Große Denker in 60 Minuten - Band 4 - Walther Ziegler - E-Book

Große Denker in 60 Minuten - Band 4 E-Book

Walther Ziegler

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Beschreibung

"Große Denker in 60 Minuten - Band 4" ist der vierte Sammelband der beliebten gleichnamigen Buchreihe. Er umfasst die fünf Einzelpublikationen "Schopenhauer in 60 Minuten", "Nietzsche in 60 Minuten", "Wittgenstein in 60 Minuten", "Kafka in 60 Minuten" und "Arendt in 60 Minuten". Dabei wird der Kerngedanke des jeweiligen Denkers auf den Punkt gebracht und die Frage gestellt: "Was nutzt uns dieser Gedanke heute?" Vor allem aber kommen die Philosophen selbst zu Wort. So werden ihre wichtigsten Aussagen als Zitate in Sprechblasen grafisch hervorgehoben und ihre Herkunft aus den jeweiligen Werken angezeigt. Jeder der fünf Philosophen ist mit bis zu 100 seiner bedeutendsten Zitate vertreten. Die spielerische, gleichwohl wissenschaftlich exakte Wiedergabe der einzelnen Denker ermöglicht dem Leser den Einstieg in die großen Fragen unseres Lebens. Denn jeder Philosoph, der zu Weltruhm gelangt ist, hat die Sinnfrage gestellt: Was ist es, was die Welt im Innersten zusammenhält? Herausgekommen sind dabei sehr unterschiedliche Antworten. Bei Schopenhauer ist es der "blinde Wille", der alle Wesen auf der Erde antreibt, bei Nietzsche der "Wille zur Macht", der den Menschen die radikale individuelle Selbstverwirklichung nahelegt. Wittgenstein wiederum sieht in der Sprache und den alltäglichen Sprachspielen das zentrale Moment, das unser Dasein und die gesamte Gesellschaft prägt. Kafka hingegen hat eine eher verborgene und sehr fragile Dimension unseres Lebens entdeckt, die Dimension der zwischenmenschlichen Beziehung und ihrer Schattenseiten. Arendt schließlich gibt uns mit der These von der "Banalität des Bösen" einen großartigen Einblick in die Moralität und Amoralität ganzer Gesellschaften. Die Frage nach dem Sinn der Welt und somit dem Sinn unseres Lebens wird von den Philosophen also durchaus unterschiedlich beantwortet, doch eines steht fest: Jeder der fünf Denker hat aus seiner Perspektive einen Funken aus dem Kristall der Wahrheit herausgeschlagen.

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Dank an Rudolf Aichner für seine unermüdliche und kritische Redigierung, Silke Ruthenberg für die feine Grafik, Angela Schumitz, Lydia Pointvogl, Eva Amberger, Christiane Hüttner, Dr. Martin Engler für das Lektorat und Dank an Prof. Guntram Knapp, der mich für die Philosophie begeistert hat.

Große Denker in 60 Minuten

Schopenhauer in 60 Minuten

Nietzsche in 60 Minuten

Wittgenstein in 60 Minuten

Kafka in 60 Minuten

Arendt in 60 Minuten

Walther Ziegler

Schopenhauer

in 60 Minuten

Inhalt

Schopenhauers große Entdeckung

Schopenhauers Kerngedanke

Die Welt ist nur meine Vorstellung

Die wahre Welt als blinder Wille

Das sechsfache Leiden am blinden Willen

Der blinde Wille in der Geschichte

Der blinde Wille und Gott

Das Mitleid als Grundlage der Ethik

Die dreifache Überwindung des Willens in Kunst, Theater und Askese

Was nutzt uns Schopenhauers Entdeckung heute?

Können wir dem blinden Willen durch Askese entgehen?

„Positiv denken!“ als Ideologie – Schopenhauers Plädoyer für den Pessimismus

„Wer sein Alter nicht kennt, lernt dessen Leiden kennen“ – Realistisch alt werden mit Schopenhauer

Die Befreiung vom Zwang glücklich zu sein – Schopenhauers Vermächtnis

Zitatverzeichnis

Schopenhauers große Entdeckung

Unter allen Philosophen gilt Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) als der mit Abstand größte und brillanteste Pessimist. Tatsächlich gelang es ihm wie keinem zweiten, die großen und kleinen Unzulänglichkeiten des menschlichen Daseins zu erkennen und ergreifend zu beschreiben.

Das Leben auf unserem Planeten wird, so Schopenhauer, seit Jahrhunderten stilisiert, schöngeredet und falsch interpretiert. Alle Philosophen und Wissenschaftler gehen fälschlicherweise davon aus, dass der Mensch ein Homo sapiens, ein Geistwesen, ein animal rationale ist. Doch das, so Schopenhauer, ist ein großer Irrtum, denn die Menschen lassen sich in Wirklichkeit nicht von ihrer Vernunft durchs Leben führen, sondern handeln einzig und allein aus der Tiefe ihrer animalischen Antriebe heraus:

Es ist nach Schopenhauer eine völlige Selbstüberschätzung, zu glauben, wir könnten die Welt rational erkennen, geschweige denn vernünftig lenken. Zum einen erkennen wir die Welt niemals wie sie wirklich ist, sondern nur, wie wir sie uns gerade vorstellen:

Zum anderen – und das ist die eigentlich große Entdeckung Schopenhauers – steht hinter allen Vorstellungen von der Welt ein tieferes, unreflektiertes Bewegungsprinzip, eine Art Urkraft, die allen Pflanzen, Tieren und Menschen innewohnt, der sogenannte „blinde Wille“, oder wie Schopenhauer auch sagt, der „Wille zum Leben“:

Deshalb nennt Schopenhauer sein berühmt gewordenes Hauptwerk kurz und knapp: „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Dabei stellt er den Willen ganz bewusst an die erste Stelle. Denn sein Kerngedanke lässt sich, wie er selbst sagt, in einem einzigen Satz zusammenfassen. Der Mensch macht sich zwar viele Vorstellungen von der Welt, in Wirklichkeit aber ist die ganze Welt nur Ausdruck eines unbändigen Willens, der sich seit jeher in der Materie, in den Pflanzen, Tieren und Menschen selbst verwirklicht:

Der Wille zum Leben ist, wie Schopenhauer hier betont, ein „universeller Lebensdrang“, das heißt, er ist im Grunde überall gleichzeitig am Werk. Er bringt die Pflanzen dazu, sich nach der Sonne zu richten, und treibt die Tiere und Menschen an, zu essen, zu trinken und sich zu vermehren. Er wirkt in Form des allgegenwärtigen Lebens- und Sexualtriebes und verwirklicht sich zu jeder Zeit millionenfach in allen Organismen auf unserem Planeten.

Wie sehr unser innerstes Wesen von diesem „Willen zum Leben“ durchdrungen ist, kann man bereits am verzweifelten Widerstand sehen, den jedes Wesen aufbringt, wenn man ihm nach dem Leben trachtet. Unabhängig davon, ob der universelle Wille zum Leben gerade in einer Wespe, einer Maus oder einem Menschen am Werke ist, er wird sich in jedem Fall mit der gleichen, uneingeschränkten Intensität gegen den Tod aufbäumen:

Das Phänomen, dass sämtliche Organismen unbedingt am Leben bleiben wollen und dafür ihre äußersten Kräfte aufbieten, ist für Schopenhauer ein erster Beleg für seinen Kerngedanken. Aber auch die Evolution als Ganzes mit ihrer enormen Vielfalt an Substanzen, Pflanzen und Tieren, ihrer ständigen Anpassung an neue Umweltbedingungen, ihrem andauernden, leidenschaftlichen Kampf um das Fortbestehen von Arten gilt ihm als sicheres Indiz für das universelle Wirken des sogenannten „blinden Willens“ zum Leben:

Der Wille ist also der einzige „unwandelbare Grundton“ unseres Wesens. Die jahrtausendealte Vorstellung der Theologen und Philosophen, das eigentlich bestimmende Moment hinter allem Lebendigen sei die göttliche oder menschliche Vernunft, ist nach Schopenhauer unhaltbar:

Aber warum spricht Schopenhauer vom „blinden Willen“? Schließlich dient der Wille zum Leben doch immerhin, wie er selbst einräumt, der Erhaltung der Art?

Der Wille zum Leben ist bei genauer Betrachtung deshalb ein „blinder“ und „unmotivierter Trieb“, weil er letztlich keinerlei erkennbares oder gar sinnvolles Ziel verfolgt:

Der Lebenswille ist also ein „Thor“, ein wahnhafter Wunsch. Er dient keinem höheren Zweck. Das ganze Fressen und Gefressenwerden im Tierreich und der menschlichen Gesellschaft ist nur ein dumpfes und blindes Treiben. Es gipfelt in der Fortpflanzung durch den Sexualakt:

Dabei führt die „Heftigkeit des Triebes“ zu unkontrollierter Vermehrung, zu fürchterlichen Kriegen und künftig zur Blind ist der Wille aber vor allem deshalb, weil er sich generell in keiner Weise selbst erkennen und reflektieren kann. Seine mangelnde Selbsterkenntnis tritt immer dann zu Tage, wenn er sich in die verschiedenen Individuen hineinbegibt und sich in ihnen gleichzeitig mit voller Wucht verwirklicht. Schopenhauer sagt wörtlich, der Wille „individuiert“ sich, verliert dadurch aber weder an Kraft, noch muss er sich aufteilen. Er wirkt in jedem Lebewesen mit derselben absoluten und unteilbaren Energie. Und genau darin zeigt sich seine unreflektierte Torheit. Denn ein und derselbe Lebenswille, der den hungrigen Wolf antreibt, das Reh zu jagen und zu töten, wirkt gleichzeitig im Reh und treibt es an, dem qualvollen Biss irgendwie zu entkommen. Und das bedeutet, dass der Wille

Der Wille zum Leben schlägt also die Zähne in sein eigenes Fleisch und weiß nicht, dass er in den verschiedenen Organismen sich letztlich immer nur selbst quält:

Der „blinde“ Wille merkt weder, dass er sich auf brutale Weise selbst kannibalisiert, noch nimmt er irgendeine Rücksicht. Er ist ohne Moral, ohne Selbstreflexion und ohne Selbstkontrolle:

Auch die vielbeschworene souveräne, majestätische Ruhe und Schönheit des Löwen darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch er sein Leben nur dem blinden Drang verdankt und auf einem Berg von Leichen steht, mit deren Blutzoll er seine Existenz erhält, bis er irgendwann selbst Opfer des kannibalischen Willens wird. Aber nicht nur im Löwen, auch im Unkraut, das, einmal ausgerissen, sofort wieder nachwächst, steckt derselbe hartnäckige Wille:

Der Wille ist also der nicht weiter erklärbare Kern der Realität. Er ist, wie Schopenhauer auch sagt, „metaphysisch“. Was heißt das? Metaphysisch bedeutet im Sinne der beiden griechischen Wörter „meta“ und „physisch“, dass der Wille „hinter“ alles Physische zurückgeht beziehungsweise diesem vorausgeht. Der Wille zum Leben ist demnach kein physisch sichtbarer Trieb, kein wissenschaftlich messbares Phänomen oder Naturgesetz, sondern diejenige Kraft, die allen Messungen und Feststellungen zu Grunde liegt und diese überhaupt erst möglich macht. Denn im Gegensatz zu den sich wandelnden Lebewesen vom Einzeller über den Dinosaurier bis zu den heutigen Existenzformen ist der Wille zum Leben eine ewige und absolut gleichbleibende Kraft, die hinter allem steht:

Schopenhauers philosophischer Kerngedanke ist bis dahin leicht nachzuvollziehen. Letztlich müsse, so Schopenhauer, jeder Mensch zugeben, dass sowohl er selbst als auch die anderen Organismen um ihn herum weiterleben wollen, dass es somit erstens den „Willen zum Leben“ gibt und dass zweitens genau dieser Wille sich kannibalisieren muss, um zu existieren. Somit verursacht er zwangsweise Schmerz und Leid:

Das gegenseitige Verursachen von Leid gilt dabei nicht nur für das Tierreich. Auch die Menschen, so Schopenhauer, haben sich seit jeher gegenseitig versklavt, ausgenützt, geschunden, gemartert und gemordet. Sie sind diesbezüglich sogar noch erheblich schlimmer als die Tiere, insofern sie zusätzlich ihren Verstand einsetzen und alle anderen Spezies unterdrücken und zur Fabrikware degradieren. Der Egoismus ist die Grundverhaltensweise der Menschen, weshalb sie sich zwangsweise in einen „Kampf aller gegen alle“ verwickeln:

In immer neuen Anläufen zeichnet uns Schopenhauer wie kein zweiter Philosoph ein düsteres Bild vom menschlichen Dasein und dem Weg, den wir alle gehen müssen, von unserer Zeugung durch die Eltern im lustvollen Sexualakt bis zum jämmerlichen Absterben im Alter:

Schopenhauer beantwortet diese Frage mit einem klaren „Ja“. Das Leben ist letztlich ein Fehltritt, eine Art Unfall der Evolution, eine Zumutung des Universums. Denn der blinde Wille, der alles auf unserem Planeten antreibt, verursacht lebenslanges Leid:

Es wäre also besser gewesen, wenn auf der Erde niemals Formen von Leben entstanden wären. Denn, so Schopenhauers Fazit: Wir alle müssen einsehen, Diese radikale Schlussfolgerung, dass es besser wäre, nicht zu leben beziehungsweise gar nicht erst geboren worden zu sein, brachte Schopenhauer den Ruf des größten Pessimisten und Misanthropen ein, den es je gegeben hat. Tatsächlich vermied er auch in seinem Alltag Geselligkeit und Menschenansammlungen, blieb Junggeselle und lebte die meiste Zeit seines Lebens zurückgezogen als Privatgelehrter in Untermiete. Nur einmal hat er als junger Dozent an der Berliner Universität eine Vorlesung gehalten. Er tat dies absichtlich und provokativ zur gleichen Zeit wie der damals schon berühmte Hegel. Als er aber fast keine Zuhörer bekam, wendete er sich verärgert vom Universitätsbetrieb ab.

Durch eine kleine Erbschaft von seinem früh verstorbenen Vater konnte er ein einfaches, aber unabhängiges Leben führen, ohne, wie die lohnabhängigen Philosophieprofessoren, „seine Überzeugung verleugnen“, „kriechen“ und „schmeicheln“ 23 zu müssen.

Seine spartanisch eingerichteten zwei Zimmer verließ er nur, um essen zu gehen oder mit seinem Pudel längere Spaziergänge zu machen. Er gab ihm den Namen „Atma“, was in der Tradition der indischen Veden „Weltenseele“ 24 bedeutet. Wenn er sich jedoch über ihn ärgerte, rief er ihn „Mensch!“.

Eine andere bezeichnende und von Biografen oft beschriebene Szene ereignete sich im Vorraum seiner Wohnung, den er sich mit seiner Nachbarin, der 47jährigen Näherin Caroline Marquet, teilen musste. Schopenhauer ärgerte sich, als diese sich einmal lautstark mit drei Freundinnen unterhielt. Nachdem sie trotz seiner mehrfachen Aufforderungen einfach weiterschwätzte, beschimpfte er sie und schubste sie ins Treppenhaus, wo sie eigenen Angaben zufolge hinunter fiel und sich ein nervöses Zittern im Arm zuzog. Sie zeigte Schopenhauer an und dieser wurde verurteilt, ihr so lange ein Schmerzensgeld von 60 Talern jährlich zu bezahlen, bis die Symptome wieder abklingen. Schopenhauer entgegnete dem Richter aufgebracht, dass Frau Marquet schlau genug sein werde, ihre Symptome niemals abklingen zu lassen. Er sollte recht behalten. Siebenundzwanzig lange Jahre musste der als sparsam bekannte Schopenhauer das Schmerzensgeld weiter entrichten. Als er endlich die Kopie ihrer Sterbeurkunde zugesandt bekam, kritzelte er darauf in lateinischer Sprache:

Aufgrund solcher Anekdoten und seiner radikal pessimistischen Philosophie hat man, wenn man an Schopenhauer denkt, allzu schnell das Bild eines alten Eigenbrötlers vor Augen, der im Laufe seines Lebens ein tiefes Misstrauen gegen die Menschheit entwickelt hat. Doch dieses Bild trügt. Erstaunlicherweise kam Schopenhauer schon als sehr junger Mensch zu seiner skeptischen Weltwahrnehmung:

Zu dem Schriftsteller und Dichter Wieland sagte er bereits als Dreiundzwanzigjähriger:

Sein Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung, hat er tatsächlich noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr vollendet, was in der Geschichte der Philosophie einzigartig ist. Seine pessimistische Einschätzung des Lebens und der Welt entstand also offenbar sehr früh. Als er mit sechzehn Jahren zusammen mit seinen Eltern die Hafenstadt Toulon bereiste, sah er zum ersten Mal Rudersklaven aus nächster Nähe, die an die Bänke der Galeere angekettet waren. Deren Lebenswille beeindruckte ihn zutiefst:

Von größerer Bedeutung als dieses Erlebnis war aber wohl das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter. Nach dem frühen Tod des Vaters durch einen Unfall, vielleicht aber auch durch einen Suizid, zog seine Mutter Johanna Schopenhauer, eine erfolgreiche Romanschriftstellerin, nach Weimar. Sie eröffnete dort einen Künstlersalon, dem auch Goethe, Wieland und die Gebrüder Schlegel beiwohnten. Johanna bekannte sich zur freien Liebe und führte ein für die damalige Zeit sehr reges Liebesleben. Schopenhauer machte seiner Mutter diesbezüglich mehrfach Vorwürfe. Zum Eklat zwischen den beiden kam es aber nicht deshalb, sondern wegen der pessimistischen Weltsicht, mit welcher der junge Arthur die Gäste des Künstlersalons regelmäßig vergraulte. In einem Brief schreibt ihm seine Mutter: „Du bist nicht ohne Geist […] aber dennoch bist Du überlästig und unerträglich, und ich halte es für höchst beschwerlich, mit Dir zu leben: […] weil Du die Wut, alles besser wissen zu wollen, nicht beherrschen kannst. Damit erbitterst du die Menschen um Dich her […].“ 29 Seine Mutter enterbte ihn schließlich und hatte fortan keinen Kontakt mehr zu ihm.

Ob und inwieweit dies den jungen Schopenhauer auch in seinen philosophischen Betrachtungen geprägt hat, ist letztlich Spekulation. Fest steht, dass er das menschliche Leben aus einer unbestechlich nüchternen Perspektive gesehen hat. Sein Kerngedanke war klar und einfach. Wir sind existenziell vom Willen zum Leben angetrieben und dieser Wille verursacht Bedürfnisse und somit Leiden. Ganz ähnlich wie die Buddhisten, kommt Schopenhauer zu der Schlussfolgerung „Leben heißt Leiden“:

Doch dabei bleibt es nicht. Schopenhauer wäre kein Philosoph, wenn er aus dieser Feststellung nicht Konsequenzen ziehen würde. Wir müssen zunächst, so Schopenhauer, die Welt und unsere eigene Natur als das akzeptieren, was sie wirklich ist, als „blinden Willen“. Daraus ergibt sich bereits eine erste Verbesserung unserer Lage. Wenn wir nämlich unser Getriebensein als solches erkennen, können wir viel gelassener mit den Zumutungen des Lebens umgehen. Wir spüren dann intuitiv, dass auch die anderen Menschen nur Getriebene und Opfer ein und desselben Willens sind und können an deren Situation und deren Leid Anteil nehmen. Diese Anteilnahme, das sogenannte Mitleid, die Hilfeleistung und das uneigennützige Handeln können uns dann sogar für kurze Zeit aus dem triebhaften Egoismus befreien.

In einem zweiten Schritt kann es uns dann sogar gelingen, so Schopenhauer, „Nein“ zu sagen zum Leben. Damit meint er nicht etwa den Selbstmord, sondern die Verneinung des „blinden Willens“. Dies geschieht, indem wir uns durch Kunst, Askese und Meditation der Getriebenheit ganz verweigern:

Was heißt das aber konkret? Wie kann ich zum Leben „Nein“ sagen? Was bedeutet es, asketisch zu leben? Wenn unser Leben nichts anderes ist als die Verwirklichung des blinden Willens, ein einziges Fressen und Gefressenwerden, wie kann ich mich diesem dann entziehen? Befreit uns die Askese? Und: was nutzt uns Schopenhauers Pessimismus heute? Wird uns heutzutage nicht gerade umgekehrt Optimismus und positives Denken empfohlen? Schopenhauer gibt uns faszinierende und kompromisslose Antworten.

Schopenhauers Kerngedanke

Die Welt ist nur meine Vorstellung

Sein Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ beginnt mit einem kurzen und einfachen Satz:

Doch schon in dieser scheinbar simplen Feststellung steckt eine Provokation. Wenn nämlich die ganze Welt nur „meine Vorstellung“ ist, dann bedeutet das, dass ich die Welt vielleicht gar nicht so sehe, wie sie wirklich ist, sondern eben nur so, wie ich sie mir vorstelle. Und genau das ist der Sinn dieses Satzes. Alle Dinge, die wir für objektiv und real halten, verdanken wir nur unserer Vorstellung von diesen Dingen:

Die Welt besteht also zunächst einmal nur aus den Vorstellungen, die wir von ihr haben. So hat beispielsweise der Holzfäller, der einen großen Baum fällen muss, eine ganz andere Vorstellung von diesem Baum als die Kinder, die auf ihn hochklettern, und noch mal eine andere als das Liebespaar, das sich nachts unter dem Baum küsst. Ein und derselbe Baum und ein und dieselbe Welt werden sehr unterschiedlich wahrgenommen:

Deshalb reden wir auch so oft aneinander vorbei und sagen zum anderen: „Na, du hast vielleicht Vorstellungen“ oder auch: „In was für einer Welt lebst du denn?“ Schopenhauer zieht daraus nun eine erste Konsequenz:

Wie aber ist unser Bewusstsein beschaffen? Wie funktioniert es? Hinsichtlich seiner Erkenntnistheorie verweist Schopenhauer zunächst einmal auf Immanuel Kant, den er sehr schätzt. Kant hat bereits vor ihm nachgewiesen, dass wir Menschen die Welt nur als Vorstellung durch einen zweifachen Filter wahrnehmen können: erstens durch den Filter unserer räumlichen bzw. zeitlichen Anschauungsformen und zweitens durch den Filter unserer Denkkategorien. Wir ordnen nämlich alle Dinge, die wir sehen, immer schon in eine zeitliche Abfolge, eine räumliche Abstandsbestimmung und in eine logische Zuordnung ein, zum Beispiel in ein Ursache-Wirkungsgefüge. Wir sehen nämlich alles, ob wir wollen oder nicht, immer schon in einer zeitlichen Abfolge als etwas, das jetzt, später, vorher oder noch viel früher passiert ist. Und wir sehen alles dreidimensional räumlich als ein Nebeneinander, Hintereinander etc. Dann ordnen wir das Gesehene auch noch in logischen Dimensionen an, zum Beispiel als hölzernen, großen, schweren, grünen, umstürzenden Baum, der deshalb stürzt, weil der Holzfäller ihn zuvor mit der Axt an einer Stelle ausgedünnt hat. Aber das „Ding an sich“, also wie der „Baum an sich“ oder auch die „Welt an sich“ ohne unsere Wahrnehmungsfilter aussehen würde, können wir nach Kant nicht wissen. Das bleibt ein Geheimnis. Genau an dieser Stelle geht Schopenhauer über Kant hinaus:

So hat der Mensch nicht nur eine Vorstellung von der Welt um sich herum, sondern auch von sich selbst und seinem Leib. Und eben dieser Leib verrät uns, dass hinter allen bewussten Vorstellungen von der Welt letztlich ein universeller Wille steht – der Wille zum Leben. Wir können somit sehr wohl auch das innerste Wesen der Dinge und der Welt erkennen. Denn unser Leib, beziehungsweise unser Körper, entschlüsselt uns das Geheimnis der Welt an sich. Im Unterschied zu den sonstigen Dingen empfinden wir unseren Leib nämlich auf zweifache Weise:

Zum einen haben wir also von unserem Leib die übliche Vorstellung als einem „Objekt unter Objekten“. Wir sehen ihn genau wie zum Beispiel unseren Kleiderschrank als ein Objekt mit einer bestimmten Größe und einem bestimmten Gewicht. Doch darüber hinaus, so Schopenhauer, empfinden wir unsere Leiblichkeit im Gegensatz zum Schrank noch auf „eine zweite“, viel intensivere und „unmittelbarere Weise“: In Form von Hunger, Durst, Lust und Bedürfnissen aller Art erfahren wir uns in unserer Leiblichkeit als Triebwesen und Wille:

Wenn wir solchermaßen in einem ersten Schritt den Willen in uns selbst als individuelle Gewissheit entdeckt haben, dann können wir ihn in einem zweiten Schritt auch in der gesamten äußeren Natur wiedererkennen:

Indem wir also unsere unmittelbare Gewissheit des eigenen Willens auf die anderen Menschen, die Tiere und letztlich die ganze Umwelt übertragen, erkennen wir ihn in der Welt um uns herum als ein und dieselbe Kraft:

Die wahre Welt als blinder Wille

Hinter allen Erscheinungen der Welt – interessanterweise auch hinter allen Kräften und Bewegungen in der anorganischen Natur – steht nach Schopenhauer letztlich der universelle, unteilbarere und zeitlose metaphysische Wille. Jedem Menschen kann es gelingen

Die Welt mutet zwar wegen unserer vielen Vorstellungen, die wir von ihr haben, auf den ersten Blick sehr verschieden- und fremdartig an. Bei genauerer Betrachtung besteht sie aber immer nur aus dem dahinterstehenden Drang, den wir „unmittelbar“ in uns selbst spüren. In den physikalischen Prozessen kann man ihn bereits entdecken, deutlicher in den Pflanzen. Unübersehbar wird er in der Tierwelt:

Wir mögen zwar als aufrecht gehende Menschen eine andere Gestalt als die Tiere haben und uns auch untereinander hinsichtlich der Charaktere zum Teil deutlich unterscheiden, doch letztlich tickt in uns allen dasselbe Uhrwerk. Aus Schopenhauers Perspektive sind wir nur „Puppen“ in einem großen Welttheater. Als solche werden wir aber nicht von außen, also von einem Gott oder göttlichen Puppenspielern, bewegt, sondern eben von unserem inneren Uhrwerk:

Dasselbe Uhrwerk des Willens tickt im Menschen, im Magneten, in der Pflanze und im Tier:

Dabei hat der Wille im Laufe der Jahrtausende seinem inneren Wesen und seinen Antrieben auch äußere Gestalt gegeben:

Allerdings gibt es bei Schopenhauer dann doch eine Besonderheit, zumindest einen graduellen Unterschied, der den Menschen ab einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung aus der übrigen Natur heraushebt. Es ist das erdgeschichtlich sehr späte Auftreten des Bewusstseins. Denn im Unterschied zu den physikalischen Kräften, zur Pflanze oder zum Tier, kann der Mensch das Uhrwerk, das ihn antreibt, auch noch selbst erkennen:

Doch diese Selbsterkenntnis, dass wir alle vom blinden Willen angetrieben werden, ist per se noch keine Qualität, die uns von ihm befreit oder unser Leben völlig verändert. Genau wie die Tiere müssen wir trotz unserer Selbsterkenntnis weiterhin essen, trinken und sind von sexuellen Trieben im Dienste der Reproduktion bestimmt. Denn das Bewusstsein ist kein Befreier, sondern nur ein Diener, eine Art Werkzeug des Willens, um seine Triebe geschickter zu befriedigen:

Das Bewusstsein beziehungsweise der Verstand ist somit nur etwas Sekundäres. Der Wille hat ihn hervorgebracht, um sein Wollen besser umsetzen zu können. Schopenhauer vergleicht den Verstand deshalb auch mit einem Hammer, der vom Willen wie von einem Schmiedemeister als nützliches Werkzeug eingesetzt wird. Somit tritt der Verstand vor allem dann in Erscheinung, wenn sich die Triebe melden und etwas begehren:

Der Verstand ist also ein Hilfsmittel, das in der ganzen Natur zunächst überhaupt nicht vorkam, bis es irgendwann vom Willen hervorgebracht wurde:

Die Entstehung des Verstandes hat dem Menschen im Kleinen geholfen, seinen Wünschen besser nachzugehen. Er konnte jetzt Fallen stellen, mit List und Tücke auf die Jagd gehen, Häuser und Brücken bauen. Doch im Großen hat die Entstehung des Verstandes das Dasein auch belastet, denn auf einmal hatten die Menschen eine Vorstellung von ihrem eigenen Tod:

Das vom blinden Willen als Werkzeug hervorgebrachte Bewusstsein bedeutet letztlich keine Befreiung, sondern belastet das menschliche Dasein in doppelter Hinsicht. Zum einen führt es dem Menschen vor Augen, dass er, ob er will oder nicht, wieder sterben muss, zum anderen wird dadurch auch jedes Engagement bis zu diesem Zeitpunkt überschattet und in Frage gestellt.

Das sechsfache Leiden am blinden Willen

Der blinde Wille zum Leben verurteilt die Menschen gleich auf sechsfache Weise zum Leiden an der Welt. Erstens leiden wir an unseren elementaren Grundbedürfnissen. Hunger, Durst und sexuelle Begierden werden, so Schopenhauer, als „Mangel“ empfunden. Wenn wir beispielsweise Durst haben, spüren wir leidvoll, dass es dem Körper an Flüssigkeit mangelt:

Und selbst wenn wir alle unsere Wünsche für einen Augenblick befriedigen könnten, leiden wir zweitens an der Wiederkehr dieser Bedürfnisse. Denn jede Mahlzeit und jeder Sexualakt verschafft uns nur eine kurze Atempause, eine vorübergehende Befriedigung, bevor sich die Triebe erneut zu Wort melden:

So verurteilt uns der blinde Wille zu ständigem Begehren und ständiger Unruhe:

Mit dem „Faß der Danaiden“ benutzt Schopenhauer ein Bild aus der griechischen Mythologie. Die Töchter des Danaidenkönigs ermordeten in der Brautnacht gemeinsam ihre Ehemänner und wurden deshalb von Zeus dazu verurteilt, lebenslang ein Fass mit Wasser aufzufüllen, das aber keinen Boden mehr hat. Der blinde Wille gleicht diesem „Fass der Danaiden“, da auch er ständig nach neuer Nahrung und Genüssen verlangt, ohne dass wir jemals in der Lage wären, ihn für immer zu befriedigen. Aber, so könnte man einwenden, es ist doch auch schön, dass Hunger, Durst und Lust immer wieder aufs Neue entstehen. Gerade dieser Umstand ermöglicht es doch erst, dass wir wiederkehrende und nie versiegende Genüsse haben. Schopenhauer kritisiert diesen Einwand vehement:

Drittens leiden wir an der Individuierung des blinden Willens in den einzelnen Lebewesen. Denn die verschiedenen Organismen geraten zwangsweise in einen existenziellen Streit, in einen Krieg aller gegen alle:

Der Wille macht sich also in Gestalt von Millionen Pflanzen, Tieren und Menschen gegenseitig Materie, Raum und Zeit streitig. Zu dicht wachsende Pflanzen verdecken einander, kämpfen um den Raum, nehmen sich das Sonnenlicht, bis eine davon verkümmert und abstirbt. Tiere fressen Pflanzen und andere Lebewesen, um sich zu erhalten. Am brutalsten wütet der Mensch, der sich die gesamte Natur unterworfen und zur Fabrikware gemacht hat. Er züchtet sogar Gemüse in Glashäusern und sperrt lebendige Tiere in Gatter und Ställe ein:

An dieser Stelle verwendet Schopenhauer die berühmte Aussage des englischen Philosophen Thomas Hobbes: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Denn die Menschen kämpfen als Völker um fruchtbare und ertragreiche Regionen, aber auch untereinander um ihre individuellen Vorteile. Das sieht man an „Kriegen“, an der „Negersklaverei“, besonders aber an der Ausbeutung der Menschen durch andere Menschen in den Fabriken, wo sie für wenig Geld stundenlange „mechanische Arbeit verrichten“:

Da alle Lebewesen auf Stoffwechsel angewiesen sind, atmen, essen, trinken und daher eine aneignende Grundhaltung haben, gibt es kein Entkommen aus dem kannibalischen Weltgefüge. Alles verzehrt sich gegenseitig:

Für den „hungrigen Willen“ auf unserem Planeten liefert uns Schopenhauer nun eine Vielzahl von anschaulichen und drastischen Beispielen. So beschreibt er unter anderem Spinnen, die nach der Befruchtung ihre männlichen Partner auffressen, Insekten, die ihre Eier in andere hineinspritzen, so dass die schlüpfenden Larven Letztere von innen heraus verzehren sowie Riesenschildkröten,

Das aber vielleicht eindrucksvollste Beispiel für die Individuierung und den Kampf des „hungrigen“ und „blinden“ Willens mit sich selbst gibt uns Schopenhauer mit der Beschreibung der Bulldog-Ameise:

Schopenhauer führt eine Vielzahl von Naturereignissen an, die bezeugen, dass der Wille, sobald er in einer singulären Gestalt auftritt, sich in der jeweiligen Einheit blind und rücksichtslos verwirklicht. Im Falle der geteilten Ameise trägt er seinen egoistischen Kampf sogar zwischen zwei vormals verbundenen Hälften aus. Zwar gibt es in tierischen und menschlichen Gesellschaften auch das Phänomen der Brutpflege und andere Formen von Sozialverhalten,

Die vierte große Leidensdimension ist die Sorge um die Zukunft. Dieses Leiden ist ein spezifisch menschliches, denn Pflanzen und Tiere kennen keine Angst vor Altersarmut oder etwaigen Bedrohungen in der Zukunft:

Hat ein Tier genug gegessen und getrunken, strahlt es Ruhe und Zufriedenheit aus. Der Mensch hingegen denkt schon an morgen und sorgt sich um seinen künftigen Hunger. Auch hat er immer eine Hauptsorge, die ihm das Leben erschwert, sei es ein unerfüllter Wunsch oder Angst vor Armut und Krankheit:

Und auch wenn der Inhalt dieser anderen Sorge objektiv betrachtet weitaus geringfügiger ist als der Stoff der vorausgegangenen,

Für jede vergangene Hauptsorge nimmt also bald eine neue den Thron ein. Die Tatsache, dass sich der Mensch generell um seine Zukunft sorgt, verkörpert somit das vierte große Leiden an der Welt. Die fünfte Dimension des Leidens macht sich erstaunlicherweise genau dann bemerkbar, wenn ein Mensch gerade mal keine Sorgen hat. Wenn beispielsweise ein Familienvater alle möglichen künftigen Bedürfnisse für sich, seine Frau und seine Kinder durch großen Reichtum und Macht lebenslang und in Überfülle sicherstellen kann, hat er zwar „ausgesorgt“, doch jetzt erwartet ihn eine Bedrohung ganz neuer Art – die Langeweile. Das Gefährliche an der Langeweile besteht darin, dass man nicht mehr beschäftigt ist. Das Dasein kommt nun zu sich selbst und hat auf einmal kein konkretes Ziel mehr. An die Stelle der rastlosen Besorgungen tritt eine unheimliche Ruhe. Die Zeit vergeht nicht mehr:

Das Dasein macht jetzt die leidvolle Erfahrung, dass sein einziger Lebenssinn in der mühevollen Erhaltung desselben besteht und es darüber hinaus keinen hat:

Hier gibt uns Schopenhauer den Hinweis, dass die Langeweile auch die „klügeren Tiere befällt“. Tatsächlich leiden oftmals Zoo-Tiere, die nicht mehr für ihr tägliches Überleben Sorge tragen müssen, an Langeweile, werden neurotisch oder apathisch. Menschen fürchten oft aus demselben Grund den Tag ihrer Verrentung. Viele bekommen sogar schon in jungen Jahren Panik und sorgen aus Angst vor langeweile mit einem vollen Terminkalender für lückenlose Beschäftigung:

Der leidvoll erlebte Zustand der „Kahlheit und Leere des Daseyns“ ist für Schopenhauer ein weiteres Indiz dafür, dass das Leben an sich selbst keinen Wert besitzt und ausschließlich vom blinden Willen angetrieben wird:

Aus dem Leiden gibt es somit keinen Ausweg, denn entweder jagen wir vergeblich der Befriedigung unserer Bedürfnisse hinterher oder wir können sie befriedigen und verfallen der Langeweile:

Selbst die von den Dichtern vielbeschworenen Freuden der Liebe gewähren keine wirkliche Entlastung. Letztlich ist auch die Liebe nur eine verheißungsvolle Täuschung:

Und der Geschlechtstrieb dient wiederum in erster Linie der Arterhaltung. Gleichwohl treibt er die Männer in die Ehe. Doch, so Schopenhauer, spätestens nachdem die Frauen Kinder geboren haben, verlieren sie ihren Liebreiz und schon nach kurzer Zeit verfliegt die Illusion der Liebe:

Die Ehe ist aber nur ein Nebenschauplatz in der Tragikomödie des Lebens. Die sechste und vielleicht größte Zumutung ist der Tod und somit die Tatsache, dass

Dadurch wird unser ganzes Handeln fragwürdig. Was wir auch tun und bewirken, wir leben immer nur auf Kredit und dieser Kredit unserer Lebenszeit schmilzt unaufhörlich:

Als Kinder spüren wir diese Last noch nicht. Wir sitzen hinsichtlich unseres eben erst begonnenen Lebens wie vor einem großen Theatervorhang und warten ungeduldig und voller Vorfreude auf die Dinge, die zum Vorschein kommen, wenn er sich endlich öffnet:

Auch die Jugendlichen sind in der Regel noch sehr gut in der Lage, den Tod zu verdrängen und weit von sich zu weisen:

Doch schon mit sechsunddreißig Jahren, so Schopenhauer, überschreiten wir den Gipfel und erkennen immer deutlicher, was da auf der anderen Seite auf uns wartet. In seiner bildhaften Sprache vergleicht Schopenhauer die Menschen und ihre Lebensentwürfe auch mit Schiffen, die voller Hoffnung ihre Segel setzen und auf das offene Meer hinausfahren, um neue Länder zu entdecken, Macht, Ruhm und Ehre zu erwerben:

Irgendwann kommen wir also alle mit gebrochenen Masten und zerschlissenen Segeln in den Hafen zurück. Ob wir erfolgreich waren oder nicht, spielt keine Rolle mehr. Denn so sehr wir uns auch angestrengt haben, am Ende wartet auf alle der Tod:

Fazit: Der blinde Wille lässt uns auf sechsfache Weise leiden: Erstens laufen wir unseren Bedürfnissen hinterher, zweitens kommen diese immer wieder zurück, drittens sorgen wir uns auch noch um zukünftige Bedürfnisse, viertens verwickelt uns der individuierte Wille in einen Krieg aller gegen alle, fünftens pendeln wir zwischen Not und Langeweile hin und her und sechstens überschattet der Tod unseren Lebenswillen.

Der blinde Wille in der Geschichte

Ähnlich wie sich der blinde Wille in einzelnen Individuen verwirklicht, entfaltet er sich auch in der Weltgeschichte:

In der historischen Entwicklung ist letztlich kein wirklicher Fortschritt ersichtlich. Der blinde Wille führt im Laufe der Jahrhunderte in regelmäßigen Abständen zu Konflikten, zu Unterdrückung und Aufständen:

Da der Frieden nur der Ausnahmezustand ist, und, wie Schopenhauer sagt, nur „dann und wann ein Mal“ eintritt, stellt sich die Frage, warum das so ist. Schließlich könnten die Menschen doch aus dem Leid ihre Konsequenzen ziehen. Auch Schopenhauer stellt diese Frage, bleibt aber pessimistisch. Es gibt zwar zu allen Zeiten einzelne Weise, die in der Lage sind, aus der Geschichte zu lernen, aber sie bewirken wenig oder gar nichts:

Und weil die Mehrheit seit jeher das Gegenteil von dem tut, was die Weisen empfehlen, kann es keinen wirklichen Fortschritt geben. Zu stark ist der Egoismus und der Streit der Menschen untereinander. Auch der Staat, der von so vielen Denkern der politischen Theorie als Fortschritt gefeiert wird, weil er die Individuen untereinander zum Gewaltverzicht und Frieden bringt, ist nach Schopenhauer kein wirklicher Garant für Harmonie:

Der ewige Kampf, der die Menschheit seit Anbeginn der Zeit begleitet, findet seinen mythologisch Ausdruck in der antiken Göttin Eris, der Göttin des Streites. Eris ist, so Schopenhauer, unsterblich und kann auch durch vernünftige Gesetze und Regeln niemals vertrieben werden:

Aber selbst wenn es uns gelingen sollte, in den nächsten Jahrhunderten wider Erwarten aus der Geschichte zu lernen und keine Kriege mehr führen, wäre auch dies nach Schopenhauer kein Ausweg aus dem Leiden:

An dieser Warnung vor den „entsetzlichen Übeln“ der Übervölkerung sieht man wieder Schopenhauers Pessimismus, zugleich aber auch seine erstaunlich zutreffende Einschätzung der Macht des blinden Willens. Die von ihm vorausgesagte Bedrohung des „ganzen Planeten durch Übervölkerung“ ist inzwischen in Form von Hungersnöten, Migrationsströmen, Umweltzerstörung, Kriegen um Rohstoffe, Territorien und Wasser tatsächlich eingetreten. Besonders bedenklich ist in diesem Zusammenhang Schopenhauers Verdacht, dass in der Menschheitsgeschichte immer das Gegenteil von dem getan wird, was die Weisen empfehlen.

So hat etwa der Club of Rome bereits 1972 in seiner berühmten Studie Die Grenzen des Wachstums eindringlich davor gewarnt, dass ein weiteres Wachstum der Weltbevölkerung und der Wirtschaft zum ökologischen Kollaps führen wird, und eine nachhaltige Bevölkerungspolitik gefordert. Das Gegenteil ist passiert. Seit der Warnung der Wissenschaftler im Jahr 1972 ist die Menschheit von 3,8 Milliarden auf 7,3 Milliarden angewachsen und wird nach UN-Angaben bis 2050 sogar die 10 Milliarden-Marke überschreiten. Der Sexualtrieb ist nach Schopenhauer eine so tiefe und heftige Objektivation des blinden Willens, dass ihm auch künftig kein Einhalt zu gebieten ist.

Schopenhauers großer philosophischer Gegenspieler Hegel hatte die Geschichte noch als ständige, vernünftige und moralische Höherentwicklung der Völker und Kulturen betrachtet. Wenn dies aber wirklich so wäre, entgegnet ihm Schopenhauer, dann müsste man es doch irgendwie sehen können:

Es ist laut Schopenhauer aber weder politisch, moralisch noch sittlich ein wirklicher Fortschritt von den barbarischen Anfängen mit all ihren Ritualen bis heute festzustellen. Man feiert zwar die Höflichkeit und die Etikette als Höherentwicklung. Schopenhauer aber sieht keinen wesentlichen Unterschied zwischen den Urwaldtänzen der Wilden und den Feierlichkeiten an den Fürsten- und Königshöfen:

Über die „wesentliche Armsäligkeit unseres Daseyns“ kommen letztlich weder die großen noch die kleinen Leute hinaus. Und auch in Zukunft verspricht die Geschichte keine Besserung:

Wir drehen uns also im Kreis. Unser Verstand kann die Geschichte als Objektivation des blinden Willens nicht beeinflussen oder verbessern. Völker, Kulturen und Menschen steigen auf, leben eine Weile und gehen wieder unter. Aus ihrer Asche entstehen neue Völker und neue Individuen:

Der blinde Wille und Gott

Warum aber tut der blinde Wille das? Warum verwirklicht er sich überhaupt im Menschen und den ganzen anderen Organismen, wenn das alles keinen Zweck und kein Ziel hat? Und vor allem – wozu veranstaltet er auf dem ganzen Planeten dieses kannibalische Fressen und Gefressenwerden der Pflanzen, Tiere und Menschen? Auch Schopenhauer stellte sich diese Frage:

Mehr als diese Feststellung, dass der Wille sich eben genau so und nicht anders verwirklicht, ist nicht möglich. Aber, so Schopenhauer, die Menschen tun sich schwer, diese einfache Wahrheit zu akzeptieren. Seit jeher suchen sie nach einer schöneren Erklärung:

Jeder Mensch, so Schopenhauer, hat nämlich ein Bedürfnis nach einer umfassenden Sinnerklärung:

Den letzten großen Versuch einer solchen Theodizee unternahm der deutsche Philosoph Leibniz in seiner berühmten Theorie von der „besten aller möglichen Welten“: Gott hätte zwar, so Leibniz, die Welt mit Krankheiten, Tod, Schmerz und sogar der Möglichkeit moralischer Verfehlung ausgestattet, doch sei dies immer noch die beste aller möglichen Welten gewesen, die er jemals hätte erschaffen können. Denn ohne Krankheit würden wir die Gesundheit nicht schätzen, ohne Krieg nicht den Frieden und ohne das Böse nicht das Gute. Schopenhauer bezeichnet Leibniz aufgrund dieser Theorie als den „Begründer des systemischen Optimismus“ 92 und kritisiert ihn aufs Heftigste. Von der besten aller möglichen Welten und einem Meisterwerk Gottes zu sprechen, sei angesichts der realen Welt eine schreiende Absurdität:

Schopenhauer hält Leibniz schroff seine eigene These entgegen. Die Welt sei nicht die beste, sondern im Gegenteil sogar die schlechteste aller möglichen Welten:

Die Welt ist also gerade so schlecht, dass wir sie noch irgendwie ertragen können. Wäre sie noch einen Tick schlechter, könnten wir nicht mehr darin existieren. Schopenhauer war überzeugter Atheist. Er kritisiert die religiöse Auffassung, wonach alles Leiden auf der Welt eine Prüfung oder Strafe Gottes ist. Wenn dies wirklich so sei, müsse man auch erklären, warum Gott seit jeher die Tiere so hart bestraft.

Letztlich, so Schopenhauer, muss jede Theodizee

an der Erklärung des Leidens in der Welt scheitern.

Denn ein allmächtiger, liebender Gott kann nicht zugleich der Verursacher des Leides sein. Wenn er das Leiden erschaffen hat, muss er dafür auch die Verantwortung übernehmen. Am besten gefällt Schopenhauer daher noch der hinduistische Schöpfungsmythos:

Im Gegensatz dazu erscheint ihm der Schöpfungsmythos des Alten Testaments „unerträglich“:

Letztlich kritisiert Schopenhauer jede religiöse Schöpfungsgeschichte als Spekulation. Auch die Beschreibungen des Paradieses und der Hölle erscheinen ihm doch sehr „menschengemacht“. Dies gelte auch für die weltweit bedeutendste und brillanteste Schilderung der Hölle, der „Divina Commedia“, der „Göttlichen Komödie“ des Dichters Dante Alighieri von 1321. So hätte sich Dante allzu menschlicher Vorbilder bedient:

Dantes Beschreibung des Himmels blieb daher im Gegensatz zu seiner recht lebendigen Hölle äußerst blass. Sie erschöpfte sich in ein paar Zitaten von alten Kirchenvätern. Schopenhauer notiert bereits als Jugendlicher in seinem Reisetagebuch:

Natürlich hat sich Schopenhauer als Atheist auch gefragt, worin denn dann die Bedeutung des Lebens besteht, wenn es keinen Gott gibt. Seine Antwort ist eindeutig:

Der Sinn der ganzen Tragikomödie unseres Lebens ist also nicht abzusehen, da sie keine Zuschauer hat.

Weder Gott noch der Teufel, noch irgendwelche Außerirdische schauen zu oder haben alles inszeniert. Und wir, die Akteure, müssen ein Leben lang unsere leidvolle Rolle spielen. Wir sind dafür aber auch niemandem zu Dank verpflichtet, erst recht keinem Schöpfergott, wie ihn die Theologen und Pfarrer von der Kanzel herab predigen:

Wir dürfen uns von der Religion aber nicht „dumm“ machen lassen. Leben heißt Leiden. Darüber kann uns weder ein Schöpfergott hinwegtrösten, noch können wir dies einem bösen Geist oder Teufel anlasten. Warum sich der metaphysische Wille zum Leben in uns verwirklicht, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass er es tut.

Wenn wir aber die Kraft haben, dies anzuerkennen, die Welt und unsere eigene Natur als das zu sehen, was sie wirklich ist, als „blinden Willen“, ohne übergeordneten Sinn, dann können wir erheblich besser mit den Herausforderungen des Lebens umgehen.

Das Mitleid als Grundlage der Ethik

Wie alle großen Philosophen, hat auch Schopenhauer eine eigene Ethik geschrieben, also eine Lehre, wie man gut und richtig handelt. Auf den ersten Blick erscheint dies unmöglich. Wie sollen wir ethisch gut handeln, wenn wir ständig vom „hungrigen Willen“ angetrieben werden? Hat nicht Schopenhauer selbst ausführlich den Egoismus als Grundhaltung des Menschen dargestellt und die Beziehung zwischen den Menschen als einen Kampf aller gegen alle beschrieben?

Er bleibt auch bei dieser Darstellung. Dennoch zeigt uns Schopenhauer eine Möglichkeit, zumindest zeitweise uneigennützig zu handeln. Diese Möglichkeit leitet Schopenhauer konsequent aus seiner Metaphysik des Willens ab. Der Mensch handelt dann uneigennützig und gut, wenn er den universellen Willen, der ihn antreibt, auch in den anderen Lebewesen erkennt. Er spürt dann, dass auch diese, genau wie er selbst, nur Getriebene sind, die an der Nicht-Erfüllung ihrer Lebenswünsche und Bedürfnisse leiden. Intuitiv empfindet er Mitleid. Im besten Fall gelingt es ihm sogar, sich ganz in das Leid eines anderen hineinzuversetzen:

Moralisch gutes Handeln entspringt nach Schopenhauer also dem Wunsch, „fremdes Leiden zu mildern“. Da wir aber gleichzeitig von Natur aus egoistisch an unserem eigenen Überleben und Wohlsein interessiert sind, ergibt sich folgende Handlungsmaxime:

Dies gilt bei Schopenhauer auch für Tiere:

Indem wir anderen Wesen helfen und egoistische Bedürfnisse hintanstellen, handeln wir moralisch. Das Phänomen des Mitleids ist aber, darauf legt Schopenhauer großen Wert, nicht das Ergebnis einer christlichen oder humanistischen Erziehung und schon gar nicht die Befolgung des kategorischen Imperatives von Immanuel Kant, sondern einzig und allein die Wahrnehmung unserer eigenen inneren Natur:

Sobald wir nämlich hautnah mit dem Leid unseres Nachbarn konfrontiert werden, meldet sich unser natürlicher Selbsterhaltungstrieb, also unser Wille zum Leben, und gibt uns zu verstehen, dass er sich in unserem Nachbarn bedroht fühlt. Der Mensch erkennt in diesem Moment seinen eigenen Willen zum Leben auch im Anderen:

So erklärt sich nach Schopenhauer auch das Phänomen der Liebe. Wenn es sich bei der Liebe nicht nur um rein sexuelle Anziehung handelt, sondern darüber hinaus um eine selbstlose Zuwendung, dann ist auch die Liebe letztlich Mitleid, eine Form des anteilnehmenden Wiedererkennens im Anderen:

Allerdings, so Schopenhauer, gelingt die Anteilnahme am Schicksal des Anderen im Alltag nur in „seltenen“ Fällen. Zumeist führt der Wille zum Leben nicht zum Mitleid, sondern bleibt beim Egoismus hängen. Der Mensch ist deshalb auch geneigt, seinen eigenen Schmerz erst einmal zu verbergen,

Der Mensch empfindet also, so Schopenhauer, oft auch eine gewisse Befriedigung, wenn er den Anderen leiden sieht, weil er dann sein eigenes Leid als vergleichsweise weniger schlimm besser verkraften kann. Mitleid und Anteilnahme greifen deshalb keineswegs immer. In der Regel sind und verbleiben die Menschen als Egoisten im konkurrierenden Kampf um das Überleben und um das eigene Wohlsein: