Kafka in 60 Minuten - Walther Ziegler - E-Book

Kafka in 60 Minuten E-Book

Walther Ziegler

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Beschreibung

Kafka ist weltweit der am meisten gelesene Schriftsteller deutscher Sprache. Ihm verdanken wir nicht nur ein herausragendes Stück Weltliteratur, sondern auch eine fundamentale philosophische Entdeckung. Wie keinem anderen gelingt es ihm, die existenzielle Angewiesenheit der Menschen auf andere Menschen zu erfassen: "Untereinander", so Kafka, "sind sie durch Seile verbunden, und bös ist es schon, wenn sich um einen die Seile lockern, und er ein Stück tiefer sinkt als die andern in den leeren Raum, und gräßlich ist es, wenn die Seile um einen reißen und er jetzt fällt." In seinen Erzählungen gibt er uns einen tiefen Einblick in die Abgründe und die Grundstruktur zwischenmenschlicher Beziehung, einen Einblick, dem sich niemand entziehen kann. Auch wenn wir uns im normalen Leben nicht einfach in einen Käfer verwandeln und von der eigenen Familie ausgeschlossen oder totgesagt werden, empfinden wir als Leser doch die ganze Wucht dieser Exkommunikation. Kafka war sich der kathartischen Wirkung seiner Bücher durchaus bewusst: "...ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns." Kafkas philosophische Wahrheit wird anhand von fünf ausgewählten Novellen, Kurzgeschichten und Romanen aufgezeigt. Worin besteht das Schicksal seiner Protagonisten? Woran zerbrechen sie? Gibt es ein wiederkehrendes oder gar durchgängiges Motiv des Scheiterns? Warum kennen wir dieses nur allzu gut aus unseren eigenen Erfahrungen und Träumen? Gibt uns Kafka am Ende den Schlüssel zum Verständnis der fundamentalen Struktur zwischenmenschlicher Beziehung? Das Buch enthält über hundert Zitate aus Kafkas berühmtesten Werken. Es ist in der beliebten Reihe "Große Denker in 60 Minuten" erschienen.

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Dank an Rudolf Aichner für seine unermüdliche und kritische Redigierung,

Silke Ruthenberg für die feine Grafik, Angela Schumitz, Lydia Pointvogl, Eva Amberger,

Christiane Hüttner, Walburga Allgeier, Dr. Martin Engler für das Lektorat

und Dank an Prof. Guntram Knapp, der mich für die Philosophie begeistert hat.

Inhalt

Kafkas große Entdeckung

Kafkas Kerngedanke

Die Verwandlung – ein Unding der Liebe

Der Steuermann – jeder ist austauschbar

Ein Hungerkünstler – verehrt, verkannt, vergessen

Der Proceß: angeklagt, aber von wem und warum?

Das Urteil – wer nicht genügt, darf nicht sein

Kafkas philosophischer Kerngedanke: Die Struktur der zwischenmenschlichen Beziehung

Was nutzt uns Kafkas Entdeckung heute?

Exkommunikation und sozialer Tod bei Kafka, in der Ethnologie und der modernen Gesellschaft

Das Sprachexperiment des Kaisers, die moderne Hospitalismus-Forschung und Kafkas Wahrheit

Kafkas Imperativ: Eigentümlichkeit und Potentialität der Menschen anerkennen!

Kafkas Trost

Zitatverzeichnis

Kafkas große Entdeckung

Kafka (1883-1924) ist ein Schriftsteller und kein Philosoph. Und dennoch zählt er zu den bedeutendsten Denkern der Welt. Er muss in einer Reihe mit Platon, Konfuzius, Kant, Hegel, Hume, Freud, Wittgenstein und Sartre genannt werden. Denn ihm verdanken wir nicht nur ein herausragendes Stück Weltliteratur, sondern auch eine philosophische Entdeckung von zeitloser Gültigkeit.

Kafka ist es – wie kaum einem anderen – gelungen, zum Kern der menschlichen Existenz vorzudringen. Er offenbart eindrucksvoll, was das Wesen des Menschen in seinem Innersten ausmacht und ihn am Leben hält. In seinen Romanen und Kurzgeschichten kreist er immer wieder um das Phänomen der Mitmenschlichkeit, sei es, dass ein fleißiger Handelsreisender sich eines Morgens in ein Insekt verwandelt und von der eigenen Familie verachtet wird, sei es, dass ein altbewährter Steuermann ohne jeden Widerstand seiner Mannschaft durch einen Fremden weggestoßen und ersetzt wird, ein Angeklagter nicht weiß, weshalb man ihm den Prozess macht oder ein Sohn von seinem eigenen Vater zum Tode verurteilt wird.

In allen seinen Romanen und Novellen wirft Kafka einen unbestechlichen Blick auf die Fragilität der zwischenmenschlichen Beziehung. Wie keinem anderen gelingt es ihm, die existenzielle Angewiesenheit der Menschen auf andere Menschen zu erfassen:

Die Menschen sind, so Kafka, wie Bergsteiger in einer Art Seilschaft miteinander verbunden, um ihre Existenz gegenseitig abzusichern. Ein Leben lang bekommen sie Halt durch den Seins-Zuspruch und die Anerkennung ihrer Mitmenschen. Doch diese Angewiesenheit auf den Zuspruch der anderen birgt strukturell immer auch die Gefahr, von diesen nicht – oder nicht mehr – anerkannt zu werden. Bleibt der Zuspruch phasenweise oder für immer aus, wird man also exkommuniziert, gemobbt oder totgesagt, dann tut sich, so Kafka, ein gefährlicher Abgrund auf.

Die fundamentale Struktur der gegenseitigen Anerkennung und deren grundsätzliche Zerbrechlichkeit ist Kafkas große philosophische Entdeckung. Er zeigt sie uns aber nicht aus der distanzierten Perspektive des Philosophen oder Wissenschaftlers, sondern aus der Innenansicht seiner literarischen Figuren und deren Erfahrungen. Wie seine Romanhelden litt aber auch Kafka selbst unter Gefühlen des Ausgeliefertseins, der Nicht-Anerkennung und der damit einhergehenden Seins-Unsicherheit:

Kafka ist Schriftsteller und Geschichtenerzähler, aber seine Geschichten sind weitaus mehr als nur spannende Unterhaltung. Sie setzen etwas in Gang. Bei aller Vielfalt kreisen sie meist um denselben Kern. Sie ziehen uns in den Strudel unserer eigenen Träume, Stimmungen und Ängste. Jeder, der sich auf Kafkas Schriften einlässt, begegnet am Ende sich selbst und wird, ob er will oder nicht, mit der Zerbrechlichkeit seines eigenen Lebens konfrontiert. Kafka zeigt uns das Ausgeliefertsein an Mächte, die wir kaum oder gar nicht kontrollieren können. Er lässt uns die ganze Dimension der Ungeborgenheit unseres Daseins spüren und entführt uns in Räume, die wir normalerweise nicht betreten oder betreten wollen.

Keine Frage, er hat eine tiefe philosophische Wahrheit zu Tage gefördert. Seine Schriften und Gedanken dringen in einen Bereich der menschlichen Existenz vor, der bei aller Betonung der Verlassenheit, Gleichgültigkeit oder Bedrohung durch die Mitmenschen zugleich ein helles Licht auf die Möglichkeit gelingender Gemeinschaft wirft. Kafka selbst sieht sich als Grenzgänger zwischen diesen zwei Welten, der Welt der Einsamkeit und der Welt der Gemeinschaft:

Vielleicht konnte Kafka den Mangel an echter Gemeinschaft oder das, was eine gelingende zwischenmenschliche Beziehung im Kern ausmacht, gerade deshalb so eindrucksvoll auf den Punkt bringen, weil er selbst an diesem Mangel fast zu Grunde gegangen wäre. An einen Freund schreibt er:

Ein Klassenkamerad beschreibt Kafka schon früh als jemanden, der von seiner Umgebung wie durch eine „gläserne Wand“7 getrennt war. Die in seinen Werken immer wieder auftauchende Stimmung der Fremdheit und Ungeborgenheit ist von einer so großen Eigentümlichkeit und Intensität, dass ihr die Nachwelt ein eigenes Adjektiv verliehen hat: „kafkaesk“.

Der Duden definiert „kafkaesk“ als Begriff zur Beschreibung von etwas, das „auf unergründliche Weise bedrohlich ist“.8 Auch die Literaturlexika übersetzen ‚kafkaesk‘ in der Regel als „das Gefühl, einer höheren und nicht-greifbaren Macht, ausgeliefert zu sein“. Ob bedrohlich, ohnmächtig, unergründlich oder ungreifbar, letztlich meint das Adjektiv kafkaesk jene eigentümliche Stimmung, die eben nicht anders zu erfassen ist als mit dem Namen des Autors selbst.

Inwiefern aber enthält diese Stimmung des Kafkaesken einen philosophischen Kerngedanken? Macht es überhaupt Sinn, Kafka philosophisch zu interpretieren? Schließlich beschreibt er doch in seinen Geschichten vor allem einen emotionalen Ausnahmezustand, den wir mehr aus unseren Alpträumen als aus unserem Alltagsleben kennen. Darf man Kafkas subversiv traumartige Beschreibungen der Beziehungen zwischen den Menschen zum Ausgangspunkt einer philosophischen Analyse machen?

Einiges spricht dafür. Denn gerade vom Standpunkt eines defizitären Erlebens aus kann man die zwischenmenschliche Beziehung, wie sie eigentlich sein sollte, am präzisesten sichtbar machen. Zwar haben bereits Philosophen wie der Existenzialist Sartre und der Religionsphilosoph Buber versucht, die Grundstruktur der zwischenmenschlichen Beziehung zu analysieren. Aber sie konnten die Phänomene des Zwischenmenschlichen bei weitem nicht so erlebnisnah und eindringlich erfahrbar machen, wie es Kafka in seinem literarischen Werk gelungen ist. Kein Zweifel: Kafka verstehen, heißt die Struktur von Beziehung verstehen.

Dabei haben die Gedanken seiner Protagonisten etwas eigenartig Trockenes, Emotionsloses, ja fast schon Sachliches. Im Unterschied zu anderen bekannten Schriftstellern, schreibt Kafka ohne großes Pathos. Seine Schriften lösen aber vielleicht gerade deshalb so starke Gefühle aus, weil seine Romanfiguren ihr Schicksal auf eigentümlich stoische Weise hinnehmen. Die Beschreibung seiner Hauptfiguren und deren Scheitern besticht durch eine nüchterne, fast distanzierte Betrachtung und liefert vielleicht gerade deshalb die phänomenologische Basis für eine herausragende philosophische Entdeckung.

Ist der Mensch womöglich unter der Oberfläche seines zur Schau getragenen Selbstbewusstseins eine Nussschale auf dem Meer gegenwärtiger und früherer Beziehungen mit Familie, Freunden und Gesellschaft? Kafka zeigt in immer neuen Anläufen die Zerbrechlichkeit unseres alltäglichen Beziehungsgeflechtes. Auch wenn wir uns im normalen Leben nicht einfach in einen Käfer verwandeln und von der eigenen Familie ausgeschlossen und totgesagt werden, empfinden wir als Leser doch die ganze Wucht dieser Exkommunikation. Kafka war sich der kathartischen Wirkung seiner Bücher durchaus bewusst:

Und die Bücher Kafkas haben in der Tat die Wirkung einer Axt. Kafka spaltet die Hülle, die uns im Alltag umgibt und zeigt uns das eigentliche Drama unserer Existenz. Er verweist uns auf eine bedrückende, zugleich aber befreiende Wahrheit – auf die Gefahren und Chancen gelebter Mitmenschlichkeit und somit auf die anthropologische Grundstruktur der zwischenmenschlichen Beziehung.

Kafkas Wahrheit wird im Folgenden anhand seiner Novellen, Kurzgeschichten und Romane aufgezeigt.

Worin besteht das Schicksal seiner Protagonisten? Woran zerbrechen sie? Gibt es ein wiederkehrendes oder gar durchgängiges Motiv des Scheiterns? Warum kennen wir dieses nur allzu gut aus unseren eigenen Erfahrungen und Träumen? Kann man aus dem Modus des Scheiterns umgekehrt auf den Modus einer gelingenden Existenz schließen? Gibt uns Kafka am Ende den Schlüssel zum Verständnis der ontologischen Struktur zwischenmenschlicher Beziehung?

In jedem Fall entführt er uns in jeder seiner Erzählungen auf eine Reise – eine Reise in unser inneres Selbst.

Kafkas Kerngedanke

Die Verwandlung – ein Unding der Liebe

Die vielleicht meist gelesene und weltweit bekannteste Erzählung Kafkas trägt den bezeichnenden Titel Die Verwandlung. Legendär ist bereits der erste Satz:

Der angestellte Handelsreisende Gregor Samsa liegt hilflos auf dem eigenartig harten Rücken und sieht erstaunt auf seinen neuen Körper mit den zappelnden dünnen Beinchen. Erst nach zahlreichen vergeblichen Versuchen gelingt es ihm, sich mit Schwung über seinen runden Rückenpanzer aus dem Bett zu rollen und auf die Beine zu kommen. Allerdings schafft er es nicht, sich aufzurichten, um den Türschlüssel umzudrehen und herauszutreten. Es bleibt ihm auch keine Zeit, sich an den neuen Körper zu gewöhnen. Der Prokurist seiner Firma verschafft sich bereits Zutritt zum Haus und stellt ihn wegen seiner Verspätung durch die noch verschlossene Zimmertür zur Rede:

Gregor bittet darum, seine Unpässlichkeit zu entschuldigen, er würde alles wiedergutmachen, doch seine Stimme klingt auf der anderen Seite der Türe piepsig und verzerrt, fast wie eine Tierstimme:

Als Gregor durch die Türe hört, dass ein Arzt und zudem ein Schlosser verständigt werden sollen, um ihn zu befreien und zu kurieren, ist er zunächst sehr froh, ja geradezu erleichtert:

Wenn es ihm nur gelingen würde, das Zimmer zu verlassen, würde man ihn wieder in die Gemeinschaft aufnehmen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Als er nämlich die Türe endlich mit seinem Kiefer entriegeln und herauskrabbeln kann, wird er keineswegs, wie erhofft, „wieder in den menschlichen Kreis einbezogen“. Stattdessen reagiert die Mutter mit blankem Entsetzen, der Prokurist verlässt panikartig das Haus und der Vater treibt ihn mit einem Stock zurück in sein Zimmer: