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Macht, Liebe und Unsterblichkeit in der Welt der Engel und Vampire
Endlich ist Illium zurück in New York, zurück bei seinem Erzengel, zurück bei Aodhan, seinem besten Freund und dem Mann, bei dessen Anblick sein Herz schneller schlägt. Doch ihnen bleibt keine Zeit, ihre neuen Gefühle füreinander zu erforschen, denn schon kurz nach seiner Ankunft erschüttert ein Mord die Stadt. Illium und Aodhan sollen dem scheußlichen Verbrechen, das in Aodhan schmerzhafte Erinnerungen an die Gewalt, die ihm einst angetan wurde, weckt, auf den Grund gehen. Und während sie alles tun, um den Täter zu finden, müssen sie sich nicht nur ihren Gefühlen und Aodhans Vergangenheit stellen, sondern auch in die Zukunft schauen. Denn einiges deutet darauf hin, dass Illiums Aufstieg zum Erzengel in nicht allzuferner Zeit bevorsteht. Und das wird alles verändern ...
»Eine herzzerreißende und unglaublich warme Geschichte.« Somewhere Lost In Books
»Eine großartige Liebesgeschichte voller Opferbereitschaft, Hingabe, Heilung und der Kraft der Liebe in den dunkelsten Momenten.« Addicted to Romance
Band 17 der Gilde der Jäger von Spiegel-Bestseller-Autorin Nalini Singh
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Seitenzahl: 571
Veröffentlichungsjahr: 2025
Titel
Zu diesem Buch
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Die Autorin
Nalini Singh bei LYX
Impressum
NALINI SINGH
Engelsschwur
GILDE DER JÄGER
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ralf Schmitz und Andreas Heckmann
Endlich ist Illium zurück in New York, zurück bei seinem Erzengel als einer von Raphaels Sieben, zurück bei Aodhan, seinem besten Freund und dem Mann, bei dessen Anblick sein Herz schneller schlägt. Sie müssen ihre neuen Gefühle füreinander erforschen und den Übergang von jahrhundertelanger Freundschaft zu Liebenden schaffen. Doch schon kurz nach seiner Ankunft erschüttert ein Mord die Stadt, die niemals schläft. Ein Vampir und seine Gefährtin werden brutal von ihrem Stalker ermordet. Der Erzengel beauftragt Illium und Aodhan mit der Aufklärung des scheußlichen Verbrechens, das in Aodhan vermeintlich begrabene Erinnerungen an die Oberfläche bringt. Erinnerungen an die schlimmen Dinge, die ihm einst selbst angetan wurden. Und während sie alles tun, um den Täter zu finden, müssen die beiden sich nicht nur ihren immer tiefer gehenden Gefühlen füreinander und Aodhans Vergangenheit und Trauma stellen, sondern auch in die Zukunft schauen. Denn in nicht allzuferner Zeit wird Illium seiner Bestimmung folgen müssen und zum Erzengel aufsteigen – und das wird zwangsläufig alles verändern …
Heute
Illium rauschte so dicht an dem eleganten Hochhaus vorbei, das die weißen Wolken eines Frühlingstages durchstieß, dass er mit einem Flügel beinahe die schwarze Glasfront gestreift hätte. Sie war indessen stark genug, um selbst einem Ansturm von Engeln standzuhalten.
Tatsächlich war diese Art von Glas in New York entwickelt worden – von einem Sterblichen, der es endgültig leid gewesen war, dass die Kämpfe der Engel seine geliebte Stadt dem Erdboden gleichmachten.
Es würde zwar kein Gebäude, und wäre es auch noch so stark bewehrt, den Zorn eines Erzengels überstehen, doch Erzengel verfügten aus gutem Grund über Armeen.
Kriege wurden an vielen Fronten geführt, und dieser Sterbliche, dessen Name und Geschichte in den Aufzeichnungen der Zuflucht unsterblich gemacht worden war, hatte seiner Stadt einen wesentlichen Vorteil verschafft: Ihre Bauwerke stürzten nicht beim ersten Angriff zusammen, sondern boten ihren Bewohnern immer wieder aufs Neue Schutz.
New York war in den Jahrhunderten seit der Entwicklung dieses Materials mit glimpflichen Attacken davongekommen, die stets Illiums widerwärtigem Vater zu verdanken waren, der darüber wütete, dass sein Sohn lieber einem anderen Erzengel diente. Doch nicht einmal Aegaeon hatte den Mut zu einem echten Feldzug gehabt, sodass New York seit dem Ende der Todeskaskade nicht wieder erobert worden war. Aber warum dumm und überheblich sein? Es war allemal besser, noch widerstandsfähiger zu bauen.
Eine hochgewachsene Frau mit eindrucksvollen Wangenknochen trat an ein Fenster des Wolkenkratzers und winkte Illium zu, woraufhin er zurückgrüßend die Flügel senkte. Sie arbeitete seit fünf Jahren in diesem Büro, seit zwei Jahren als Teilhaberin, und ihr Gesicht erhellte sich noch immer jedes Mal, wenn er vorbeiflog.
Denn sie gehörte zur Familie, war eine Angehörige des Clans, den Catalina und Lorenzo vor vielen Jahrhunderten frisch verliebt begründet hatten.
Das Ungewöhnlichste an alldem war, dass die kleine Bäckerei seiner geliebten Freunde in Harlem das unerbittliche Verstreichen der Zeit überlebt hatte. Die Heimat der berühmten Engelsflügel-Alfajores existierte noch immer in dem alten Gebäude, wo das Originalrezept einst das Licht der Welt erblickt hatte – ein Gebäude, dessen Herz niemals zu schlagen aufgehört hatte, so häufig es auch saniert und renoviert worden war. Denn jede neue Generation von Catalinas und Lorenzos Familie setzte einen leidenschaftlichen Bäcker in die Welt, der ihr Erbe antreten und fortführen wollte.
Damit die kleine Bäckerei immer ein Zuhause haben und niemals durch den Fortschritt oder irgendwelche Veränderungen verdrängt werden würde, hatte Illium nach und nach den gesamten Häuserblock gekauft. Harlem mochte ringsum wie ein Chamäleon seine Farbe wechseln, doch selbst als dieser Teil der Stadt für einige Zeit einen gefährlichem Abstieg erfuhr und zum Schauplatz vampirischer Ausschweifungen und des Leides der Sterblichen wurde, hatte es niemand gewagt, die Bäckerei zu behelligen.
Die ganze Stadt wusste, dass sie unter dem Schutz unverkennbar blau leuchtender, von feinen silbernen Filamenten durchzogener Fittiche stand.
Nun nutzte Illium genau diese Flügel, um auf dem vom Meer kommenden Luftstrom durch die frische Frühlingsluft zu reiten, die von noch nicht lange geschmolzenem Schnee kündete und die er noch deutlicher in dem dünnen Nebel empfand, der seine Haut küsste, als er durch die Wolken in größere Höhen strebte.
Weitere Hochhäuser durchstießen die Wolken ringsum und ließen die oberen Stockwerke wie üppige Habitate erscheinen, die über dem wattigen Weiß schwebten, doch nichts kam dem himmelhohen Wunder von Raphaels Turm gleich. Auch der zu allen Zeiten höchste Himmelspunkt, gebaut, um in alle Richtungen freien Ausblick zu gewähren, war im Lauf der Zeit vielfach umgebaut worden, aber immer, immer ein Leuchtturm der Macht und des Lichts gewesen. Schwarzes Glas kannte er nicht, seine Gestalt schimmerte stahlgrau mit metallischen Glanzlichtern. Die Fenster der oberen, in allen Kämpfen wichtigsten Stockwerke waren verspiegelt, und das ärgerte Illium persönlich aufs Äußerste, denn er war so neugierig wie seine Hauskatze.
Doch der Erste General Illium erkannte natürlich ihren Nutzen, schließlich hatte er zu dem Team gehört, das den Turm entworfen hatte, als es an der Zeit für einen Neubau gewesen war. Zudem hatte er dafür gesorgt, dass alle Teile des Gebäudes technologisch auf eine Weise verbunden waren, die es von allen anderen Erzengelfestungen der Welt unterschied. Was sich indessen niemals geändert hatte, war die Kaskade geländerloser Balkone, die den Engeln als Start- und Landerampen dienten.
In diesem Moment fiel sein Blick auf ein sich zum Flug öffnendes Flügelpaar. Die Federn waren von dunklem Mahagonibraun, der Flaum eine Spur heller, und in der Luft würde sie aussehen wie eine Kriegerin.
Andreja.
Ungefähr siebeneinhalbtausend Jahre schon – ihren genauen Geburtstag hatte sie vor Äonen vergessen – trug sie den Bernstein eines weit jüngeren Engels. Sie, die geschworen hatte, sich niemals an einen Geliebten zu binden. Doch nicht einmal die zähe, von Kämpfen gezeichnete Andreja war gegen Larics geduldige Entschlossenheit gefeit. Und als sie dem Heiler erklärt hatte, er sei zu jung für eine Verbindung mit ihr, hatte er einfach weiter abgewartet.
»Er fragt mich zu jeder Jahrhundertwende und erinnert mich daran, dass für uns beide ein neues Säkulum angebrochen ist«, hatte sich Andreja bei Illium beschwert. »Der Mann ist unermüdlich.«
Illiums Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln, als er daran dachte; er wusste alles über stille, unermüdliche Charaktere. Er wusste außerdem, dass Andreja sich vor einer Bindung gefürchtet hatte, weil sie Laric so liebte; deshalb hatte sie Angst gehabt, er könnte davonfliegen, sobald er sich von seinem furchtbaren Schmerz erholt hätte. Doch Laric war wie Illium, beide liebten nur einmal ernsthaft und wahrhaftig … und für immer.
Nun stieß Illium, das Lächeln seiner Geliebten vor dem inneren Auge, durch die Wolken zur ersten nicht verspiegelten Fensterreihe hinab, wo ihn eine Vampirin grüßte, deren Haar ihr samtschwarz über den Rücken floss.
Ihr schwarzer Bodysuit zeigte einen unregelmäßigen, an einer Schulter spitz zulaufenden Ausschnitt, und ihre Stiefel hatten klobige Absätze aus durchsichtigem Glas, so hoch, dass er keine Ahnung hatte, wie sie sich derart mühelos darauf fortbewegen konnte. Während ihre Haare seit einem Jahrhundert schwarz waren, wechselten Hollys Wimpern ihre Farbe von Tag zu Tag und je nach Stimmung.
Giftgrün, ertönte es lachend in seinem Geist, ehe er sie danach fragen konnte. Holly verstand sich bestens darauf, mental zu kommunizieren. Nicht alle Vampire entwickelten diese Fähigkeit, doch Holly war von einem Erzengel erschaffen worden. Von einem wahnsinnigen Erzengel, der dennoch zum Kader gehörte.
Ich fühle mich heute auf sentimentale Weise verliebt. Sie warf ihm eine Kusshand zu und verschwand um die nächste Ecke.
Drei Stockwerke tiefer startete, angeführt von Sameon, eine Staffel Engel. Illium würde seine braunen Flügel mit den schwarzen Spitzen überall erkennen, genau wie seine eindrückliche Art des Fliegens. Dieser etwa siebenhundert Jahre alte Engel hatte bei Galen gelernt, flog aber erheblich beherrschter als der Barbar, was in krassem Widerspruch zu seiner offenherzigen Persönlichkeit stand. Würde es im Turm einen Beliebtheitswettbewerb geben, Sam würde ihn bestimmt gewinnen.
Alle liebten den dunkeläugigen Staffelführer und treuen Angehörigen von Elenas Garde.
Heute führte Sam seine Staffel über das Glas und Metall der Stadt zum kristallklaren Blau des Wassers. Auch daran hatte sich nichts geändert, New York bestand weiterhin aus Glas und Metall, doch es gab mehr Fußgängerbrücken und schnittige U-Bahnen mit selbstfahrenden Zügen, und die Gebäude und schwebenden Habitate waren so angelegt, dass man in ihnen leben und arbeiten konnte, und besaßen dank des nimmermüden Waltens der Legion ausgedehnte Grünanlagen im Innenbereich.
Aber das Herz der Stadt schlug laut und unüberhörbar in ihrem rauschenden Straßenverkehr, etwa in den autonom fahrenden Taxis mit ihrem charakteristischen Gelb. Diese Technik hätte schon lange auf Privatfahrzeuge übertragen werden können, doch während Fahrzeuge, die optional autonom verkehren konnten, durchaus beliebt waren – wobei es den Fahrern oblag, die Selbstfahrweise nach Belieben ein- oder auszuschalten –, war die Nachfrage nach vollständig selbstfahrenden Autos nach einigen unglücklichen Zwischenfällen auf null zurückgegangen, denn bisweilen waren Fahrzeuge von ihren Sicherheitssystemen zum Halten gezwungen worden, weil diese auf der Fahrbahn »Fußgänger« entdeckt hatten.
Bei diesen Fußgängern hatte es sich um von Blutdurst getriebene Vampire mit Schaum vor dem Mund gehandelt, die mit den Fahrzeugen zusammengeprallt waren und ihren Durst an den unglücklichen Insassen gestillt hatten.
Woraufhin sich zeigte, dass auch Sterbliche, wenn sie sich fürchteten, Erinnerungen speichern konnten, die unauslöschlich waren. Wie sehr die Hersteller danach auch verbesserte Fahrzeuge anpriesen, die ihre Insassen nicht mehr in wehrlose Blutbanken verwandeln würden: Es gab niemanden mehr, der ihre Fahrzeuge kaufen wollte.
Was Illium, so technikbegeistert er auch war, den Leuten nicht verübeln konnte.
Fliegende Autos hatten, da das Risiko von Kollisionen einfach zu groß war, in einer von Engeln bevölkerten Welt natürlich nie eine Chance gehabt.
Er grinste, als er zwei Straßenhändler entdeckte, die sich über die stark befahrene Fahrbahn hinweg anbrüllten, zweifellos, weil sie einander ihre Standorte neideten. Taxifahrer mochten von der Technik verdrängt worden sein, doch es gab noch immer genug Leute auf den Straßen – und sie waren noch immer typische New Yorker. Hot-Dog-Stände, Kaffeekarren, Souvenirhändler, eine unvermindert fortbestehende farbenfrohe Parade.
Geändert hatte sich lediglich ihr Erscheinungsbild. Imbissbuden und Karren waren heutzutage flugtüchtig – die einzigen von den Regeln des Luftverkehrs ausgenommenen Fahrzeuge, allerdings nur, was die Nutzung und das Verlassen ihrer zugewiesenen Stellplätze auf Hausdächern sowie in Habitaten betraf. Außerdem unterlagen sie einer strengen Geschwindigkeitsbeschränkung und mussten sich zu festgesetzten Tageszeiten an festgelegte Flugbahnen halten.
Niemand wollte, dass hundert hochmotorisierte fliegende Imbissbuden durch den Luftraum der Engel geisterten.
»Märkte gibt es bereits seit unvordenklicher Zeit«, hatte seine Mutter bei einem seiner Besuche in Lumia gesagt, als sie in Begleitung einer Kinderschar, Bewunderer von Sharine, dem Kolibri, durch die geschäftigen Gassen zwischen den Ständen geschlendert waren. »Und ich sehe keine Zukunft voraus, in der sie vollständig aussterben.« Illium auch nicht. Auf das Zeitalter bequemer Online-Bestellungen war die Wiederkehr von Freiluftmärkten gefolgt, als die Jungen neu entdeckten, was ihre Vorfahren aufgegeben hatten. Inzwischen verharrte die Welt auf einem seit zweihundert Jahren anhaltenden Mittelweg. In diesem Moment wurde Illium von einem der Händler entdeckt. Seine obere Hälfte war in einem leuchtenden Pink bemalt, die untere anscheinend herkömmlich bekleidet, doch wer konnte das schon wissen! Illium war durchaus für Selbstdarstellung, doch dem Trend zu Farbschränken, die ihre Besitzer jeden Morgen mit bunten Farben versorgten, war er nicht gefolgt. Immerhin hatte der Turm gesetzlich bestimmt, dass man »zwingend echte Unterwäsche« tragen musste.
Der bemalte Mann winkte ihm zu und setzte dann sein unterbrochenes Gespräch fort.
»Hast du keine Angst, die Sterblichen könnten dich nicht mehr respektieren, wenn du so freundlich zu ihnen bist?«, hatte ein weit jüngerer Sameon Illium einst gefragt, nachdem der damals Jugendliche zum ersten Mal im Turm stationiert war und seine dunklen Locken noch üppiger wallten, seine braunen Augen noch quälend ernst blickten. »Du bist der einzige Befehlshaber, den ich kenne, der mit Sterblichen befreundet ist und häufiger lächelt als finster dreinzublicken.«
Erfüllt von Erinnerungen an Freunde, mit denen er während der vergangenen Jahrhunderte so oft zusammen gelacht hatte, hatte Illium dem Engel mit den leuchtenden Augen auf die Schulter geklopft. »Respekt, Sam, hat nichts mit Angst zu tun. Respekt ist eine Kraft, die uns hilft, andere zu beschützen und zu beschirmen und notfalls zum Angriff überzugehen. Die Stadt weiß, dass ich mein Blut für sie vergossen habe und es wieder tun würde. Ich muss kein grimmiges Gesicht machen, um respektiert zu werden.«
Als er den Hudson überquerte, der inzwischen breiter war und einen Teil der Stadt verschlungen hatte, die es noch gab, als Raphael den ursprünglichen Turm errichtet hatte, dachte Illium noch immer an den fröhlichen, schelmischen Jungen, den er zu einem mächtigen Mann hatte heranwachsen sehen.
Der Fluss hatte seine langsame, stetige Arbeit bereits begonnen, als Sameon, noch grün hinter den Ohren und von Hingabe an Ellie erfüllt, in die Stadt gekommen war, hatte sich nach einiger Zeit jedoch beruhigt, als sei er zufrieden mit seinem neuen Flussbett. So viele Jahre waren seither vergangen. Seltsam zu denken, dass Sam jetzt älter war als Illium während der Lijuan-Jahre.
Während der Jahre des Schreckens und des Schmerzes und einer Kaskade des Todes.
Nicht zum ersten Mal wurde ihm klar, wie fürchterlich jung er damals gewesen war. Trotzdem hatte die Kaskade ihm eine Macht zuzuweisen versucht, die sein Geist wie sein Körper nicht einmal annähernd hätte beherrschen können. Und die ihn gewiss getötet hätte, wäre Raphael nicht dazwischengegangen. Illium war hocherfreut gewesen, als die Welt ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte und die Gefahr seines verfrühten Aufstiegs damit abgewendet war – und nicht weniger erfreut, als später deutlich wurde, dass ihm der Aufstieg erneut erspart worden war.
Nachdem er sich während des als Marduks Erhebung bekannten Zeitalters stabilisiert hatte, war es nie wieder zu einem plötzlichen Anstieg seiner Macht gekommen. Er wusste, dass die Gehässigen unter den Engeln einander zuraunten, sein »Abstieg« müsse ihn doch enttäuschen – als wäre er außerhalb des Kaders nicht einer der mächtigsten Engel der Welt –, doch Illium hatte nie aufsteigen, nie einer der Herrscher über die Welt werden wollen.
Er liebte diese Stadt und war sehr gerne einer von Raphaels Sieben, Teil einer verschworenen Gruppe, die so lange als Einheit überlebt hatte, dass sie sogar in der Engelheit als Legende galt.
Kein anderer Erzengel konnte von sich sagen, so wahrhaft treue Engel um sich geschart zu haben.
Illium war zufrieden damit, seit Jahrtausenden als Raphaels Erster General zu dienen.
Ebenso zufrieden war er, in dem Haus der Enklave zu leben, das er mit dem Mann erbaut hatte, den er wider jede Vernunft liebte. Ihr nicht weit von Elenas und Raphaels Heim gelegenes Zuhause war ein schlichter Bau mit großen Glasscheiben und himmelhohen Decken in den Bäumen; daneben jedoch erhob sich ein zweites Gebäude, das aus sämtlichen Richtungen Licht empfing.
Aodhan konnte in diesem Studio nach Belieben Schatten und Halbdunkel erschaffen und hatte die Möglichkeit, sämtliche Fenster undurchlässig zu verdunkeln, wenn er vorbeifliegenden Engeln der Versuchung berauben wollte, einen Blick auf seine in Arbeit befindlichen Werke zu werfen.
Illium landete vor den wie Scheunentore gestalteten Türen.
Und im Zentrum des riesigen, von Sonnenlicht durchfluteten Raums sah er Aodhan. In seiner blendenden Helligkeit arbeitete er mit finsterem Blick an einer winzigen Skulptur, über der er mit den Zähnen knirschte und kaum hörbar knurrte.
Auf einem anderen Teil seiner Werkbank lag gewöhnlich eine Katze mit tiefgrauem Fell und einer weißen Pfote und döste in der Sonne. Shadow, ein Abkömmling von Illiums geliebter Smoke, hing viel mehr an Aodhan als an ihm, was Illium gut verstehen konnte.
Auch er würde Aodhan allem und jedem vorziehen.
Sein Liebster trug ein lockeres Leinenhemd, offen am Hals und ohne Knöpfe, wie er es am liebsten hatte. Die Ärmel hatte er weit hinaufgeschoben, der Saum berührte eine Hose aus dünnem braunem Leinen, deren Farbkleckse zeigten, wie oft er sie trug, wenn er malte.
Während Illium im Lauf der Jahre immer mal wieder neue Stoffe und Stile ausprobiert hatte, wusste Aodhan genau, was ihm gefiel, und hielt daran fest. »So muss ich nie mit furchterregenden Bildern aus der Vergangenheit rechnen, als durchsichtiges Plastik der letzte Schrei war.«
»Hey, da war sogar bei mir Schluss«, hatte Illium protestiert. »Aber zugegeben: Dass ich die Puffball-Mode mitgemacht habe, war keine gute Idee von mir gewesen.«
In Wahrheit fand er es wunderbar, dass Adi sich in seiner Haut und seinem Wesen so wohlfühlte.
Die Schultern seines Kriegers und Künstlers spannten sich unter dem Hemd, als er sich drehte, um seine Skulptur besser betrachten zu können, und seine Oberschenkel zeichneten sich unter dem Leinen seiner Hose ab. Sein Haar, dessen heller Farbton mit zerstoßenen Diamanten gespickt zu sein schien, löste sich aus dem losen Zopf und kitzelte ihm die Wange. Zu dieser Jahreszeit fiel es ihm bis fast auf die Schultern, und Illium wusste, dass er demnächst die Geduld dafür verlieren würde. Doch fürs Erste würde er es noch genießen, beim Küssen mit diesem weichen Haar zu spielen … oder wenn sie, mit übereinandergeschlagenen Flügeln und verschränkten Fingern, unter den Sternen im Gras lagen.
Er hatte die Vollkommenheit eines Augenblicks nie verstanden, bis er an einem dunkelnden Abend in einem verborgenen Wald gemeinsam mit Adi stundenlang beobachtete, wie die Sterne am Himmel erschienen. Damals war sein gesamtes Sein so von Glück erfüllt gewesen, als sei das ganze Universum in ihm enthalten, und er hatte keinerlei Bedürfnis verspürt, irgendwo anders zu sein.
Die beiden mochten einige Zeit gebraucht haben, um herauszufinden, was sie einander bedeuteten, und dann wiederum, um zu begreifen, wie sie nicht bloß als beste Freunde, sondern als Liebende miteinander zurechtkamen, aber als es dann so weit war, war das Thema ein für alle Mal erledigt.
Da sie beide starke Charaktere waren, prallten sie mit den Jahren immer wieder aufeinander, doch die Liebe … Liebe war etwas Großzügiges, sodass es keinem schwerfiel, dem anderen zu verzeihen. Und jedes gelegentliche Aufbrausen war nur eine unbedeutende Störung in einer Ewigkeit der Liebe. Illium konnte sich ein Leben ohne Aodhan überhaupt nicht mehr vorstellen.
In diesem Moment schaute dieser auf. Die außergewöhnlichen Augen – Splitter aus transparentem Blau und Grün rings um eine nadelspitze schwarze Pupille – waren von Gewitterwolken durchzogen. »Sag mir noch mal, warum ich diese lächerlich winzigen Feen fertige.« Seine Haut war wie Sternenlicht, seine Schönheit ein Wunder an Muskelkraft mit Händen, die so behutsam mit den zarten Linien der wunderlichen Gestalt umgingen, an der er arbeitete.
»Weil sie die Leute froh machen – und weil sie anscheinend immer ihren Weg zu der Person finden, die sie am dringendsten braucht.« Die beiden hatten nie über das Wie und Warum dieses Phänomens gesprochen, doch es stand fest, dass Aodhan über eine unbekannte Macht verfügte, die er diesen Kunstwerken, von denen er alle zehn oder zwanzig Jahre eines erschuf, mitzugeben vermochte.
Es waren winzige Statuetten, die sogar im Herzen der Finsternis Wunder bewirkten. »Wo ist Shadow?«
»Im Haus.« Aodhan legte seine Arbeit ungemein vorsichtig hin und fuhr sich mit einer Hand durch seine diamanthellen Strähnen. »Sie spürt, dass ein Unwetter aufzieht, und mag nicht, wie sich das in ihrem Fell anfühlt.«
Das durchdringende Blau des Himmels war mit schaumigen weißen Wolken betupft, doch Illium wusste, dass Aodhan nicht den Himmel meinte, sondern die Energie, die sich seit einigen Tagen in einem unsichtbaren Sturm zu sammeln schien, ein Knistern, bei dem sich die winzigen Haare an Illiums Armen sträubten und all seine Sinne Alarm schlugen. »Jemand wird aufsteigen.«
Was sich nicht immer durch eine wachsende Spannung in der Luft ankündigte. Der letzte Aufstieg – Suyins Aufstieg, kurz nach dem Ende des Krieges der Kaskade des Todes – hatte sich mit unerwarteter Wucht vollzogen. Suyins verwundeter Körper war durch eine Mauer des Turm-Krankenhauses gebrochen und wie ein Pfeil gen Himmel geschossen.
Damals hatte es keine stetig zunehmende Spannung in der Luft gegeben, die inzwischen schwer auf der Haut lastete.
Und keinen so seltsamen wie angenehmen Metallgeschmack auf der Zunge.
Keinen geheimnisvoll im Wind flüsternden Duft.
Nur einen funkelnden schwarzen Regen, der Stunden angehalten und bereits bei ihrem Aufstieg begonnen hatte.
»Als ich gestern mit Mutter gesprochen habe«, fügte er jetzt hinzu, »meinte sie, das geschehe manchmal so. Als wüsste es die Welt schon vor allen fühlenden Wesen.«
Aodhan blickte ihm in die Augen, doch Illium sah keine Frage in den hinreißend schönen Splittern. Aodhan verstand besser als alle anderen, dass Illium den Gedanken an Aufstieg hasste und nicht im Mindesten eifersüchtig auf die Person war, die das Spiel der Kaderpolitik spielen und diejenigen verlassen musste, die sie liebten, um ein neues Territorium einzurichten.
Er setzte den ersten Schritt durch die Tür, als Aodhan sich umwandte und auf ihn zukommen wollte.
Ein fernes Brausen. Aufkommender Wind. Eine Sonne, die in seiner Brust explodierte.
Nein!
Weil sie die Leute froh machen.
Natürlich hatte Illium, den Aodhan zärtlich Blue nannte, das gesagt, denn er besaß das größte Herz von allen, die Aodhan kannte. Selbst jetzt noch, als erfahrener Erster General, der seine Truppen finster entschlossen ins Feld führte, war es Illium gelungen, sich sein Herz mit unvergleichlichem Eigensinn zu bewahren.
Als er nun in der Tür stand, zauste der Wind das an den Spitzen blaue Schwarz seiner Haare wie ein Liebender, berauscht von ihm wie Aodhan, der manchmal so viel für Illium empfand, dass er versucht war, sich zurückzuziehen, vor der Macht seiner Liebe zurückzuweichen – einer Flut, die über einem Mann zusammenschlagen und ihn begraben konnte, wie Aodhan einst physisch von denen begraben worden war, die ihn besitzen wollten.
Doch das war das Besondere an Illium.
Er wollte Aodhan nicht besitzen, sondern ihn lediglich lieben. Und das änderte alles.
Sein Herz seufzte, weil er sich in Illiums Nähe endlich zu Hause fühlte, und er ging auf seinen Krieger zu. Obwohl sich Illiums Körper im Lauf der Jahrhunderte eine weitere Muskelschicht zugelegt hatte und sein Bizeps deutlich hervorstach, bewahrte er unter dem ärmellosen Lederzeug, das Raphael ihm vor langer Zeit geschenkt hatte, seine stromlinienförmige Gestalt.
Das Schwarz des Leders war durch Sonne, Regen und ständiges Tragen ausgeblichen und wies mehr als nur einen kleinen Riss auf, passte Illium jedoch noch immer wie ein Handschuh. Das Schwert über seiner Schulter indes war neu. Es hieß Thunder und passte zu den Schwertern seiner Lightning-Linie. Aodhan hatte sein Heft nach Illiums genauen Vorgaben entworfen, und der Griff passte haargenau in Illiums Hand.
Das Flechtmuster des Hefts glänzte in den durch den Eingang fallenden Sonnenstrahlen, als Illium lächelte … und in einem Licht erstrahlte, so golden und grell, dass Aodhan von der Macht der Explosion zurückgeworfen wurde. Trotzdem prallte er mit weit weniger Wucht gegen die Wand, als zu erwarten gewesen wäre, und begriff, dass Illium ihn sogar noch geschützt hatte, als er sich selbst nicht mehr schützen konnte.
Denn Aodhans große Liebe war durch das Dach des Studios geschossen und hatte sich in einen strahlend goldenen Stern an einem Himmel verwandelt, der das leuchtende, unverwechselbare Blau seiner Schwingen angenommen hatte.
Trümmer krachten rund um Aodhan herunter, und Staub lag auf seiner Zunge, als er mit blutender Hand einen Balken wegstieß, um ins Freie zu gelangen. »Illium!« Er trat in eine von prasselndem Regen erfüllte Welt, doch der Regen war lauter geschmolzenes Gold, das sich in seinen Händen sammelte wie flüssiges Metall in einer Schmiede und in winzigen goldenen Kügelchen von seinen Flügeln rann.
Die Wunde an seiner Hand schloss sich unter einer goldenen Linie, die ihn berührte wie ein Kuss.
Aodhan wusste, er sollte am Boden bleiben, da es Wahnsinn war, sich einem Aufstieg in den Weg stellen zu wollen, doch er versuchte abzuheben, um zu dem Mann zu gelangen, der sein Herz war. Nicht zu wissen, ob es Illium gut ging, lastete als quälender Druck auf ihm. Als diese Kraft sich seiner das letzte Mal hatte bemächtigen wollen …
Illium!
Er bekam keine Antwort auf seinen panischen Schrei.
Getrieben von der Angst um seinen Liebsten, gelang es Aodhan, weit genug aufzusteigen, um zu sehen, dass der Hudson sich in flüssiges Gold verwandelt hatte, von einer solch glitzernden Schönheit, die nur in diesem einen Moment nichts Unnatürliches an sich hatte, in dem sich die ganze Welt auf dieses eine Wesen einstimmte. Denn das Gold glänzte nicht neu, sondern besaß eine eindringliche Patina, die den gleichen dunklen Farbton hatte wie Illiums Augen.
Doch schon beförderte Illiums Macht Aodhan zurück auf die Erde.
Und Illium glich einer goldenen Supernova vor einem unversehens wolkenlosen Himmel, der langsam das charakteristische, von silbernen und goldenen Adern durchzogene Blau seiner Flügel annahm. Die schwebenden Habitate sanken bei höchster Alarmstufe so tief wie möglich herab, und ihre Schutzschirme leuchteten blendend blau. Ihre Welt verdankte sich einer Kraft, die den Himmeln trotzte … aber hiermit hatte niemand gerechnet, nicht nach siebenhundert Jahren.
Das hier ist anders als sonst, sagte sich Aodhan, als goldenes Licht aus Illiums Mund geströmt und aus seiner Haut geborsten war und ihn halb gebeugt hatte.
Das ist nicht der Tod.
Das ist … der Aufstieg.
Illiums Wangen waren nass, aber nicht von dem erschreckend schönen Regen. Es waren Aodhans Tränen. Denn obwohl viele davon träumten, aufzusteigen und grenzenlose Macht zu erlangen, hatte Illium davon geträumt, für Äonen als loyaler Erster General an Raphaels Seite zu stehen. Elenas Herzensfreund zu sein und geschätztes Mitglied der Sieben, von jedem im Turm geliebt zu werden und bewundert von den Bürgern der Stadt. Mehr hatte Illium sich nicht gewünscht. Er war glücklich gewesen und hatte in alle Ewigkeit treu seinen Weg gehen wollen.
Aber das würde niemals mehr möglich sein.
So wie Aodhan nie mehr einer von Raphaels Sieben sein konnte.
Heute wurde Aodhan für Illium, was Dmitri für Raphael war: die Nummer zwei … nach dem Erzengel Illium.
Gestern
(Vor siebenhundert Jahren)
Durchnässt und von dem um sie tobenden Sturm zerzaust, flog Illium unter einem schwarz lärmenden Himmel und über einem mit weißen Schaumkronen aufgewühlten Meer Seite an Seite mit Aodhan nach New York. Er war voller Freude und nervöser Erregung. Und erkannte, dass sie, als sie allein gewesen waren, eine wichtige Frage ausgeblendet hatten: wie sie allen, denen sie besonders nahestanden, die fundamentale Veränderung in ihrer Beziehung erklären sollten.
Doch nun war es zu spät. Illium sah Raphael bereits auf dem Dach des Turms stehen und ihr Eintreffen erwarten. Der Regen fiel auf sein mitternachtsschwarzes Haar, tropfte aus den mit der Perfektion des Kriegers zusammengelegten weiß-goldenen Schwingen und bildete Rinnsale auf seiner abgetragenen schwarzen Lederkleidung. Doch er stand da, als würde er nichts davon bemerken, ein Erzengel in seiner ganzen Kraft.
Illium landete mit einem Windstoß, und sein Herz machte einen schmerzhaften Satz, als er endlich heimatlichen Boden berührte.
Sein Sire umarmte ihn mit der Wärme eines Mannes, der einen der Seinen zu Hause willkommen heißt … und mit der Fürsorge eines Mannes, der Illium seit dessen Kindheit kannte und ihm mehr ein Vater gewesen war als sein leiblicher Vater, dieser nutzlose Zellhaufen.
Ihr Verhältnis würde nie nur das von Krieger und Lehnsherr sein und niemals der Beziehung gleichen, die Raphael zu den Übrigen seiner Sieben unterhielt. Raphael war eigentlich zu jung, um die Stelle eines Vaters einzunehmen … oder hätte es wenigstens sein sollen. Und doch nahm er diesen Platz in Illiums Herzen ein – als der Mann, der den Jungen, der Illium einst gewesen war, gelehrt hatte, was es hieß, ein guter Mann, ein vertrauenswürdiger Engel und ein loyaler Kampfgefährte zu sein.
Außerdem hatte er dem bekümmerten Jungen damals erklärt, dass die Handlungen seines Vaters absolut nichts mit ihm selbst zu tun hatten. Raphael hatte Illium in seinen starken Armen gewiegt, während er ihm versicherte, dass er ein guter Junge, ein guter Sohn und der beste Freund für Aodhan sei. »Jeder Mann wäre stolz, dich seinen Sohn nennen zu dürfen, Illium. Vergiss das niemals. Ich wäre es jedenfalls.«
Illium hatte Zeit gebraucht, um zu verinnerlichen, dass von seinem Vater verlassen worden zu sein nichts mit ihm als Person zu tun gehabt hatte. Und dann war es Raphael gewesen, der am Anfang seiner Reise gestanden hatte. So wie es Raphael gewesen war, der ihm sein erstes Schwert gegeben und ihm gezeigt hatte, wie er es halten musste.
Er war ein Erzengel gewesen, dessen Aufmerksamkeit von zahllosen Seiten beansprucht wurde, und hatte sich dennoch Zeit für einen bis ins tiefste Innere erschütterten Jungen genommen, bis dieser Junge nichts Falsches mehr darin gesehen hatte, in der befestigten Zuflucht eines Erzengels vorbeizuschauen, um seinem geliebten »Rafa« seine jüngsten Heldentaten zu melden.
Es war auch ein Hinweis für die Menschen, mit denen Raphael sich umgab, dass sein Verwalter und andere Mitarbeiter des Refugiums Nachrichten von Illium feierlich aufgenommen und versprochen hatten, sie mit dem nächsten Kurier in Raphaels Gebiet zu schicken.
Und Raphael hatte jedes Mal geantwortet.
Nun entließ der Erzengel ihn aus seiner Umarmung und klopfte ihm zur Begrüßung leicht auf die Schulter. »Natürlich musstest du ausgerechnet in einem Unwetter herfliegen.« Das intensive Blau seiner Augen verriet Vergnügen und Zuneigung, und seine Erzengel-Macht ließ die Luft so vibrieren, dass Illium es beinahe hören konnte. Wasser tropfte aus dem Schwarz seiner Wimpern, und beide lächelten über eine zu lange angekündigte Heimkehr.
»Wo ist Ellie?«, fragte Illium, dessen Herz trotz seines Glücks nervöse Sprünge machte.
In diesem Moment traf ihn ein Windstoß im Rücken, weil Elena landete. »Illium!« Sie sprang ihm in die Arme, und er wirbelte sie herum, ohne dass die beiden befürchten mussten, Raphael werde darüber erzürnt sein, wie Illium mit seiner Gefährtin umging.
Raphael verstand, was Elena für Illium war.
Als er sie absetzte, lachte sie und fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. »Sieh dich an, du bist ja klatschnass.« Ein Blick zu Aodhan aus blassgrauen Augen mit einer Spur echten Silbers, das nach der Kaskade nicht verschwunden war. »Und du auch, Fünkchen.«
Aodhan verzog das Gesicht, als er seinen Kosenamen hörte, trat aber so nah heran, dass Elenas und seine Flügel sich in freundlicher Begrüßung streiften. Er war auf dem Weg der Besserung, doch Illium sah noch keine Zukunft vor sich, in der Aodhan sich bei Berührungen so wohlfühlen würde wie früher einmal, bevor er von den Ungeheuern gefangen worden war, die seine Seele verunstaltet hatten.
Aodhan war nie so gerne berührt worden wie Illium, doch wie stand es mit Körperkontakten zu jenen, die er liebte und denen er vertraute? Darüber war er nicht bloß erfreut gewesen, sondern hatte häufig sogar den ersten Schritt unternommen. Seine kleine Hand glitt in die Naasirs, wenn sie, als Aodhan noch ein Kind war, die Zuflucht betraten. Unter Kriegern gab es den Griff zum Unterarm der Trainingskameraden, wenn sie einander freundschaftlich herausfordernd angrinsten, und dann waren da die leichten Berührungen Flügel an Flügel unter Freunden, wenn sie sich auf einem Gebirgsplateau niederließen, sich wohlig zurücklehnten und Speisen und Honigwein teilten.
Heute löste Aodhan auch die Verbindung mit Elenas Flügel nicht, als sie in einem kleinen Kreis zusammen im Regen standen. Das Wasser durchnässte ihr Haar und lief aus ihren Schwingen auf das Dach. Da die Körper von Engeln dazu geschaffen waren, in großen Höhen zu fliegen, machte die Kälte keinem außer Elena viel aus. Sie war noch immer zu jung, doch selbst sie schien abgeneigt zu sein, die improvisierte Zusammenkunft im Regen aufzulösen.
Da sein Körper förmlich glühte, berührte Illium die Gürtelschnalle, die Aodhan für ihn angefertigt hatte. Dann holte er tief Luft. »Sire …«, setzte er an, erstarrte dann aber.
Obwohl er für seinen Charme und seine Gabe bekannt war, mit jedem über alles reden zu können, fand Illium nicht die richtigen Worte, um Raphael mitzuteilen, dass er und Aodhan inzwischen mehr waren als allerbeste Freunde und erste Schritte in eine weit intimere Partnerschaft getan hatten.
Doch Raphael unterbrach ihn. »Jetzt trocknet euch erst einmal ab. Wir können uns später weiter unterhalten – einige von uns würden heute Abend gerne zusammenkommen, um euch zu Hause willkommen zu heißen, falls ihr euch dem gewachsen fühlt.«
Erleichterung erfüllte Illium, weil er noch immer nicht wusste, wie er die Veränderung in seiner und Aodhans Beziehung in Worte fassen sollte, nicht einmal sich selbst gegenüber. »Für eine Party bin ich immer zu haben«, gab er lächelnd zurück. »Es wird wunderbar sein, alle wiederzusehen.«
Hinter Raphael ließ sich ein entrüstetes Miauen vernehmen. Als der Erzengel einen Schritt zur Seite trat, sah Illium eine durchnässte Smoke, die ihn finster anfunkelte. Die kleine Streunerin, die er adoptiert hatte, war zu einer schlanken, gesunden Katze herangewachsen, deren Fell die Farbe dunklen Rauchs hatte und deren aufmerksamer Blick viel Intelligenz verriet. Momentan war sie äußerst ungehalten, weil sie sich bei diesem Wetter nach draußen hatte begeben müssen, um ihn zu sehen.
»Smoke!« Er ließ sich auf ein Knie nieder, nahm sie auf die Arme und drückte sie an die Brust, wo sie, ungeachtet ihres Ärgers über das Wetter und über ihn, sofort wie eine glückliche, kleine Maschine zu schnurren begann.
»Ich hatte sie in der Wärme und Sicherheit deines Quartiers gelassen, aber offensichtlich hat sie einen Weg ins Freie gefunden«, bemerkte Aodhan kopfschüttelnd. »Sie hat jeden Tag nach dir Ausschau gehalten.«
Illium erhob sich wieder und wiegte Smoke an seiner Brust.
Es fühlte sich für ihn ganz natürlich an, im Regen an Aodhans Seite zu treten und die eigene Schwinge über seine Schwinge zu legen, während ihr Sire und seine Gefährtin neben ihnen standen. Der Regen, die Nässe, die Kälte, all das spielte keine Rolle. Er war zu Hause.
Illium und Aodhan hatten Zimmer auf der den Privatunterkünften der Sieben vorbehaltenen Etage des Turms, und als sie den Aufzug verließen, spürte Aodhan die Leere. Zurzeit hielt sich niemand sonst in den Zimmern auf.
Er blickte Illium an und sah, dass er immer noch erschüttert war von dem emotionalen Schock, den ihre Entscheidung ausgelöst hatte, sich einer Liebe anzuvertrauen, die weit über eine Freundschaft hinausging. Seine Finger waren in Smokes Fell vergraben, und seine Miene war nachdenklich, während ihm Wasser aus den Haaren in seine atemberaubenden Augen tropfte.
Es wäre leicht, ihn zu drängen und ihm zu sagen, dass sie diese Entscheidung schon während des Unwetters über dem Meer getroffen hatten, doch so wie es in der Vergangenheit um Aodhan gegangen war, ging es jetzt um Illium – einen Engel, der ein so großes Herz besaß, dass er allen, die ihn verletzten, immer wieder vergab, und der Aodhan jeden Wunsch erfüllen würde.
Weil Illiums Liebe zu Aodhan so groß war wie sein verfluchtes Herz.
Doch Aodhan hatte Illium wehgetan, als er ihn jahrhundertelang zurückgewiesen hatte. Wie lange sein Blue auch brauchte, um ihm wieder so zu vertrauen, wie er es früher getan hatte: Aodhan war bereit zu warten.
Nun legte er seine Hand an Illiums Wange. »Trockne dich erst mal ab und ruh dich vor der Versammlung aus.« Er fuhr ihm mit dem Daumen über den Wangenknochen. »Wir haben alle Zeit der Welt, Blue.«
Illium schluckte schwer, schaute hoch und begegnete Aodhans Blick mit einer vertrauten Unverstelltheit. So spielerisch und charmant Illium auch auftrat: Er war durch und durch ehrlich. »Ich weiß nicht, warum …« Er atmete aus. »Ich habe die Tage bis zu meiner Heimkehr zu dir gezählt, und nun, da ich hier bin, habe ich Angst, Adi.«
Blue und Adi.
Namen aus grauer Vorzeit, die doch zu ihrer neuen Beziehung passten.
»Ich gehe nirgendwohin«, sagte Aodhan, und die schreckliche Erkenntnis, die er in Amanat erfahren hatte, lastete schwer auf ihm.
Bis auf einen hatten alle, die Illium liebte oder geliebt hatte, ihn auf die eine oder andere Weise im Stich gelassen.
Sein Vater.
Seine Mutter.
Aodhan.
Nur Raphael hatte niemals geschwankt.
Sogar Kaia, die Sterbliche, die er in seiner Jugend geliebt hatte, hatte ihn verlassen. Es war zwar nicht ihre Entscheidung gewesen, doch ihr Verlust war dennoch schrecklich gewesen.
Illium würde die tiefe Wunde in seinem Herzen vielleicht niemals ganz begreifen, doch Aodhan tat es und wollte alles unternehmen, um zu ihrer Heilung beizutragen – auch wenn das bedeutete, ein weiteres Zeitalter warten zu müssen, bis Illium seinem Versprechen, ihn nie wieder zu verlassen, Glauben schenken würde.
Als er sein Gesicht in Aodhans Hand schmiegte, atmete Illium noch einmal tief durch, bevor er leicht nickte und mit der schnurrenden Smoke auf dem Arm in seine Wohnung verschwand. Die Katze war Aodhan seit ihrer Ankunft in New York an Bord eines Frachtflugzeugs, das auch Illiums wenige Habseligkeiten nach Hause überführt hatte, wie ein Schatten gefolgt – doch Aodhan hatte gewusst, dass er in dem Augenblick, in dem ihr geliebter Illium heimkommen würde, für sie unsichtbar sein würde.
In dieser Hinsicht waren er und Smoke sich einig: Illium war auch Aodhans Leitstern.
Das Herz tat ihm weh, als er sah, wie Illium mit hängenden Flügeln und gesenktem Kopf durch die Tür ging. Armer Blue. Er verstand nicht, was in seinem wunden Herzen vorging, und wusste nicht, wieso er, zumindest in Aodhans Augen, auf so unlogisch scheinende Weise handelte.
Stirnrunzelnd betrat Aodhan sein eigenes Apartment, und nachdem er sich rasch abgetrocknet hatte und in formellere Kleidung geschlüpft war, machte er einen Anruf, den zu machen er niemals für möglich gehalten hätte.
Lady Calianes Hofdame, die ihm antwortete, lächelte, als sie sein Gesicht auf dem Bildschirm sah. »Aodhan! Ist in New York alles in Ordnung?«
»Ja«, antwortete er. »Ich möchte um einen Moment von Lady Calianes Zeit bitten, falls sie verfügbar ist.«
Die junge Frau musterte ihn neugierig und sagte: »Eben habe ich sie noch gesehen. Ich frage sie.«
Auf dem Bildschirm erschien ein Wartemuster, und als es kurz darauf wieder verschwand, sahen ihn Raphaels blaue Augen aus einem Gesicht an, das sowohl feminin als auch das einer Kriegerin war. Lady Calianes schwarzes Haar war heute offen, geschmückt mit einem Kranz aus Silber, und mit Spangen aus zarten Silberblättern war ihr weißes Kleid an den Schultern gerafft.
Und obwohl Engel nicht über einen bestimmten Zeitpunkt hinaus zu altern schienen, lag eine Schwere in ihrer Präsenz, eine Fülle von Erinnerungen – Trauer, Liebe und Schmerz – in ihrem Blick, die deutlich machten, dass sie Äonen älter war als Aodhan oder Raphael oder alle anderen im Turm.
»Junger Aodhan«, sagte sie mit einem Lächeln, das bis in ihre uralten Augen reichte. »Ich freue mich, dich wiederzusehen, und das sichtlich ausgeruhter als damals, als du nach Amanat kamst.«
Er hatte in all der Zeit, seit sie aus ihrem über tausend Jahre währenden Schlaf erwacht war, nur einmal wirklich mit Raphaels Mutter gesprochen. Davor hatte er sich an ihre Leute gewendet oder im Rahmen seiner Pflichten höchstens die allernötigsten Worte mit ihr gewechselt.
Nicht, dass er sie nicht gemocht hätte. Es war nichts derart Persönliches. Sie war für ihn einfach nur eine unverständliche Uralte gewesen, bis er nach dem Ende seiner Zeit als Suyins befristeter Zweiter nach Amanat gekommen war. Es hatte sich nur um eine kurze Pause gehandelt, in der er sich vor dem langen Heimflug ausruhen und regenerieren wollte. Doch stattdessen hatte Lady Caliane seine Vorstellung seiner Beziehung zu Illium auf den Kopf gestellt.
Wir sehen häufig nicht, wie sehr wir denen wehtun, die wir lieben. Und Sharines Sohn strahlt so hell und ist so lebendig und immer bereit zu lachen. Ich denke, er verbirgt seine Wunden gut, dein Bluebell, und nutzt seine heitere Seite als undurchdringlichen Schutzschild.
»Lady Caliane, ich danke dir für deine Zeit.« Und dann sprach er mit ihr, auch wenn er ein Mann war, der seine innersten Gedanken nicht mit vielen teilte. Denn sie verstand ihn so wie niemand sonst – weil Sharine, der Kolibri, ihre beste Freundin war und weil ihr die Trauer um die eigenen Verluste eine profunde Weisheit verliehen hatte.
»Illium ringt mit seinen Gefühlen«, sagte er zu ihr. »Er versteht nicht, dass er, obwohl er an mir festhalten will, tief im Innern nicht darauf vertraut, dass ich ihn nicht noch einmal verlasse.«
»Ah.« Lady Calianes Ausdruck wurde milder. »Du willst von mir wissen, ob du es ihm sagen, ob du seine unbekannten Narben vor seinen Augen entblößen sollst?«
Aodhan nickte.
»Sag mir zuerst, junger Aodhan, wie du dich entscheiden würdest?«
Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf. »Ich denke, es würde ihm schaden, wenn er wüsste, dass er solche Wunden mit sich herumträgt. Im Moment bereitet ihm nichts außer uns Probleme – weder Lady Sharines Rückkehr zu sich selbst noch das Erwachen seines Vaters.«
Er presste eine Faust auf sein Herz. »Ich fühle es hier, dass er sich vorwerfen wird, nicht darüber hinwegzukommen, nicht stärker zu sein, wenn ich ihm diese Wunde zeige. Lady Caliane, er ist bereits viel zu lange zu stark gewesen – ich möchte nicht, dass er so weitermacht, weil er glaubt, dass ich das brauche. Er gibt und gibt und gibt und hat einen Schlag nach dem anderen eingesteckt.«
Die Geistesabwesenheit seiner Mutter, ihren zerrütteten Verstand.
Aegaeons Verschwinden.
Aodhans Entführung und lange Genesung … und seine Entscheidung, sich in einer Welt aus Schweigen und Abgeschiedenheit einzumauern. Mit all diesen Schlägen hatte er fertigwerden müssen.
Und das, ohne sein Lächeln oder seine Gabe, zu lieben, einzubüßen. Sein wunderbares Herz war immer aufs Neue verwundet worden, doch er hatte nicht zugelassen, dass es sich verhärtete.
»Er hatgenug getan«, sagte Aodhan entschlossen.
»Da hast du es, Kind.« Ein zartes Lächeln. »Was das angeht, kennst du ihn besser als er sich selbst – und in mancher Hinsicht muss das vielleicht so sein. Mit der Zeit wird er bereit sein, diese Wunden zur Kenntnis zu nehmen. Aber nicht, solange er sich in einer Übergangsphase befindet.« Eine Pause. »In solchen Momenten sind wir anfälliger und zerbrechlicher, als uns bewusst ist. Beschütze Sharines Sohn während dieser Zeit.«
»Auf immer und ewig.« Aodhan bekräftigte sein Gelöbnis mit einem Neigen des Kopfes. »Danke, dass du mit mir gesprochen hast. Ich weiß, deine Zeit ist kostbar.«
»Nicht so kostbar, dass ich keine Zeit mehr für jene hätte, die meinem Sohn all die Jahre so tapfer zur Seite standen.« Ihre unendlich blauen Augen verdunkelten sich. »Ich wünsche euch beiden nur das Beste, Aodhan. Ich möchte euch glücklich sehen – denn Sharine wird in eurem Glück ihr eigenes Glück finden. Vielleicht wird das die Schuld meiner Freundin erleichtern.«
Dann schüttelte sie den Kopf. »Aber das soll nicht deine Sorge sein. Nun, da das Stundenglas der Ewigkeit wieder einmal gewendet wird, musst du um Illiums willen selbstsüchtig sein. Ich glaube, Sharines strahlender, wunderbarer Sohn besitzt nicht die Gabe der Selbstsucht. Dazu ist er zu sehr das Kind seiner Mutter.«
Aodhan grübelte noch über Calianes Wort nach, als jemand leise an seine Tür klopfte. Er öffnete sie und sah sich einem Mann mit zottigem Silberhaar und silbernen Augen gegenüber, die sich von seiner tiefbraunen und leicht golden schimmernden Haut abhoben. In seinem grauen T-Shirt und seiner schwarzen Cargohose hätten ihn die meisten wohl für einen ernsten, starken Vampir gehalten.
Doch Naasir war weder ein Vampir noch ein Engel oder ein Sterblicher.
Naasir war Naasir.
»Du hast es geschafft.« Immerhin handelte es sich heute Abend nicht bloß um eine zwanglose Zusammenkunft – die Sieben würden vollzählig an Illiums Heimkehrfeier teilnehmen. Weil die Lage zu der Zeit von Aodhans Rückkehr noch unsicher gewesen war, war eine Zusammenkunft nicht infrage gekommen, sodass Aodhan Naasir jetzt zum ersten Mal seit seiner Zeit als einstweiliger Zweiter der Erzengelsfrau von China wiedersah.
Er erkannte deutlich, dass das älteste Mitglied der Sieben ihn am liebsten in eine Umarmung gezogen hätte, doch so ungestüm er im Herzen auch sein mochte: Naasir hatte die Grenzen, die Aodhan vor mehr als zweihundert Jahren gezogen hatte, nie überschritten. Und obwohl Aodhan wusste, dass seine Reaktion auf ein Trauma und nicht auf eine bewusste Entscheidung zurückzuführen war, fragte er sich mit einem Mal, wieso er sie ausgerechnet diesem Mann auferlegt hatte, der immer nur Schaden von ihm abgewendet und ihn mit unsagbaren Wundern bekanntgemacht hatte.
»Komm, Fünkchen.« Ein schelmisches, nicht ganz zivilisiertes Grinsen. »Heute zeige ich dir einen Schneetiger.«
Eine uralte Erinnerung ließ ihn einen raschen Schritt auf Naasir zu machen, der ihn nun so überschwänglich umarmte, wie er es getan hatte, als Aodhan noch ein neugieriger und vertrauensseliger »Welpe« gewesen war. Als in Naasirs Brust ein Brummen vibrierte, viel tiefer und eher ein Knurren als Smokes Schnurren, fühlte Aodhan, wie ihm seine Gefühle im Hals stecken blieben. Nur sehr wenige Leute wussten, dass Naasir dazu fähig war, doch Aodhan hatte diesen Laut früher schon gehört … als er den Kummer des Kindes zu stillen versuchte, das Aodhan einst gewesen war.
»Hältst du mich immer noch für einen Welpen?«, fragte er mit kratziger Stimme und trat einen Schritt zurück.
Naasir zuckte lässig die Achseln. Seine Stimme barg ein Grollen, als er in Aodhans Zimmer schlenderte: »Nein. Welpen wachsen heran. Du bist jetzt stark und gefährlich geworden.« Er hielt kurz inne. »Aber wenn du verletzt bist, erinnerst du mich noch an den Welpen, der du einmal gewesen bist, so klein und wild unter der Haut wie der verwundete Jungvogel, den wir einmal gefunden haben.« Ein durchdringender Blick. »Du bist besser. Nicht in allem, aber weiter als früher.«
»Ja.« Aodhan schaute auf die Tür, die Naasir hinter sich geschlossen hatte. »Wo ist Andromeda?«
»Lässt sich ein warmes Bad ein.« Naasirs Stimme verriet die selbstgefällige Genügsamkeit eines Mannes, der seine Partnerin anbetete und sich ziemlich sicher war, seinerseits angebetet zu werden. »Ich störe sie, sobald sie drinsitzt.« Sein Lächeln war immer noch so schelmisch wie in Aodhans Erinnerung.
Dann schritt Naasir auf ihn zu und schloss ihn abermals in die Arme. »Ich habe deinen Geruch vermisst, Fünkchen.«
»Es heißt jetzt Sparkle«, presste Aodhan durch den Kloß in seinem Hals.
Naasir wich lachend zurück und verdrückte sich schnüffelnd in die Küche. »Du hast eine Katze?«
»Illium hat eine in China adoptiert.«
»Katzen sind die besten Haustiere.« Er machte sich auf einem von Aodhans Sofas so katzenhaft breit wie Smoke, wenn sie faul war. »Suyin hat mich eingeladen, ihr Territorium zu besuchen. Andi möchte hin, um den Teil der Geschichte Chinas aus eigener Anschauung zu schreiben. Wäre sie dort sicher?«
Aodhan goss ihm etwas zu trinken ein. »Eine Blutspezialität aus Elenas Café.« Er hielt eine kleine Flasche aus Obsidian in die Höhe, in die ihr Geschäftslogo eingraviert war. »Ich glaube, du wirst es mögen.«
Naasir verzog die Lippen zu einer bedenklichen Miene, nahm das mit rubinrot leuchtendem Blut gefüllte Glas aber entgegen und roch daran. Und auch als Aodhan sich mit seinem Drink, einem Glas Honigwein, setzte, hatte er nur daran genippt.
»Nun«, sagte Aodhan, »was China angeht, bin ich, um dich darauf aufmerksam zu machen, ganz auf Andis Seite. Diese Geschichte sollte von jemandem vor Ort aufgeschrieben werden. Doch die Gefahr besteht weiter …« Dann berichtete er Naasir alles, was er wusste, sowohl aus eigener Erfahrung als auch aus dem, was ihm Illium in seinen Briefen mitgeteilt hatte. Und obwohl Naasir seine Absicht kundgetan hatte, Andromeda im Bad zu stören, blieb er weit länger als eine Stunde.
Es war die Unterredung zweier Krieger, die ihr Wissen miteinander teilten.
Doch als Naasir ging, erschien ein kurzes Lächeln auf seinem Gesicht, und im leuchtenden Braun seiner Haut regten sich Tigerstreifen. »Ich freue mich, dich wiederzusehen … Fünkchen.«
Aodhan lächelte ebenfalls, als Naasir in eine andere Zimmerflucht verschwand. Da er noch Zeit hatte, klärte er für Dmitri einige Angelegenheiten, die den Turm betrafen, dachte dabei aber die ganze Zeit an Blue.
Als die Zusammenkunft begann, zeigte sich bereits ein sanftes Dunkel hinter den Fenstern.
Vor einer halben Stunde hatte sich herumgesprochen, dass Montgomery nun, da der Regen sich verzogen hatte, das Dach mittels geheimer, nur ihm bekannter Methoden getrocknet hatte, sodass sie sich unter dem von Sternen erhellten Himmel versammeln konnten. Die Wolken waren mit dem Regen verweht; New York funkelte wie frisch gewaschen.
Als Aodhan sein Zimmer verließ, wandte er sich mental an Illium: Ich gehe schon einmal vor. Dann kommt dein großer Auftritt. Alle wollen dort sein, um dich zu Hause willkommen zu heißen. So war es schon gewesen, als Aodhan heimgekehrt war. Nur wer sich damals in der Zuflucht aufhielt, hatte nicht nach New York kommen können.
Doch Aodhan hätte lieber keine solche Zusammenkunft zu seinen Ehren gehabt. Jedenfalls nicht ohne Illium. Denn sie spielten – wie alle, die zum innersten Kreis von Raphaels Team zählten – in ihrer Gruppe unterschiedliche Rollen.
Illium war nicht nur Aodhans Herz, er war das Herz der Sieben.
Es fühlte sich falsch an, wenn er nicht dabei war, wie es jeder Aodhan gegenüber seit seiner Rückkehr aus China auf die eine oder andere Weise angedeutet hatte. Sogar Jason, eigentlich der Schweigsamste von ihnen, hatte bemerkt: »Die Stadt klingt nicht so hell, wenn Illium fort ist. Spürst du das?«
Die Gesichtstätowierung des Meisterspions – eine wahre Qual, sie dauerhaft zu stechen – hatte im Licht des Morgens grell geleuchtet, und doch hatte das Schwarz seiner Schwingen paradoxerweise so matt geschimmert, dass es mit diesem Licht verschmolz. »Der Wind trägt eine traurige Weise herbei, von einem Liebenden, der seine Wiederkehr erwartet.«
Aodhan hörte nicht, woher der Wind wehte, nicht so wie Jason, doch er wusste sehr wohl, wie sehr sein bester Freund vermisst wurde, wusste es in aller Deutlichkeit. Es gab auf der ganzen Welt niemanden wie Blue, und Aodhan war nicht so eifersüchtig, dass er Illium nicht mit den zahllosen Leuten hätte teilen mögen, die ihn liebten. Er selbst hortete nur den Teil von Illiums Herz, der immer nur dem gehören würde, der ihn in alle Ewigkeit liebte.
Denn komme, was da wolle, er wusste, dass dieses Stück ihm gehörte, schon seit langer, langer Zeit. Schwer zu erlangen dagegen war Illiums Vertrauen in Aodhans Entschlossenheit, emotional nie wieder aus seinem Leben zu verschwinden.
Warte, ich bin gleich so weit, widersprach Illium. Wenn Smoke nicht beschlossen hätte, meinen Stiefel zu verstecken, wäre ich schon längst fertig. Sie ist sauer auf mich, weil ich sie mit der Frachtmaschine vorausgeschickt habe, obwohl ich ihr lang und breit erklärt habe, dass ich sie nicht den ganzen Weg mitnehmen kann.
Aodhans Schultern bebten, weil ihn der Wunsch, Illiums Gesicht mit Küssen zu bedecken, fast überwältigte. Lass dir ruhig Zeit und knuddle sie von mir. Ich erwarte dich dann oben. Er gönnte Illium seinen großen Moment, damit er sah, wie wichtig er für den Turm und für alle war, die dieses Gebäude ihr Zuhause nannten. Na toll, gerade habe ich bemerkt, dass sie meine Unterarmscheiden vom Bett in unbekannte Gefilde verschleppt hat. Dabei hatte ich vor, sie zu tragen.
Leise über Smokes Possen lachend, trat Aodhan auf den seiner Suite nächstgelegenen Balkon hinaus und breitete zu dem kurzen Flug hinauf die Flügel aus. Die Nachtluft war beißend frisch, wie sie es nur nach einem Sturm war, und die Stadt glitzerte wie über die Erde verstreute Sterne, wobei die Dunkelheit die nach dem Krieg verbliebenen Wundmale verbarg.
Das Gebiet, das Raphael mittels Engelsfeuer hatte säubern müssen, blieb ein toter Fleck, den weder Sterbliche noch Unsterbliche noch Naturwesen aufsuchen wollten. Einige Wolkenkratzer befanden sich noch in der Abrissphase, Straßen wurden neu gepflastert, und das waren längst nicht alle Spuren, die der Krieg in der Stadt hinterlassen hatte.
Doch New York konnte einiges einstecken. Alle hatten gesehen, was sich in China zugetragen hatte. Das hier war nichts, verglichen mit den stummen, ihrer Bewohner beraubten Landschaften, mit Städten ohne Leben und dem mit mörderischen Fallen verseuchten Land. New York würde wiederauferstehen, strahlender noch und wehrhafter als je zuvor.
Nach einem weiten Bogen, um mehr von dem Anblick auf sich wirken zu lassen, landete er auf dem Dach und sah, dass Montgomery dort mehrere Lichterketten gespannt hatte, die in schweren, normalerweise im Keller lagernden Pfeilern endeten. Doch der Butler war mit Umsicht zu Werk gegangen: Die Lichter waren gedämpft und sorgten nur für ein mildes Leuchten in dem für das Fest hergerichteten Winkel. Der Rest des Daches lag auch jetzt im Dunkel und wurde nur von Sternen beschienen.
Aodhan traf zur selben Zeit ein wie Galen, allerdings aus der entgegengesetzten Richtung. Raphaels Waffenmeister trug formelles, leuchtend bronzefarbenes Leder. Seine muskulösen Arme waren entblößt, um das Bernsteinamulett an seinem linken Oberarm sehen zu lassen.
Rotes Haar wehte im Wind, blassgrüne Augen badeten im Licht. Er sah wesentlich besser aus als bei ihrer letzten persönlichen Begegnung unmittelbar nach dem Krieg.
»Aodhan! Endlich kann ich dich angemessen zu Hause begrüßen.«
»Ich freue mich, dich zu sehen, mein barbarischer Freund.« Aodhan streckte ihm die Hand zu dem unter Kriegern üblichen Unterarmgriff entgegen, weil es an ihm war, den ersten Schritt zu machen.
Es spielte keine Rolle, dass er Naasir umarmt hatte und von ihm umarmt worden war – körperliche Berührungen blieben ein heikles Thema für ihn. Doch dies war einer der Sieben, ein Mann, der ohne jedes Zögern für ihn sterben würde, so wie Aodhan für ihn.
Oft genug hatten sie Rücken an Rücken im Kampf gestanden, bereit, Hiebe abzuwehren und einander zu schützen. Was bedeutete da eine solche Berührung gegen das Ausmaß ihres wechselseitigen Vertrauens? Es würde eine Zeit kommen, in der er noch nicht einmal mehr über Körperkontakt würde nachdenken müssen – jedenfalls war Aodhan fest dazu entschlossen –, doch vorläufig half es ihm, jedes Mal eine bewusste Entscheidung zu treffen.
Bei den Sterblichen gibt es ein Sprichwort, Aodhan, meldete sich Keirs sanfte Stimme, Feingefühl war dem Heiler angeboren. Seltsam und schön für eine Spezies, die verglichen mit unserer schier endlosen Existenz nur einen Herzschlag lang lebt. Sie sagen, das Leben sei ein Marathon, keinSprint. In deinem Fall werden Ausdauer und vorsichtige Schritte über rücksichtslose Geschwindigkeit triumphieren.
Heute Abend ergriff Galen Aodhans ausgestreckten Unterarm mit einem Lächeln. Immer schon waren sie einander freundschaftlich wie Landsleute verbunden gewesen. Galen war zwar schon älter, aber er hatte sich den Sieben angeschlossen, als Aodhan schon erwachsen war. »Naasir und ich müssen beide nach zwei Übernachtungen zurück, aber wir wollten das hier nicht verpassen, so kurz unser Aufenthalt auch sein mag. Trace ist mit Unterstützung von Nimra und Noel, der zufällig gerade die Zuflucht besuchte, für uns eingesprungen.«
Kaum hatten sie ihre Unterarme voneinander gelöst, sah sich Aodhan suchend um. »Wo ist Jessamy?«
»Zu Vivek gegangen – sie mussten historische Erkenntnisse besprechen. Jasons Stellvertreter hat lange für verschollen gehaltene Bücher ausgegraben.«
Aodhan sah im Augenwinkel etwas silbern schimmern, als Naasir und Andromeda Hand in Hand das Dach betraten. Naasir hatte sich seit seinem Besuch bei Aodhan umgezogen und trug nun Jeans und einen schwarzen Blazer über einem schwarzen Hemd.
Andromeda dagegen hatte ein knielanges Kleid von leuchtendem Gelb mit weitem Rock gewählt, das, wenn ihre Flügel geschlossen waren, deren dunklen Schokoladenton hervorhob. Weit geöffnet dagegen wirkte das Muster ihres Gefieders erheblich komplizierter, wechselte kaum wahrnehmbar seine Farbnuancen und schimmerte an den Spitzen in einem blassen Goldbraun.
Die Locken flogen ihr um das zarte Gesicht, als sie auf Aodhan zueilte, und sie lächelte verdutzt, weil er ihre Hände ergriff. »Oh«, rief sie und schloss die Finger sacht um seine, »das ist ja wunderbar, Aodhan.«
Er wusste, sie meinte nicht das Fest.
»Ja«, nickte er lächelnd.
Sie hatten sich kaum begrüßt, da landeten Jason und Mahiya, er wie immer in Schwarz, während sie sich für einen knöchellangen, leuchtend magentafarbenen Rock mit Goldstickerei entschieden hatte. Darüber hatte sie einen Schal aus durchscheinendem Gold drapiert, den sie wie einen Sari gefaltet trug. Golden glänzte auch das schmale, in ihren Zopf geflochtene Band.
Um ihre Augen bildeten sich Falten, als sie über etwas lachte, das Jason gesagt hatte.
Aodhan hätte sie und den Meisterspion gerne so gemalt und prägte dieses Bild ebenso seinem Gedächtnis ein, wie er mental Schnappschüsse von allen festhielt, die sich an diesem Abend auf dem Dach versammelten. Er beschloss, die gesamte Szenerie zu malen und das Ergebnis Blue zu schenken.
In diesem Augenblick erschienen Dmitri und Honor, auf dem Fuß gefolgt von Jessamy und Vivek, die eifrig miteinander sprachen, wobei Jessamys blassrosa Gewand Viveks braune Anzughose streifte. Vivek saß in seinem elegantesten Rollstuhl. Seine Hände steckten zur Hälfte in Lederhandschuhen, die zu seinem taillierten Anzug passten. Honor dagegen hatte ein schenkelkurzes, langärmeliges Samtkleid in Dunkelrot angelegt, während Dmitris Anzug so schwarz war wie Jasons formelle Tunika und Hose.
Aodhan vermerkte still für sich Einzelheiten, etwa Dmitris Grinsen über eine Bemerkung von Naasir oder die Art, wie Andi Honor mit auf Gegenseitigkeit beruhendem Entzücken drückte, während Galen Viveks Arm ergriff, wie er es bei jedem anderen Krieger auch getan hätte. Oder wie der Leiter der Turmtechniker in eine entspannte Unterhaltung mit dem Mann geriet, den sie den Barbaren nannten, während Jessamy sich entfernte, um Mahiyas Hände zu ergreifen.
Als Elena und Raphael auf dem Dach landeten, erwies sich Raphael als in offizielles Leder von dunklem Grau gekleidet, während Ellie sich für ein maßgeschneidertes kurzes Kleid in leuchtendem Blau zu schwarzen Stiefeletten entschieden und ihr Haar zu einem hohen Zopf zusammengefasst hatte. Als sie sich umdrehte, sah er, dass das Seitenteil des Kleides ein kunstvolles Gitterwerk aus spitz zugeschnittenem Material besaß, das indes nicht ihre Haut, sondern eine glühend leuchtende innere Schicht erkennen ließ.
»Nur, weil ich bloß von unseren Zimmern herauffliegen musste«, sagte sie lachend, als Mahiya ihr Kleid pries. »Sonst hätte ich die halbe Stadt geblendet. Und Raphael musste mir grünes Licht geben, bevor ich so hier hochkommen konnte.«
Während Mahiya kichernd ihre Röcke hob, um Ellie die schwarze Strumpfhose darunter zu zeigen, und Jessamy fasziniert zusah, kam Venom, Hand in Hand mit Holly, herbeigeschlendert. Er trug einen eleganten Anzug, sie ein jugendliches Kleid nach der neusten Mode, und beide lächelten.
Nun waren alle Sieben beieinander, nur Illium fehlte noch. Auf dem Dach befanden sich auch Nisia, die große Heilerin des Turms, Montgomery und Sivya und Engel wie Andreja, die Illium schon seit Langem kannten. Die Jüngeren der Besatzung würden noch bis zum Morgen warten müssen, um ihn zu sehen. Dies war nicht die Zeit für eine große, überwältigende Versammlung.
Komme ich viel zu spät?, fragte Illiums deutliche Stimme in Aodhans Gedanken.
Überhaupt nicht.
Über dem Rand des Daches tauchten blaue Flügel auf … dann lachte Illium, als die Versammelten ihm zujubelten. »Was macht ihr denn alle hier?«, rief er, als er landete und mit Umarmungen, Wangenküssen und Unterarmgriffen bestürmt wurde.
»Das war ein guter Vorwand für ein Fest«, scherzte Venom, dessen Umarmung indessen so innig ausfiel wie die der anderen.
Er konnte sich Außenseitern gegenüber kühl und distanziert geben, niemals jedoch seinen Kameraden gegenüber. Der tödliche Vampir mit den geschlitzten Pupillen einer Viper hatte Aodhan mit der Neuerschaffung seiner Lieblingsnachspeise willkommen geheißen, die eigentlich nur bei einem einzigen Bäcker in der Zuflucht erhältlich war. Selbstverständlich hatte er sich das nicht als Verdienst angerechnet. Sein Werk erschien lediglich unversehens in einer Schachtel auf Aodhans Esstisch.
Aodhan hielt sich zurück, während die anderen mit Illium sprachen – schließlich hatte er letzthin, als sie sich beide in China aufhielten, mehr Zeit mit Blue verbracht als sie. Es freute ihn, zu sehen, wie Illium mit Liebe und Zuneigung überschüttet wurde, und er empfand einen Anflug von Besitzerstolz, als er sah, dass Illium die Gürtelschnalle trug, die Aodhan für ihn entworfen und angefertigt hatte.
Jessamy nahm Illiums Hände und drückte sie mit einem innigen Lächeln ihrer hellbraunen Augen. »Nun«, sagte sie auf ihre liebenswürdige Art, »ich hätte es nicht geglaubt, als du noch klein warst, Illium, aber irgendwie hast du es geschafft, nicht in eine Felsspalte zu stürzen, dich mit einer für dich viel zu großen Waffe aufzuspießen oder von einem Dach zu fallen, während du so tatest, als könntest du fliegen, während du bestenfalls eine betrunkene Hummel imitieren konntest.«
Ohne Reue über alles grinsend, was er ihrer aller Lehrerin während seiner Zeit auf der Schule der Zuflucht zugemutet hatte, ließ er ihre Hände los, schloss Jessamy in die Arme und hob sie hoch. Sie lachte, ein Klang, so warm wie ihr Herz. Und in der Zeit, die sich anschloss, wurde noch mehr gelacht und geredet und noch viel mehr gegessen.
Montgomery und Sivya waren angewiesen, während dieser Zusammenkunft von Freunden niemanden zu bedienen, doch nun wachten sie über die Speisen, weil sie sich vergewissern wollten, dass alle bekamen, was sie brauchten. Schließlich zog Raphael seinen Butler und die Köchin von dem festlich gedeckten Tisch fort und schenkte ihnen persönlich etwas zu trinken ein.
Es brauchte einige Zeit, doch schließlich entspannten sich die beiden und gaben ihre Pflichten für diesen Abend auf. Und als Venom mit der Musik begann, sah Aodhan sogar, wie Montgomery Sivya in einem schattigen Winkel des Dachs in seine Arme zog und ihr die Hände unter den gefalteten Flügeln um die Taille legte. Sie schlang ihre Hände um seinen Nacken, und ihre Finger spielten mit seinem dunklen Haar. Dabei hatte sie einen Gesichtsausdruck, wie ihn Aodhan noch nie an ihr gesehen hatte, weil er allein Montgomery vorbehalten war.
