Handful - M.S. Kelts - E-Book

Handful E-Book

M.S. Kelts

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Beschreibung

Mike und Jamie sind ein Paar, daran gibt es nichts zu rütteln. Doch sind sie auch glücklich? Während Jamie von seinem unverarbeiteten Trauma immer tiefer in die Depression gezogen wird, muss Mike hilflos dabei zusehen, bis es fast zu spät ist. Doch so leicht lässt Mike sich nicht verjagen. Denn wenn es etwas – oder jemanden – gibt, für den er alles tun würde, dann ist es Jamie... Und so müssen sich die beiden Männer erneut ihren Ängsten stellen, doch ihr Lohn ist die ganz große Liebe.

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Seitenzahl: 352

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Deutsche Erstausgabe (ePub) März 2019

© 2019 by M.S. Kelts

Verlagsrechte © 2019 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Lektorat: Anne Sommerfeld

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Irene Repp/DaylinArt

Druckerei: CPI Deutschland

ISBN-13: 978-3-95823-745-2

Besuchen Sie uns im Internet:

www.cursed-verlag.de

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vielen Dank, dass Sie dieses eBook gekauft haben! Damit unterstützen Sie vor allem die Autorin des Buches und zeigen Ihre Wertschätzung gegenüber ihrer Arbeit. Außerdem schaffen Sie dadurch die Grundlage für viele weitere Romane der Autorin und aus unserem Verlag, mit denen wir Sie auch in Zukunft erfreuen möchten.

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Klappentext:

Mike und Jamie sind ein Paar, daran gibt es nichts zu rütteln. Doch sind sie auch glücklich? Während Jamie von seinem unverarbeiteten Trauma immer tiefer in die Depression gezogen wird, muss Mike hilflos dabei zusehen, bis es fast zu spät ist. Doch so leicht lässt Mike sich nicht verjagen. Denn wenn es etwas – oder jemanden – gibt, für den er alles tun würde, dann ist es Jamie... Und so müssen sich die beiden Männer erneut ihren Ängsten stellen, doch ihr Lohn ist die ganz große Liebe.

Widmung

For

C.D.

I keep my fingers crossed that one day

you´ll find your own Mike.

Geliebt zu werden macht uns stark.

Zu lieben macht uns mutig.

Laotse

Vorgeschichte

Michael Dohlinger lebt ungeoutet im Allgäu und arbeitet als freischaffender Architekt, als er sich in den jungen amerikanischen schwulen Pornodarsteller Silver verliebt.

Seine Obsession für Silver ist so groß, dass er nach New York fliegt, um seinem Schwarm einmal live zu begegnen.

Schon vor dem Flug hat Michael mit dem Darsteller Kontakt aufgenommen und gibt sich ihm zu erkennen, nachdem sie sich rege über Twitter ausgetauscht haben. Statt aber nur ein Autogramm zu erhalten, überlässt ihm Silver seine Telefonnummer und seinen Namen: Jamie.

Nach einem gemeinsamen Abendessen spüren beide, dass sie sich sympathisch sind und bleiben in Kontakt. Als Jamie im Sommer überraschend für vier Wochen nach Deutschland zu Besuch kommt, stellt das Mikes Leben komplett auf den Kopf.

In diesen vier intensiven Wochen kommen sich die beiden unglaublich nah und Jamie fügt sich in Mikes Freundeskreis ein, als würde er dort hingehören. Aber Mike bleiben Zweifel, da er nicht glaubt, dass Jamie an einer festen Beziehung interessiert ist. Ihre Leben sind einfach zu verschieden.

Doch die beiden verändern sich gemeinsam. Mike wird viel offener und outet sich sogar, während sich Jamie seiner alten Liebe, der Fotografie, besinnt, die er dank Mikes überraschendem Gefallen an erotischen Fotografien ausleben kann. Dennoch schwebt das Ende der gemeinsamen Zeit immer über ihnen und sie schaffen es nicht, offen über das Kommende zu reden.

Nach Ende des Urlaubs versuchen sie, ihre Freundschaft beizubehalten, aber sie tun sich schwer, bis es zum völligen Bruch kommt und Mike tief verletzt jeglichen Kontakt zu Jamie abbricht.

Jedoch kann er Jamie nicht vergessen und mithilfe seiner Freunde versucht er, ihm wenigstens zu erklären, warum er ihre Beziehung so beendet hat. Er fliegt für eine Aussprache mit Jamie nach Los Angeles.

Nach einem ausführlichen Gespräch stellen sie fest, dass jemand anderes die Finger im Spiel und es darauf angelegt hatte, sie zu trennen. Sie beschließen, ihrer Liebe eine Chance zu geben, so schwierig es durch die Entfernung auch werden könnte.

Eine Weile scheint alles perfekt zu sein, doch dann wird Jamie überfallen und beinahe getötet. Zwar überlebt er schwer verletzt und muss seine Karriere als Erotikstar beenden, doch das durchlebte Trauma hinterlässt tiefe Spuren.

Die ganze Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen gibt es in Loving Silver.

1.

Jamie

Ich gehe zum gefühlt hundertsten Mal die Datei durch und überprüfe, ob ich alle Lichter ausgeschaltet habe. In mir wächst die Wut über mich selbst, wie so oft in letzter Zeit, oder besser… wie eigentlich immer. Ich verabscheue diesen Zustand, bin aber nicht in der Lage, ihn zu ändern.

Heute ist es besonders schlimm, es erreicht ehrlicherweise einen neuen Höhepunkt und ich spüre neben der Wut noch diese innere, eiskalte Panik in mir, die mich zu lähmen droht und mich dazu zwingt, wie ein Tiger in einem viel zu engen Käfig im Kreis zu laufen.

Warum?

Ich lache trocken und gänzlich humorlos auf und es klingt in der Stille und Größe des leeren Fotostudios seltsam hohl. Es ist so einfach, geradezu absurd und doch kostet es mich sämtliche Nerven: Es regnet.

Heute ist wieder einer dieser Tage, an dem es gegen Abend vom Meer her zuzieht und die Wolken ihren Regen auf die warme Stadt ergießen. Früher mochte ich den Geruch, das Gefühl von Sauberkeit, wenn der Staub aus der Luft gewaschen wird. Heute… na ja… Heute erinnert er mich an die schlimmste Nacht meines Lebens und obwohl ich körperlich genesen bin, hat sich mein dummes Gehirn vor Monaten entschlossen, alles, was damit zusammenhängt, in immer kürzeren Abständen und stärker als je zuvor, bei allen sich bietenden Gelegenheiten hervorzukramen.

Ich hasse es dafür, hasse mich, dass ich nicht stärker bin, meinen Körper, der nicht mehr so ist wie früher, und mein Leben im Besonderen.

Gut… nicht alles davon, nein, eigentlich nur meinen ganz persönlichen Teil, was aber nicht heißt, dass der Rest nicht zwangsläufig darunter leidet.

Auch das ist mir bewusst, aber da ich gegen die Heimsuchung schon nichts machen kann, bin ich dem Rest ebenfalls hilflos ausgeliefert.

Was meinen Hass wiederum verstärkt…

Meine Faust knallt donnernd auf den Arbeitstisch und ich stöhne laut zwischen meinen zusammengebissenen Zähnen.

Fuck! Fuck! Fuck!

Was für ein Bullshit! Schon wieder hänge ich in dieser Spirale fest und es gibt nichts, an dem ich mich festhalten kann, um mich herauszuziehen.

Ein Blick auf die Uhr verrät mir, dass Mike seit einer halben Stunde mit dem Essen auf mich wartet. Augenblicklich gesellt sich ein Gefühl von Traurigkeit zu meinem Selbsthass. Früher hätte er längst angerufen, gefragt, wo ich bleibe und gescherzt, weil ich mich nicht von der Kamera loseisen kann… Doch er bleibt stumm und das nicht erst seit heute. Und es ist meine Schuld, weil ich regelmäßig ausraste und ihm gegenüber böse werde.

Mike hat weder das eine noch das andere verdient und das ist mir voll bewusst, aber ich kann nichts dagegen tun. Mir bleibt nur übrig zu hoffen, dass er mir verzeiht, dass er weiß, was los ist.

Ich sollte wirklich los. Im Zeitlupentempo schließe ich die offenen Dateien, fahre den PC runter und rolle mit dem Stuhl vom Schreibtisch zurück. Mit einem Ohr lausche ich dem Regen, der tatsächlich nachgelassen hat, während ich mit dem anderen Ohr versuche, Motorengeräusch aus dem nächtlichen Rauschen herauszufiltern.

Aber es ist nichts dergleichen zu hören. Nach dem Überfall haben wir den Parkplatz und den Zugang zum Studio sichern lassen, sodass man mit einem Fahrzeug nur noch mit Schlüssel bis vor das Tor fahren kann. Natürlich kann ein Mensch über die umliegenden Zäune klettern, aber dank etlicher Bewegungsmelder und der freien Fläche kann mich niemand mehr überraschen.

Inzwischen habe ich sogar einen Monitor einbauen lassen, damit ich von innen das Gelände überprüfen kann, bevor ich rausgehe und in meinen Wagen steige, der direkt neben der Tür parkt.

Ich verlasse den abseits liegenden Bereich, in dem mein Schreibtisch steht und gehe an die Tür, um das Licht im Eingangsbereich anzuschalten. Nichts ist schlimmer, als ein vollkommen dunkler Raum, auch wenn ich weiß, dass ich komplett alleine bin.

Anschließend nehme ich meine Tasche, gehe zur Tür und kämpfe mit der Hand auf der Türklinke darum, den nächsten, so einfachen Schritt zu machen: die Tür zu öffnen.

In mir ballt sich die Wut zu einem hässlichen schwarzen Gebilde zusammen und ich möchte schreien und auf etwas einschlagen, weil ich nicht weiterkomme. Um ehrlich zu sein, mache ich im Grunde Monat für Monat Rückschritte und komme so langsam wieder an den Punkt, wo ich vor Jahren blutüberströmt auf dem Parkplatz lag und fast gestorben bin.

Zeit heilt alle Wunden? Der Verfasser dieses Satzes gehört gesteinigt. Einen Dreck tut sie! Mit einem tiefen Atemzug sammle ich all meinen Mut zusammen, öffne die Tür und trete über die Schwelle nach draußen. Der Geruch von Regen auf warmem Asphalt wirft mich fast wieder nach hinten. Ich zittere unkontrolliert und zu allem Überfluss hat sich der Regen auch noch entschlossen, wieder stärker zu werden.

Komm schon, versuche ich mir selbst Mut zu machen. Es sind nur zwei Meter bis zur Autotür, ein Katzensprung sozusagen. Ich betätige den elektronischen Türöffner, ehe ich die Studiotür hinter mir zuziehe und abschließe.

Allein die Tatsache, dass ich dem Parkplatz für ein paar Sekunden den Rücken zudrehen muss, lässt mich vor Angst fast den Verstand verlieren.

Verfickte Scheiße!

Ich beiße die Zähne so fest zusammen, dass mein Kiefer schmerzt. Vor lauter Zittern schaffe ich es kaum, das Schloss zu treffen, und spüre, wie mir blanke Panik regelrecht den Hals zuschnürt, aber dann habe ich es endlich geschafft.

Erleichtert drehe ich mich zum Auto um und will das schützende, winzige Vordach verlassen, als ich abermals erstarre.

Wie immer schweift mein Blick unruhig umher, sondiert das Gelände, das wir seit damals penibel sauber halten. Ein ungewöhnlicher Zustand für solche Hinterhöfe, aber wir wollten einfach dafür sorgen, dass es absolut keine Versteckmöglichkeiten mehr gibt. Ich will, nein, ich muss einfach jeden Winkel einsehen können, um wenigstens den Hauch einer Chance zu haben, nicht jeden Schatten zu fürchten. Aus dem Grund ist der Platz, der vorne für fünf Autos Platz bietet und nach hinten aus nacktem Erdboden mit leichtem Grasbewuchs besteht, leer.

Eigentlich.

Jetzt ist er es aber nicht, auch wenn sich hinter dem Müllsack sicher kein Mensch verbergen kann. Ich hasse es, wenn jemand seinen Müll einfach über den Zaun wirft und…

Mein Herz rast.

Ein Blick zuckt über den Himmel und verleiht der Szene hier unnötige Dramatik.

Ich will hier weg, will nach Hause zu Mike, in unsere sicheren vier Wände und zu dem Mann, der mein Fels in der Brandung ist, aber meine Beine bewegen sich nicht. Ich bin regelrecht in Schockstarre gefangen.

Der Regengeruch flutet erneut meine Sinne, das Licht der Straßenlaterne, gebrochen in unzähligen Tropfen, nährt meine unsinnige Angst.

Der Müllsack fällt lautlos um, aber in dem prasselnden Regen wäre ohnehin nichts zu hören gewesen.

Steig ein, dreh den Zündschlüssel und kümmer dich morgen, bei Tageslicht, um den Sack.

Mehr als einen Schritt Richtung Auto schaffe ich nicht, weil mich ein innerer Drang davon abhält, meine Aufmerksamkeit von dem blauen Sack abzuwenden.

Sekunden vergehen, doch sie fühlen sich wie Stunden an.

Nichts passiert.

Langsam lässt die Anspannung in mir ein wenig nach und ich schaffe einen weiteren, winzigen Schritt.

Dann bewegt sich der Sack erneut und ich hüpfe förmlich einen Meter zurück.

Was zum Teufel geht da vor?

Die Neugierde drängt die Furcht ein wenig in den Hintergrund, trotzdem kann ich nicht, wie jeder normale Mensch, einfach hinübergehen und nachsehen. Stattdessen stehe ich ohne jegliches Zeitgefühl wie angewurzelt da, aber es müssen sicher ein paar Minuten gewesen sein, denn unvermittelt erlischt das Hoflicht.

Die Angst kehrt zurück, stärker als je zuvor, rammt mir ihre Faust in den Magen und lässt mich beinahe in die Knie gehen.

Jesus… was soll ich nur tun? Mit dem Rücken an der Tür versuche ich, gegen den Druck auf meiner Brust anzuatmen und taste in der Tasche nach meinem Handy. Soll ich Mike anrufen? Einfach seiner Stimme lauschen, damit ich mich wieder im Hier und Jetzt verankere? Er würde wissen, warum ich anrufe. Das tut er immer, weil er weiß, wie es mir bei Regen geht.

Unvermittelt flammt das Licht wieder auf, doch dieses Mal wird es durch den Sack ausgelöst, der jetzt ein kleines Stück zur Seite gerollt ist.

Ich muss nachsehen! Wenn ich es nicht tue, jetzt einfach fahre und das Ding dort drüben ignoriere, werde ich heute Nacht keine ruhige Minute finden.

Aber alleine schaffe ich das nicht. Hektisch angle ich nach meinem Handy und wähle unsere Festnetznummer.

Es klingelt nur zwei Mal, dann vernehme ich Mikes tiefe, warme Stimme. »Jamie?«

Ich stöhne und bete, dass er es nicht hört. Sofort fällt ein Großteil der Anspannung von mir ab, wie immer, wenn er, egal in welcher Form, bei mir ist. »J… ja.« Fuck, das Gestotter ist nicht gut.

»Was ist los? Ist was passiert?«

Ich schüttle den Kopf, lasse dabei aber den Sack nicht aus den Augen. Beult sich das Plastik aus? »Nein… Ja… Scheiße.«

»Der Regen?«

Mir kommen fast die Tränen, weil er weiß, wie es mir geht, ohne dass ich ihm auch nur irgendetwas erklären muss. »Auch… Fuck… Hier… hinten an der Mauer liegt ein Müllsack und… ich glaube, er bewegt sich.«

»Oh… soll ich kommen?«

Der Gedanke, ihn hier zu haben ist schön, aber es wäre kompletter Blödsinn. Unser Haus liegt gut zwanzig Minuten entfernt und er ist seit heute Morgen um fünf Uhr auf den Beinen. »Nein, danke, aber…« Ich atme gezwungen ein und aus, was er ganz sicher mitbekommt. »Ich muss nachsehen, aber es regnet und…«

»Ich bleibe einfach dran, Schatz. Schalt den Lautsprecher ein und geh rüber. Ist das okay?«

Ich nicke, einmal, zweimal, ein drittes Mal, um mir Mut zu machen. Verfickte Scheiße… warum ist das so höllisch schwer? »Ja, danke.« Meine Finger zittern so sehr, dass ich kaum die Taste treffe, um den Lautsprecher einzuschalten. »Ist an«, kann ich dann kleinlaut verkünden und betrachte erneut den Sack, der sich nun tatsächlich seitlich ausbeult.

»Dann los. Liegt er im Hellen? Sonst nimm die Taschenlampe aus dem Auto mit, hörst du?«

Das ist eine sehr gute Idee. Selbst, wenn ich das Licht kaum brauchen werde, weil das Ding inzwischen ein gutes Stück in den Schein der Außenbeleuchtung gerollt ist, habe ich dann zumindest etwas, womit ich im Notfall zuschlagen könnte. »Mach ich.«

Ich trete nach vorn über die imaginäre Schwelle, die den trockenen Boden unter dem Vordach von dem nassen Parkplatz trennt, umklammerr mein Handy fest und richte meinen Blick auf die Autotür. Aus dem Augenwinkel behalte ich jedoch den Müllsack im Blick. Nur zur Sicherheit. Über mir grollt der Donner und Wind kommt auf, aber dann lässt der Regen schlagartig nach und entlockt mir ein Stoßgebet.

Schließlich halte ich die große Taschenlampe, die ich griffbereit unter dem Beifahrersitz verwahre, in der Hand und fühle mich, mit ihr als Schlaginstrument, gleich viel sicherer.

»Okay, hab die Lampe und gehe jetzt rüber. Der Regen hat nachgelassen«, erkläre ich Mike.

»Sehr gut. Du schaffst das.« Es ist kindisch, dass ich seinen Begleitschutz überhaupt brauche, aber es fühlt sich so unfassbar gut an.

Tatsächlich kann ich jetzt gehen, mich vom Gebäude lösen und den Eingangsbereich unter dem Vordach hinter mir lassen.

Vielleicht spielt mir meine Angst nur einen Streich, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass sich irgendetwas Lebendiges in dem Sack befindet. Mit der Stille, die mit dem Ende des Regens eingekehrt ist, erklingen nun leise, undefinierbare Laute aus dem Inneren des Plastiks. Ich zittere erneut. »Mike? Da drin bewegt sich irgendwas.«

»Oh Scheiße.«

»Ja. Bin fast da.«

»Wo genau liegt er?«

»Hinten an der Mauer zwischen den Gebäuden.«

»Praktisch. Drüben ist alles verwildert. Ein guter Platz, um etwas zu entsorgen.«

»Hätten sie es mal besser drüben gelassen… Sorry, das ist jetzt sehr selbstsüchtig.«

Mike lacht leise. »Ich weiß schon, wie du es gemeint hast.«

Ich schaffe es tatsächlich zu lächeln. Ich habe den Sack fast erreicht, doch es regt sich nichts mehr darin und meine Furcht wächst wieder an. War ich zu langsam? Bin ich schuld… Nein!

»Bin gleich da.«

»Gut.«

Noch zwei Meter und ich frage mich erneut, ob mir meine Sinne nur einen Streich gespielt haben, weil es jetzt nichts weiter als ein voller Sack ist, den man hier abgeladen hat. »Es bewegt sich nicht mehr.«

»Du solltest dennoch reinsehen…«

»Weiß ich doch.« Sofort spüre ich, wie die Wut in mir aufwallt, wenn man mir sagt, was ich tun soll. Ich kämpfe sie hartnäckig nieder, weil sie hier nichts zu suchen hat. Jetzt stehe ich vor dem Ding und bin unschlüssig, was ich tun soll. Einfach aufreißen? Oben öffnen?

Eine schwache Bewegung erstickt jeden Gedanken und zwingt mich zum Handeln. »Da ist wirklich was drin«, flüstere ich, als ob mich jemand belauschen könnte.

»Jamie, ganz ruhig.«

»Ich muss dich auf den Boden legen, damit ich die Hände frei habe.« Als ich das Handy und die Lampe auf das nasse Gras lege und nach dem gespannten Plastik greife, bin ich mir der Leere hinter mir und der Angst, die versucht, mich zu packen, sehr deutlich bewusst.

Kaum habe ich die Hand auf der Tüte, drückt von Innen etwas schwach dagegen und erschrickt mich so, dass ich fast nach hinten umkippe.

»Fuck«, fluche ich leise.

»Was?«

»Da hat sich was bewegt, als ich den Sack berührt habe.«

»Reiß ein Loch rein, vielleicht kriegt es keine Luft mehr…«

»Ja, bin dabei.« Was einfach klingt kostet mich Überwindung. Mit spitzen Fingern packe ich das stabile Plastik und zerre es auseinander.

Als Erstes fällt mir der furchtbare Gestank von Blut auf, der mich beinahe würgen lässt. Er ist intensiv und vermischt sich mit dem Geruch von Nässe, Fell und Tier. Ich muss mich wegdrehen und stöhne leise.

»Was ist?«, erklingt Mikes Stimme gedämpft neben mir im Gras.

»Boah… es stinkt, mir wird übel.«

»Und was ist es?«

»Warte.« Mit spitzen Fingern vergrößere ich den Riss und zwinge mich, hineinzusehen. »Oh Gott…« Ich schlage mir die Hand vor den Mund und weiche unwillkürlich ein Stück zurück.

»Jamie?«

Tränen schießen mir in die Augen, mein Hals wird eng und in mir breitet sich ein so stechender und intensiver Schmerz aus, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt habe.

»Jamie! Rede mit mir!«

»Ja…« Ich weiß nicht, was ich sagen soll, so grauenvoll ist der Anblick. »Hunde… es sind kleine Hunde. Totgebissen, regelrecht zerfetzt.«

»Dreckspack, elendiges«, knurrt Mike am anderen Ende, weil wir beide wissen, was hier liegt: Die Versuchskaninchen für die unsäglichen Hundekämpfe, die hier weit verbreitet sind. »Sind alle tot?«

Ich muss mich überwinden, wieder in den Sack zu sehen. »Ich kann das nicht wegräumen«, flüstere ich mühsam.

»Natürlich nicht. Soll ich doch kommen?«

»Nein. Vielleicht…« Mit dem Griff der Taschenlampe schiebe ich einen Kadaver beiseite. Tränen laufen mir über die Wangen, weil der Körper eine grauenvolle Geschichte erzählt. Es sind noch junge Hunde, Welpen, unschuldig und nur geboren, um von ihresgleichen im Blutrausch umgebracht zu werden. Wie kann ein Mensch nur zu so was fähig sein? Jetzt komme ich mir albern vor, dass ich mich so vor diesem Sack gefürchtet habe. Die Welpen haben deutlich Schlimmeres erfahren als ich mit meiner Angst. Ich schüttle ungehalten über mich selbst den Kopf, hätte ich mich doch bloß eher getraut, vielleicht hätte ich einen von ihnen retten können?

Ein kaum hörbares Geräusch lenkt meinen Blick ein Stück nach links, an den Rand des Gewirrs aus Leibern, der noch vom Plastik bedeckt ist. Vorsichtig hebe ich ihn an und dann sehe ich, wie sich eine winzige, blutige Pfote bewegt und hilflos unter einem leblosen Körper um Platz ringt.

»Einer der Kleinen lebt noch, Gott… ich muss...« Obwohl es mich anwidert, packe ich das Tier und ziehe es zur Seite. Ich bin erschüttert, dass der Körper noch nicht mal richtig kalt ist. »Oh Gott, oh Gott…«

»Was?«

»Sie sind noch warm«, schluchze ich und zwinge mich mühsam, weiterzumachen.

»Furchtbar.« Mikes Stimme ist ebenso erschüttert wie meine. »Und?«

Noch ein Körper ist im Weg. Meine Hände sind inzwischen blutverschmiert, aber es stört mich nicht länger, als wäre die Hemmschwelle überwunden. Da ist ein unschuldiges Wesen, das meine Hilfe braucht und nur das zählt. Mit aller Kraft reiße ich den Sack weiter auf, finde aber oben nur Papier und Plastikunrat, den man einfach auf die Tiere gekippt hat.

Ein hohes, schrilles Quietschen lässt mir die Haare zu Berge stehen und ich lege insgesamt vier tote Welpen beiseite, bis ich zum Ursprung des Schreis komme.

Schwarze Knopfaugen, so weit aufgerissen, dass ich das Weiße sehen kann, starren zu mir herauf.

Der Regen setzt wieder ein, ein Tropfen fällt auf den blutigen Hundekopf und entlockt dem Tier wieder ein Winseln.

»Es ist voller Blut.« Tatsächlich ist das eine furchtbare Untertreibung, weil ich nicht mal erkennen kann, welche Farbe das Fell des Hundes hat. »Er ist winzig, da sind überall Wunden.« Ich muss ihn anfassen, in irgendetwas wickeln, damit ich es transportieren kann.

»Hol ein Handtuch, Jamie.«

»Keine Zeit. Ich will ihn nicht alleine lassen.« Ohne zu zögern ziehe ich meine Jacke aus, lege sie auf den Boden und schiebe vorsichtig meine Hände unter den warmen, federleichten Körper. Ich habe keine Ahnung, ob dieses Wesen knurrt, bellt oder heult, weil mich der markerschütternde Ton irgendwie paralysiert und alles, was mich sonst beschäftigt, überdeckt.

»Pssst, ist gut, Honey. Alles wird gut.« Stoisch versuche ich, mit weit ausgebreiteten Händen die Haltung des kleinen Körpers so wenig wie möglich zu verändern und lege ihn schließlich sanft auf meine Jacke.

»Ich muss nachsehen, ob noch ein Welpe am Leben ist«, flüstere ich leise und beuge mich, gegen ein Würgen ankämpfend, erneut über den Sack.

Aber es ist zu spät. Die Augen der kleinen Hunde sind bereits stumpf, kein frisches Blut mehr, null Reaktion auf meine Berührungen.

Obwohl ich nichts dafürkann, fühle ich mich wie ein Versager. Vielleicht hätte ich noch ein Tier retten können, wenn ich meine Angst schneller überwunden hätte.

»Schatz?«

Mikes Stimme reißt mich aus meiner Qual. »Ja, der Kleine liegt auf meiner Jacke. Die anderen sind leider tot.« Meine Worte gehen in einem Schluchzen unter und ich wische mir energisch über die Augen. Reiß dich zusammen, rede ich mir zu, weil ich weiß, dass ich kurz davorstehe, wieder in so einem bescheuerten schwarzen Loch zu versinken.

»Das ist nicht deine Schuld, Jamie, das weißt du hoffentlich.«

»Ja, schon… aber…«

»Kein Aber. Kannst du fahren?«

Ich nicke und atme tief durch, während ich den Sack ins Trockene ziehe und schnell ein großes Stück Plastik darüberlege, um den Inhalt einigermaßen zu schützen. Das ist so entsetzlich unwürdig.

»Kümmerst du dich wirklich um die toten Hunde?«, frage ich Mike, während ich zu meiner Jacke zurückhetze.

»Ja, ich ziehe mich schon an und bin gleich auf dem Weg.«

Er ist einfach der Beste. »Danke. Ich lege jetzt auf und fahre in die Klinik, ja?«

»Sicher. Geht es wirklich?«

»Es muss. Ich glaube, ich habe nicht mehr viel Zeit…« Mein Herz krampft sich zusammen, als ich den kleinen Hundekörper betrachte, der plötzlich ganz still geworden ist. Automatisch drücke ich Mike weg, stecke das Handy zurück in meine Hosentasche und knie mich neben das Tier.

Gott, ich habe Angst, dass der Kleine ebenfalls gestorben ist. »Bitte nicht«, flüstere ich immer wieder und lege meine Hand vorsichtig auf das blutdurchtränkte Fell.

Nein, da schlägt noch ein Herz, zwar ganz schwach und unregelmäßig, aber der Kampf ist noch nicht verloren. Und als der Hund meine Berührung spürt, sieht er mich an.

Als sich unsere Blicke treffen, schnürt sich mein Herz zusammen. Da ist so unsagbar viel Schmerz, aber auch Mut und Zorn, woran ich mir ein Beispiel nehmen sollte.

Ich kann mich nur an Angst und Schmerz, aber nicht ein einziges positives Gefühl erinnern, als ich vor einigen Jahren hier an seiner Stelle lag.

Das kleine Wesen winselt und schließt das gesunde Auge, als ob es wüsste, dass es nicht mehr in Gefahr ist.

»Ich muss dich jetzt tragen, ja?« Nach wenigen Augenblicken schaffe ich es, den Hund samt Jacke so im Arm zu halten, dass ich mit der anderen Hand mein Auto öffnen und einsteigen kann. Das Bündel auf meinem Schoß ist so klein, dass ich ohne Weiteres so fahren kann.

Das Tor zur Straße öffnet sich und hinter mir verlischt das Licht des Parkplatzes.

In meinem Inneren rumort es hingegen so stark wie nie zuvor.

2.

Mike

Eine gute Stunde nach meinem Telefonat mit Jamie betrete ich die mittlerweile zweite Tierklinik. Da er meine Anrufe seitdem ignoriert, weiß ich nicht, wo er hingefahren ist und meine Sorge wächst.

Er befindet sich seit Monaten in einem sehr fragilen Zustand, den ich nicht näher beschreiben kann und der vor allem in den letzten Wochen immer extremer geworden ist. Aber er erinnert mich fatal an einen Vulkan kurz vor dem Ausbruch, oder etwas ähnlich Schlimmes.

Im Grunde habe ich den ganzen Abend auf seinen Anruf gewartet, weil alleine das Wetter schon dafür ausgereicht hätte. Ich weiß, auch Jamie ist unglücklich über seine Misserfolge, die seine Verarbeitung des Überfalls betreffen. Anstatt zu heilen, reibt er sich zunehmend auf, fällt immer öfter und tiefer in Depressionen und verwandelt sich nach außen hin in einen Tyrannen, dem niemand mehr etwas recht machen kann.

Ich erreiche den dürftig beleuchteten Parkplatz vor der Tierklinik und stöhne erleichtert auf, als ich ziemlich nahe an der Eingangstür Jamies vollkommen schief geparkten Wagen entdecke. Am Griff der Fahrertür sehe ich dunkle Flecken. Gruselig. Wahrscheinlich das Blut der armen Tiere.

Nachdem ich mein Auto geparkt habe, eile ich in den hell erleuchteten Empfangsbereich. Es ist ruhig und menschenleer. Irgendwo in einem der angrenzenden Zimmer heult ein Tier und zwei andere antworten.

Eine junge Frau taucht auf und sieht mich fragend an. »Kann ich etwas für Sie tun?«

»Ja, mein Mann ist vor Kurzem mit einem schwer verletzten Welpen hier angekommen. Sein Wagen steht draußen.«

Sie nickt und seufzt. »Ja. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihm.«

Ich folge ihr und frage, als ich sie eingeholt habe: »Lebt der Kleine noch?«

»Ja, gerade so. Er ist schwer gebissen worden, aber das muss ich Ihnen ja nicht erzählen. Momentan hängt er am Tropf, damit wir ihn ein wenig stabilisieren können. Aber ob er stark genug sein wird, um die nötigen Operationen zu überstehen?« Sie sieht mich an und zuckt mit den Schultern.

Ich nicke und mir tut es unsagbar leid.

Mir wird immer noch ganz schlecht, wenn ich an den Fund denke, und das Bild der toten Welpen werde ich sicher nie wieder aus dem Kopf bekommen. Wie kann ein Mensch nur so etwas tun? Warum werden unschuldige, winzige und vollkommen wehrlose Kreaturen aus reiner Belustigung und Geldgier gequält? Ich mag Los Angeles wirklich, aber das… Nein, danke.

Eigentlich will ich mir gar nicht vorstellen, wie Jamie diese Sache mitnimmt. Wie wird er das verkraften? Mich beschleicht ein sehr ungutes Gefühl, dass ihn dieser Verlust aus der Bahn werfen könnte, auch wenn er den Hund ja erst gefunden hat und noch keine Beziehung zu ihm aufbauen konnte.

Scheiße.

Wir betreten ein Untersuchungszimmer und ich bleibe geschockt an der Tür stehen.

Solange ich Jamie kenne, und es sind jetzt doch schon ein paar Jahre, habe ich ihn so noch nie erlebt.

Es ist, als würde nicht mehr der erwachsene Mann hier sitzen, sondern der zweiundzwanzigjährige Junge, der er einmal gewesen war. Er wirkt regelrecht gebrochen, uralt und wie jemand, der des Lebens überdrüssig geworden ist. Ist er dabei, den Kampf mit sich zu verlieren? Eine furchtbare Vorstellung.

»Sitzt er schon lange so da?«, will ich von der Tierarzthelferin wissen.

Sie seufzt vernehmlich und verschränkt die Arme vor der Brust. Ich beobachte sie, aber da ist kein Unwillen in ihrem Ausdruck, sondern nur Bedauern mit diesen zwei blutgetränkten Kreaturen dort auf dem Boden.

»Ja. Als feststand, dass wir die Hündin nicht operieren können, weil sie zu kollabieren drohte und wir sie an den Tropf hängten, hat er sie festgehalten und sich schließlich mit ihr dort hingesetzt. Ich meine… Seine Nähe scheint sie zu beruhigen, aber ich mache mir auch um ihn Sorgen. Es scheint ihn extrem mitzunehmen.«

Ich betrachte das Paar auf dem Boden und nicke. »Tut es. Muss er hier weg, oder…?«

Sie winkt ab. »Nein. Ist okay.«

»Gut. Ich kümmere mich um ihn, ja?«

Sie lächelt mich erleichtert an. Wahrscheinlich ist sie im Umgang mit Tieren weitaus bewanderter als mit Menschen. »Gut. Draußen steht ein Kaffeeautomat und falls Sie was brauchen, rufen Sie einfach. Ich bin nebenan.«

Mit diesen Worten verlässt sie leise den Raum und das Quietschen ihrer Gummisohlen auf dem PVC-Boden ist das einzige Geräusch.

Jamie hat mich noch immer nicht bemerkt und wiegt seinen Oberkörper langsam vor und zurück. Auf seinem Schoß liegt ein undefinierbares Bündel aus rotem Fell, von dem ein Plastikschlauch nach oben zu einem Tropf führt. Meine Befürchtung, dass die Hündin bereits tot ist, ist unbegründet, weil hin und wieder die Schwanzspitze zuckt und sie ihr Ohr in unsere Richtung gedreht hat, als ich mit der Schwester gesprochen habe.

Aber das Bild an sich ist herzzerreißend. Jamies T-Shirt ist voller Blut, ebenso wie seine Hände. Offensichtlich hat er sich nicht mal die Zeit genommen, sie zu waschen. Selbst von der Tür aus kann ich sehen, dass sein Gesicht tränenüberströmt ist. Trotz oder genau wegen des Überfalls vor vielen Jahren, weint Jamie nicht. Es ist, als ob er sich jegliche Schwäche strikt verbietet und ausgerechnet ein kleiner, verletzter Welpe hat es geschafft, seine Mauer zu durchbrechen. Ob das nun gut oder schlecht ist, wird sich zeigen.

Langsam gehe ich zu ihm hinüber und sinke neben ihm in die Hocke. Der Drang, ihn an mich zu ziehen und vor all dem hier zu beschützen, ist übermächtig. Wieder einmal war ich nicht da, als er mich gebraucht hat.

»Schatz?«, spreche ich ihn leise an und berühre vorsichtig mit den Fingerspitzen seine Schulter. Ich weiß, dass er seine Umwelt kaum wahrnimmt und schnell erschrickt, wenn er so stark leidet und in seinem Kummer versunken ist. Das wiederum schürt seinen Ärger und… Es ist eine Vielzahl von ineinander verzahnten Teufelskreisen, wie mir spontan klar wird. Eine nervenaufreibende Situation und ich weiß nicht, wie sich dieses Drama darauf auswirken wird.

Mein Griff wird fester und Jamies wiegende Bewegung stoppt. Er sieht zu mir auf und mir bricht es fast das Herz, als ich in seinen wunderschönen Schokoaugen all den Schmerz sehen kann, den er sonst sorgsam selbst vor mir verbirgt.

»Mike?«, flüstert er kaum hörbar. »Sie können nichts für sie tun. Was soll ich machen?«

Ich lasse mich auf die Knie sinken und schüttle den Kopf. »Du tust doch bereits alles, was du kannst. Jamie, du hast sie befreit, hergebracht und sie hängt am Tropf. Alles Weitere muss die Zeit zeigen.«

Er sieht in seinen Schoß hinunter und die Hündin dreht ihm tatsächlich den Kopf zu. Großer Gott. Ich schlucke und unterdrücke mühsam ein Schluchzen. Sie erinnert entfernt an einen Terrier, auch wenn sie längere Haare hat. Eigentlich ein süßes kleines Ding, aber die Bisswunden haben sie furchtbar entstellt. Ein Ohr hängt in Fetzen an ihrem Kopf und ihr linkes Auge ist nur noch eine blutige Wunde, vom Rest des Körpers ganz zu schweigen.

»Ich will, dass sie es schafft!« Jamies Stimme erinnert an ein Quengeln, ist voller Trotz und seiner so typischen Sturheit.

»Das will ich auch und hier tut sicher jeder sein Bestes, um das zu gewährleisten.« Es fällt mir schwer, ihm Mut zuzusprechen, da der Zustand des Hundes nicht gerade Mut macht. Aber ich kann Jamies Hoffnung nicht zerstören, vor allem nicht, wenn mir das Auge der Hündin etwas von unbeugsamem Lebenswillen erzählt. »Sie ist stark.«

Jamie nickt und schnieft. »Das ist sie.« Für einen Augenblick beruhigt er sich und atmet leichter.

»Wie wäre es, wenn du sie in ihren Käfig legst und wir uns einen Kaffee holen? Du solltest dir die Hände…«

»Nein!«, faucht er mich an. »Ich werde sie nicht irgendwo ablegen, hörst du?«

Er funkelt mich aufgebracht an und ich weiß, dass ich jetzt mit Vorschlägen nicht weiterkomme.

»Dann nicht. Magst du was trinken? Ich könnte einen Lappen besorgen, damit du dich sauber machen kannst.«

Jamie blickt auf seine Hände hinunter und dreht sie im gnadenlos hellen Licht des Untersuchungszimmers. »Ich sollte mir die Hände waschen…« flüstert er, als ob ich nicht genau das Gleiche vor ein paar Sekunden gesagt hätte.

»Ja, solltest du. Magst du sie mir solange geben? Ich kann sie halten, während du…«

Er schüttelt ablehnend den Kopf. »Nein. Auf keinen Fall.«

Seufzend stehe ich auf. »Dann hole ich uns mal einen Kaffee.« An der Tür sehe ich zu Jamie zurück, aber er bemerkt nicht mal, dass ich gehe. Während ich am Kaffeeautomaten stehe, befürchte ich, dass sich mein erster Eindruck bestätigen könnte. Dieser Vorfall könnte bei meinem Mann etwas Schreckliches ausgelöst haben.

Es ist sechs Uhr morgens, als Jamie endlich von der Klinik nach Hause kommt. Ich habe die restliche Nacht auf der Couch verbracht, nachdem ich um halb eins den Kampf aufgegeben habe, Jamie zum Mitgehen zu überreden.

Mit gemischten Gefühlen gehe ich ihm entgegen, als er sich gerade die Schuhe von den Füßen streift.

»Hey.«

Er sieht mich an. Müdigkeit, Angst und irgendetwas Undefinierbares haben in der Nacht tiefe Falten in seine Miene gegraben. Fakt ist: Jamie sieht fix und fertig aus.

»Auch hey.«

»Wie geht's ihr?«

Jamie zuckt mit den Schultern, aber das alleine reicht mir schon, um zu wissen, dass die Hündin wenigstens noch lebt. »Schlecht, aber sie ist stabil. Der Arzt ist jetzt gekommen und sie haben mich gebeten zu gehen.«

Gebeten zu gehen? Wohl eher rausgeschmissen, sonst wäre er nicht hier. Aber ich werde den Teufel tun und das laut aussprechen. »Du hast heute Nacht gute Arbeit geleistet.«

Er schnaubt abfällig und sieht mich verärgert an. »Was hab ich? Einen Scheiß hab ich. Ich konnte nur dasitzen und sie halten«, faucht er aufgebracht.

»Das ist mehr, als viele andere getan hätten.«

Zu meiner Überraschung fährt er sofort wieder runter, allerdings kann es auch daran liegen, dass er schlicht zu erschöpft ist, um zu streiten.

»Wie wäre es mit einer Dusche, während ich Frühstück mache?«, frage ich, um das leidige Thema gar nicht erst anzusprechen.

Jamie steht nach wie vor ratlos neben der Tür und überlegt. »Hmm. Ich wollte später wieder in die Klinik.«

Ich unterdrücke ein Seufzen. »Vielleicht wäre ein wenig Schlaf hilfreich, bevor du dich wieder hinters Steuer setzt und…«

»Was? Traust du mir jetzt nicht mal mehr zu, heil durch die Stadt zu fahren?« Er funkelt mich aufgebracht an.

Ich habe keinen Schimmer, wo dieser Trotz ständig herkommt, aber irgendwie beschleicht mich der Verdacht, dass er einer der letzten Stützpfeiler ist, die Jamies Psyche irgendwie zusammenhalten. Diese Erklärung ist allerdings nur zum Teil auf meinem Mist gewachsen, weil ich regelmäßig mit Chris Kontakt halte. Der hat sich, bedingt durch sein eigenes Trauma, sehr mit dem ganzen Thema beschäftigt und tatsächlich angefangen, per Fernstudium Psychologie zu studieren.

Er will am Ende keinen Abschluss, sondern tut das einfach, weil er die Dinge im Kopf eines Menschen besser verstehen will. Nun… Jamies Kopf haben wir noch nicht ganz ergründet, aber ich glaube, das könnte sich bald ändern.

Vielleicht ist es eine Vorwarnung, ähnlich wie ein Seismograf, der mir gestern schon sagte, dass der Vorfall mit dem Hund etwas ausgelöst hat. Oder vielleicht kenne ich Jamie inzwischen zu gut, um zu merken, wenn er nicht weiterweiß oder kann.

Anstatt auf seinen Satz zu antworten, ziehe ich die Augenbrauen hoch und beobachte seine Reaktion. Er schluckt, ist von meiner untypischen Reaktion verunsichert und murrt unwillig, während er seine Jacke einfach neben die Schuhe auf den Boden wirft.

Ich ziehe die Brauen zusammen. Er kann einfach nicht aufhören, mich weiter zu provozieren.

»Fühlst du dich jetzt besser?«

Verwirrt sieht er mich wieder an. »Was meinst du?«

»Nachdem du deinen Frust an mir abgeladen hast.«

Jamie kneift die Augen zu und wirkt für eine Millisekunde vollkommen ängstlich und hilflos, ehe er sein abfälliges Grinsen wieder aufsetzt und versucht, sämtliche Schwächen vor mir zu verstecken.

Aber ich weiß es besser.

»Vielleicht hab ich es einfach nur satt, ständig bemuttert zu werden?«

Eigentlich habe ich keine Lust auf diese Diskussion, da ich weiß, wohin sie führt, aber auch ich bin so in dem Fahrwasser gefangen, dass ich nicht einfach aussteigen kann.

»Sorry, dass ich mir Sorgen mache, wenn mein Mann total fertig nach Hause kommt und noch immer aussieht, als ob er die Nacht in einem Schlachthaus verbracht hat. Aber egal… Sei wenigstens so vernünftig und ruh dich etwas aus, ehe du noch mal nach der Hündin siehst. Und denk daran, dass wir morgen früh zum Flughafen müssen, ja?«

In Jamies Miene zuckt es. »Wieso? Ich hab doch dich. Du sagst mir ja immer was ich tun soll«, spuckt er mir förmlich entgegen, ehe er an mir vorbei nach oben geht.

Mein Kiefer knackt, so fest beiße ich die Zähne zusammen. Mir geht die Kraft aus. Ich liebe Jamie von ganzem Herzen, aber so langsam komme ich an meine Grenzen.

3.

Jamie

Fuck, ich wusste nicht, dass es so lange dauert, getrocknetes Blut von der Haut zu waschen. Gefühlt seit Stunden schrubbe ich meine Finger, aber das Rot hält sich hartnäckig.

Wenigstens hilft mir die Aktion, wieder ein wenig runterzukommen. Schon wieder habe ich Mike angefahren, obwohl es keinen Grund dazu gab.

Den gibt es eigentlich nie. Normalerweise zanken wir uns nur liebevoll, aber jetzt?

Ich hasse mich dafür, weil ich ganz genau weiß, dass ich der Auslöser dafür bin. Obwohl ich mich nach seiner Nähe, Stärke und Zuneigung und ja, auch Fürsorge sehne, dass es mein Herz schmerzt, kann ich nicht über meinen Schatten springen und mir seine Stärke nehmen. Stattdessen provoziere ich ihn immer wieder und halte ihn unbewusst auf Abstand.

Ich stelle das Wasser ab und sehe in den Spiegel, vermeide es jedoch, mein Gesicht zu betrachten. Das tue ich seit Monaten nur äußerst selten und ungern. So, wie ich im Grunde auch meinen Körper seit ebenso langer Zeit missachte.

Endlich ziehe ich das blutstarre T-Shirt über meinen Kopf und versuche, mein schnell pochendes Herz zu ignorieren. Wenn ich kann, betrachte ich meinen Körper nicht, ich will ihn nicht sehen. Er widert mich an.

Vielleicht sollte ich Mikes Vorschlag, eine Mütze Schlaf zu bekommen, doch folgen. Zumindest kann ich dann die Augen schließen und darauf hoffen, dass mich die Bilder im Schlaf nicht verfolgen.

Drei Stunden später sitze ich wieder in der Klinik und halte den nun wärmeren Körper der Hündin auf dem Schoß. Nach wie vor tropft in langsamem Rhythmus Flüssigkeit durch den Infusionsschlauch. Die Ärzte haben mir erklärt, dass sie stabiler ist, aber noch nicht so weit, um einer OP standzuhalten. Aber immerhin sind die Wunden nun versorgt, das Blut zu großen Teilen aus ihrem weiß-braunen Fell gewaschen und diverse, kahlgeschorene Bereiche ihres Körpers mit Verbänden bedeckt.

Vorhin habe ich praktisch die Verantwortung für sie übernommen und dafür gesorgt, dass ihr nicht aus Geldmangel nötige Behandlungen verweigert werden. Das bin ich ihr schuldig.

Nein, eigentlich nicht, aber…

In mir rumort es und schlagartig steigen mir Tränen in die Augen.

Wehrlos, hilflos, schwach… So wie ich damals. Wir hatten beide keine Wahl und sind ohne wirklichen Grund und Sinn misshandelt worden.

Stunden vergehen, fließen hier einfach so dahin und werden nur von den Besuchen der Ärzte und Schwestern unterbrochen. Einmal mehr versinke ich in diesem seltsamen Tunnel, der mich aus der Wirklichkeit zieht und ruhig werden lässt.

Dort gibt es keine Forderungen, keinen Job, der mich antreibt, keinen Mann, der mich immer ansieht, als ob er mich am liebsten gleich in Watte packen möchte.

Und keinen Selbsthass, Schmerz und diesen Ekel in mir, der mich daran hindert, meinen verunstalteten Körper als mein zu akzeptieren.

Die Pläne für gemeinsame Drehs liegen seit Monaten auf Halde, weil es angeblich an allen Fronten zu viel Arbeit gibt, aber das ist nur die halbe Wahrheit. In Wirklichkeit ist die Vorstellung, mit Mike vor der Kamera zu schlafen, für mich total abwegig geworden.

Mike ist schön, perfekt, eine Augenweide. Ich hingegen bin ein Freak, dem man inzwischen auch ansieht, dass er kaum noch ein Fitnessstudio von innen sieht und dessen Haut fahl und ungesund wirkt.

Sie zeigt nur, wie es in mir drinnen aussieht, also kein Wunder.

Anfangs, also nach dem Überfall lief es gut. Ich dachte, ich hätte es überwunden, aber das war wohl nicht der Fall. Mike und vor allem Chris sagen das auch und das ärgert mich zutiefst. Wie kann es sein, dass mir diese Sache so lange nachhängt? Chris hat es doch auch geschafft.

Ich schnaube und ernte einen misstrauischen Blick des Hundes. Sie hat schöne Augen, oder besser, ein schönes Auge. Das andere ist wohl nicht mehr zu retten und muss entfernt werden. Im Moment ist es unter einem dicken Verband verborgen, um sie am Kratzen zu hindern. Mike mustert mich auch ständig so. Mitleid… wie ich das hasse. Genau aus dem Grund bin ich gleich wieder hierhergefahren, nachdem ich aufgewacht bin. Ich kann seine besorgten Blicke nicht mehr ertragen.

Stattdessen flüchte ich mich in die Taubheit, bis ich höflich, aber bestimmt gebeten werde, zu gehen.

Schade. Es ist nicht so, dass es hier bequem ist, aber irgendwie hilft mir die sterile Umgebung, nicht verrückt zu werden.

Komischer Gedanke, denn immerhin ist dort draußen mein Alltag, mein Leben und mein Mann.

Seufzend mache ich mich auf den Weg und verspreche, morgen wiederzukommen. Erst als ich im Auto sitze, geht mir auf, dass wir morgen eigentlich nach Hause, sprich ins Allgäu fliegen wollten.

Alles in mir wehrt sich dagegen, obwohl ich mich dort inzwischen wirklich fast mehr zu Hause fühle als hier. Es ist mein Kraft- und Rückzugsort, an dem ich so herrlich entschleunigen kann. Im Moment kann ich das aber absolut nicht gebrauchen können.

Nein, ich habe sogar Angst davor.

Warum?

Keine Ahnung, aber Fakt ist, ich kann nicht mit. Ich darf nicht mit, muss bei meiner Hündin bleiben und sie beschützen.

Ja. Sie braucht mich… 

4.

Mike

Ich bin auf hundertachtzig, als ich unten die Haustür höre.

Aus dem ich will nur kurz nach der Hündin sehen, sind mittlerweile sechs Stunden geworden. Draußen ist es längst dunkel, das Abendessen steht seit einer Ewigkeit auf dem Tisch und ich habe neben meinem Koffer Jamies auch noch gepackt.

Es fällt mir schwer, mich zusammenzureißen. Mein Nervenkostüm wird von Mal zu Mal dünner und die Anstrengung, ständig auf der Hut zu sein, was und wie ich etwas zu Jamie sage, kostet Kraft.

Und ich habe Angst. Angst, ihn zu verlieren, weil ich nicht weiß, ob seine Gereiztheit nur an dem nicht verarbeiteten Trauma liegt, oder er schlicht nichts mehr für mich empfindet. Dieser Druck in mir ist hässlich und schmerzhaft, aber ich weiß nicht, was ich dagegen tun soll.

Im vollen Bewusstsein, dass es in den nächsten Minuten wohl wieder krachen wird, gehe ich hinunter und suche meinen Mann.

Er steht in der Küche und trinkt in großen Schlucken aus einem dieser riesigen Orangensaft-Tetrapacks, die ich furchtbar finde.