Rawls in 60 Minuten - Walther Ziegler - E-Book

Rawls in 60 Minuten E-Book

Walther Ziegler

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Beschreibung

John Rawls ist der wohl bedeutendste philosophische Denker Amerikas. Sein Hauptwerk 'Eine Theorie der Gerechtigkeit' erfuhr kurz nach seinem Erscheinen im Jahr 1971 einen kometenhaften Aufstieg und wurde bereits zu seinen Lebzeiten weltweit diskutiert. Schon der Titel ist provokativ. Denn eine allgemeinverbindliche 'Theorie der Gerechtigkeit', so die vorherrschende Meinung, kann es doch eigentlich gar nicht geben, da diese immer eine Frage des Standpunktes ist. Was dem einen gerecht erscheint, hält ein anderer für ungerecht. Doch Rawls hat es tatsächlich geschafft, eine perfekt begründete und allgemeingültige Definition von Gerechtigkeit zu geben, genauer gesagt davon, was eine absolut gerechte Gesellschaft ausmacht. Um diese zeitlose und allgemeinverbindliche Definition zu finden, entwickelte er sein berühmt gewordenes und brillantes Verfahren - die Abstimmung unter dem 'Schleier des Nichtwissens'. Wenn wir Menschen nämlich absolut fair und objektiv über die gerechte Verteilung von Besitz, Einkommen, Bildung und unsere anderen Lebenschancen abstimmen sollen, dann darf niemand im Vorfeld der Abstimmung wissen, ob er z.B. in der künftigen Gesellschaft arm oder reich, Mann oder Frau, Arbeiter oder Unternehmer, gebildet oder ungebildet, begabt oder weniger talentiert ist. Ansonsten würde beispielsweise ein Reicher große Einkommensunterschiede gerecht, ein Armer ungerecht finden. Erst der 'Schleier des Nichtwissens', so Rawls wörtlich, 'zwingt jeden, das Wohl der anderen in Betracht zu ziehen'. Denn jeder muss mit allem rechnen. Eine solche verschleierte Abstimmung wird es zwar in der Realität nicht geben, aber, so argumentiert Rawls, wenn es sie gäbe und man sie zu Ende denken würde, dann käme man durch sie zu den einzigen beiden absolut gerechten Prinzipien der Gesellschaft: dem Gleichheits- und dem Unterschiedsprinzip. An ihnen muss man die Qualität jeder modernen Gesellschaft messen. Was bedeuten sie im Einzelnen? Warum ist unsere derzeitige Gesellschaft nach Rawls in vielerlei Weise ungerecht? Und - funktioniert das Gedankenexperiment von Rawls auch in anderen Bereichen? Wenn wir beispielsweise nicht wüssten, ob wir in einer künftigen Gesellschaft Menschen oder Tiere sind, würden wir uns dann womöglich für eine vegetarische Gesellschaft entscheiden? Ohne Zweifel entzündet Rawls mit seiner 'Theorie der Gerechtigkeit' ein ganzes Feuerwerk von bahnbrechenden Gedanken. Das Buch ist in der beliebten Reihe 'Große Denker in 60 Minuten' erschienen.

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Seitenzahl: 56

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Dank an Rudolf Aichner für seine unermüdliche und kritische Redigierung,

Silke Ruthenberg für die feine Grafik, Angela Schumitz, Lydia Pointvogl, Eva Amberger,

Christiane Hüttner, Dr. Martin Engler für das Lektorat

und Dank an Prof. Guntram Knapp, der mich für die Philosophie begeistert hat.

Inhalt

Rawls’ große Entdeckung

Rawls’ Kerngedanke

Warum wir die Frage nach Gerechtigkeit stellen: Die drei Grundtatsachen der Menschheit

Der Urzustand – die Stunde Null bei der Auswahl der idealen Gesellschaft

Der Schleier des Nichtwissens und die Maximin-Regel

Die zwei Gerechtigkeitsgrundsätze: Das Gleichheits- und das Unterschiedsprinzip

Robinson Crusoe, Freitag, Dagobert Duck und John Rawls stranden auf einer Insel

Was nutzt uns Rawls’ Entdeckung heute?

Die am wenigsten Begünstigten heranführen – Rawls’ Kritik am Kapitalismus

Die faire Güterverteilung: Praktisch umsetzbar oder reine Theorie?

Der Schleier des Nichtwissens – ein übertragbares Entscheidungsprinzip?

Rawls‘ Vermächtnis: Die unsterbliche Forderung nach Gerechtigkeit

Zitatverzeichnis

Rawls’ große Entdeckung

Der Harvard-Professor John Rawls (1921-2002) ist der wohl bedeutendste Denker Amerikas. Im Alter von fünfzig Jahren veröffentlicht er sein philosophisches Hauptwerk Eine Theorie der Gerechtigkeit. Bereits der Titel ist seit seinem Erscheinen im Jahre 1971 bis zum heutigen Tag eine Provokation. Denn eine solche Theorie, so die vorherrschende Meinung, könne es doch gar nicht geben, da Gerechtigkeit immer eine Frage des persönlichen Standpunktes sei. Jeder hält aus seiner Perspektive etwas ganz anderes für gerecht oder ungerecht. Und jetzt kommt ein amerikanischer Philosophie-Professor und behauptet, dass er eine zeitlose und für jedermann gültige Definition von Gerechtigkeit gefunden habe.

Tatsächlich erlebt das Buch einen kometenhaften Aufstieg und wird innerhalb von drei Jahrzehnten auf der ganzen Welt bekannt. Es gehört inzwischen zu den Klassikern der Philosophie und gilt als wichtigstes Werk der politischen Ethik. Kein Zweifel – Eine Theorie der Gerechtigkeit ist ein bahnbrechendes

Werk, das nicht nur Wissenschaftler und Politiker fasziniert, sondern zu Recht bereits vielerorts in den Schulunterricht einfließt.

Rawls stellt darin die große Frage nach der gerechten Gesellschaft: Nach welchen Prinzipien muss eine moderne Demokratie organisiert werden? Von der Antwort auf diese Frage hängt vieles ab – so auch die Beurteilung unserer gegenwärtigen Verhältnisse. Wir dürfen uns nämlich auf keinen Fall mit weniger zufrieden geben als mit der, so Rawls wörtlich, „vollkommen gerechten Gesellschaft“:

Schon auf den ersten Seiten seines Hauptwerkes formuliert Rawls das ehrgeizige Ziel und die ungeheure Dimension seines Projektes:

Wie aber soll sie aussehen, die „vollkommen gerechte Gesellschaft“?

Die Frage nach der bestmöglichen Form des Zusammenlebens hat in der Philosophie eine lange Tradition. Bereits in der Antike entwirft Platon in seinem Buch Politeia einen Idealstaat, der von gut ausgebildeten Philosophen-Königen absolut gerecht regiert wird. In der Renaissance beschreibt uns Thomas Morus in seinem Roman Utopia eine vollkommen harmonische Gemeinschaft von Menschen, die eigentumslos und glücklich auf einer Insel leben. Seine phantasievolle Wortschöpfung Utopia, abgeleitet vom altgriechischen „ou topos“, was so viel wie „Nicht-Ort“ heißt, ist zur Beschreibung von Zukunftsvisionen inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen. Am Vorabend der Französischen Revolution schließlich entwirft uns Rousseau in seinem Buch Der Gesellschaftsvertrag eine ideale Gemeinschaft von absolut freien Bürgern, die sich durch Volksversammlungen selbst regieren.

Rawls war also keineswegs der erste, der die Frage nach der idealen und gerechten Gesellschaft gestellt hat. Doch am Ende leistet er dann doch erheblich mehr als alle seine Vorgänger. In seiner Theorie der Gerechtigkeit entwirft er nicht nur eine Utopie, also eine Wunschvorstellung von der idealen Gesellschaft, sondern gibt uns darüber hinaus erstmals ein Verfahren an die Hand, mit dem jeder Mensch die gerechte Verteilung von Gütern und Lebenschancen überprüfen kann.

Denn, so Rawls, es genügt letztlich nicht, sich mit viel Phantasie eine ideale Gesellschaft auszumalen, man muss darüber hinaus begründen können, warum es sich dabei auch tatsächlich um die bestmögliche handelt. Hierfür macht er etwas sehr Modernes: Anders als etwa Platon oder Morus beruft er sich zum Beweis seines Gerechtigkeitskonzeptes auf die demokratische Zustimmung und den Konsens aller Bürger. Nur wenn alle Beteiligten die definierten Gerechtigkeitsgrundsätze einer Gesellschaft auch akzeptieren, argumentiert Rawls, seien sie wirklich gerecht.

Im Grunde müssten alle Individuen, die sich in einer Gesellschaft zusammenschließen, vorab in einem Vertrag oder einer Urkunde vereinbaren, nach welchen Grundsätzen sie künftig zusammenleben wollen. Ob sie beispielsweise eine ungleiche Gesellschaft mit Patriziern und Sklaven, mit Kapitalisten und Arbeitern oder eine klassenlose Gesellschaft ohne jedes Eigentum mit völliger Gleichheit bevorzugen oder vielleicht sogar eine ganz andere Organisationsform:

Rawls ist somit ein Befürworter der sogenannten „Vertragstheorie“, wonach eine Gesellschaft nur dann legitim ist, wenn alle Mitglieder in einer Gründungsurkunde oder einem Vertrag ihre Gesetze und Grundprinzipien selbst vereinbaren oder diesen zumindest im Nachhinein theoretisch zustimmen könnten. Man spricht im ersteren Fall von einem „historischen“, im zweiten von einem „hypothetischen Vertrag“. Gemäß der Vertragstheorie schließen die Bürger also einen Vertrag ab, in dem sie die faire Verteilung aller Güter und Lebenschancen regeln und in dem jeder sein Einverständnis erklärt, sich künftig an die vereinbarten Grundsätze zu halten:

Solche historischen Verträge, in denen eine Gruppe von Menschen ein für alle Mal entscheidet, was ihnen in der künftigen Gesellschaft als gerecht oder ungerecht gelten soll, hat es in der Geschichte tatsächlich gegeben. Beispielsweise schlossen 1620 die „Pilgrim Fathers“, eine puritanische Auswanderer-Gruppe aus England, während der langen Überfahrt nach Amerika auf dem Schiff Mayflower einen solchen Gründungsvertrag. Der berühmt gewordene „Mayflower-Vertrag“ regelte das gesamte religiöse und weltliche Zusammenleben der Auswanderer in ihrem späteren Siedlungsgebiet als gleiche und freie Bürger in einer sich selbst regierenden Gemeinschaft.

Als überzeugter Anhänger der Vertragstheorie hätte sich Rawls sicherlich gewünscht, dass auch die heutigen Amerikaner noch einmal darüber abstimmen dürfen, nach welchen Gerechtigkeitsgrundsätzen sie künftig zusammenleben und zu welchen sie sich vertraglich verpflichten wollen. Doch obwohl Rawls beim früheren Präsidenten Bill Clinton öfter zum Abendessen war und somit gute Beziehungen zum mächtigsten Mann der Welt hatte, wusste er natürlich, dass eine solche Abstimmung niemals durchzusetzen ist. Auch schien es ihm illusorisch, die US-Bürger nachträglich noch einmal zu befragen, ob sie tatsächlich der amerikanischen Verfassung, der kapitalistischen Produktionsweise und der ungleichen Güterverteilung zustimmen und freiwillig beitreten wollen:

Anders als die Pilgrim Fathers, so Rawls, werden wir als moderne Menschen bereits in eine bestimmte Gesellschaft hineingeboren und erst gar nicht gefragt, ob wir die jeweilige Staatsform, die Wirtschaftsweise und die Verteilung des Wohlstandes gerecht oder ungerecht finden. Und selbst wenn es möglich wäre, beispielsweise alle Neugeborenen der USA an einem bestimmten Stichtag – etwa beim Erreichen ihres achtzehnten Lebensjahres – zu befragen, ob sie weiterhin in der von den Gründungsvätern vereinbarten Gesellschaftsordnung leben wollen oder stattdessen eine neue bevorzugen, käme dabei unter Umständen kein gutes Ergebnis heraus. Denn, so Rawls, es gäbe die Versuchung, dass sich jeder Einzelne nur für die Gesellschaftsordnung entscheiden würde, von der er sich den größten Vorteil verspricht: