Habermas in 60 Minuten - Walther Ziegler - E-Book

Habermas in 60 Minuten E-Book

Walther Ziegler

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Beschreibung

Die große philosophische Entdeckung von Habermas ist furios und bescheiden zugleich. Furios, weil Habermas fast zweihundert Jahre nach den großen Geschichtsphilosophen Hegel und Marx noch einmal versucht, den Sinn der gesamten Menschheitsgeschichte zu entschlüsseln und aufzeigt, dass es ein vernünftiges Entwicklungsziel gibt; bescheiden, weil er die Möglichkeit der Menschheit, die Zukunft vernünftig zu gestalten ohne jedes Pathos beschreibt und aus einem Alltagsphänomen herleitet: der Sprache. Nicht mehr der Weltgeist wie bei Hegel oder der Klassenkampf wie bei Marx, sondern die Sprache ist der eigentliche Motor der Entwicklung. Denn die sprachliche Verständigung, so Habermas, wird in ihrer Entfaltung die gesamte Menschheit miteinander verbinden. In der Struktur unserer Sprache ist nämlich bereits der Wunsch nach einem zwanglosen Austausch und einer immer weiter gehenden Verständigung angelegt. Denn sobald ein Mensch irgendwo auf der Welt mit einem anderen spricht, kann er nicht anders, als bewusst oder unbewusst vier universale Geltungsansprüche zu stellen und einzuhalten. Zum Beispiel will jeder, wenn er spricht, auch verstanden werden. Was so einfach beginnt, endet in einer umfassenden Entwicklungshypothese. Im kommunikativen Handeln und somit in der Sprache ist, so Habermas, ein hartnäckiger Vernunftanspruch angelegt, selbst wenn dieser immer wieder unterdrückt wird. Zwingt uns die Sprache tatsächlich zur Mündigkeit? Gibt es eine solche emanzipatorische Kraft oder ist die Sprache am Ende doch nur ein neutrales Werkzeug? Und wenn die Sprache tatsächlich die Menschheit zusammenwachsen lässt, warum gibt es dann noch Kriege? Habermas beantwortet all diese Fragen. Darüber hinaus empfiehlt er uns den herrschaftsfreien Diskurs. Die Sprache enthält zwar den Keim und das Ziel der weltweiten Verständigung, aber dieser Prozess ist kein Selbstläufer. Wir können, so Habermas, die Voraussetzungen dafür schaffen, dass sich die kommunikative Rationalität stärker entfalten kann. Mit seiner berühmten Diskursethik gibt er uns ein schillerndes Werkzeug an die Hand. Das Buch "Habermas in 60 Minuten" erklärt den Kern seiner Philosophie anhand von über 60 zentralen Zitaten und vielen Beispielen. Im Kapitel "Was nützt uns die Entdeckung von Habermas heute?" wird dann die aktuelle Bedeutung seiner kritischen Theorie für unser persönliches Leben und unsere Gesellschaft aufgezeigt. Das Buch ist in der beliebten Reihe "Große Denker in 60 Minuten" erschienen.

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Dank an Rudolf Aichner für seine unermüdliche und kritische Redigierung,

Silke Ruthenberg für die feine Grafik, Angela Schumitz, Lydia Pointvogl, Eva Amberger,

Christiane Hüttner, Dr. Martin Engler für das Lektorat

und Dank an Prof. Guntram Knapp, der mich für die Philosophie begeistert hat.

Inhalt

Die große Entdeckung von Habermas

Der Kerngedanke von Habermas

Die Doppelstruktur der menschlichen Sprache

Die vier Geltungsansprüche und der hartnäckige Wunsch nach Verständigung

„Fahr ich oder fährst du?“ Die vier Geltungsansprüche im Alltag

Die Vernunft als Ziel jeder sprachlichen Verständigung

Der herrschaftsfreie Diskurs und die Diskursethik

Die Entwicklung der Menschheit unter dem Sprachparadigma

Kommunikative gegen instrumentelle Vernunft

Was nützt uns die Entdeckung von Habermas heute?

Der Kampf gegen die Kolonialisierung der Lebenswelt

Eugenik – die Selbstzüchtung des Menschen Kommunikativ statt instrumentell handeln!

Das dritte Jahrtausend: Neue Barbarei oder Entfaltung der kommunikativen Rationalität?

Den herrschaftsfreien Diskurs wagen!

Zitatverzeichnis

Die große Entdeckung von Habermas

Jürgen Habermas (geb. 1929) gilt als der wohl bedeutendste zeitgenössische Philosoph des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts. Er ist weit über die Grenzen Europas hinaus bekannt. Sein Hauptwerk ‚Die Theorie des kommunikativen Handelns‘ ist inzwischen in über 40 Sprachen übersetzt und wird weltweit diskutiert. Habermas hat alle maßgeblichen englischen, amerikanischen, französischen und deutschen Philosophen, Sprachwissenschaftler, Soziologen, Psychologen und Psychoanalytiker gelesen und deren Erkenntnisse in seine eigene Theorie integriert. Es gibt im Grunde keinen zweiten Philosophen, dem es gelang, so viele zentrale Gedanken der aktuellen und klassischen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Forschung produktiv in seine eigene Theorie einzubeziehen. Herausgekommen ist dabei aber nicht, wie man erwarten könnte, ein Kondensat oder eine Zusammenschau des zeitgenössischen Denkens. Nein – trotz aller Belesenheit und Vielseitigkeit gibt Habermas am Ende seine ganz eigene Antwort auf die Sinnfrage.

Seine große philosophische Entdeckung ist furios und bescheiden zugleich. Furios, weil Habermas fast zweihundert Jahre nach den großen Geschichtsphilosophen Hegel und Marx noch einmal versucht, den Sinn der gesamten Menschheitsgeschichte zu entschlüsseln und aufzeigt, dass es Vernunft in der Geschichte gibt und auch weiterhin geben wird; bescheiden, weil er die Möglichkeit der Menschheit, die Zukunft vernünftig zu gestalten ohne jedes Pathos beschreibt und pragmatisch aus einem Alltagsphänomen herleitet.

War es noch bei Hegel die mystische Selbstbewegung des ‚Weltgeistes‘, der die Geschichte vorantrieb, bei Marx die Dramatik des ‚Klassenkampfes‘, so entdeckt Habermas den Motor der Menschheitsentwicklung in einem ganz unscheinbaren und alltäglichen Phänomen - der Sprache:

In diesem kleinen Zitat steckt bereits der subtile und zugleich revolutionäre Kerngedanke von Habermas. Das, was uns aus der Natur heraushebt, was uns von den Tieren und Pflanzen unterscheidet, ist die Sprache. Jeder Mensch hat nämlich die Fähigkeit zu sprechen. Habermas bezeichnet die Sprache deshalb auch als eine ‚Gattungskompetenz‘, die uns Menschen im Moment unserer Geburt als angeborene Fähigkeit zukommt und uns von allen anderen Wesen abhebt. Und tatsächlich ist die sprachliche Verständigung beim Menschen in einer Weise ausgebildet und entwickelt, wie man sie sonst bei keiner anderen Gattung vorfindet. Sie ist universal. So lernt ein Kind aus dem tiefsten Bayern, das in Peking aufwächst, ebenso perfekt auf Chinesisch zu sprechen, wie umgekehrt ein chinesisches Kind, das in Oberammergau aufwächst am Ende nicht nur deutsch, sondern sogar bayerischen Dialekt sprechen kann.

Diese Eigenschaft der Menschen, miteinander reden zu können, ist der zentrale Ausgangspunkt der Philosophie von Habermas. Seine Entdeckung der Sprache als Schlüsselphänomen zur Erklärung von Geist, Identität und Gesellschaft hat auch einen nicht ganz uninteressanten biografischen Aspekt. Habermas selbst wurde mit einem sprachlichen Handicap, einer Gaumenanomalie, geboren, was seine Aussprache trotz zweier Operationen zeitlebens etwas beeinträchtigte und ihm als Kind den Spott seiner Mitschüler einbrachte. Habermas selbst meinte rückblickend, dass vielleicht gerade diese Beeinträchtigung seine Aufmerksamkeit für die Bedeutung der sprachlichen Verständigung zusätzlich geschärft habe.

Die Sprache steht für Habermas am Anfang und am Ende der Menschheitsgeschichte. Sie zeichnet uns den Weg vor – nicht irgendwohin, sondern in eine bessere Zukunft. In seinem berühmten Hauptwerk, der 1200 Seiten starken ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ entwickelt er Schritt für Schritt seine große Entwicklungshypothese: Das Erlernen und Ausüben der Sprache prägt sowohl die Entwicklung des Individuums als auch die der gesamten Menschheit und gipfelt im hartnäckigen Anspruch nach immer besserer und immer weiter gehender Verständigung:

‚Telos‘ ist das griechische Wort für ‚Ziel‘. Übersetzt heißt der Satz also: Verständigung ist als Ziel in der Sprache angelegt. Aber warum? Wieso zielt Sprache immer auf Verständigung ab? Natürlich kann ich mich im Alltag mit Hilfe der Sprache gut verständigen, mich mit anderen einigen, zum Beispiel einen Kompromiss finden oder mich sogar mit ihnen solidarisieren und ein gemeinsames Projekt verwirklichen. Ist Verständigung aber deshalb schon das ‚der Sprache innewohnende Ziel‘ oder ‚Telos‘? Hat Habermas hier nicht eine zu optimistische Einschätzung vorgenommen?

Die Sprache, so könnte man ihm entgegnen, enthält doch gleichzeitig auch entgegengesetzte Tendenzen. Schließlich kann ich mit Hilfe der Sprache den anderen auch beschimpfen, beleidigen und ihm sogar tiefe Kränkungen zufügen. Worte führen bekanntlich keineswegs immer zu Konsens und Verständigung, sondern oft genug zu Streit und Auseinandersetzungen. Habermas kennt diese Gegenargumente. Dennoch, er bleibt bei seiner radikalen These:

Was meint er damit, dass ‚mit dem ersten Satz‘ der Wunsch nach einem Konsensus, also nach Übereinstimmung, ‚unmissverständlich ausgesprochen ist‘? Seine Aussage hat letztlich eine historische Dimension, ja, man könnte sogar sagen, eine prähistorische. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, als dass der Urmensch mit dem ersten Satz, den er zu einem anderen gesagt hat, einen Prozess in Gang gebracht hat, der bis heute wirksam ist und zu immer größerer Verständigung unter den Menschen führt. Denn, was auch immer er zu dem anderen Urmenschen gesagt haben mag, eines steht für Habermas außer Frage: er hatte bereits den Wunsch, dass der andere ihn verstehen möge, sonst hätte er erst gar nicht zu reden begonnen. Und selbst wenn er den anderen angebrüllt oder bedroht hat, und der erste Satz in der Menschheitsgeschichte ein aggressiver Akt war, wollte er doch zumindest damit erreichen, dass der andere ihn versteht und entsprechend reagiert.

Wenn der Urmensch beispielsweise mit einer Keule vor seiner Höhle stand und gerufen hat: „Weg da – das ist meine Höhle!“ oder was wahrscheinlicher ist, einfach nur laut gebrüllt, mit der Faust gedroht und die Keule geschwungen hat, wollte er mit seiner Laut- und Zeichensprache letztlich doch irgendwie erreichen, dass der andere seinen Wohnsitz und sein Revier respektiert und weiterzieht. Er wollte sich mit ihm auf etwas verständigen und hat damit einen allerersten archaischen Verständigungsprozess in Gang gebracht.

Vielleicht waren die ersten Worte in der Geschichte der Menschheit auch Warnrufe eines Jägers, der seine Stammesmitglieder auf ein gefährliches Tier aufmerksam machen wollte oder ein beruhigender Summton einer Mutter an ihr Kind gerichtet. In jedem Fall begann mit dem ersten Satz ein zunehmender Austausch von Lauten, Handzeichen, Wörtern und Sätzen. Denn nachdem der Wunsch nach Verständigung erst einmal in der Welt war, entfaltete er seine eigentümlich verbindende Wirkung, an deren Ende nach Habermas eine Weltgesellschaft stehen kann, in der die Menschheit den „allgemeinen und ungezwungen Konsens“ verwirklicht, jenseits von Herkunft, Kapital und Bildung ihrer Mitglieder. Es regieren dann, so Habermas, nicht mehr Macht und Gewalt, sondern der „zwanglose Zwang des besseren Argumentes“. 5

Diese positive Prognose ist, darauf legt Habermas größten Wert, keine idealistische Annahme, sondern eine nachweisbare Entwicklung, die in der Sprache selbst fest verankert ist.

Und tatsächlich gelingt es Habermas in seinem Hauptwerk, der ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘, und einigen vorbereitenden Büchern wie der ‚Universalpragmatik‘ in akribischer Kleinarbeit zu belegen, dass in jedem unserer Alltagssätze, also in jeder beliebigen Sprechhandlung, bereits der Keim für eine spätere Verständigung angelegt ist, egal wann und wo jemand irgendetwas sagt. Deshalb schreibt Habermas selbstbewusst:

Habermas entwickelt also die spannende These, dass jeder, der spricht, ob er nun will oder nicht, automatisch bestimmte ‚Ansprüche‘ erhebt, das heißt Annahmen macht und diese Annahmen letztlich auf vernünftige Verständigung abzielen. Denn jeder von uns, der die Lippen bewegt und redet, so Habermas, muss, ohne es auszusprechen und vielleicht sogar ohne es selbst immer gleich zu merken, erst mal ein paar unterschwellige Annahmen machen und unterstellen, dass seine Annahmen auch richtig sind und eingelöst werden können. Eben diese Annahmen, die bei jedem Gespräch unbemerkt mitschwingen, bezeichnet Habermas als ‚universale Geltungsansprüche‘.

Einer von diesen ‚universalen Geltungsansprüchen‘ besteht zum Beispiel schlicht und einfach darin, dass wir in dem Moment, in dem wir zu sprechen beginnen, den Anspruch haben, dass der andere uns akustisch und inhaltlich auch versteht, also dass ich zum Beispiel laut genug rede und dass der andere den Inhalt irgendwie entschlüsseln kann, also dieselbe Landessprache spricht und zudem alt genug ist, meine Worte grammatikalisch und inhaltlich auch irgendwie zu begreifen. Kurz und knapp – wenn wir etwas sagen, dann unterstellen wir, dass das Gesagte auch die Chance hat, gehört und verstanden zu werden. Umgekehrt unterstellen und verlangen wir von unserem Gegenüber genau dasselbe, nämlich dass der andere, wenn er etwas zu mir sagt, dies in einer Weise macht, dass ich es ebenfalls verstehen kann.