Gilde der Jäger - Engelsleuchten - Nalini Singh - E-Book

Gilde der Jäger - Engelsleuchten E-Book

Nalini Singh

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Beschreibung

Wenn alles auf dem Spiel steht ...

Illium und Aodhan. Aodhan und Illium. Über die Jahrhunderte waren die Freunde unzertrennlich, sich näher als Brüder. Doch das war, bevor die Dunkelheit Aodhan befiel und den Engel fast zerstörte, seinen Körper, seine Seele, sein Herz. Aber jetzt heilt er und findet zurück zu alter Stärke und Unabhängigkeit. Der Preis dafür ist hoch, denn es könnte ihn die Beziehung zu seinem besten Freund kosten. Als die beiden Seite an Seite im Territorium der neuen Herrscherin von China kämpfen, spitzen sich die Geschehnisse dramatisch zu. Und Illium und Aodhan müssen sich entscheiden: Kehren sie ihrer langen Freundschaft den Rücken oder wagen sie den Schritt in eine Zukunft, in der sie sich näherkommen als jemals zuvor?

"Eine großartige Liebesgeschichte voller Opferbereitschaft, Hingabe, Heilung und der Kraft der Liebe in den dunkelsten Momenten." ADDICTED TO ROMANCE

Band 14 der GILDE DER JÄGER von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Nalini Singh

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Seitenzahl: 564

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

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Die Autorin

Die Romane von Nalini Singh bei LYX

Impressum

NALINI SINGH

Gilde der Jäger

ENGELSLEUCHTEN

Roman

Ins Deutsche übertragen von Patricia Woitynek

Zu diesem Buch

Illium und Aodhan. Aodhan und Illium. Seit Jahrhunderten sind die beiden Engel unzertrennlich: Sie sind beste Freunde, Brüder und Seelenverwandte. Aber das war bevor – bevor Aodhan entführt und auf grausamste Weise in Dunkelheit gefangen gehalten und misshandelt wurde. In den Jahren nach seiner Befreiung hat der Engel sich von allen zurückgezogen – auch von Illium. Doch nun fängt Aodhan an zu heilen, er findet zurück zu alter Stärke und Unabhängigkeit. Aber genau das verlangt einen unbezahlbaren Preis: seine Freundschaft mit Illium, dem Engel mit den auffallend blauen Flügeln. Nach einem heftigen Streit nimmt Aodhan das Angebot Suyins an und geht mit dem neuen Erzengel von China in deren Territorium, um dort als ihr Stellvertreter das Reich wieder aufzubauen. Ein Jahr sind die Freunde getrennt, als der Erzengel von New York Illium ebenfalls nach China schickt, um Suyin zu unterstützen. Während sie Seite an Seite der neuen Herrscherin des großen Reichs dienen – einem Land, das noch unter den Gräueltaten von Suyins Vorgängerin leidet –, spitzen sich die Geschehnisse dramatisch zu. Und Illium und Aodhan müssen sich entscheiden, ob sie sich endgültig den Rücken zukehren oder ob aus ihrer Freundschaft mehr werden kann.

1

Damals

»Sieh nur, Illium.« Lady Sharine, die Kolibri genannt wurde, drückte sanft die Hand ihres kleinen Jungen.

Er bestand beharrlich darauf, sich auf zwei Beinen fortzubewegen, dabei war er eigentlich noch ein Krabbelkind, dessen weiche Flügelchen allenfalls eine leise Ahnung davon vermittelten, zu welcher Pracht sie sich eines Tages entfalten würden. Seine starrsinnige Entschlossenheit erfüllte seinen Vater Aegaeon mit großem Stolz, er brüstete sich gar damit, seinen eigenen unbeugsamen Willen an Illium weitervererbt zu haben.

Als man Sharine das Neugeborene in die Arme gelegt hatte, deutete noch nichts auf die immense Kraft hin, die in ihm schlummerte. Es war so zart gewesen, so winzig, dass sich der Heiler sehr besorgt gezeigt und Aegaeon keinen Hehl aus seinem Verdruss gemacht hatte. »Wie kann ich einen solchen Kümmerling gezeugt haben?«, hatte er gepoltert, den großen, muskelbepackten Körper vor Ärger angespannt wie eine Stahlfeder. »Ich bin ein Erzengel!«

Er hatte seine erste Reaktion schon lange vergessen, die ungute Erinnerung schöngefärbt durch den glühenden Ehrgeiz seines Sprösslings, um den sich Sharines ganze Welt drehte.

»Schau, da drüben.« Sie deutete auf ein Kind in Illiums Alter, das inmitten der kühlen Hochebene, über die sie spazierten, auf einem kleinen Teppich aus Wildblumen spielte.

Sharine war es in ihrer Kindheit nur sehr selten gestattet gewesen, ihrer Lust am Spiel freien Lauf zu lassen; ihre Eltern hatten von ihr erwartet, dass sie sich in Selbstdisziplin übte und still und leise war wie ein Mäuschen. Umso mehr gönnte sie es ihrem Sohn, sich nach Herzenslust auszutoben, mochte er sich dabei noch so übermütig gebärden und von oben bis unten schmutzig machen. Erst gestern hatte sie ihn dabei ertappt, wie er das Regal in der Speisekammer hochkletterte, um an die Süßigkeiten zu gelangen, die sie im obersten Fach versteckt hatte. Er war dabei splitternackt gewesen, ein kleiner Wildfang, der sich pudelwohl in seiner Haut fühlte.

Spitzbübisch hatte er sie angestrahlt und laut gekichert, als sie ihn mitsamt der Leckerei, die viel zu mächtig für seinen kleinen Körper war, heruntergehoben und in strengem Ton an die Regeln erinnert hatte. Bis sie sich nicht mehr beherrschen konnte und in sein Lachen einstimmte; es war einfach zu ansteckend.

Sicher nicht die zweckmäßigste Methode, um ein Kind auf seinen Ungehorsam hinzuweisen, zumal Aegaeon ohnehin der Meinung war, sie lasse ihrem Sohn zu viel durchgehen. Doch Sharine war gänzlich unbesorgt, was Illiums Entwicklung betraf. Er hatte ein gutes, freundliches, großzügiges Herz und war nie grausam. Was schadete es da, wenn sie ihn ein bisschen verhätschelte?

Mit leuchtendem Gesicht sah er zu ihr hoch und brabbelte eine Antwort.

Seinen goldenen Augen haftete etwas Altes an, was womöglich daran lag, dass sie ein alter Engel war. Von Zeit zu Zeit überfiel sie der beängstigende Gedanke, sie könnte zu verblüht, ihre Psyche zu beschädigt sein, um sich für diesen klugen, aufgeweckten Jungen als Mutter zu eignen, aber seine fröhliche Art bewies, dass sie doch das eine oder andere richtig machte.

»Sollen wir zu ihm gehen und Hallo sagen?« Sharine konnte sich nicht erinnern, die Engelsfrau mit den weißblonden Haaren und den Flügeln aus hellstem Gold, die den anderen kleinen Jungen hütete, schon einmal gesehen zu haben. Was nichts heißen musste; vielleicht ging sie einer Arbeit außerhalb der Zuflucht nach, oder sie und das Kind wohnten in einem entlegenen Bezirk. Beides würde erklären, warum ihre Wege sich bisher nie gekreuzt hatten. Zumal Sharine gern abgeschieden lebte, nur umgeben von einem kleinen Kreis ihr nahestehender Personen.

Illium zog an ihrer Hand und lief auf seinen wackligen Beinchen los.

Lachend beschleunigte nun auch sie ihre Schritte, und kurz darauf strichen die ersten Wildblumen an ihren Waden entlang. Sharine stockte der Atem, als sie das fremde, in eine bunte Pracht aus indigofarbenen, pinken, weißen und gelben Blüten eingebettete Kind aus nächster Nähe in Augenschein nehmen konnte. Es schien ein ganz kleines bisschen jünger zu sein als Illium, ein schillernder kleiner Engel, dessen ganzer Körper dazu geschaffen schien, das Licht einzufangen, es aufzuspalten und zu brechen. Die feinen Strähnen seiner Haare glitzerten wie mit Diamantstaub überzogen, die Filamente seiner gerade erst wachsenden Flügel erinnerten an von kunstsinnigen Händen gestaltetes Glas, das jeden einzelnen Sonnenstrahl freudig willkommen hieß.

Der Junge hob den Kopf, und der Blick seiner Augen, deren pechschwarze Iriden von unzähligen blaugrünen Splittern umkränzt waren, richtete sich direkt auf Illium.

Ein Lächeln glitt über das Gesicht dieses ganz aus Licht bestehenden Engelskindes, und es streckte Illium die Wildblume hin, die es in der kleinen, zarten Faust hielt.

Fröhlich giggelnd nahm Sharines Sohn das Geschenk an und ließ sich dem anderen Knirps gegenüber in die Wiese plumpsen. Sharine sah die Frau mit den grünen Augen an, die hinter der kleinen Lichtgestalt stand, und sagte: »Sieht so aus, als hätten die beiden soeben Freundschaft geschlossen.«

2

Heute vor einem Monat

Elena steckte ihr Wurfmesser in die Unterarmscheide und begab sich, auf der Suche nach Raphael, auf das Turmdach. Und da war er, ihr Erzengel. Deutlich hob sich seine Silhouette gegen die orangerote Glut der späten Nachmittagssonne ab, die die goldenen Filamente in seinen weißen Schwingen auflodern ließ.

Raphael vernahm Elenas Schritte hinter sich und drehte sich zu ihr um. Sie waren seit einer den Lauf der Weltgeschichte verändernden Kaskade in Liebe vereint, ihr Leben vom Tag ihres Kennenlernens an untrennbar miteinander verbunden, und dennoch raubte ihr der Anblick seiner leuchtend blauen Augen immer noch den Atem.

Ihr Herz gehörte diesem Mann, dem ebenso gefährlichen wie hinreißenden Erzengel von New York.

Kurz glaubte sie, das Legionsmal an seiner Schläfe aufflammen zu sehen, bis sie erkannte, dass es nur eine von der untergehenden Sonne hervorgerufene Illusion war. Elena spürte ein Ziehen in der Brust, sie konnte einfach nicht aufhören, nach diesem Lebensfunken Ausschau zu halten und darauf zu hoffen, dass diese seltsamen, uralten Krieger, die sich selbst geopfert hatten, um den Planeten vor der Herrschaft des Todes zu bewahren, eines Tages wiederauferstehen würden.

Raphael hielt ihr die Hand hin, und sie ergriff sie, bevor sie zusammen an den Rand der höchsten Dachterrasse von Manhattan traten und den Blick über die Metropole schweifen ließen. Fast ein Jahr lag der Krieg nun zurück, und der Wiederaufbau war noch immer in vollem Gang; schwere Baumaschinen prägten das Stadtbild, zahllose Kräne ragten wie die Ausgeburten übermäßig fruchtbarer Schreitvögel in den Himmel. Vier am East River gelegene Straßenzüge boten allen Bemühungen zum Trotz weiterhin ein schauriges Bild der Verwüstung, doch zumindest hatte das schlagende Herz von New York keinen bleibenden Schaden davongetragen und war dank des eisernen Willens seiner Bewohner – Sterblichen wie Unsterblichen, Menschen, Vampiren und Engeln – im Heilungsprozess begriffen.

Elena betrachtete das von lebendigem Grün überzogene Gebäude der Legion. »Ich habe mein Versprechen gehalten«, sagte sie mit gepresster Stimme.

»Ja, das hast du, Hbeebti.« Ein tröstlicher Kuss auf ihren Scheitel. »Du hast ihnen ihr Heim erhalten.«

Keiner von ihnen sprach die Sorge an, die Elena umtrieb, ihre Befürchtung, die einem Gewächshaus ähnelnde Residenz könnte für alle Zeiten nur noch ein leerer Bewahrungsort für das schwache Echo der siebenhundertsiebenundsiebzig wundersamen Krieger sein, die hier einst ein Zuhause gefunden hatten.

Jedoch waren die Legionäre nicht die Einzigen, die Elena verzweifelt vermisste. »Bitte sag mir, dass Aodhan bald heimkehren wird.« Der Engel stand Suyin seit deren überraschendem Aufstieg gegen Kriegsende als ihr Stellvertreter zur Seite.

Elena mochte Suyin, und sie wusste, dass diese um ihren Posten als Erzengel von China nicht zu beneiden war, trotzdem wünschte sie sich, Aodhan möge endlich nach Hause kommen, wo er von Leuten umgeben wäre, die ihn liebten. Er verließ sich praktisch auf niemanden und vertraute nur einem sehr kleinen Kreis, ein Vertrauen, das aufzubauen ihn viele Jahre gekostet hatte.

Elena konnte den Gedanken kaum ertragen, dass er sich so weit von dieser schützenden Gemeinschaft entfernt hatte.

»Die Zeit ist noch nicht reif.« Raphael breitete den linken Flügel aus und strich seiner Gefährtin zärtlich über den Rücken; sein mitternachtsschwarzes Haar loderte wie ein Inferno in den feurigen Strahlen der Sonne. »Darum stehe ich hier draußen – ich komme gerade von einem Treffen mit Jason.«

Elena hatte nicht gewusst, dass der Meisterspion bereits von seiner letzten Reise zurück war. Was nicht weiter verwunderte. Der schwarzgeflügelte Engel rühmte sich seiner Fähigkeit, unbemerkt zu kommen und zu gehen. »Er war in China?«

»Nur eine kurze Stippvisite.« In Raphaels Tonfall klang ein Schmunzeln mit. »Aber da jetzt einer der Sieben dort seinen festen Wohnsitz hat, wird Jason es sich wohl zur Gewohnheit machen.«

»Hat er mit Aodhan gesprochen?« Elena ordnete ihre rastlos zuckenden Flügel und verlagerte ihren Körper so, dass sie Raphael ins Gesicht sehen konnte, dessen maskuline Schönheit sie noch immer überwältigte.

Ihr Gefährte bejahte ihre Frage. »Aodhan ist stark, sogar stärker, als wir alle geahnt haben. Und überaus pflichtbewusst.«

»Damit kann ich absolut gar nichts anfangen«, murrte sie mit finsterer Miene. »Geht es ihm gut? Hat er Heimweh?«

»Laut Jason lässt sich das schwer einschätzen. Die beiden verbindet eine auf uneingeschränkter Loyalität beruhende Beziehung, andererseits ist sie nicht so intim, dass sie solche Themen miteinander bereden würden.«

Elena stemmte schnaubend die Hände über ihrer weichen, eng sitzenden und jagdtauglichen Lederhose in die Hüften. »Willst du damit andeuten, sie würden sich eher die eigene Kehle aufschlitzen, als – oh Graus – zu ihren Gefühlen zu stehen?« Jason war das stillste und introvertierteste Mitglied der Sieben, dicht gefolgt von Aodhan.

Raphael lachte, der Klang ließ pures Glück durch ihre Adern rauschen. »Mahiya dürfte, was das betrifft, anderer Meinung sein.«

»Jeder weiß, dass sie in Bezug auf Jason die einzige Ausnahme von der Regel ist.« Elena freute sich, dass der Meisterspion eine Gefährtin gefunden hatte, der er bedingungslos vertraute. Aodhan hingegen … »Unser Fünkchen ist weit weg von zu Hause, ganz ohne sein gewohntes Umfeld.«

»Ja, das bereitet auch mir Sorge.« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Ich denke, es hat ihm gutgetan, das vergangene Jahr auf eigenen Beinen zu stehen, alles hinter sich zu lassen. Nur wird es allmählich auch Zeit, ihn an sein Zuhause zu erinnern – um zu vermeiden, dass er sich völlig abkapselt.«

Elena hakte nicht nach, was er damit meinte. Sie wusste, dass Aodhans Vergangenheit von einer grauenvollen Dunkelheit überschattet war, aufgrund derer er sich für eine lange, schmerzvolle Zeit aus der Welt zurückgezogen hatte.

Er war so schwer verletzt, Ellie … der Teil, der Aodhan zu dem macht, der er ist, der war genauso schwer mitgenommen. Ich hatte solche Angst, meinen Freund für immer verloren zu haben.

Illium hatte ihr das einst offenbart, unendlicher Schmerz lag in jedem seiner Worte.

Diese Erinnerung hatte es ihr leichter gemacht zu verstehen, warum ihr Liebster einverstanden gewesen war, als Aodhan sich als Suyins Stellvertreter anbot. Raphael wollte, dass der Engel, dessen Wunden verheilt waren, der sich nicht mehr abkapselte und wieder voll bei Kräften war, auch andere Möglichkeiten abwog, dass er sich seinem Erzengel nicht verpflichtet fühlte, nur weil er nie etwas anderes gekannt hatte.

Die Liebe, die Raphael für Aodhan empfand, erlaubte es ihm, ihn ziehen zu lassen.

»Er hat die Wahl?« Elenas Magen zog sich zu einem Knoten zusammen. »Dann hat Suyin ihn also wirklich gebeten, dauerhaft ihr Stellvertreter zu sein?« Ein durchaus nachvollziehbarer Schritt angesichts der Tatsache, dass der starke, intelligente Aodhan exakt die Befähigungen mitbrachte, die von einer Führungskraft am Hof eines Erzengels erwartet wurden.

Überraschenderweise schüttelte Raphael den Kopf. »Suyin hatte Skrupel, Aodhan hinter meinem Rücken ein offizielles Angebot zu unterbreiten, darum hat sie mich kurz vor Jasons Eintreffen in ihren Plan eingeweiht.«

»Hinterlist gehörte nie zu ihren Charaktereigenschaften.« Das war einer der Gründe, weshalb Elena sie mochte. Fünkchen erging es genauso, das wusste sie aus dem letzten Gespräch, das sie vor seiner Abreise nach China mit ihm geführt hatte. »Ihre Seele ist von Ehrgefühl geprägt, Ellie. Suyin verschanzt sich nicht hinter Masken, hinter Unwahrheiten. Eher nimmt sie es in Sachen Geradlinigkeit manchmal fast zu genau. Mit so jemandem kann ich zusammenarbeiten.«

Elena musste nicht erst fragen, welche Antwort Raphael Suyin gegeben hatte. Selbst wenn ihm dabei das Herz bräche, würde er Aodhan niemals davon abhalten, diese Gelegenheit wahrzunehmen. »Das ist seine Chance«, pflichtete sie ihm mit rauer Stimme bei. »Stellvertreter eines Erzengels, neuer Hof hin oder her … das ist eine verdammt große Sache.«

»Definitiv.«

»Aber wir werden doch um ihn kämpfen, oder?«, fragte sie, während die letzten Sonnenstrahlen ihre Wange küssten – ein Hauch von Wärme an diesem kalten Tag, der vom nahenden Winter kündete.

»Das wäre ziemlich besitzergreifend, und das entspricht mir bekanntermaßen ganz und gar nicht.«

Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. »Selbstverständlich nicht.« Sie sank in seine Arme und eroberte, umhüllt von seinen Schwingen, seinen Mund mit ihren Lippen. Sie brannten vor Leidenschaft füreinander, das Wildfeuer, das zwischen ihnen toste, verwandelte die Welt in eine schillernde Fata Morgana aus Liebe, Begehren und Hingabe.

»Jetzt sag endlich, wann wir ihn nach Hause holen«, forderte sie ihn auf, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten. »Seit er weg ist, hat New York etwas von seinem Glanz eingebüßt.«

Raphael schüttelte abermals mit ernster Miene den Kopf, die klaren, überirdisch schönen Gesichtszüge waren dabei ganz kalte, pure Macht. »Ich glaube weder, dass das ein guter Zeitpunkt für einen derart gewaltigen Schritt, noch dass Suyin der richtige Erzengel für ihn ist, aber die Entscheidung liegt allein bei Aodhan, Elena-mein. Wenn ich ihm eines niemals nehmen werde, dann seinen freien Willen.«

Sie nahm das Wiederaufflammen eines eisigen, uralten Zorns in seinen Augen, seiner Stimme wahr und streichelte beschwichtigend seinen Nacken unter dem dichten, seidigen schwarzen Haar. »Ein Teil von mir möchte ihm dazu raten, die Beförderung anzunehmen und keinen Blick zurückzuwerfen.« Ihr Fünkchen war ein grundanständiger, wunderbarer Mann, und er hatte sich diese Stellvertreterposition redlich verdient. »Der Rest von mir möchte ihn einfach nur nach Hause zerren.« Sie drückte Raphael einen Kuss auf die Lippen. »Aber ich werde mich beherrschen und Aodhan unterstützen, wo ich nur kann.«

»Damit sind wir schon zwei. Allerdings werde ich auch nicht ganz auf schmutzige Tricks verzichten.« Ein gefährliches Glitzern lag in den tiefblauen Augen. »Ich habe Suyin weitere Unterstützung versprochen. Schließlich weiß ich, was sich unter Erzengeln gehört.«

Elena jubelte laut lachend. »Du schickst ihr Illium!«

»Natürlich schicke ich ihr Illium, Hbeebti. Jetzt heißt es Geduld haben und abwarten.«

Das Leben verändert uns. Sich etwas anderes zu wünschen, wäre sinnlos.

Nimra, Engel von New Orleans

3

Heute

Aodhan war erschöpft.

Auf seinen Körper traf dies indes nicht zu. Er war ein starker Engel und musste seine Kraftreserven kaum angreifen, während er in dieser Nacht über Suyins Übergangsfestung Patrouille flog. Nach der Zeitrechnung der Engelheit galt er mit seinen knapp über fünfhundert Jahren als Jungspund, gleichzeitig war er das reinste Energiebündel und somit regelrecht dazu berufen, einem Erzengel als Stellvertreter zu dienen.

Raphael war sich dessen bewusst und hatte aus diesem Grund Aodhans Bitte bewilligt, Suyin bis auf Weiteres als leitender Engel zur Verfügung zu stehen.

Als diese ihm dann vor drei Wochen den Stellvertreterposten auf unbefristete Zeit anbot, hatte Aodhan als Erstes mit Raphael Rücksprache gehalten. Und dieser hatte ihm versichert, dass er ihm keine Steine in den Weg legen werde, sollte Aodhan das Angebot annehmen wollen. »Diese Entscheidung kannst nur du alleine treffen«, hatte Raphael ihn ermutigt. »Aber wie auch immer sie ausfällt, sollst du wissen, dass du für alle Zeit zu meinen Sieben gehören wirst.«

Doch Aodhan hatte es instinktiv zunächst ausgeschlagen. »Ich diene meinem Sire aus freien Stücken«, hatte er Suyin erklärt. »Und ich werde das Band nicht kappen, das zwischen uns besteht.«

»Er wird dich niemals zu seinem Stellvertreter ernennen«, kam die sanfte Antwort von Suyin, deren samtschwarze Augen einen auffallenden Kontrast zum schneeigen Weiß ihrer Haut und Haare boten. »Dmitri hat diese Position schon zu lange inne, und er ist ein Experte in dem, was er tut.«

»Ich strebe nicht nach seiner Stellung.« Als einer von Raphaels Sieben bekleidete Aodhan bereits einen vergleichbar wichtigen Posten, war Teil einer Gemeinschaft, wie es sie in der gesamten Engelheit nur einmal gab.

Suyin lächelte, und ein paar Sekunden lang war ihr nichts von der Traurigkeit anzumerken, die ihr sonst anhaftete. »Du warst mir stets ein kluger und geduldiger Ratgeber, dem sein Mut und Anstand zur Ehre gereichen. Darum bitte ich dich, dir mehr Zeit zu nehmen und gründlich über mein Angebot nachzudenken.«

Allein schon aus Respekt vor ihr kam Aodhan ihrem Wunsch nach und stellte reifliche Überlegungen zu ihrem Vorschlag an. Eine solche Beförderung in seinem jugendlichen Alter wäre ein beispielloser Vorgang, er wäre der mit Abstand jüngste Stellvertreter eines Erzengels im gesamten Kader.

Auf der anderen Seite könnte er künftig nicht länger den Sieben angehören, daran änderte auch Raphaels Versprechen nichts. Die Gruppe würde auf sechs Mitglieder schrumpfen, bis sie einen Ersatz für Aodhan gefunden hätten, falls sie dies überhaupt in Betracht zögen. Denn mochten sich zwei Erzengel auch noch so gut verstehen, blieb trotzdem eine unüberbrückbare Distanz zwischen ihnen. Macht und Alter wurden viel zu viel Wert beigemessen, als dass zwei räuberische Alphatiere eine erfolgreiche Koexistenz in ein und demselben Territorium führen konnten.

Aodhan musste an die tragische Geschichte von Caliane und Nadiel denken, die er allerdings nur aus Erzählungen kannte, da sie sich vor seiner Geburt abgespielt hatte. Bis Nadiel dem Wahnsinn verfallen und daraufhin von Caliane exekutiert worden war, waren sie einfach nur zwei stürmisch ineinander verliebte Erzengel gewesen. Doch nicht einmal sie hatten die ganze Zeit zusammen sein können, sondern Abstand voneinander gebraucht.

Macht war ein Geschenk, das gewisse Opfer erforderte.

Würde Aodhan Suyins Angebot annehmen, wären Dmitri, Venom, Galen, Jason, Naasir … und Illium für ihn verloren, würde das unsichtbare Band, das zwischen ihnen bestand, wie mit einer kalten Stahlklinge durchtrennt. Allein der Gedanke riss ihm das Herz entzwei. Aber musste man seine durch und durch negative Reaktion nicht als ein schlechtes Zeichen werten? Durfte er sich ernsthaft als erwachsenen Mann und Engel bezeichnen, wenn er sich mit solcher Vehemenz an seine Freunde klammerte? Gaukelte er sich am Ende nur vor, frei zu sein, während er in Wahrheit freiwillig in jener Gefangenschaft ausharrte, durch die sich sein Leben grundlegend verändert hatte?

Und dann war da noch seine Müdigkeit. Sie war eindeutig seelischer Natur. Er vermisste New York und die Zusammenarbeit mit seinem Sire und den anderen aus dem Kreis der Sieben. Er vermisste es, mit Elena Horrorfilme anzusehen, mit einer Schüssel Popcorn zwischen ihnen, die nackten Füße auf einem Polsterhocker.

Er vermisste die neuen Freundschaften, die er im Turm und in der Gilde der Jäger geschlossen hatte und die zu den wenigen positiven Dingen zählten, die Lijuans Besessenheit von New York nach sich gezogen hatte. Ja, er vermisste sogar den Verkehrslärm in den Straßen, das Gezänk der Autofahrer, die darin wetteiferten, sich gegenseitig niederzubrüllen.

Wildes Blau blitzte vor seinem geistigen Auge auf.

Aodhan biss die Zähne zusammen und ließ sich fallen, um einen weiten Bogen zu ziehen. Nein, er würde auf keinen Fall an die Person denken, die ihm am allermeisten fehlte. Weil diese ihn nämlich vergessen zu haben schien. Illium hatte ihm regelmäßig Päckchen mit Malutensilien und diversen anderen Sachen aus New York geschickt – bis er vor drei Monaten schlagartig damit aufhörte.

Es hatte sich angefühlt wie eine Ohrfeige.

Aodhan hatte Elena angerufen und sich nach Illiums Befinden erkundigt, um sich zu vergewissern, dass der abgerissene Kontakt nicht mit dem plötzlichen Erwachen des Schweinehunds, der sich sein Vater nannte, zusammenhing. Aber nein, sein Freund war gesund und munter, er beachtete Aodhan einfach nur nicht mehr. Also zahlte dieser es Illium mit gleicher Münze heim.

Er konnte sich nicht erinnern, wann jemals eine derart lange Funkstille zwischen ihnen geherrscht hätte.

Sogar während seiner verlorenen Jahre, als er verstummt war und sich fast vollständig aus der Welt zurückgezogen hatte, war Illium für ihn da gewesen, ein strahlend heller Funke in dem finsteren Kokon, der Aodhan umgab.

Du benimmst dich kindisch, tadelte ihn eine Stimme in seinem Kopf, die ganz nach seiner Mentorin Lady Sharine klang. Sie war die Mutter seines Freundes und wurde von Aodhan Eh-ma genannt, womit er nicht nur seinen Respekt, sondern auch seine Zuneigung ausdrückte, die sie im selben Maß erwiderte. Sie war eine sanftmütige, gütige Frau, die neuerdings über ein Rückgrat aus Stahl zu verfügen schien.

Aodhan hatte ihr nichts von der Sache mit Illium erzählt, er würde sie niemals in ihren Streit hineinziehen.

»Wenn mir danach zumute ist, kindisch zu sein«, sagte er zu den dichten, dunklen Wolken, »dann bin ich eben kindisch.« Er flog am liebsten in mondlosen Nächten wie dieser, weil er dann nur ein Schatten war. In der Sonne hätte sein Körper alles Licht reflektiert.

Ihm fehlte Manhattan, die hell illuminierten Wolkenkratzer aus Glas und Stahl. Es verblüffte ihn selbst, wie sehr er nach all den Jahren des Einsiedlertums sein Herz an eine Stadt gehängt hatte, die bekanntlich niemals schlief. Auch für China hatte das mancherorts früher gegolten. Shanghai zum Beispiel hatte sich trotz Lijuans Festhalten an der Vergangenheit zu einem facettenreichen Juwel technologischer Errungenschaften entwickelt, wohingegen aus Shenzhen ein glitzerndes Mekka geworden war, das Sterbliche und Unsterbliche gleichermaßen anzog, weil es dort von Trödel über Klamotten bis hin zu Kuriositäten alles Mögliche zu erstehen gab, das man nirgendwo sonst auf der Welt fand. Um nur zwei ehemals attraktive chinesische Städte zu nennen.

Irgendjemand an Lijuans Hof musste beträchtlichen Einfluss auf sie gehabt haben, andernfalls hätte sie solche Hightech-Entwicklungen niemals erlaubt. In Peking – bis zum Verlust der Verbotenen Stadt das Herz ihres Imperiums – hatte sie sich dieser Art Fortschritt beharrlich verweigert, wohingegen sie sich in Shanghai eine hypermoderne Residenz hatte errichten lassen, die ihr dort als Zitadelle dienen sollte.

Aodhan hatte das Gebäude gesehen. Es war eine architektonische Meisterleistung voll klarer, präziser Linien, die zu einer hohen schlanken Pyramide aus Stahl und silberblauem Glas zusammenflossen. Suyin, vor Äonen selbst eine begnadete Architektin, hatte während ihres Aufenthalts in der Stadt eine Pause genutzt, um den Prachtbau zu bewundern. »Ich könnte etwas Ähnliches erschaffen«, hatte sie laut überlegt. »Ich verstehe das Konzept und erkenne die Schönheit, die diese schnörkellose Transparenz ausdrückt.«

In ihrem Gesicht hatte ein so glückseliges Lächeln gestanden, wie Aodhan es noch nie zuvor bei ihr gesehen hatte. »Ich hatte die Befürchtung, zu lange fernab von allem gewesen zu sein, dass die Welt sich zu stark weiterentwickelt haben und meine Kunstfertigkeit nicht mehr mit den heutigen Gegebenheiten mithalten könnte«, gestand sie. »Heute wurde ich eines Besseren belehrt. Vielleicht werde ich Altes und Neues mischen, wenn ich meine eigene Zitadelle errichte, sobald die Umstände es erlauben.«

Noch am selben Tag hatte sie angefangen, erste Entwürfe für ihre zukünftige Festung zu skizzieren. Aodhan wusste von Jason, dass Lijuan keinen Fuß in ihre Shanghaier Residenz gesetzt hatte. Der Erzengel von China hatte der Stadt den Rücken gekehrt, was dazu führte, dass diese zu einem drittklassigen, hauptsächlich von Menschen und Vampiren bevölkerten Provinznest verkam. Aber selbst dieses Shanghai existierte heute nicht mehr, aller Glanz war verblasst, der technologische Fortschritt zum Erliegen gekommen, in den breiten Straßen und hohen Wohnhäusern herrschte gespenstische Leere.

So viele hatten ihr Leben gelassen, waren aller Zukunft beraubt worden, um die Allmachtsfantasien eines größenwahnsinnigen Erzengels zu nähren. Geopfert für nichts. Lijuan war tot, der Großteil ihrer Leute ebenfalls. Die, die noch übrig waren, waren nur noch Schatten ihrer selbst, geisterhafte Gestalten mit gebrochenem Herzen und verzagtem Blick. Fast alle hatten sich inzwischen nach Zhangjiajie geflüchtet, der kleinen, zwischen dichten Wäldern und bizarren Sandsteinpfeilern verborgenen Festung, die Suyin zu ihrem vorübergehenden Stützpunkt erkoren hatte.

»Am liebsten würde ich sie abreißen und etwas Neues bauen, das nicht von den Gräueltaten meiner Tante befleckt ist«, hatte sie zu Aodhan gesagt. »Aber wozu Energie und Ressourcen vergeuden, da es uns ohnehin an beidem mangelt? Nein, das wäre mehr als dumm.« Ihr Blick verweilte auf der aus soliden Steinblöcken errichteten Anlage inmitten des feuchtwarmen, sattgrünen Dschungels. »Wir werden hier schon zurechtkommen. Zumal nichts darauf hindeutet, dass Lijuan viel Zeit in dieser Residenz verbracht hat – sie wäre ihr nicht prachtvoll genug gewesen.«

Die Entscheidung war gefallen, bevor sie das Geheimnis unter der Festung entdeckten und beschlossen, es lieber für sich zu behalten, weil die Leute bereits in Scharen eingetroffen und von Suyin mit offenen Armen empfangen worden waren.

»Ich mag sie nicht schon wieder entwurzeln«, hatte sie mit vom Wind gezausten Haar erklärt, während sie und Aodhan auf einer der über Millionen Jahre von Wind und Wetter geformten steil aufragenden Steinformationen standen, deren Spitzen fast in den Wolken verschwanden. »Jedenfalls nicht, bis meine Zitadelle steht und wir dorthin umsiedeln können.«

Sie war schon jetzt ein respektabler Erzengel und würde mit der Zeit weiter an Statur gewinnen. Aodhan konnte und wollte sie dabei mit Rat und Tat unterstützen, wollte das für sie sein, was Dmitri für Raphael war. Der Erzengel und sein Stellvertreter waren nach Raphaels Übergang Seite an Seite in ihre jeweilige Rolle hineingewachsen, was ein ganz spezielles, außerordentlich enges Band zwischen ihnen hatte entstehen lassen.

Darüber hinaus brauchte Suyin ihn dringender als sein Sire und die Gruppe der Sieben.

Denn was die Gepflogenheiten des Kaders betraf, hatte Suyin noch viel zu lernen. Diese Einschätzung beruhte nicht auf Arroganz, sondern auf der schlichten und unbestreitbaren Tatsache, dass Suyins Aufstieg zur Macht nach ihrer Abertausende Jahre währenden Gefangenschaft viel zu abrupt erfolgt war. Aodhan mochte ein Jungspund sein, doch nach mehreren Jahrhunderten an Raphaels Seite verfügte er über die nötige Erfahrung, um Suyin ein Anker zu sein, während sie in ihre neue – 

Er spürte plötzlich ein Kribbeln im Nacken.

Die Flügel sorgsam ausbalanciert, verharrte er geräuschlos im Schwebezustand und suchte die Umgebung ab. Seine Augen hatten sich auf Nachtsicht eingestellt, nur half ihm das jetzt nicht weiter; zu finster war der Himmel, zu schwach der spärliche Lichtschein, der aus der Festung und der umliegenden Siedlung drang. Die Schwärze lastete wie ein schweres Gewicht auf ihm, das ihn zu ersticken drohte und ihn unweigerlich an Lijuans schwarzen Nebel erinnerte, diese flüsternde Manifestation des Bösen, die alles tötete, was sie berührte.

Diese Erinnerung würde niemanden, der das Grauen miterlebt hatte, je wieder loslassen.

Aodhan konnte den Eindringling noch immer nicht sehen, dennoch wusste er, dass er direkt auf ihn zusteuerte. Da die Wachen, die die äußeren Grenzen sicherten, keinen Alarm ausgelöst hatten, handelte es sich entweder um einen Gegner, der wusste, wie man unter dem Radar blieb, oder einen besonders gerissenen Experten wie Jason. Aodhan selbst hatte großen Respekt vor dem Meisterspion, der genau wie er zum Kreis der Sieben zählte, aber er wusste auch, dass die Stellvertreter von Erzengeln in Bezug auf die listigen Manöver externer Meisterspione äußerst empfindlich reagierten.

»Ich bewundere Jason und seine Fähigkeiten«, hatte Dmitri amüsiert gesagt, als bei einem Telefonat mit Aodhan das Thema zur Sprache kam. »Gleichzeitig macht es mich rasend, mir vorzustellen, dass fremde Spione sich klammheimlich in unser Gebiet einschleichen.«

Zum Glück hatte Suyin von Jason nichts zu befürchten, was man nicht von jedem seiner Kollegen behaupten konnte. Ein Jahr nach Kriegsende waren die Territorien mehrerer Kadermitglieder mittlerweile so weit wiederhergestellt, dass sie Zeit und Muße hatten, sich eingehender mit dem neuen und gänzlich unerfahrenen Erzengel von China zu befassen.

Das Land neidete ihr niemand, das unvorstellbare Grauen, mit dem Lijuan es überzogen hatte, lastete bis heute wie ein dunkler Schatten darauf, und nach übereinstimmender Meinung würde es noch mindestens tausend Jahre dauern, bis es dort vollständig »sicher« wäre. Ein bewaffneter Angriff war demnach nicht zu befürchten, allerdings war nicht auszuschließen, dass der Rest des Kaders Suyin das Leben schwer machte, wenn er zu dem Schluss gelangte, dass sie ihres Ranges nicht würdig sei.

Und es drohte ihr nicht nur von den anderen Erzengeln Gefahr.

Jason zufolge hatten einige der älteren Engel verhalten ihren Unmut über Suyins Aufstieg geäußert, der in ihren Augen nichts weiter war als eine dem Krieg geschuldete Notfallmaßnahme, die in normalen Zeiten unvorstellbar gewesen wäre.

Dabei schien ihnen völlig zu entgehen, dass die Welt längst noch nicht zur Normalität zurückgekehrt war.

Der Kader war noch nicht wieder vollzählig, und obgleich Elias an dessen letzter Zusammenkunft teilgenommen hatte, war Aodhan, der das Treffen auf Suyins Einladung hin außer Sichtweite der Kameras verfolgte, nicht entgangen, dass der Erzengel keineswegs zu seiner alten Form zurückgefunden hatte. Kein Wunder, dass er ein persönliches Treffen abgelehnt und stattdessen auf einer Videokonferenz bestanden hatte.

Elias war nicht der Einzige, der in der Schlacht Wunden davongetragen hatte. Neha hielt sich neuerdings von der Welt fern, und laut Jason ging unter den Führungskräften an ihrem Hofe das Gerücht um, sie sehne den großen Schlaf herbei. Das verhieß eine Zukunft, der weder ihre Leute noch Aodhan freudig entgegensahen. Man konnte Neha vieles vorhalten, aber sie war immer eines der gefestigtsten Mitglieder des Kaders gewesen.

Verschärfend kam hinzu, dass weder Michaela noch Favashi oder Astaad und auch sonst niemand von den Gefallenen zurückgekehrt war und Quin sich schon halb zum Schlaf zurückgezogen hatte.

Wo steckte dieser Eindringling?

Kraft züngelte um seine Finger, als Aodhan mit dem Gedanken spielte, den Himmel zu illuminieren, sich dann jedoch dagegen entschied, um sich nicht unnötig zu verausgaben und vor allem der ohnehin schon verängstigten Bevölkerung keinen weiteren Schreck einzujagen. Es würde lange dauern, bis die Leute wieder ruhig schlafen könnten, vermutlich waren die meisten sogar zu dieser späten Stunde noch auf, wach gehalten von Trauer und Schmerz.

Plötzlich erregte etwas seine Aufmerksamkeit.

Ein Glühen.

Ähnlich dem, das von den Flügeln eines Erzengels ausging, wenn er seine gewaltigen Kräfte bündelte, um einen Energiestoß abzufeuern.

Er müsste eigentlich auf der Stelle Suyin warnen, doch irgendetwas ließ ihn zögern. Aodhan kannte diese Flügel, ihre Form, die Haltung im Flug waren ihm zutiefst vertraut.

Raphaels Flügel waren es nicht, so viel stand fest.

Aodhan schnappte nach Luft.

Er wusste nur von einer einzigen anderen Person, deren Schwingen hin und wieder glühten. Sie gehörten einem Engel, von dem man munkelte, er werde eines Tages aufsteigen.

Mit einem heftigen Ziehen im Herzen beschleunigte er und schoss auf den matten Schemen zu, der mit jedem Flügelschlag heller wurde … bevor er urplötzlich unter Flackern erlosch. Aber Aodhan war nahe genug, um ihn immer noch erkennen zu können.

Er flog nahe an ihn heran und schwebte kurz darauf vor einem Engel, dessen blauen Flügeln die Nacht alle Farbe genommen und sie in reines Obsidian verwandelt hatte. »Illium«, stieß er heiser hervor. »Was machst du denn hier?«

4

»Ich freue mich auch, dich zu sehen«, antwortete Illium mit einem aufgesetzten Lächeln, das nicht bis zu seinen Augen reichte, bevor er sich theatralisch vor Aodhan verbeugte. »Zu Ihren Diensten, Stellvertreter von Erzengel Suyin.«

Aodhan hörte die bewusst scherzhaft formulierten, jedes echte Gefühl missen lassenden Worte nur mit halbem Ohr. Er musste sich mit aller Macht davon abhalten, Illium um den Hals zu fallen, seine Arme und Flügel um ihn zu schlingen.

Es war so lange her, seit er zuletzt eine körperliche Berührung mit einem anderen fühlenden Wesen gehabt hatte.

So lange war es her, seit er Illium berührt hatte.

Sein Herz schlug zum Zerspringen. »Sehr witzig, Illium.« Das kam schärfer heraus als beabsichtigt.

Illiums Lächeln erlosch nicht, er zog noch immer diese seichte, verspielte Nummer ab, die sonst Fremden und flüchtigen Bekanntschaften vorbehalten war. Wer ihn nicht oder kaum kannte, hätte ihm ganz sicher abgenommen, dass er bester Laune und ganz auf sein Gegenüber konzentriert war.

Aber Aodhan fasste seine Show als Beleidigung auf.

»Willst du mich die ganze Nacht hier oben festhalten?« Illium massierte sich die Schulter, sein Gesichtsausdruck war in der Dunkelheit verborgen. »War ein langer Flug, und ich würde jetzt ganz gern landen.«

Aodhan überlegte mit zusammengekniffenen Augen, was mit seinem Freund los sein mochte. Er würde es schon noch herausfinden. Alle behaupteten immer, Illium sei der größere Sturkopf von ihnen beiden – alle, mit Ausnahme von Eh-ma, der zufolge Aodhan ihrem Sohn in Sachen Starrsinn absolut ebenbürtig war.

»Dann komm mit.« Es verursachte ihm körperlichen Schmerz, sich von Illium abzuwenden und ihm voraus zum linken äußeren Flügel der Festung zu fliegen.

Aodhan nutzte seine Fähigkeit, auf der Bewusstseinsebene kommunizieren zu können, um die in der nahen Umgebung postierten Wachen vorzuwarnen. Er hatte die mentale Sprache schon immer gut beherrscht und sich im Lauf des letzten Jahres durch den verstärkten gedankensprachlichen Kontakt mit Personen, die nicht über seine Reichweite verfügten, sogar noch gesteigert. In New York hatte er sich mit Raphael und seinen Kameraden hauptsächlich telepathisch verständigt, und zwar ohne jede Kraftanstrengung dank des Blutsbandes, das zwischen ihnen bestand.

Als Nächstes informierte er Suyin über Illiums unerwarteten Besuch.

Ach herrje, da muss ich mich wohl bei dir entschuldigen, Aodhan. Raphael hat mir mitgeteilt, dass er noch jemanden von seinen Sieben herschicken wird, um dich bei deinen unzähligen Aufgaben zu unterstützen. Ich habe ganz vergessen, es dir auszurichten.

Das macht doch nichts, beruhigte Aodhan sie, der genau wusste, wie sehr Suyin beschäftigt war. Aber dass Raphael ausgerechnet Illium entsandte … Aodhan schien es, als sei seine ganze Welt aus den Angeln gehoben.

Er atmete tief durch.

Wenig später landeten sie fast synchron auf dem großen, flachen Balkon, von dem aus man in den Teil der Festung gelangte, in dem sich seine kleine Suite befand. Seine Wahl war auf sie gefallen, weil sie viel Privatsphäre und außerdem zu jeder Zeit direkten Zugang zum Himmel bot.

Hinter ihm war ein leises Rascheln zu hören, als Illium seine unverwechselbaren silberblauen Flügel zusammenklappte.

Aodhan wappnete sich für den Schlag, den es ihm versetzen würde, seinen Freund anzusehen, der Teil seiner Seele und ihm inzwischen doch so fremd geworden war. Dann drehte er sich endlich zu ihm um und nahm als Erstes seine Flügel in Augenschein. Er dachte daran zurück, wie Elena sie während einer Schlacht hatte amputieren müssen, um Illium das Leben zu retten, wie grausam es trotz der Gewissheit, dass sie nachwachsen würden, gewesen war, ihn ohne die schillernden Federn zu sehen, sein Erkennungsmerkmal.

»Bereiten dir deine Flügel Probleme?«, platzte er heraus. Eigentlich eine dumme Frage, immerhin hatten sie ihn gerade die weite Strecke von New York bis nach China getragen.

»Nein, das nicht. Aber ich hätte wohl öfter eine Pause einlegen sollen, dann würde ich mich jetzt nicht so steif und schlapp fühlen.« Er breitete sie aus und dehnte sie, bevor er sie langsam und mit der Präzision des gut geschulten Kriegers wieder zusammenfaltete.

Der nächtliche Wind zerzauste ihm das schwarze Haar mit den blauen Spitzen, dessen überlange Strähnen ihm bis tief in die Stirn fielen. Darunter blitzten von dunklen, in Blau getauchte Wimpern umrahmte Augen in der Farbe alten Goldes hervor. All das war natürlichen Ursprungs, Illium besaß diese Augen, diese Wimpern, diese Haare, die golden schimmernde Haut von Geburt an.

Nur die Farbe seiner Flügel hatte sich verändert, sie wiesen nun nicht mehr das reine Blau wie in seiner Kindheit auf.

Es war das Resultat einer schweren Strafe, die ihm als Teenager auferlegt worden war. Dass sich bei Engelsschwingen ein derartiger Farbwechsel vollzog, kam gelegentlich vor. Aodhan kannte einen ähnlichen Fall: Einer jungen Frau war durch einen katastrophalen Sturz ein großer Teil ihrer schneeweißen Flügel ausgerissen worden. Der Schaden erwies sich als derart verheerend, dass die Heiler es für das Beste hielten, ihre gesamte Flügelstruktur neu wachsen zu lassen.

Anschließend waren ihre Federn von einem zarten Lavendel gewesen.

Doch hatte all das nichts mit Illium zu tun. Aodhan scheute davor zurück, sich dieser unerwarteten Situation offen zu stellen, dabei mied er, wo es seinen Freund betraf, sonst nie die direkte Konfrontation.

Mal ehrlich, mein Junge. Warst nicht du derjenige, der diese große räumliche Distanz zwischen euch geschaffen hat?

Wieder vernahm er Lady Sharines Stimme in seinem Kopf. Seine Eh-ma kannte ihn einfach viel zu gut. »Komm mit«, forderte er Illium auf. »Ich zeige dir deine Unterkunft.« Es befand sich eine freie Suite der seinen direkt gegenüber. Dank Aodhans beherztem Einsatz und den nicht ganz uneigennützigen Kraftanstrengungen starker Engel und Vampire, die im Aufbau eines neuen Hofes eine vielversprechende Chance witterten, verfügte Suyin inzwischen über einen recht ansehnlichen Hofstaat, und trotzdem waren die räumlichen Kapazitäten dieser Festung längst noch nicht ausgeschöpft.

Illium, sonst eher berüchtigt für seine Redseligkeit, folgte ihm wortlos, wobei er sorgsam auf Abstand zwischen ihren Flügeln achtete, damit sie sich nur ja nicht streiften.

Aodhans Hand ballte sich zur Faust.

Früher waren Berührungen für ihn die reinste Folter gewesen. Heute verzehrte er sich regelrecht danach … auch wenn sich diese Sehnsucht auf sehr wenige Personen beschränkte. Illium belegte den ersten Platz auf dieser Liste.

Allerdings konnte er das Thema unmöglich zur Sprache bringen, nicht gegenüber einem so merkwürdigen Illium. »Wo ist dein Gepäck?« Dieser trug nur einen kleinen Rucksack bei sich, der, eng an seinen Rücken geschmiegt, perfekt zwischen seine Flügel passte.

»Das müsste in den nächsten paar Tagen mit dem Flugzeug eintreffen. Bis dahin komme ich mit den Sachen klar, die ich dabeihabe. Zeig mir einfach, wo die Waschküche ist und wo ich eine Scheuerbürste finde.« Der humorvolle Kommentar war typisch für Illium und gleichzeitig auch wieder nicht. Er hielt Aodhan weiter auf Distanz, ließ ihn nicht an sich heran.

Sowie sie das Innere der kühlen, steinernen Festung betreten hatten, wandte Aodhan sich der ersten Tür auf der linken Seite zu und öffnete sie. »Willkommen in deinem Reich. Ich wohne gleich gegenüber.« Er deutete auf die andere Seite des Korridors, der breit genug war, dass drei Engel nebeneinander gehen konnten, ohne sich gegenseitig zu berühren.

Suyin hatte die Festung nicht zuletzt wegen der hervorragenden Raum- und Lichtverhältnisse zu ihrer vorübergehenden Operationsbasis erkoren.

Denn auch sie hatte lange Zeit in Gefangenschaft gelebt.

Sie und Aodhan hatten sich nie über ihre leidvollen Erfahrungen ausgetauscht, tatsächlich war er sich nicht einmal sicher, ob sie von seinem Schicksal wusste, doch bestand zwischen ihnen das stillschweigende Einvernehmen zweier Unsterblicher, die vergleichbare Qualen ausgestanden hatten.

So paradox es auch anmuten mochte, dass dieses lichtdurchflutete Gebäude einst Schauplatz monströser Gräueltaten gewesen war, war andererseits in einem Land, dem Lijuan ihren Stempel aufgedrückt hatte, nichts anderes zu erwarten. Für Suyin indes war es ein weiterer Grund, ihre Zukunftspläne mit Eile voranzutreiben. »An dieser Brutstätte des Bösen kann ich nicht bleiben, Aodhan«, hatte sie zu ihm gesagt. »Hier besteht für mein Volk keine Aussicht auf Genesung.«

Das Echo ihrer Worte noch im Ohr, holte ihn Illiums Stimme in die Gegenwart zurück.

»Wie ich sehe, hast du dafür gesorgt, dass meine Lieblingsfarben berücksichtigt wurden.« Ein Lächeln zupfte an seinen Lippen.

Pink und Weiß dominierten die Suite.

Aodhan zuckte mit den Achseln. »Bei mir herrscht anstelle von Pink Gelb vor. Wir vermuten, dass dieser Flügel für bestimmte hochrangige Höflinge reserviert war.« Neben ganzen Heerscharen von Soldaten hatte an Lijuans Hof auch eine exklusive Clique aus Engeln und Vampiren existiert – von Illium »die Schönlinge« genannt –, die Lijuan nach typischer Erzengelmanier rein zu Dekorationszwecken um sich geschart hatte.

Sie waren inzwischen alle tot.

In ihrer Gier nach Macht hatte Lijuan niemanden verschont.

Einzig ihre farbenfrohen, exquisit eingerichteten Räume waren noch vorhanden.

»Man sagt der Farbe Pink eine beruhigende Wirkung nach«, erklärte Illium und trat ein. »Ich muss mich jetzt waschen.«

Damit schlug er Aodhan die Tür vor der Nase zu.

Illium lehnte sich schwer atmend mit dem Rücken gegen die Tür, sein Herz schlug wie ein Presslufthammer, der Schweiß brach ihm aus allen Poren. Ihm war so eng in der Haut, als wollte sie platzen, sämtliche Muskeln waren zum Zerreißen gespannt.

Aodhan nach so langer Zeit wiederzusehen und ihn nicht berühren zu dürfen, bedeutete pure Folter.

Nur war irgendetwas in den letzten Monaten in Illium zerbrochen. Er hatte den Rat seiner Mutter befolgt und seinen Freund, so gut es ging, aus der Ferne unterstützt. Sich nicht um ihn zu kümmern, wäre ihm wesentlich schwerer gefallen, nachdem er nun schon seit mehreren Jahrhunderten stets ein wachsames Auge auf Aodhan hatte.

Aber um eine Freundschaft auf Dauer am Leben zu erhalten, bedurfte es einer aktiven Beteiligung beider Parteien.

Sicher, Aodhan hatte sich für jedes von Illiums Paketen artig bedankt und auch auf dessen Nachrichten geantwortet. Trotzdem haftete ihrem Umgang etwas Steifes, Gezwungenes an. Im Übrigen hatte Aodhan sich nur ein einziges Mal, nämlich als Sharine und Titus ein Paar geworden waren, von sich aus gemeldet.

Aber nur um sich zu erkundigen, wie er mit der Neuigkeit zurechtkam.

Eine einzige armselige Annäherung in einem ganzen Jahr! Illium war es gründlich leid. Er kannte Aodhan besser als jeder andere. Sein Freund war ein Krieger, der es furchtlos mit jedem Feind aufnahm, im Privatleben jedoch noch nie auf Konfrontation aus gewesen war.

Auf emotionalen Schmerz reagierte Aodhan mit Rückzug.

Illium hatte das vor zweihundert Jahren beobachten müssen, als sein Freund bestialisch verwundet worden war, seine Seele fast noch schlimmer als sein Körper, und ihn dennoch nicht eine Sekunde aufgegeben. Ihm war klar gewesen, dass er für Aodhan stark sein und ihm dabei helfen musste, aus dieser Hölle herauszufinden.

Heute lag der Fall anders. Illium war sich wohl bewusst, dass Aodhan nicht nur regelmäßig mit Ellie telefonierte, sondern auch mit Sharine und bestimmten Leuten im Turm.

Die Botschaft war angekommen.

Normalerweise neigte er nicht dazu, voreilige Schlüsse zu ziehen. Er war jemand, der andere offen zur Rede stellte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Aodhan und er hatten nie um den heißen Brei herumgeredet … außer bei der grauenvollen Tat, die Aodhan für immer gezeichnet hatte. Darüber sprach er mit niemandem, nicht einmal mit Illium.

Vielleicht war das das erste Anzeichen gewesen, und Illium hätte es nicht einfach ignorieren sollen.

Gleichzeitig konnte man selbst von ihm, einem Mann, der es gewohnt war nachzuhaken, der stets die persönliche Aussprache suchte, nicht erwarten, dass er sich vollkommen schutzlos auf dieses gefährliche Terrain begab. Dafür hatte Aodhan ihn zu oft auf seine stille Art zurückgewiesen.

Sie hatten den Punkt erreicht, an dem sich jedes Gespräch, jede weitere Frage erübrigte.

Kollegiale Distanz lautete von nun an das Motto. Das Letzte, was Illium wollte, wäre, dass Aodhan sich verpflichtet fühlte, weiterhin mit ihm befreundet zu sein, sich nicht aus freien Stücken, sondern unter Zwang für ihn entschied. Bei dem Gedanken krampften sich seine Eingeweide zusammen, als hätte ihm jemand einen Schlag in den Magen verpasst.

Er zwang sich, von der Tür wegzutreten, nahm seinen Rucksack ab und warf ihn auf einen zerbrechlich aussehenden Stuhl mit geschwungenen Beinen und samtbezogener Sitzfläche. Anschließend steuerte er die Tür an, hinter der er das Badezimmer vermutete.

Richtig geraten.

Er entkleidete sich in dem kühlen, leeren Bad und trat in den üppig gestalteten Duschraum mit den goldenen, reich verzierten Duschköpfen. Die Wände waren mit rosa Marmor verkleidet, und zu seiner Verwendung lag eine Bürste mit flauschigen weißen Borsten und pinkfarbenem Griff bereit. Das alles war dermaßen lächerlich, dass ein humorloses Lachen aus ihm herausbrach.

Wenigstens war der ganze offene Duschbereich so angelegt, dass er sowohl von Vampiren und Sterblichen als auch von Flügelträgern genutzt werden konnte. Vielleicht auch für Orgien. Illium drehte sämtliche Duschköpfe auf und ließ aus allen Richtungen Wasser über seinen Leib strömen.

Es war an der Zeit, seine Reaktionen in den Griff zu bekommen.

Die Freundschaft zwischen ihnen mochte tot und begraben sein, trotzdem gehörte Aodhan immer noch zum Kreis der Sieben, und Illium sollte ihn in Raphaels Auftrag hier in China unterstützen. Was nicht zuletzt bedeutete, ihn in seiner Entscheidung über Suyins Angebot, ihr Stellvertreter zu werden, zu unterstützen. Auch wenn die Entscheidung für ihn bedeutete, Abschied vom Turm zu nehmen.

Illium würde ihn nicht hängen lassen, sondern ihm auf jedem seiner Schritte den Rücken stärken. Und was ihre verlorene Freundschaft betraf … diese blutende Wunde würde mit der Zeit heilen, mochten darüber auch Jahrtausende ins Land gehen.

Die Zähne so fest zusammengebissen, dass es wehtat, ließ er mit verkrampften Schultern das Wasser auf seine Haut prasseln. Die Sache war für ihn erledigt.

5

Damals

Sharine ging das Herz auf, als sie zusah, wie Aegaeon ihren kleinen Sohn auffing, der, so schnell ihn seine Beinchen trugen, zu seinem Vater getapst war. Aegaeon war ein Hüne von einem Mann, mit breiten Schultern, muskulösen Armen, leuchtend blaugrünen Augen und Haaren derselben Farbe.

Seine Flügel waren dunkelgrün und mit wilden blauen Streifen durchsetzt.

Von ihm hatte Illium die bläulich schimmernden Spitzen in seinem Haar geerbt, eine Farbe, die sich schon jetzt als Hauch auch in den flaumigen gelb-weißen Babyfedern zeigte.

Er quietschte vor Vergnügen, als sein Vater ihn in die Luft hob und im Kreis herumschwenkte. Da musste auch der Erzengel lachen, sein Stolz auf seinen Sohn war ebenso erkennbar wie die Freude, die es ihm bereitete, mit ihm zusammen zu sein.

Sharine wusste, dass er sie nicht liebte, jedenfalls nicht in dem Maß, wie sie von Raan geliebt worden war. Aegaeon hielt sich einen Harem an seinem Hof, hatte Dutzende Gespielinnen. Sharine störte sich nicht daran, weil sie ihm Illium verdankte, das Glück ihres Lebens. Aegaeon vergötterte seinen Sohn, und nur darauf kam es an.

Es hatte bereits Gespräche darüber gegeben, dass Illium ihn bei Hofe besuchen könnte, wenn er älter wäre. Selbstverständlich in Sharines Begleitung. Diese Frage hatte sich nie gestellt. Der Erzengel war ein guter Vater, aber, wie er selbst einräumte, hatte er keine Ahnung vom Umgang mit einem kleinen Wildfang wie Illium.

Sharine hasste das Leben am Hof, allerdings hatte Aegaeon versprochen, ihr und ihrem Sohn einen eigenen Flügel zur Verfügung zu stellen, weit weg von den zänkischen Weibern seines Harems. »Sollte dir durch einen dummen Zufall dennoch eine der Frauen über den Weg laufen, würde sie es nicht wagen, dich verbal oder in anderer Weise zu attackieren«, hatte Aegaeon ihr versichert. »Du bist immerhin die Mutter meines Sohnes.«

Dessen ungeachtet fieberte Sharine einem Aufenthalt dort nicht gerade entgegen, andererseits freute sie sich für Illium. Momentan war er noch so klein, dass es ihm vollauf genügte, mit ihr in der Zuflucht zu leben, wo Aegaeon ihn gelegentlich besuchte. Doch über kurz oder lang würde er die Führung seines Vaters benötigen.

Dasselbe hatte sie auch schon bei Nadiels und Calianes Sohn beobachtet.

Ihr blutete das Herz, wenn sie an den jungen Erzengel dachte, der als Teenager fast an der Hinrichtung seines Vaters zerbrochen wäre. Raphael hatte seiner Mutter ihre grausame Tat nie zum Vorwurf gemacht, er war alt genug gewesen, um zu begreifen, dass Nadiel dem Wahnsinn verfallen war und unbedingt aufgehalten werden musste.

Trotzdem vermisste er ihn immer noch, daran bestand für Sharine kein Zweifel.

Das Band zwischen Söhnen und ihren Vätern war völlig anders als das zwischen ihnen und ihren Müttern.

Jetzt gerade thronte ihr kleiner Junge stolz auf Aegaeons Armen, der ihn zurück zu Sharines Haus trug. Wie meistens hatte der Erzengel auch heute auf ein Hemd verzichtet, und der Wirbel auf seiner nackten Brust glitzerte silbern im Sonnenlicht. Er war ein sehr attraktiver Mann, bei dessen Anblick ihr früher der Atem gestockt war.

Obwohl die anfängliche Glut, die sie für ihn empfunden hatte, längst erloschen war, schmiegte sie glücklich über seine Rückkehr das Gesicht in seine Hand, als er ihre Wange umfing. »Willkommen zu Hause.«

»Es tut gut, wieder hier zu sein«, antwortete er mit einem strahlenden Lächeln und einer Stimme, deren tiefes Timbre sie bis in die Knochen hinein spürte. »Du bist eine wahre Augenweide, Sharine. Hier bei dir finde ich Frieden, wohingegen an meinem Hof eine Schlacht die nächste jagt. Wäre es mir möglich, würde ich immer in der Zuflucht leben.«

Die süßen, zärtlichen Worte fielen wie warmer Regen in ihr dürstendes Herz, von dem sie nicht geglaubt hatte, es könnte noch einmal für einen Mann entflammen. »Du hast uns gefehlt.« Vor Aegaeon hatte sie sich eingebildet, glücklich und zufrieden zu sein mit ihrem zurückgezogenen Dasein, ihrer Kunst, dem überschaubaren Freundeskreis.

Dann war er wie ein Derwisch in ihr Leben gefegt, hatte sich in ihrer Seele eingenistet, sie wieder vollständig aufgeweckt. »Auch ich wünschte, du könntest ständig bei uns sein«, fügte sie hinzu und verdrängte jeden Gedanken an seinen Harem, an die Tatsache, dass sein Leben sich einen ganzen Ozean entfernt zutrug.

Weil nichts davon bedeutsam war, solange er ihren gemeinsamen Sohn liebte.

Freiheit und Liebe sind untrennbar miteinander verbunden.

Lady Sharine

6

Heute

Aodhan hatte kein Auge zugetan. Er war mittlerweile in einem Alter, in dem Ruhephasen für ihn nicht mehr so wichtig waren wie für Sterbliche, trotzdem schlief er normalerweise ein paar Stunden pro Nacht. Dieses Mal nicht, das Wissen um Illiums Anwesenheit hinter der gegenüberliegenden Tür hatte ihn beharrlich wach gehalten.

Dabei hätte er sich früher nichts dabei gedacht, einfach in dessen Suite zu marschieren, sich in einem Sessel auszustrecken und sich mit seinem Freund zu unterhalten, während dieser sich von den Strapazen seiner langen Reise erholte.

Selbst in den Jahren nach seiner Befreiung, dieser albtraumhaften Periode, während der er mehr tot als lebendig gewesen war, hatte er seinen engsten Vertrauten immer gern um sich gehabt. Aodhan hatte damals sehr lange Zeit nicht gesprochen, jedoch auch nie demonstrativ den Raum verlassen, wenn Illium einen seiner Monologe hielt, indem er ihm von seinem letzten, in Raphaels Namen ausgeführten Auftrag berichtete, von seinem jüngsten Liebesabenteuer oder mit teils witzigen, teils interessanten Anekdoten aufwartete, von denen er glaubte, sie würden Aodhan gefallen.

Illium strahlte solche Energie, solche Lebensfreude aus, dass man sich unweigerlich von ihm angezogen und bisweilen auch überwältigt fühlte.

Aodhan betrachtete die einzelne blaue Feder, die er nach Beendigung seiner Schicht gezeichnet hatte. Er zog beim Malen natürliches Licht künstlichem vor, kam aber mit beidem zurecht. Seit einer halben Stunde konnte er jetzt auf Lampen verzichten und arbeitete im Licht der frühen Morgensonne, die inzwischen in einem schrägen Winkel den Balkon streifte.

Das warme Dämmerlicht brach sich in dem glitzernden Silber, mit dem Aodhan die aus unzähligen Schattierungen von Blau bestehenden Filamente der Feder bestäubt hatte. Viele Leute dachten, dass Illiums Schwingen einheitlich blau seien, dabei wiesen sie in Wahrheit viele verschiedene, einander überlappende Nuancen der Grundfarbe auf.

Aodhan kannte jede Einzelne davon.

Er legte seinen Pinsel auf den kleinen Tisch, der auf dem Balkon stand, und inspizierte die blauen Farbflecke auf seinen Fingern. Was zur Hölle war in ihn gefahren? Mit steifem Rücken erhob er sich und begab sich ins Bad, um sich die verräterischen Spuren von den Händen zu waschen. Zum Glück hatten seine dunkelbraune Hose und sein langärmeliges weißes Hemd nichts abbekommen.

An Suyins Hof trug er ausschließlich Kleidungsstücke mit langen Ärmeln. Die Leute hier kannten ihn nicht so gut wie die im Turm, und so kam es immer wieder mal vor, dass jemand ihn versehentlich berührte. Nicht aus Böswilligkeit oder um sich seiner Bitte, Abstand zu ihm zu halten, zu widersetzen, sondern einfach aus Vergesslichkeit. Zu Hause würde so etwas niemals passieren.

Tatsächlich gab es dort sogar einige, zu denen er körperliche Nähe geradezu suchte.

Aodhan? Suyins mentale Stimme war ebenso warm und klangvoll wie ihre Sprechstimme; in ihr lag nichts von der tödlichen Kraft, die der Raphaels eigen war. Obwohl beide unzweifelhaft Erzengel waren, hätten sie als Machttypus kaum unterschiedlicher sein können.

Ja, ich höre. Anfangs hatte er Suyin aus Respekt vor ihrer Stellung und wegen seiner zeitlich befristeten Funktion als ihr Stellvertreter Lady Suyin genannt.

Sie selbst hatte ihn darum gebeten, auf diese förmliche Anrede zu verzichten. »Du bist derzeit die einzige Person an meinem Hof, der ich vorbehaltlos vertrauen kann«, hatte sie erklärt. »Sei mein Freund, Aodhan. Du weißt viel mehr als ich über die besondere Bindung zwischen einem Erzengel und seinem Stellvertreter, hast Informationen aus erster Hand bezüglich der langjährigen und engen Beziehung zwischen Raphael und Dmitri. Schildere mir, wie ein solches Band entsteht.«

»Das kann ich nicht.« Er würde sie nicht belügen. »Der Sire und Dmitri waren schon ewig befreundet, bevor sie zu Erzengel und Stellvertreter wurden.« Beide sprachen nie über ihre gemeinsame Vergangenheit, die, nach allem, was Aodhan im Lauf der Jahre aufgefangen hatte, offenbar von einem schrecklichen Verlust gezeichnet war.

Dmitri hatte einmal eine Frau gehabt, die er liebte. Kinder.

Doch von Zeit zu Zeit drangen Splitter ihrer gemeinsamen Vergangenheit an die Oberfläche, wie beispielsweise an dem Tag, als Dmitri Witze über Raphaels Versagen beim Pflügen eines Ackers gemacht hatte. »Er wollte mir helfen, also ließ ich ihn. Dir ist im Leben wirklich etwas entgangen, wenn du nie einen mit Schlamm bedeckten Engel erlebt hast, der sich zwei störrische Ochsen gefügig zu machen versucht. Ich habe schrecklich lachen müssen.«

Darum war die Antwort, die er Suyin gegeben hatte, die reine Wahrheit.

Sie akzeptierte sie mit einem würdevollen Kopfnicken. »Eine solche Möglichkeit wird es für mich leider nicht geben. Ich muss mich für einen Stellvertreter entscheiden, dessen Fähigkeiten bereits ausgereift sind.« Obsidianschwarze Augen versenkten sich in die seinen. »Aber was ich im Moment noch viel dringender brauche, ist ein Freund. Könntest du das für mich sein?«

Aodhan schloss nicht schnell Freundschaften, konnte die, die er hatte, an einer Hand abzählen, was für einen Engel seines Alters ungewöhnlich war. Andererseits sah er sich in Suyin widergespiegelt; auch sie war die Gefangene eines grausamen Foltermeisters gewesen, hineingestoßen in eine Welt, auf die nichts sie vorbereitet hatte. Der Unterschied lag darin, dass er nach seiner Befreiung von einer ganzen Schar von Unterstützern umgeben gewesen war, wohingegen Suyin nur auf wenige Personen bauen konnte.

Natürlich würde Raphael ihr jederzeit beistehen und sie niemals in die Irre führen, allerdings war er auch Mitglied des Kaders. Dasselbe galt für Lady Caliane. Dieser Umstand machte ihre Beziehungen in einem solchen Maß kompliziert, dass niemand, der nicht mit Erzengeln verkehrte, es begreifen würde.

Darum hatte seine Antwort gelautet: »Ja, Suyin, ich werde Ihr Freund sein.«

Heute schwang in ihrer gedankensprachlichen Stimme eine Anspannung mit, die seine Instinkte in Alarmbereitschaft versetzte. Sei so gut, und komm zu mir in den Wildgarten. Ich möchte mit dir sprechen.

Bin schon unterwegs.

Bring Illium mit, falls er wach ist.

Aodhan presste die Kiefer zusammen, doch er zwang sich, zu Illiums Tür zu gehen und sacht anzuklopfen. Sekunden später schwang sie auf, und Illiums goldene Augen blitzten ihn an. Anstelle seiner Reisekleidung trug er jetzt eine Kluft aus abgewetztem schwarzem Leder mit blauen Akzenten, die seine muskelbepackten Oberarme freiließ. Der vom häufigen Gebrauch weich gewordene, körpernah geschnittene Anzug sah nicht nur uralt aus, sondern war es auch, und er gehörte zu Illiums absoluten Lieblingsstücken.

»Ich habe einen Mordshunger.« Ein breites, unerträglich künstliches Lächeln. »Bitte sag mir, dass du hier bist, um mich zu einer reich gedeckten Tafel zu führen.«

»Erzengel Suyin bittet uns um eine Unterredung.« Das kam ziemlich steif und spröde heraus. »Wir können hinterher frühstücken.«

»Werden wir vom Balkon aus starten?«

»Nein, der Weg durch die Festung ist kürzer.«

»Dann zeig ihn mir.«

Wortlos gingen sie nebeneinander her, doch es war nicht das kameradschaftliche Schweigen zweier Krieger, die auf dem Weg zu einem Erzengel waren; stattdessen empfand Aodhan ein unbehagliches Prickeln auf der Haut. Illium war sonst nie so in seiner Gegenwart, so herausfordernd unbekümmert, ohne dabei auch nur das Geringste von sich preiszugeben.

Liebenswürdig und hübsch anzusehen und gleichzeitig dermaßen gekünstelt, dass Aodhan ihn am liebsten angebrüllt und sich mit ihm den Kampf aller Kämpfe geliefert hätte, um der Sache ein Ende zu machen. Was überhaupt nicht seiner Natur entsprach. Das allseits so hochgeschätzte Glockenblümchen schien für ihn die Ausnahme von der Regel zu sein.

»Das Dekor ist wirklich speziell.« Illium zeigte auf ein Gemälde, das einen in bombastischen Farben und mit wilden, zickzackartigen Pinselstrichen auf Leinwand gebannten Maskenball darstellte. »Gut, dass ich das nicht sehen musste, bevor ich mich hingelegt habe. Das ist der Stoff, aus dem Albträume sind.«

»Wir hatten nicht genügend Zeit, um dein ästhetisches Empfinden zu berücksichtigen«, grummelte Aodhan und merkte selbst, dass er sich anhörte wie einer dieser verknöcherten alten Engel, die zum Lachen in den Keller gingen.

Weder verdrehte Illium die Augen, noch gab er einen ironischen Kommentar zu Aodhans plötzlicher Verwandlung in einen nörgelnden Greis ab. Er verzog keine Miene, sondern ging einfach weiter.

Als wäre nichts von dem, was Aodhan tat oder sagte, für ihn von Belang.

Aodhans Hand schloss sich zur Faust, und er schluckte die Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag, hinunter. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, Illium wegen seines Verhaltens zur Rede zu stellen.

Er trat an den Rand der geländerlosen Galerie und ließ sich auf die darunter gelegene Ebene hinabfallen. Wie in den meisten Engelsfestungen war auch in dieser der innerste Kern des Gebäudes offen, sodass Aodhan reichlich Platz hatte, um mit ausgebreiteten Schwingen zu Boden zu schweben.

Illium landete ein Stück von ihm entfernt, weit genug, damit nicht einmal die Spitzen ihrer Flügel miteinander in Berührung kamen. Die Höflichkeit in Person, ausgerechnet er, der Aodhan gegenüber niemals höflich war. Sein Freund war normalerweise ein Ausbund an Übermut und Warmherzigkeit und gelegentlich ein rechter Plagegeist. Illium wollte ihn mit seinem korrekten Verhalten absichtlich provozieren.

Zähneknirschend führte er ihn durch eine Seitentür in einen verwilderten Garten, der trotz der von heftigen Schneefällen kündenden Eiseskälte in voller Blüte stand. Suyins Wissenschaftlern zufolge war diese Gegend eigentlich nicht für harte Winter bekannt, jedoch ließ sich schlecht einschätzen, was Lijuans tödlicher Nebel in dem Land angerichtet hatte.

Der eigentliche Schaden würde erst in vielen Jahren, womöglich auch erst nach Dekaden, feststellbar sein.

Nachdem Suyin beschlossen hatte, diese Festung als Übergangsbasis zu nutzen, hatte Aodhan ihr geraten, sich vorsichtshalber auf strenge winterliche Bedingungen einzustellen, worauf sie ohne Zögern einen Notfallplan umsetzte. Selbst wenn die gesamte Region unter einer dicken Schneedecke begraben sein würde, müsste keiner von ihren Leuten verhungern oder erfrieren.

Illium stieß einen leisen, melodischen Pfiff aus. »Das ist schon eher nach meinem Geschmack.«

Aodhan sah ihn verstohlen von der Seite an und erhaschte zum ersten Mal einen Blick auf den echten Illium. In dessen Miene spiegelte sich unverhohlene Verwunderung, als er mit leuchtenden Augen die Hand nach einer prächtigen weißen Blüte ausstreckte, die so schwer war, dass sie von ihrem eigenen Gewicht nach unten gezogen wurde.

Instinktiv ließ Aodhan seinen Arm vorschnellen, um Illium daran zu hindern, sie anzufassen. Dabei achtete er darauf, ihn nicht zu berühren, denn es war ja offensichtlich, dass sein Freund das nicht wollte. »Die Blütenblätter sind mit einer narkotisierenden Flüssigkeit überzogen«, warnte er ihn. »Sie zeigt tatsächlich auch bei Engeln Wirkung, falls versehentlich unsere Augen oder unser Mund mit ihr in Berührung kommen. Ich spreche von Visionen und Wahrnehmungsstörungen, die erst nach etwa einer Stunde wieder verschwinden.«

Illium seufzte verdrossen. »Wie konnte ich auch annehmen, Dero Bösartigkeit hätte einen ganz normalen Garten gehabt.«

Obwohl der Spitzname ursprünglich von Elena stammte, war die Bemerkung so typisch für ihn, dass Aodhan Mühe hatte, sich ein Lächeln zu verkneifen. »Übrigens ist dieser zauberhafte Garten voll von absonderlichen Gewächsen.«

Als Illium zu seinen Worten schwieg, führte Aodhan ihn einen von dicht stehenden Bäumen gesäumten Weg entlang. Süß duftende Schlingpflanzen mit glänzenden, dunkelgrünen Blättern und winzigen weißen Blüten umrankten die Stämme, darunter sprossen allerlei Pilze in den ungewöhnlichsten Farben und Formen aus dem Boden.

»Wir kennen nicht die Eigenschaften sämtlicher Pflanzen hier, sondern nur von denjenigen, deren Wirkung der eine oder andere Höfling unfreiwillig am eigenen Leib erfahren hat.« Da dieses Thema Aodhan emotional nicht berührte, eignete es sich perfekt dazu, die qualvolle Stille zwischen ihnen zu überbrücken. »Wenn wir noch ein Stück tiefer in den Garten hineingehen, stoßen wir auf einen klaren, kühlen Teich, der jetzt jeden Morgen mit einer dünnen Eisschicht bedeckt ist.«

»Ich vermute, er ist mit Raubfischen verseucht«, lautete Illiums säuerlicher Kommentar.