Große Denker in 60 Minuten - Band 5 - Walther Ziegler - E-Book

Große Denker in 60 Minuten - Band 5 E-Book

Walther Ziegler

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Beschreibung

Große Denker in 60 Minuten - Band 5 ist der fünfte Sammelband der beliebten gleichnamigen Buchreihe. Er umfasst die fünf Einzelpublikationen "Adorno in 60 Minuten", "Habermas in 60 Minuten", "Foucault in 60 Minuten", "Rawls in 60 Minuten" und "Popper in 60 Minuten". Dabei wird der Kerngedanke des jeweiligen Denkers auf den Punkt gebracht und die Frage gestellt: "Was nutzt uns dieser Gedanke heute?" Vor allem aber kommen die Philosophen selbst zu Wort. So werden ihre wichtigsten Aussagen als Zitate in Sprechblasen grafisch hervorgehoben und ihre Herkunft aus den jeweiligen Werken angezeigt. Jeder der fünf Philosophen ist mit bis zu 100 seiner bedeutendsten Zitate vertreten. Die spielerische, gleichwohl wissenschaftlich exakte Wiedergabe der einzelnen Denker ermöglicht dem Leser den Einstieg in die großen Fragen unseres Lebens. Denn jeder Philosoph, der zu Weltruhm gelangt ist, hat die Sinnfrage gestellt: Was ist es, was die Welt im Innersten zusammenhält? Herausgekommen sind dabei sehr unterschiedliche Antworten. Bei Adorno ist es die dialektische Entwicklung der Zivilisation von der Steinzeit bis zum Kapitalismus mit der einhergehenden Entfremdung der Menschen von der Natur. Habermas sieht dagegen in diesem historischen Entwicklungsprozess die Chance, die Gesellschaft durch die emanzipatorische Kraft der Sprache im kommunikativen Handeln schrittweise zu verbessern. Foucault hingegen bleibt skeptisch und zeigt uns die ehernen Strukturen auf, in denen wir als moderne Individuen gefangen sind. Rawls entwickelt ein schillerndes Verfahren zur Herstellung idealer und gerechter Verhältnisse. Popper schließlich stellt eine ganz neue Wissenschaftstheorie auf, wonach jede wissenschaftliche Wahrheit nur vorläufigen Charakter hat und durch bessere Wahrheiten abgelöst werden müsse. Die Frage nach dem Sinn der Welt und somit dem Sinn unseres Lebens wird von den Philosophen also durchaus unterschiedlich beantwortet, doch eines steht fest: Jeder der fünf Denker hat aus seiner Perspektive einen Funken aus dem Kristall der Wahrheit herausgeschlagen.

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Dank an Rudolf Aichner für seine unermüdliche und kritische Redigierung, Silke Ruthenberg für die feine Grafik, Angela Schumitz, Lydia Pointvogl, Eva Amberger, Christiane Hüttner, Dr. Martin Engler für das Lektorat und Dank an Prof. Guntram Knapp, der mich für die Philosophie begeistert hat.

Große Denker in 60 Minuten

Adorno in 60 Minuten

Habermas in 60 Minuten

Foucault in 60 Minuten

Rawls in 60 Minuten

Popper in 60 Minuten

Walther Ziegler

Adornoin 60 Minuten

Inhalt

Adornos große Entdeckung

Adornos Kerngedanke

Die Dialektik der Aufklärung

Die Selbstunterdrückung durch die Vernunft am Beispiel des Odysseus

Die Philosophie von Marquis de Sade als Ergebnis der Aufklärung

Die Vereinnahmung des Individuums durch die Kulturindustrie

Negative Dialektik – Die Überwindung der Sprache und Befreiung von der Diktatur des Begriffs

Was nutzt uns Adornos Entdeckung heute?

Wahrheit jenseits aller Worte – Kann man mit Begriffen gegen Begriffe andenken?

Mündet Aufklärung und Wissenschaft tatsächlich im Totalitarismus?

Das Ganze ist nicht falsifizierbar – Adornos Kritik an Popper und am Positivismus

Gibt es doch noch ein richtiges Leben im falschen?

Die Kraft des negativen Denkens – Negation ohne in Position überzugehen!

Zitatverzeichnis

Adornos große Entdeckung

Theordor W. Adorno (1903 – 1969) ist bis heute einer der intellektuellsten und charismatischsten Denker der Philosophiegeschichte. Er hatte bereits zu Lebzeiten großen Einfluss auf die heranwachsende Studentengeneration und das geistige Klima der jungen Bundesrepublik. Kein anderer deutscher Intellektueller hielt in der Zeit von 1959 bis 1969 mehr Vorträge in Radio und Fernsehen als er.

Wie Sartre in Frankreich wurde Adorno in Deutschland zur charismatischen Leitfigur der studentischen Jugend und aller politisch linksgerichteten Kräfte. Und genau wie Sartre war er klein, etwas untersetzt, hatte eine dicke Hornbrille und zahlreiche Affären mit attraktiven Frauen. Seine Vorlesungen, zu denen Studierende aus Amerika und vielen europäischen Staaten von weit her anreisten, waren völlig überfüllt – und dies, obwohl nur die wenigsten Teilnehmer hinterher behaupten konnten, alles verstanden zu haben. Die hochkomplexe Gedankenführung des kahlköpfigen Professors gilt bis heute als eine große Herausforderung, ebenso wie sein abstraktes Spätwerk mit dem Titel Negative Dialektik.

Mit seiner Systemkritik am Kapitalismus war Adorno ein Wegbereiter der 68er Revolte in Europa. Zweifellos hat er den geistigen Nährboden für die 68er Unruhen geschaffen, auch wenn ihm seine eigene Wirkung schließlich selbst unheimlich wurde und er sich 1968 nicht, wie dies seine Anhänger von ihm erwarteten, an die Spitze der Protestbewegung stellte.

Adornos Kerngedanke ist verblüffend und provokativ zugleich: Die moderne kapitalistische Gesellschaft befindet sich in ihrer Gesamtheit auf Abwegen. Die Individuen genießen zwar wie niemals zuvor die Vorzüge von Mobilität, Technik, Medizin und Wohlstand, haben aber gleichzeitig das verloren, was ihr Dasein lebenswert macht, nämlich den Sinn für die Natur, für die eigene innere Natur und am Ende sogar ihre Liebesfähigkeit:

Dieser Verlust der Liebesfähigkeit des modernen Menschen ist nach Adorno eine direkte Folge der Waren- und Konsumgesellschaft. Der Mensch wird berechnend und berechenbar, denn in der Tauschgesellschaft hat alles seinen definierten Preis. Jede Ware, auch die eigene Arbeitskraft, wird für Geld zu Markte getragen und verkauft. Dies führt zu einer Verdinglichung der zwischenmenschlichen Beziehungen. In einer Gesellschaft, in der nichts ohne Bezahlung getan wird, verschwindet nach und nach die natürliche Anteilnahme am Schicksal der anderen. Jeder kämpft für sich allein. Die Ich-AG wird zum Symbol der Moderne.

Dabei kritisiert Adorno nicht nur die Tatsache, dass in der Marktwirtschaft alles nach Angebot und Nachfrage taxiert wird, sondern auch, dass beim Konsumenten immer neue künstliche Bedürfnisse geweckt und Waren zu Fetischen werden, denen eine quasireligiöse Verehrung zuteil wird.

Für viele Menschen ist beispielsweise das Auto weitaus mehr als ein Fortbewegungsmittel. Sie identifizieren sich mit dem toten Gegenstand und beziehen aus ihm ihren Wert als Mensch. Der Kapitalismus macht die Individuen abhängig und überformt ihren Charakter, was Adorno zu der radikalen Schlussfolgerung veranlasst:

Mit seinem Generalverdacht wurde Adorno zum wichtigsten Vertreter der sogenannten Kritischen Theorie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, die gesamte kapitalistische Gesellschaft zu analysieren und zu kritisieren. Da alle Vertreter dieser Denkrichtung in den 50er und 60er Jahren am legendären Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt lehrten, spricht man auch von der Frankfurter Schule.

Dazu gehörten neben Adorno so bekannte Denker wie Max Horkheimer, Herbert Marcuse und der Psychoanalytiker Erich Fromm. Sie alle kritisierten aufs Schärfste die verkrusteten Strukturen der jungen Bundesrepublik. Dabei beriefen sie sich zwar noch auf Marx und bezeichneten sich selbst als Materialisten, doch hielten sie unter dem Eindruck der Terrorherrschaft Stalins und der zunehmenden Konsumorientierung der Arbeiter eine kommunistische Weltrevolution für unrealistisch. An die Stelle der Zwangsläufigkeit der Revolutionstheorie und der baldigen Verwirklichung der klassenlosen Gesellschaft setzten sie die Forderung nach einer permanenten Gesellschaftskritik. Daher die Bezeichnung Kritische Theorie.

Mit seinem Freund Horkheimer, den Adorno schon seit Studienzeiten kannte, verfasste er bereits im amerikanischen Exil das Hauptwerk der Kritischen Theorie, die berühmte Dialektik der Aufklärung. Neben Adorno und Horkheimer mussten auch Marcuse und Fromm aufgrund ihrer jüdischen Herkunft vor dem Nationalsozialismus nach Amerika fliehen. Die dort entstandene Dialektik der Aufklärung ist bis heute eines der wichtigsten Standardwerke der Soziologie und Sozialphilosophie.

Schon bei seinem Erscheinen war das Buch spektakulär, weil es erstmals eine Kritik der Kritik zum Inhalt hatte. Die Aufklärung war mit Geistesgrößen wie Rousseau, Voltaire, Diderot, Kant, Hume, Locke und vielen anderen Denkern selbst ein immens kritisches Unterfangen. So kritisierten die Aufklärer den Feudalismus, das Gottesgnadentum, die Religion, den Aberglauben und wollten die Menschen ein für alle Mal von den überkommenen mittelalterlichen und irrationalen Zwängen befreien. „Wer soll das Volk regieren, wenn nicht das Volk“, lautete eine ihrer fortschrittlichen Parolen. Die Aufklärung war also die ganz große Epoche des kritischen Denkens.

Und dann kamen Adorno und Horkheimer aus dem amerikanischen Exil zurück und hatten im Gepäck ihren großen Verdacht. Die gesamte kritisch emanzipatorische Bewegung der Aufklärung, so Adorno und Horkheimer, bedeutet für Europa keineswegs nur einen begrüßenswerten Aufbruch, sondern zugleich auch ein Verhängnis und muss selbst einer scharfen Kritik unterzogen werden. Zwar wurden in der Epoche der Aufklärung durchaus Fortschritte auf politischem, wissenschaftlichem und technischem Gebiet gemacht, doch all diese Verbesserungen hatten am Ende eine fatale Kehrseite. Bereits der allererste Satz der Dialektik der Aufklärung lautet:

Die Aufklärung hat also anfangs, so Adorno, das fortschrittliche Ziel verfolgt, den Menschen die Furcht zu nehmen, vor der Natur, vor wilden Tieren, vor Missernten, vor dem Aberglauben, dem Jüngsten Gericht, der Apokalypse, dem Teufel und anderen irrationalen Vorstellungen. Die „Illumination“, das „Enlightenment“, wie diese Epoche in Frankreich und England bezeichnet wird, wollte alles illuminieren, erhellen und das Licht der Vernunft und Wissenschaft an die Stelle des irrationalen Glaubens setzen, wonach höhere Mächte unsere Geschicke bestimmen.

So blickten die Bauern jahrhundertelang ängstlich zum Himmel hinauf, brachten dem Donnergott ihre Opfer dar, um ihn rituell gnädig zu stimmen. Heutzutage steigt ein Hagelflieger auf und zerstäubt die Gewitterwolken mit einer Chemikalie. Die Natur wird im aufgeklärten Zeitalter nicht mehr als übermächtig und bedrohlich empfunden, sondern durch hochmoderne Erntemaschinen, Fungizide, Pestizide und Massentierhaltungen komplett beherrscht und kontrolliert. Dennoch erstrahlt die Erde laut Adorno „im Zeichen triumphalen Unheils“. Denn die totale Kontrolle über die Natur hat ihren Preis:

Umso perfekter nämlich die Menschen die Welt und ihr eigenes gesellschaftliches Zusammenleben mit Hilfe von hochmodernen Maschinen und gesellschaftlichen Institutionen kontrollieren, desto weiter entfernen sie sich von der äußeren und ihrer eigenen inneren Natur. Adorno stellt unserer modernen Zivilisation letztlich eine fatale Diagnose aus – vielleicht die fatalste Diagnose, die überhaupt möglich ist: Wir haben uns zwar durch die entfesselte Wissenschaft und die allgegenwärtige Administration zu Herren über die Natur aufgeschwungen, uns damit aber gleichzeitig selbst versklavt. Wir sind manipulierte Opfer der von uns geschaffenen Massengesellschaft.

Unser Leben vollzieht sich in Trugbildern. Wir haben zwar subjektiv noch das Gefühl, dass unser Alltag real ist. Wir glauben, dass wir in einer echten Welt leben mit all ihren Problemen, Sorgen und schönen Seiten, doch in Wirklichkeit befinden wir uns in einer Scheinwelt oder wie Adorno sagt, einem einzigen großen „Verblendungszusammenhang“. Das geht nach Adorno so weit, dass wir komplett in der Masse aufgehen und unsere Individualität verlieren:

Wir werden zu eindimensionalen Menschen und begehren nur noch das, was uns von der Konsumgüterindustrie als begehrenswert vorgegaukelt wird. Ein solcher Manipulationsverdacht ist nicht neu. Bereits der griechische Philosoph Platon hat vor zweitausendfünfhundert Jahren in seinem berühmten Höhlengleichnis kritisiert, dass die Menschen manipuliert werden, ihr ganzes Leben in einer Art Höhle verbringen, die wahre Welt draußen nicht mehr erkennen und stattdessen nur mehr die Schatten an der Höhlenwand für real halten.

Doch Adorno geht noch einen Schritt weiter. Hatten die Menschen in Platons Höhlengleichnis noch die Chance, zum Licht aufzusteigen und die wahre Welt zu erreichen, bleiben sie bei Adorno zur Gefangenschaft verdammt. Während uns also Platon auffordert, das innere Auge auf die Wahrheit zu richten und solchermaßen ein gutes und echtes Leben zu führen, kommt Adorno zu einer sehr pessimistischen Einschätzung. Wir schaffen es nicht mehr, die Höhle zu verlassen. Zu sehr sind wir bereits fester Bestandteil im Getriebe der kapitalistischen Welt:

Und selbst wenn wir spüren, dass mit unserem Leben etwas nicht stimmt, dass etwas falsch läuft, haben wir kaum mehr eine Chance, dies zu korrigieren. Denn, so Adorno:

Dieser berühmt gewordene und viel zitierte Satz steht bis heute für die Verunsicherung und Widersprüchlichkeit des modernen Menschen. Einerseits genießen wir in der westlichen Zivilisation wie nie zuvor die medizinischen und technischen Segnungen des Kapitalismus mit seinen Konsumgütern und Medienspektakeln, andererseits spüren wir, dass wir uns genau darin verlieren und zu Knechten unserer eigenen und fremder Bedürfnisse machen. Wir haben eine tiefe Sehnsucht nach einem Leben jenseits der Reizüberflutung, aber zugleich gelingt es uns nicht mehr, ein wahres Leben zu führen, da wir bereits zu sehr im falschen zuhause sind. Viele Menschen können zum Beispiel gar nicht mehr ohne Fernsehapparat leben, der ihnen Abend für Abend eine unterhaltsam spannende, aber unechte Welt ins Wohnzimmer holt.

Selbst seine Kritiker gestehen Adorno zu, dass er mit seiner Fundamentalkritik am modernen Lebensstil etwas erkannt hat, das bis heute nur wenig von seiner Aktualität verloren hat. Führen wir tatsächlich ein falsches Leben? Sind wir alle fremdgesteuert? Und wenn ja: woher weiß Adorno, dass es so ist? Ist das Projekt der Aufklärung, die Menschheit durch Vernunft und Wissenschaft vom Aberglauben zu befreien, in sein Gegenteil umgeschlagen? Hat die Kritische Theorie recht? Führt am Ende gerade die berechnende Wissenschaft zur Gefahr einer neuen Barbarei? Adorno gibt höchst spannende und eigenwillige Antworten.

Adornos Kerngedanke

Die Dialektik der Aufklärung

Entscheidend für den Kerngedanken von Adorno war zweifellos die Erfahrung des Faschismus und des Holocaust. Bei seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil in das völlig zerstörte Nachkriegsdeutschland beschäftigten Adorno deshalb zunächst zwei große Fragen. Erstens: Wie können wir verhindern, dass sich Ausschwitz und der Faschismus wiederholen?

Zweitens: Wie konnte es dazu kommen, dass nach Jahrhunderten der Aufklärung und des Humanismus gleich in drei europäischen Ländern – in Spanien, Italien und Deutschland – totalitäre Führer und Parteien an die Macht kamen?

Bereits im Exil hatte Adorno sozialpsychologische Forschungen unternommen, die er in Deutschland fortsetzte. Diese wurden unter dem Titel Studien zum autoritären Charakter publiziert. Das Ergebnis ließ aufhorchen: Zwei Drittel der Deutschen, so die Auswertung der Interviews, stehen auch nach der Erfahrung des Nationalsozialismus der Demokratie noch skeptisch gegenüber. Die Hälfte lehnt sogar jede Mitschuld an den Gräueltaten des Dritten Reiches ab. Und: ein Großteil der Befragten gab Antworten, die zumindest indirekt auf eine ausgeprägte Obrigkeitshörigkeit hindeuten.

Für Adorno waren diese empirischen Befunde jedoch nicht entscheidend. Sie zeigten nur Fakten, die er ohnehin vermutet hatte. Seine große philosophische Frage lautete: Wie konnte es nach Rousseau, Voltaire, Montesquieu, Leibniz, Kant, Hume, Locke und anderen Aufklärern noch einmal zu einer solchen Barbarei kommen?

Seine Antwort wurde zum Ausgangspunkt der gesamten Kritischen Theorie. Die Aufklärung und die moderne Wissenschaft, so Adorno, haben zwar die Menschen vom Aberglauben befreit, doch etablierten sie an seiner Stelle eine rein instrumentelle Welterklärung, die nicht minder gefährlich ist. Denn die rein technokratisch instrumentelle Welterklärung birgt die Gefahr, am Ende auch wieder in einen Irrationalismus umzuschlagen. Schuld daran ist die spezifische Ausrichtung der Forschung und Wissenschaft auf die unmittelbare Anwendbarkeit:

Machbarkeit ist das oberste Gebot der modernen Wissenschaft. Die Wissenschaftler, so Adorno, wollen die Welt und die Dinge nicht nur rational analysieren und verstehen, sondern immer auch kontrollieren. Mit jedem neu dazugewonnenen Wissen wird die Natur neu gestaltet, beherrscht und manipuliert. Damit hat die Wissenschaft automatisch etwas Diktatorisches an sich.

So war beispielsweise auch Darwins wissenschaftliche Entdeckung der Evolutionstheorie zunächst zwar ein aufklärerischer Akt der Befreiung vom biblischen Schöpfungsmythos. Doch schon bald wurde seine Entdeckung einer fatalen Anwendung und Machbarkeit zugeführt. Mit der Hypothese von der natürlichen Selektion im Tierreich hat Darwin, ohne dies wahrscheilich selbst intendiert zu haben, den Nährboden für die darauf folgende Selektionshypothese in der menschlichen Evolution geschaffen.

Bereits ein halbes Jahrhundert vor Hitler übertrug der britische Wissenschaftler Herbert Spencer die Lehre von der natürlichen Auslese auf die Menschheit und begründete den Sozialdarwinismus. Er prägte den Begriff vom „Survival of the fittest“ und erklärte den Kampf zwischen Völkern, Rassen und Nationen zu einem Natur-Prozess. Darwins „Natürliche Auslese“ war auf einmal nicht mehr nur ein Spiel der Natur von Mutation und Selektion, sondern wurde als gezielter Kampf der Rassen in den Bereich menschlicher Machbarkeit geholt. Während des Nationalsozialismus forschte dann ein ganzes Heer von Wissenschaftlern, Professoren, Ärzten und Genetikern an neu eingerichteten Lehrstühlen für Rassekunde. Sie sammelten anatomische Daten, angefangen von der Vermessung von Schädeln und Gesichtszügen bis hin zu Körpergröße, Hautpigmentierung und geistigen Fähigkeiten. Das Ergebnis ist bekannt.

Mit dem aufkommenden Rassenwahn schlug die ursprüngliche Rationalität der Wissenschaft endgültig in einen menschenverachtenden Irrationalismus um. Im Gefolge von Darwins noch rational begründeter Hypothese vom Ursprung der Arten und ihrer Entwicklung durch natürliche Selektion, erhebt sich nach und nach unter dem Deckmantel der Wissenschaft der irrationale Mythos vom genetisch höher stehenden Arier, der sich gegen alle andere Rassen durchsetzen wird:

Adorno zeigt diese Dialektik des Umschlagens von Wissenschaft in Mythos am Beispiel der Horde. Die Horde der Steinzeit und ihre Mitglieder fühlen sich durch mythologische Erzählungen und Symbole miteinander verbunden, indem sich beispielsweise alle mit einem gemeinsamen Totemtier identifizieren.

Die Mitglieder einer Horde der Neuzeit fühlen sich verbunden, weil die Wissenschaft ihnen rational erklärt, dass sie zur selben genetisch verwandten Spezies oder Volksgemeinschaft gehören. De facto aber unterscheiden sie sich nur wenig. Auch die Individuen der modernen Horde verfallen nämlich am Ende der Aufklärung wieder einem neuen Aberglauben – einem wissenschaftlichen Aberglauben. Dies ist aber nach Adorno kein bloßer Rückfall in die Barbarei, sondern hat eine eigene Qualität, die in der Logik der Aufklärung selbst zu suchen ist:

Die guten Vorsätze der Aufklärung, also in diesem Fall der Ruf nach Egalität, Entfaltung der Gleichheit und Brüderlichkeit werden hier von Adorno als Wegbereiter des Totalitarismus interpretiert. Sie konnten zusammen mit den Ergebnissen der Lehrstühle für Rassekunde sehr einfach als Basis der repressiven Gleichschaltung aller Bürger missbraucht werden. Denn wer das Regime kritisiert hat, hat die genetisch definierte egalitäre Horde verlassen und war damit automatisch ein Volksfeind, der sich außerhalb oder sogar über die egalitäre und brüderliche Volksgemeinschaft stellen wollte.

Aufklärung ist ursprünglich angetreten, um die Naturwüchsigkeit der Gesellschaft und den Naturzwang zu kritisieren und an ihrer Stelle die Kraft der Vernunft zu setzen. Doch stattdessen hat sie am Ende nur den mythologisch religiösen Naturzwang durch einen rational pseudowissenschaftlichen ersetzt:

Auch nach dem Faschismus und dem zweiten Weltkrieg haben Wissenschaft und Technik die Menschen letztlich nicht wirklich befreit, sondern in eine neue Maschinerie eingebunden. Inzwischen, so Adorno, halten viele den Kapitalismus sogar für ein naturwüchsiges System. So werden Profitinteressen und Egoismus von der Wissenschaft als notwendige Naturtriebe angesehen, die für Erfindergeist, Wirtschaftswachstum und die Erschließung von neuen Ressourcen unentbehrlich sind. Wissenschaftliche Bücher wie der Weltbestseller Das egoistische Generklären die Naturwüchsigkeit des globalen bürgerlichen Besitzindividualismus.

Hinzu kommt das Problem des „technologischen Schleiers“. Da unsere Welt zunehmend von Technik durchdrungen ist, legt sich ein Schleier über ihre ursprüngliche Funktion als bloßes Werkzeug. Sie bekommt ein Eigenleben.

Die technischen Hilfsmittel werden fetischiert und verleiten die Menschen zu Allmachtphantasien:

Letztlich, so Adorno, ist die Aufklärung und mit ihr die gesamte Technikentwicklung in ihr Gegenteil umgeschlagen. Statt den Menschen zu befreien, hat sie ihn in neue bedrohliche Abhängigkeiten gebracht.

Die Selbstunterdrückung durch die Vernunft am Beispiel des Odysseus

Als Beispiel für diesen dialektischen Prozess führt Adorno den antiken Helden Odysseus an. Dieser verkörpert die Dialektik der Aufklärung sinnbildlich in seiner eigenen Person. Odysseus zeichnet sich nämlich dadurch aus, dass er schlau und listig ist. Im Unterschied zu den anderen griechischen Helden, wie zum Beispiel Achilles oder Herkules, die ihrer Kraft und ihrem Mut vertrauen, setzt Odysseus ausschließlich auf seine Vernunft. Damit verkörpert er inmitten der mythischen Welt der Antike erstmals den modernen rationalen Typus und erweist sich, so Adorno, als

Odysseus ist vor allem aufgrund seiner Vernunft und seiner überragenden Selbstkontrolle erfolgreich. So überlebt er den betörend verlockenden, aber zugleich tödlichen Gesang der Sirenen durch einen Trick. Um mit seinem Schiff nicht am Felsen zu zerschellen, befiehlt er seiner Mannschaft, sich Wachs in die Ohren zu gießen und ihn selbst am Segelmast festzubinden. So kann weder seine Mannschaft noch er dem betörenden Gesang der Sirenen verfallen und zu nah an die gefährlichen Klippen segeln. Odysseus überlebt also, indem er sich selbst Fesseln anlegt und seinen Trieb unterdrückt.

Auch dem einäugigen Riesen Polyphem, dem Odysseus das einzige Auge aussticht, kann er nur entkommen, indem er sich zuvor selbst verleugnet. Vom Riesen nach seinem Namen befragt, nennt er sich „Niemand“, was ihm später das Leben rettet. Als nämlich der Riese sein Auge verliert, fordert er die anderen Riesen dazu auf, nach „Niemand“ zu suchen und „Niemand“ zu töten. So überlebt Odysseus dank seiner Selbstunterdrückung und Selbstverleugnung:

Und genau das ist, so Adorno und Horkheimer, das Schicksal des modernen Menschen. Das Überleben in der Massengesellschaft verlangt von uns Anpassung, Selbstunterdrückung und Selbstverleugnung. Odysseus hat uns dies erstmals vorgelebt:

Damit hat Homer laut Adorno und Horkheimer mit seiner Odyssee den „Grundtext der europäischen Zivilisation“ 19 geschrieben und mit seiner Sagenfigur des Odysseus schon den neuen Typ Mensch vorweggenommen:

Die Philosophie von Marquis de Sade als Ergebnis der Aufklärung

Ein Indiz für ihre Grundthese, dass die Aufklärung Gefahr läuft, in ihr Gegenteil umzuschlagen, ist für Adorno und Horkheimer die Philosophie des Aufklärers Marquis de Sade.

De Sade (1740 -1814) ist den meisten Menschen nur wegen seiner sexuell perversen Praktiken bekannt. Doch de Sade war nicht nur der Namensgeber des Sadismus, sondern auch Autor zahlreicher Bücher und zusammen mit La Mettrie und Holbach einer der wichtigsten Vertreter des Französischen Materialismus. Diese Denkrichtung verstand sich als die Speerspitze der Aufklärung. Im Gefolge der französischen Revolution kritisierten sie die Religion als Aberglaube und vertraten ein streng materialistisches, naturwissenschaftliches und mechanistisches Weltbild.

Die Menschen sind in Wirklichkeit, so die Französischen Materialisten, nicht Gottes Geschöpfe und auch keine moralischen Geistwesen, sondern ausschließlich von Naturgesetzen gesteuerte Lebewesen, die es zu erforschen gilt.

So hat beispielsweise La Mettrie den Menschen in seinem berühmten Buch L’homme machine, als „Menschmaschine“ und perfekt funktionierendes Uhrwerk beschrieben: „Der menschliche Körper“, so La Mettrie, „ist eine Maschine, die selbst ihre Federn aufzieht“. 21

Auch der Aufklärer Holbach, der über vierhundert naturwissenschaftliche Artikel für die Enzyklopädie verfasst und an Diderot geschickt hat, sah die Triebe als die alleinige Ursache der Handlungen des Menschen an: „Der Mensch ist ein rein physisches Wesen. […] Seine sichtbaren Handlungen […] sind natürliche Wirkungen seines eigentümlichen Mechanismus. […] Alles, was wir tun, ist nur Antrieb der Natur.“ 22

In moralischer Hinsicht vertraten die französischen Materialisten die Auffassung, dass der Mensch letztlich nur seinen natürlichen Antrieben, also seinem Selbstinteresse folgen muss. Die durch Gott und Geist jahrtausendelang unterdrückte Natur sollte nun endlich wieder in ihr Recht gesetzt werden. Moralisch ist, was natürlich ist und sich an der Natur orientiert.

Der radikalste Denker dieser französischen Materialisten war Marquis de Sade. Auch er verstand sich selbst als Speerspitze der Aufklärung und dachte den Gedanken des naturkonformen Lebens radikal zu Ende. Wenn wir nämlich anerkennen, so folgerte de Sade, dass wir reine Naturwesen sind, die wie Uhrwerke ihren innersten Antrieben folgen, dann müssen wir in einem letzten Schritt auch unsere Aggressionen und selbst die Mordlust als Naturereignis anerkennen. In seinem Hauptwerk Juliette oder die Vorteile des Lasters erklärt de Sade sogar den Mord zu einem notwendigen Bestandteil der Natur: „Und woher kommt diese ungestüme Neigung? Von der Natur […]. Der Mord ist eines ihrer Gesetze. Jedesmal, wenn sie das Bedürfnis dazu verspürt, gibt sie uns diese Neigung ein, und wir gehorchen unwillkürlich.“ 23

Die Argumentation von de Sade ist einfach. Wenn alles Menschliche letztlich Naturanlage ist und Natur wiederum eine wissenschaftlich wertneutrales Phänomen, dann darf man auch den Mord als Naturereignis nicht verurteilen. De Sade lässt seine Romanfigur Juliette zuerst in aufklärerischem Eifer den Katholizismus kritisieren, da es für diesen keinerlei wissenschaftliche Beweise gibt:

Sodann lässt de Sade Juliette eine Reihe von kriminellen Erfahrungen machen und auch Morde begehen, bis sie schließlich zu dem nüchternen Ergebnis kommt, dass in jedem Menschenleben immer auch Gewaltausübung vorkommt. Zu einem aufgeklärten, freien und selbstbestimmten Leben sollte daher anstelle des Verzichtes, der Demut und der wissenschaftlich nicht nachweisbaren Nächstenliebe das natürliche „Recht auf Alles“ treten, das auch Gewaltanwendung und Mord nicht ausschließt. Adorno und Horkheimer sehen in Juliettes Argumentation eine gefährliche moderne wissenschaftliche Haltung, die sich ausschließlich an positiv feststellbaren Naturmomenten wie Trieben und real quantifizierbaren Verbrechen orientiert und diese als naturwüchsig hinnimmt:

In seinem provokativen Aufruf „Franzosen – noch eine letzte Anstrengung, wenn ihr Republikaner sein wollt“, 26 ermutigt de Sade die Revolutionäre und Republikaner, die Forderung der Aufklärung nach individueller Freiheit noch gar zu vollenden. Nachdem sie bereits den Klerus enteignet und den König geköpft haben, fehle den Franzosen nur noch das Bekenntnis zur absoluten Freiheit des Individuums – und das heißt für de Sade, das Bekenntnis zur Freiheit des Verbrechens. Logisch konsequent fordert de Sade die Gründung eines libertinen Staates und die aufklärerische Toleranz gegenüber triebenthemmten Vereinigungen wie der sogenannten „Gesellschaft der Freunde des Verbrechens“. 27

Adorno und Horkheimer sehen de Sades radikale Forderung nach der „Freiheit zum Verbrechen“ als Indiz für ihre These an, wonach die Aufklärung zwar als rationale und vernünftige Befreiung von der Religion angetreten ist, aber am Ende durch ihren Materialismus und Rationalismus auch wieder in ihr Gegenteil umschlagen kann – nämlich in die völlige Unfreiheit und Bedrohung des Lebens durch die Rechtfertigung der Gewalt als Naturtrieb:

Die Vereinnahmung des Individuums durch die Kulturindustrie

Die Dialektik der Aufklärung wird ganz deutlich, wenn man den modernen Kulturbetrieb und die Unterhaltungsindustrie näher anschaut. Statt die Menschen zu befreien und zu kreativen und phantasievollen Individuen zu erziehen, erzeugt die Aufklärung heutzutage über die Massenmedien den passiven und genusssüchtigen Konsumenten. Die ursprüngliche Aufgabe der Kunst, die Menschen betroffen zu machen, über ihre Situation zum Nachdenken anzuregen, geht völlig verloren. In monotonen, immer gleichen Erzählmustern werden vorgefertigte Geschichten mit hohem Spaßfaktor erzählt. So wie die Soldaten in den Schützengräben von Verdun jeden Tag ein Stahlgewitter von Kugeln und Geschossen über sich ergehen lassen mussten, wird der moderne Mensch mit leichter Unterhaltung und Spaß bombardiert:

Dabei verkommt das Individuelle der Kunst zu einem Massenprodukt, etwa zur Filmkunst, deren Qualität nur noch an den Besucherzahlen gemessen wird. Autoren und Drehbücher, die thematisch oder inhaltlich gegen den Strom schwimmen, haben kaum mehr eine Chance:

Das Ziel der kapitalistischen Medien- und Kunstproduktion besteht also darin, möglichst große Gewinne zu erzielen. Doch gleichzeitig werden die Menschen gerade dadurch zum Massengeschmack erzogen.

Was Adorno aber besonders erstaunt, ist die Tatsache, dass viele Fernsehzuschauer selbst über das schlechte Programm klagen, über die immer gleichen durchschaubaren und sich wiederholenden Geschichten von Abenteuer und Glück, das sie in ihrem eigenen Leben nicht mehr haben. Dennoch schalten sie Abend für Abend wieder ein:

Die Menschen, so Adorno, nehmen ganz bewusst Zuflucht in die fiktiven Filme und Serien der Unterhaltungsindustrie. Warum aber betrügen sich die Menschen so gerne selbst, anstatt nach dem wahren Leben zu suchen? Adornos Antwort ist, wie so oft, sehr ernüchternd:

Wenn Adorno also recht hat, dann geben wir uns den Vergnügungen des falschen Lebens deshalb so hemmungslos hin, weil wir spüren, dass wir dem richtigen Leben gar nicht mehr gewachsen sind. Adorno schätzt auch seine eigenen Chancen auf ein wahres Leben als sehr gering ein. So trägt sein Buch Minima Moralia den vielsagenden Untertitel: Reflexionen aus einem beschädigten Leben.

Negative Dialektik – Die Überwindung der Sprache und Befreiung von der Diktatur des Begriffs

Hinzu kommt nach Adorno ein weiterer verhängnisvoller Zusammenhang, der die gesamte Menschheitsgeschichte durchzieht: Es ist die Sprache. Denn seit der Steinzeit geben die Menschen den Dingen und den Lebewesen Namen, bezeichnen beispielsweise Tiere nach ihrem akustischen oder optischen Erscheinungsbild als Kuckuck, Uhu oder, wenn sie sich sehr langsam bewegen, als Faultiere. Aber diese scheinbar harmlose Zuordnung von Worten und Begriffen, mit denen wir nach und nach alles um uns herum benennen, prägen in ihrer Summe unser Denken und werden, so Adorno, zu einem gefährlichen „Organ der Herrschaft“ 33. Denn in den Wörtern beziehungsweise in den Begriffen steckt, ohne dass wir es merken, bereits ein mehr oder weniger versteckter Macht- und Herrschaftsanspruch:

Begriffe sind nach Adorno also „ideelle Werkzeuge“, mit denen wir die Dinge packen und die Natur so vor uns hinstellen und etikettieren, dass wir sie beherrschen und manipulieren können. Beispielsweise werden Raupen und Schnecken von Gärtnern mit dem Begriff Schädling bezeichnet, um sie, solchermaßen etikettiert, mit einem eigens dafür produzierten Schädlingsvernichtungsmittel besser bekämpfen zu können. Im Begriff Schädling steckt also bereits der subjektive Machtanspruch des Menschen, seine Ernte absolut schadlos zu halten. Doch schon für Wildenten und andere Schnabeltiere, die von der Schnecke leben, ist diese ein Nützling, ebenso wie für den Ökologen, dem es um eine intakte Nahrungskette und Vielfalt der Arten geht.

Die Begriffe, so Adorno, geben letztlich nicht die objektive Wirklichkeit wieder oder gar die Wahrheit, sondern immer nur subjektive Herrschaftsinteressen.

Das subjektive und gezielte „auf den Begriff bringen“ wird daher dem eigentlichen Charakter der Dinge nicht gerecht. Indem man ein Tier oder eine Pflanze mit dem Sammelbegriff Schädling oder Unkraut benennt, wird das Machtinteresse ausgedrückt, wonach beide unter das Vernichtungsgebot fallen. Raupe und Löwenzahn werden jeweils identifiziert als Repräsentanten einer auszulöschenden Gruppe und damit als etwas, was sie für sich selbst gar nicht sind:

Auf diese Art stülpen wir in brutaler Weise Begriffe über die Welt, ob sie nun passen oder nicht. Da Begriffe und Worte dem bezeichneten Gegenstand aber immer Gewalt antun, ist auch unsere Sprache nichts anderes, als ein Organon von Herrschaft, eine Ansammlung von Machtinteressen.

So dienen Sprache und Wörter seit jeher den Mächtigen zur Manipulation. Nicht nur in totalitären Staaten werden Begriffe wie Volksfeind, Volksschädling oder Klassenfeind gezielt zur Erzeugung von speziellen Feindbildern eingesetzt, sondern etwas subtiler auch in Demokratien. So wurde zum Beispiel das frühere deutsche „Kriegsministerium“ und „Reichsheeresministerium“ nach zwei verlorenen Weltkriegen terminologisch abgeschafft und im Zuge der Remilitarisierung durch den neuen Begriff „Verteidigungsministerium“ ersetzt. Es gab sogar den Vorschlag, am besten gleich von „Friedensministerium“ zu sprechen.

Die Begriffswahl sollte verhindern, dass die Wiederbewaffnung und Aufstellung einer Armee am Ende mit so etwas wie Krieg in Verbindung gebracht wird. Denn nach 1945 war die Mehrheit der Deutschen kriegsmüde und gegen eine Wiederbewaffnung.

Politiker verwenden seit jeher die Macht der Begriffe für ihre Zwecke. So hat die CDU/CSU aufgrund der verlorenen Bundestagswahl 1972 eine linguistische Arbeitsgruppe eingesetzt mit der Aufgabe, die zentralen Begriffe des SPD-Wahlsiegers „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und „Solidarität“ künftig als Begriffe im eigenen Parteiprogramm widerzuspiegeln und die SPD argumentativ zu übertrumpfen.

Wenige Jahre später führte die CDU dann tatsächlich einen erfolgreichen Wahlkampf mit der Parole: „Freiheit statt Sozialismus!“ Der CDU-Parteistratege Alfred Dregger hat die Begriffe ganz gezielt eingesetzt. Mit dieser Parole wurde dem sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten Helmut Schmidt der Rückfall in den „Sozialismus“ und die Planwirtschaft attestiert, dem konservativen CDU-Kandidaten Kohl dagegen die Verkörperung von „Freiheit“ und „Fortschritt“ – und das, obwohl historisch gesehen eigentlich die Sozialdemokraten seit Jahrhunderten für Freiheit und Fortschritt einstanden. Mit Begriffen kann also in Einzelfällen gezielt manipuliert werden.

Die Begriffe üben aber, so Adorno, in einem zweiten, viel umfassenderen Zusammenhang eine noch größere Macht aus. Sie erlauben uns nämlich generell nur innerhalb ihres Bannkreises zu denken. Wenn man den Versuch unternimmt, außerhalb der Sprache zu denken, merkt man schnell, wie sehr wir im stahlharten Gehäuse der Wörter und Sätze gefangen sind. Ein Herauskommen erscheint unmöglich. Deshalb, sagt Adorno, sind und bleiben wir Sklaven der Sprache und ihrer falschen Begriffe.

Letztlich, so Adornos fatale Schlussfolgerung, ist somit nicht nur die Dialektik der Aufklärung, der Wissenschaftspositivismus und der Kapitalismus, sondern auch noch die Sprache selbst ein gefährlicher Teil des universalen Verblendungszusammenhangs. Wir bewegen uns von Geburt an in einer komplett manipulierten Welt, die sich bis in die Sprache hinein niederschlägt:

Wenn aber tatsächlich das Ganze das Falsche ist und wir alle, wie Adorno behauptet, in einem universalen Verblendungszusammenhang gefangen sind, dann müsste dies konsequenterweise auch für ihn gelten. Und somit stellt sich die Frage, woher Adorno wissen kann, dass alles manipuliert ist, wenn er doch selbst nur ein Teil des falschen Ganzen ist? Adorno wäre nicht Adorno, wenn er nicht auch darauf eine Antwort hätte:

Es ist also das Leiden, das der manipulierten Vernunft anmeldet, dass etwas ist, wie es nicht sein soll und dass etwas anders werden muss. Damit hat Adorno erklärt, dass wir trotz aller Manipulation in der Lage sind, den falschen Zustand als falschen zu erleben, einfach, weil wir darunter leiden. Wie aber kann man über das bloße Leiden hinaus diesen Zustand als falsch erkennen und analysieren? Adorno schlägt dazu die dialektische Methode der Kritischen Theorie vor:

Was heißt das konkret? Wir müssen uns, so Adorno, mit unserem dialektischen Denken zugleich als Ausdruck des universalen Verblendungszusammenhangs und dessen Kritik begreifen, also als These und Antithese in einer Person, was aber nur möglich ist, wenn wir unser eigenes kritisches Denken in einer zweiten Bewegung noch einmal gegen uns selbst wenden. Das bedeutet konkret, dass wir nach der Bestandsaufnahme von all dem, was wir für die objektive Wirklichkeit halten, noch einmal einen kritischen Verdacht gegen uns selbst richten und uns eingestehen, dass alles bislang Erkannte nur ein manipuliertes Trugbild sein könnte, das noch einmal einzeln und als Ganzes auf den Prüfstand gestellt werden muss.

Es geht Adorno also um eine Art permanente Selbstkritik des Denkens am eigenen Denken. Nur so haben wir die Chance, unser falsches Leben als falsches zu erkennen. Er beschreibt diesen wichtigen dialektischen Prozess der subjektiven Weltkonstruktion und der kritischen Entlarvung eben dieser Weltkonstruktion als seine persönliche Mission:

Wie kann ich aber den Trug subjektiver Wirklichkeitskonstruktion konkret durchbrechen? Adorno gibt uns einen Hinweis. Wir müssen versuchen, bereits unsere Wahrnehmung, also unsere Art und Weise wie wir zu Erkenntnissen kommen, grundlegend zu verändern. Die übliche Anstrengung, die Objekte gewaltsam mit Begriffen wie „Schädling“ oder „Unkraut“ zu etikettieren, um sie besser beherrschen zu können, muss weitgehend fallengelassen werden:

Stattdessen schlägt Adorno vor:

Diese passive Erfahrung der Wahrheit der Objekte jenseits aller Begriffe und jenseits aller Herrschaftsansprüche ist allerdings schwer zu erreichen und noch schwerer zu beschreiben. Und, so Adorno, man kann diese Erfahrung der Wahrheit jenseits der Begriffe auch nicht mehr so einfach kommunizieren. Dennoch ist sie existent. An dieser Stelle kritisiert Adorno, dass wir heutzutage nur noch das als wahr gelten lassen, was man auch aussprechen und kommunizieren kann. Darüber hinaus gibt es immer auch eine Wahrheit, die sich jeder Kommunikation entzieht, aber dennoch vorhanden ist:

Wahrheit ist objektiv möglich, auch wenn sie sich nicht mehr plausibel kommunizieren lässt. Und jetzt zieht Adorno eine radikale Konsequenz. Es ist das Schicksal und die eigentliche Aufgabe der Philosophie, dass sie Wahrheiten generieren muss, die sich der Herrschaft der Begriffe entziehen und die deshalb, so Adorno, unsagbar und nicht mehr referierbar sind:

Was nutzt uns Adornos Entdeckung heute?

Wahrheit jenseits aller Worte – Kann man mit Begriffen gegen Begriffe andenken?

Adornos Kritik an der Sprache und am sprachlich verhafteten Denken hat zweifellos nochmals eine neue Dimension in der Philosophie eröffnet. Wenn nämlich nicht nur die kapitalistische Ökonomie, die technokratische Verwaltung und die positivistische Naturwissenschaft Ausdruck der Herrschaft des falschen Zustandes sind, sondern darüber hinaus auch noch die Sprache selbst, dann ist die Aufgabe einer kritischen Philosophie nochmals schwieriger. Es stellen sich zwei entscheidende Fragen: Gibt es eine Wahrheit jenseits der Worte? Und wenn ja: Kann man sich dieser Wahrheit ohne Begriffe und ohne sprachlich präformiertes Denken überhaupt noch annähern?

Die traditionelle Philosophie hat die Wahrheit stets begrifflich gedacht und auf den Punkt gebracht. Kein berühmter Philosoph hat bislang ein Buch mit leeren Seiten als sein Hauptwerk herausgegeben. Will die Philosophie nun als Kritische Theorie, wie es Adorno vorschwebt, emanzipatorisch gegen die Herrschaft der Sprache aufbegehren, muss sie sich gleichzeitig vom begrifflichen Denken lösen und dennoch das Unsagbare irgendwie auf den Punkt bringen. Tatsächlich fordert Adorno diese paradoxe Leistung:

Was Adorno hier vorschwebt, ist zunächst mal ein Widerspruch. Es erscheint unmöglich, etwas zu sagen, was unsagbar ist. Und es ist für die Philosophie unmöglich auf Worte und Sätze zu verzichten, aus Rücksicht darauf, dass die verwendeten Worte dem Gesagten Gewalt antun. Entweder nimmt man die Worte zu Hilfe oder man muss schweigen. Adorno kennt diesen Widerspruch, doch er bleibt dabei:

Was meint er damit, dass wir das Begriffslose mit Begriffen auftun sollen, ohne es ihnen gleichzumachen? Er meint damit, dass wir zwar nicht umhinkönnen, weiterhin in Begriffen zu denken, dass wir aber all das, was wir als wahr erkennen und ausdrücken wollen, nicht gleich wieder mit Worten etikettieren dürfen, sondern es erst einmal nur umkreisen und umschreiben sollen. So nähern wir uns der Wahrheit „mimetisch“ an.

Mimesis ist ein Schlüsselbegriff in Adornos Negativer Dialektik. Das Wort kommt aus dem Griechischen und heißt wörtlich übersetzt „Nachahmung“. Es hat bei Adorno eine anthropologische Bedeutung. Denn bereits in der menschlichen Urgesellschaft wurde versucht, die Welt mit Hilfe von Mimesis zu verstehen und lebenswert zu machen.

Die Eingeborenen, so Adorno, bastelten beispielsweise „Zaubermasken“, um verschiedene positive, aber auch beängstigende Naturereignisse, die sie ersehnten oder fürchteten, mimetisch darzustellen und zu bebildern. So hat man mit Masken von mächtigen Tieren das Jagdglück und die eigene Vitalität heraufbeschworen, mit Pflanzenmasken die Fruchtbarkeit, mit Totenmasken den Weg in das Jenseits. Indem Sehnsüchte und Ängste nachgeahmt und aus sich herausgesetzt wurden, war man in der Lage, mit diesen besser umzugehen und vieles zu verarbeiten, was weder verstanden noch ausgesprochen werden konnte.

Noch heute ist Kunst mit Bildern und Plastiken, sowie Musik und Tanz in gewisser Weise eine mimetische Form, um etwas darzustellen und auszudrücken, das uns betroffen macht, ohne dabei Worte zu verwenden und ganz ohne den Zwang, das, was man ausdrücken will, auf einen Begriff zu bringen und damit zu entzaubern. In der Musik und in den Bildern kann laut Adorno ausgesprochen werden, was sich mit Begriffen nicht mehr sagen lässt. Der Zauber der Kunst liegt auch darin, dass sie hinsichtlich ihrer Botschaften nicht um die wissenschaftliche Wahrheit buhlen muss:

Adorno versucht, uns mit seiner Forderung, über das begriffliche Denken mimetisch hinauszugehen, dafür zu sensibilisieren, auch außerhalb des streng logischen Denkens nach Erfahrungen und Wahrnehmungen zu suchen und diese zuzulassen.

In seiner Theorie des Ästhetischen, die unvollendet blieb, da er bereits mit 65 Jahren einem Herzinfarkt erlag, wollte er diese Möglichkeit weiter ausführen. Es ist erstaunlich, dass ein brillanter Rhetoriker und Sprachkünstler wie Adorno, der wie ein Jongleur mit Wörtern und Pointen spielen konnte, gegen Ende seines Lebens versucht hat, auch noch über das sprachliche Denken selbst hinauszukommen.

Dies erklärt sich vielleicht dadurch, dass er auch Komponist und passionierter Musikliebhaber war.

Musik und Philosophie gehörten für ihn ohnehin untrennbar zusammen. Und in der größten Herausforderung an die Musik sah Adorno auch die größte Herausforderung an die Philosophie, nämlich das Schwebende und das Unausdrückbare auszudrücken: