicht täuschten: Venom war wirklich bei seiner Erschaffung als Vampir bis tief in seine Zellen hinein verändert worden.

Warum er sich wohl zu dieser Verwandlung entschieden hatte? Und war sie es wert gewesen, hatte es sich gelohnt, nicht nur einhundert Jahre lang die Freiheit zu verlieren, sondern auch die Ähnlichkeit mit einem Menschen auf so fundamentale Art einzubüßen, wie sie bei den meisten anderen Vampire nicht zutraf?

Holly bemühte sich sehr, sich ihre Neugier nicht anmerken zu lassen, als Venom und sie in den Fahrstuhl stiegen. Selbst als seine sinnliche Kraft den engen Raum auszufüllen schien, hielt sie ihren Blick weiterhin stur geradeaus gerichtet. Trotzdem bemerkte sie, dass er die Sonnenbrille absetzte und in den Hemdkragen einhängte. Das tat er eigentlich nie, außer bei Raphael und den anderen aus der Gruppe der Sieben.

Der Fahrstuhl wurde langsamer, dann öffnete sich die Tür leise zum Flur, in dem Dmitris Büro untergebracht war. Holly war schon lange nicht mehr hier oben gewesen, wusste aber durch Honor von den Renovierungsarbeiten, die hier stattgefunden hatten. Die Wände des Flurs empfingen sie in einem warmen Grau, während der Teppich in einer kräftigeren Schattierung derselben eleganten Farbe gehalten war.

Vorher war hier alles schwarz gewesen, ganz Dmitri also.

Nun spiegelte die Atmosphäre nicht nur den mächtigsten Vampir der Stadt wider, sondern auch seine Frau, die Jägerin.

»Was sind das denn für Dellen?«, erkundigte sich Holly. Honor war bestimmt unglücklich darüber, dass ihre frisch gestrichenen Wände jetzt schon die ersten Schäden aufwiesen. Wenigstens schienen ja die von Honor so sorgsam ausgesuchten hübschen Kunstwerke unbeschadet überlebt zu haben.

»Sieht mir ganz nach Messerwürfen aus«, kommentierte Venom nach einem kurzen, prüfenden Blick auf die Einkerbungen. Er sah genauer hin und musste grinsen: »Ich würde mal sagen: Dmitri und Elena.«

Dann standen sie auch schon in Dmitris Büro, und so blieb Holly keine Zeit mehr, sich auf das Kommende vorzubereiten. Raphaels tödlicher Stellvertreter stand nicht wie sonst oft hinter seinem Schreibtisch – in dem Schreibtischstuhl hatte ihn Holly eigentlich noch nie sitzen sehen –, sondern war auf den geländerlosen Balkon dahinter getreten. Man sah ihm seine eintausend Jahre nicht an, er wirkte wie allerhöchstens in den Dreißigern. Ein gefährlicher Mann mit schwarzen Haaren, dunkelbraunen Augen und von der Sonne bronzen getönter Haut, der ›Sex ausstrahlte‹, zumindest nach Meinung der Medien.

Venom ließ die Reisetasche fallen und eilte hinaus auf den Balkon.

Holly folgte, allerdings wesentlich vorsichtiger. Man hatte sie oft genug darauf hingewiesen, dass sie jetzt zwar wie eine Vampirin sein mochte, aber noch keine ganz richtige war. Und selbst Vampire konnten sterben, wenn sie aus dieser Höhe vom Balkon fielen und ihr Kopf vom Rumpf getrennt wurde. Dass Venom und Dmitri beide mit dieser Gefahr so locker umgingen, sprach Bände über die Kraft, die in ihren Adern floss.

Dmitri hatte gerade telefoniert, beendete das Gespräch aber sofort, als er Venom sah.

Er umarmte den Ankömmling mit einem herzlichen Lächeln und drückte ihn fest an sich. Hier begegneten sich Freunde, das war nicht zu übersehen, nicht nur Landsleute und Waffenbrüder. Dmitri, den ältesten und Venom, den jüngsten der Sieben, trennten sechshundertfünfzig Jahre, aber in diesem Moment gab es zwischen ihnen keine Unterschiede.