Heimatkinder Staffel 3 – Heimatroman - Diverse Autoren - E-Book
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Heimatkinder Staffel 3 – Heimatroman E-Book

Diverse Autoren

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Beschreibung

Die Heimatkinder verkörpern einen neuen Romantypus, der seinesgleichen sucht. Zugleich Liebesroman, Heimatroman, Familienroman – geschildert auf eine bezaubernde, herzerfrischende Weise, wie wir alle sie schon immer ersehnt haben. Während eines Sommerurlaubs lernt der junge Förster Hannes Burger die bildhübsche Städterin Sonja Rosen kennen. Obwohl er seit Langem mit Marett, einem Dirndl aus seinem Dorf, verlobt ist, folgt er der schwarzhaarigen Sonja in die Stadt und verlebt hier eine Zeit unbeschwerten Glücks. Aber dann folgt die Ernüchterung, denn er sieht Sonja an der Seite eines anderen Mannes. Voll Reue kehrt Hannes in die Heimat zurück, fest dazu entschlossen, Marett um Verzeihung und einen neuen Anfang zu bitten. Nur mit ihr, so weiß er jetzt, kann er glücklich werden. Doch kaum ist er zu Hause angekommen, erkennt er, dass er zu lange gewartet hat: Marett hat ihr Jawort einem anderen gegeben … E-Book 21: Franzi und der Herzensbrecher E-Book 22: Die Kinder des Försters E-Book 23: Wenn Heimweh dir das Herz verbrennt E-Book 24: Ein Sohn nach unserem Herzen E-Book 25: Mondnächte im Moor E-Book 26: Der Erbe vom Lenz-Hof E-Book 27: Ich hab den Papa heimgeholt E-Book 28: Stumm ertrug er sein Schicksal E-Book 29: Die Omi hat kein Geld E-Book 30: Kleiner Bub ganz groß

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Inhalt

Franzi und der Herzensbrecher

Die Kinder des Försters

Wenn Heimweh dir das Herz verbrennt

Ein Sohn nach unserem Herzen

Mondnächte im Moor

Der Erbe vom Lenz-Hof

Ich hab den Papa heimgeholt

Stumm ertrug er sein Schicksal

Die Omi hat kein Geld

Kleiner Bub ganz groß

Heimatkinder – 3–

Staffel 3

21-30

Diverse Autoren

Franzi und der Herzensbrecher

Er hinterließ ihr – Stepherl

Roman von Ute Amber

Uli zog Franzi in seine Arme. »Ich lieb’ dich, Dirndl«, flüsterte er ihr ins Ohr. »So sehr, wie dich der Korbinian gar net lieben kann. Stell dir vor, wie deine Ehe mit ihm aussehen würde hier in dem kleinen Bergdorf – und wie dagegen dein Leben mit mir.« Sein Griff wurde noch fester, besitzergreifender. »Gibt’s da überhaupt was zu überlegen?«

Franzi sah zu ihm auf, und eine Welt von Liebe lag in ihrem Blick. »Nein, Uli«, flüsterte sie leise – und hatte in diesem Augenblick auch schon vergessen, was ihr der Korbinian einst gewesen war. Was zählten seine Treue und Ehrlichkeit gegen Ulis heiße Liebesschwüre?

Für Franzi Feistauer war der malerische Rehwinkel am Fuß des Karwendelgebirges der schönste Platz, den es für sie geben konnte. Sie liebte dieses Fleckchen Erde, und noch nie hatte es sie in die Welt hinausgezogen. Durch den frühen Tod der Mutter hatte sie bald selbstständig werden müssen. Jetzt war sie fünfundzwanzig und ihrem Vater seit Jahren unentbehrlich. Mit ihm bewirtschaftete sie den kleinen Bergbauernhof so gut, dass er abwarf, was sie zum Leben brauchten.

Franzi war ein bildhübsches blondes Mädchen, das so mancher junger Mann aus der Umgebung gern zur Frau genommen hätte. Doch ihr Herz war längst vergeben. Es gehörte dem dreißigjährigen Korbinian Stettner. Er war der Hoferbe eines großen Anwesens in der Nähe des Rehwinkels.

Die beiden hätten längst geheiratet, wäre da nicht Franzis Sorge um den Vater gewesen, mit dem sie eine tiefe Liebe verband. Sie fürchtete, dass er allein nicht zurechtkommen würde. Zur Ruhe setzen wollte er sich noch nicht, der kleine, aber schmucke Bauernhof lag ihm am Herzen.

Mit seinen zweiundfünfzig Jahren war er auch noch rüstig genug, um seine Arbeit tun zu können. Er brauchte nur eine Wirtschafterin, die mit zupackte. Seit Längerem sah er sich nach einer Hauserin um, die in der Einsamkeit der Bergwelt sein mochte. Franzi sollte ihren Korbinian heiraten können. Auf dem Stettnerhof wurde dringend eine junge Bäuerin gebraucht. Xaver Stettner, Korbinians Vater, kränkelte seit Langem, und die alte Wirtschafterin Barbara konnte die verstorbene Bäuerin nicht mehr ersetzen, wie es nötig gewesen wäre.

Es gab noch einen Stettnersohn, Ulrich, den sie alle nur Uli riefen, aber er arbeitete auf der österreichischen Seite des Karwendels bei seinem Onkel, dessen Hof er einmal erben sollte. Ab und zu kam er zu Besuch zu seinem Vater und Bruder. Er war ein etwas leichtfertiger Bursche, ganz das Gegenteil von Korbinian, der einen grundanständigen, wenn auch etwas schwerfälligen Charakter hatte.

Franzi wusste, dass sich Korbinian oft Sorgen um seinen Bruder machte. Sie versuchte ihn dann immer zu beschwichtigen, weil sie meinte, man könnte Uli nicht böse sein.

Kurze Zeit, bevor Franzi und Korbinian beschlossen hatten, nun doch zu heiraten, kam Uli nach Hause. Diesmal nicht nur zu Besuch, er wollte auf dem Hof bleiben, weil er sich mit seinem Onkel zerstritten hatte.

Von Beginn an machte er Franzi den Hof und versuchte gar nicht zu verbergen, wie sehr er sie mochte. Hemmungen seinem Bruder gegenüber kannte er nicht, der musste mit ansehen, wie sehr sich Uli um Franzi bemühte.

Anfangs wich sie ihm aus, doch sie war ihm gegenüber nicht frei. Seine Reden gefielen ihr, und wie er sich benahm, das kam ihr so weltoffen vor. Dass er in allem gewandter war als Korbinian, konnte auch sie nicht übersehen. Sie hörte von ihm so verliebte Worte, wie der stille Korbinian sie nie gesagt hatte.

Je länger Uli auf dem Hof war, umso öfter zog sie Vergleiche zwischen ihm und Korbinian. Sie fielen immer zu dessen Ungunsten aus. Jetzt rechnete sie ihm nicht mehr so hoch an, wie fleißig und strebsam er war, denn sie erlebte, dass Uli mehr Zeit für sie hatte. Oft kam er mitten am Tag, um sie zu besuchen, und von Mal zu Mal verdrehte er ihr den Kopf mehr, bis sie meinte, ihre Liebe zu Korbinian sei ein Irrtum gewesen.

In diesem Zustand war sie eine leichte Beute für Uli. Und wie ein Jäger benahm er sich auch. Er hatte nichts anderes im Sinn, als Franzi für sich zu gewinnen.

Sicher war er leidenschaftlich in sie verliebt, aber es reizte ihn auch, Korbinian auszustechen, den ihm andere immer wieder als Vorbild hinstellten.

Eines Abends, als Korbinian zu einer Bauernversammlung gefahren war, kam Uli wieder zu Franzi. Diesmal zögerte er nicht lange, nahm sie in die Arme und küsste sie. Sie wehrte sich nicht dagegen, sondern schmiegte sich ganz fest an ihn. Wie er jetzt von seiner Liebe zu ihr sprach, das gefiel ihr. Sie vergaß, wie ehrlich Korbinians Liebesbeteuerungen gewesen waren. Was zählten sie gegen Ulis heiße Liebesschwüre?

»Mach Schluss mit Korbinian«, redete Uli auf sie ein. »Er passt doch gar nicht zu dir, dieser schwerfällige Klotz. Als seine Bäuerin wirst du eine Ehe zum Einschlafen führen, mit mir aber könntest du die ganze Welt erobern. Musst du hier in der Einöde hocken bleiben, ein Dirndl, das so aussieht wie du? Ich werde meinen Onkel wieder versöhnen, und dann ziehen wir auf seinen Hof. Der steckt nicht so in den Bergen drin wie der Stettnerhof, sondern schon in einem geschlossenen Ort, in dem etwas los ist. Bei Korbinian müsstest du dich immer plagen, ich aber werde dafür sorgen, dass du ein schönes, leichteres Leben hast.«

So redete Uli den ganzen Abend und hatte Erfolg damit. Franzi spürte, dass sie ihm verfallen war, diesem stattlichen Mannsbild, das doch wie ein großer, sorgloser Junge wirkte. Sie wusste nur nicht, wie sie Korbinian beibringen sollte, dass sie jetzt Uli liebte. Doch diese Sorge nahm er ihr ab.

»Ich rede schon morgen mit Korbinian«, versprach er. »Das wird mir nicht schwerfallen. Korbinian soll sich eine andere suchen, zu der er besser passt als zu dir, dem schmuckesten Dirndl in der ganzen Umgebung. Ich weiß ohnehin nicht, was er sich gedacht hatte, gerade dich an sich binden zu wollen.«

»Aber ich hatte ihn sehr gern«, wagte Franzi nun doch zu sagen. »Und mir tut es leid, ihm nun weh tun zu müssen.«

»Nun stell dich nicht so an.« Uli machte ein unleidliches Gesicht. »Lass mich nur machen. So wie bei Korbinian werde ich dir alles aus dem Weg räumen, was dir Sorgen macht.« Er nahm Franzi schon wieder in die Arme und küsste sie so leidenschaftlich, dass sie alle Bedenken vergaß.

*

Als der alte Stettnerbauer mit seinen beiden Söhnen und der Wirtschafterin Barbara am nächsten Morgen beim Frühstück saß, wollte Korbinian von dem erzählen, was er in der Bauernversammlung gehört hatte. Es waren wichtige Dinge dabei, die auch die Bewirtschaftung ihres Bergbauernhofes betrafen. Der Vater hörte ihm zu, aber Uli unterbrach ihn.

»Das sind ja Sachen, die nur dich als Hoferben betreffen, ich habe was anderes mit dir zu reden.« Er beugte sich über den Tisch. »Ich bin mir gestern Abend mit der Franzi einig geworden.«

»Was heißt das?« Korbinian sah ihn verständnislos an.

»Nun, dass es zwischen dir und Franzi aus ist. Du brauchst nicht mehr zu ihr zu gehen, sie hat eingesehen, dass ihre Liebe zu dir ein Irrtum war.«

Korbinian, groß und kräftig, stand mit einem Ruck auf, dass sein Stuhl polternd umfiel. »Hast du den Verstand verloren?«, herrschte er seinen Bruder an.

Der lachte voll Genuss. »Ja, so ein bissel hat mir die Franzi schon den Verstand genommen. Ich bin in sie so verliebt, wie du es nie warst. Nun wirst du dir eine andere Bäuerin suchen müssen. Das wird dir nicht schwerfallen. Der Hoferbe von diesem stattlichen Anwesen findet bei jedem Madel offene Türen. Ich sag’s noch einmal, die Franzi und ich sind uns einig. So bald wie möglich werde ich zu Onkel Albert hinübergehen und das in Ordnung bringen, was zu unserem Streit führte. Er hat keinen Erben, also wird er mir den Hof übergeben, wie es ja seit Langem vorgesehen war. Dann hol’ ich die Franzi zu mir. Du brauchst gar nicht versuchen, sie umzustimmen. Das würde dir nämlich nicht gelingen. Die Franzi ist in mich verschossen.«

Korbinian stemmte beide Fäuste auf den Tisch. »Verschossen!«, sagte er verächtlich. »Wie du es schon bei vielen anderen fertig gebracht hast. Du warst von Anfang an darauf aus, mir die Franzi wegzunehmen.« Er wandte sich an seinen Vater. »So sprich doch du mal ein Machtwort, auch wenn du Uli bis jetzt seinen Leichtsinn nachgesehen hast. Diese Zwietracht auf unserem Hof kannst du doch nicht dulden. Uli und ich könnten nie mehr miteinander auskommen, wenn …«

Der Vater unterbrach ihn. »Nun reg dich nicht so auf, sei ein Mann und nicht ein Gockel, der einer Henne nachkräht, die er nicht kriegen kann. Wenn sich die Franzi und der Uli mögen, wirst du nichts daran ändern können.«

Korbinian sah noch einmal von einem zum anderen, dann ging er hinaus, im tiefsten Herzen getroffen. Es konnte jetzt nur einen Weg für ihn geben, den zu Franzi in den Rehwinkel. Er musste von ihr selbst hören, wie sie zu ihm stand.

Auf dem Weg dahin sagte er sich immer wieder: Nein, das kann nicht sein. Franzi ist mir treu geblieben.

Als er auf den kleinen Bergbauernhof zuging, schichtete Franzi Holz auf, das ihr Vater hackte. Korbinian ging schnell auf sie zu und griff nach ihrem Arm. Er konnte jetzt nicht diplomatisch vorgehen, er platzte gleich heraus: »Sag, dass Uli lügt. Er hat behauptet, dass es zwischen dir und mir aus ist!«

Josef Festauer, Franzis Vater, ließ seine Axt sinken und ging ins Haus. Er wollte bei diesem Gespräch nicht dabei sein, weil er schon ergebnislos auf seine Tochter eingeredet hatte, sich nicht von Korbinian zu trennen. Den nämlich schätzte und mochte er, Ulis leichtfertige Art aber durchschaute er schon seit Langem.

»Gib mir eine Antwort«, drängte Korbinian, als Franzi nur den Blick senkte.

»Es kann doch nicht sein, dass du alles vergessen hast, was zwischen uns war. Wir wollten heiraten, Franzi.«

Da sah Franzi auf. Ihre Stimme zitterte. »Aber dazu kann ich jetzt nicht mehr stehen, Korbinian. Ich liebe Uli, und ich will mit ihm gehen.« Sie stockte.

»Ich hab’ dich so sehr gern, und das wird immer so bleiben, aber bei Uli …« Sie konnte nicht weitersprechen, ihre Stimme erstickte.

Korbinian richtete sich steif auf. »Dann weiß ich jetzt genug. Hoffentlich rennst du mit meinem Bruder nicht in dein Unglück. Er ist nicht so wie ich. Vielleicht kommt die Zeit, in der du es bereuen wirst, dich so entschlossen zu haben.« Er ging ein paar Schritte zurück, und dann war von ihm nur noch zu hören: »Ich werde dich immer lieb haben.«

Franzi sah ihm nach, wie er mit schweren Schritten den Hang hinunterging. Sie hatte Tränen in den Augen, aber sie machte keine Anstalten, ihn zurückzuhalten.

*

Uli blieb nur mehr eine Woche auf dem Stettnerhof und war viel bei Franzi, dann rüstete er sich für den Weg übers Gebirge, um zu dem Hof seines Onkels zu gehen. Das war ein gewaltiger Marsch, den er aber nie scheute. Franzi versprach er, zurückzukommen, sobald er mit seinem Onkel wieder im Reinen war. Dass er das schaffte, traute er sich ohne Weiteres zu. Es gelang ihm meistens, andere für sich zu gewinnen. Leichten Herzens nahm er von Franzi Abschied.

Sie begann bald auf seine Rückkehr zu hoffen. Es bedrückte sie jetzt nur noch, dass sie so weit von ihrem Vater weggehen wollte, wenn Uli sie auf den Hof seines Onkels holte. Nun musste wirklich eine Wirtschafterin ins Haus, damit der Vater nicht allein war.

Als sich Uli nach einer Woche noch nicht gemeldet hatte, wurde Franzi unruhig. Wenn er länger im Österreichischen drüben blieb, als vorgesehen gewesen war, hätte er ihr doch einen Brief schreiben können, oder wenigstens anrufen. Doch das geschah auch in der nächsten Woche nicht.

Dafür kam nach dieser Zeit Korbinian in den Rehwinkel. Als ihm Franzi auf den Hof zukommen sah, erschrak sie. Was sollte das bedeuten? Sie hatte Korbinian nicht wiedergesehen, seitdem er damals so niedergeschlagen fortgegangen war.

Er kam auf sie zu. Seine Stimme klang belegt, als er sagte: »Grüß dich, Franzi. Komm, setzen wir uns dort auf die Bank, ich habe etwas mit dir zu reden.«

»Willst du noch einmal versuchen, mich von Uli wegzubringen?«, fragte Franzi. Sie wirkte plötzlich unendlich traurig. »Es tut mir leid, Korbinian, aber …«

»Sprich nicht weiter«, unterbrach er sie. Sie hatten sich inzwischen auf die Bank gesetzt. »Es geht um etwas anderes. Hast du eine Nachricht von Uli bekommen?«

»Nein.«

»Wir auch nicht. Deshalb hat mein Vater an seinen Bruder drüben geschrieben. Telefon hat der Onkel noch nicht. Heute ist die Anwort gekommen.« Korbinian machte eine Pause, ehe er weitersprach. »Uli ist bei unserem Onkel nicht angekommen.«

Franzi sprang auf, doch sie ließ sich gleich wieder auf die Bank sinken, weil sie das Gefühl hatte, dass ihre Beine sie nicht mehr trugen. »Das kann nicht sein«, stieß sie hervor.

»Es sind schon vierzehn Tage vergangen, seitdem sich Uli auf den Weg gemacht hat.«

Korbinian nickte. »Ja, vierzehn Tage. Es muss ihm unterwegs etwas passiert sein. Ich war immer dagegen, dass er den gefährlichen Weg übers Gebirge nimmt, aber er war ja so sicher, dass ihm nichts passieren kann.«

»Irgendwo abgestürzt?« Das fragte Franzi mit zitternder Stimme.

»Anders kann es wohl nicht sein. Vater und ich haben die Polizei alarmiert, damit sie nach Uli sucht. Es tut mir leid, dass ich dir eine so schlechte Nachricht bringen musste, aber du wirst ja auch schon auf Ulis Rückkehr gewartet haben.«

»Ja, von Tag zu Tag mehr.« Plötzlich griff Franzi nach Korbinians Händen. »Mein Gott, wenn Uli gleich am ersten Tag irgendwo abgestürzt ist, Korbinian, dann besteht doch jetzt keine Hoffnung mehr … Ach, ich kann es nicht zu Ende denken, geschweige aussprechen.«

Korbinian stand auf. Er sah sehr hilflos aus. »Sobald wir etwas hören, sage ich dir Bescheid. Grüble nicht zu viel.« Er wandte sich ab und ging den Steig hinunter.

Franzi lief zu ihrem Vater und berichtete ihm das, was sie von Korbinian hatte hören müssen.

Der Vater nahm sie in die Arme. »Mir war schon die ganze Zeit so, als sei da etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen. Madl, wie soll ich dich trösten? Du hättest dich nie mit Uli einlassen sollen, dann bräuchtest du jetzt nicht um sein Leben zu zittern. Es war nicht recht von dir, mit Korbinian so einfach Schluss zu machen.«

»Wirf mir doch das nicht gerade jetzt vor, Vater.« Über Franzis Wangen liefen Tränen. »Uli darf nichts passiert sein. Er ist so fröhlich und zuversichtlich hier weggegangen.«

Es fiel Josef Feistauer schwer, seine Tochter etwas zu beruhigen. Sie konnte kaum ihrer Arbeit nachgehen, so verwirrt und beunruhigt war sie. Sie wartete auf Korbinian und hatte doch Angst vor seinem Kommen. Immer weniger glaubte sie daran, dass noch ein Wunder geschehen und Uli auftauchen könnte.

Als drei Tage vergangen waren, rief der Vater sie, als sie gerade im Stall arbeitete. Draußen stand Korbinian. Sie forschte in seinem Gesicht, dann senkte sie den Kopf. »Du bringst keine gute Nachricht.« Ihre Stimme klang müde.

»So ist’s, Franzi. Wir sind von der Polizei verständigt worden, dass man Uli vergeblich gesucht hat. Die Suche wurde inzwischen eingestellt, es gibt auch keine weiteren Ermittlungen. Anscheinend ist Uli doch irgendwo abgestürzt.«

»Wie kann das sein, Korbinian? Du weißt selbst, wie gut Uli den Weg kannte. Jedes Mal hat er ihn unbeschadet hinter sich gebracht. Er ist hier im Karwendel aufgewachsen, war ein geübter Kletterer.«

»Ja, das war er, Franzi, aber wir dürfen auch nicht vergessen, wie leichtfertig er oft war. Jeder Mensch hat seine Grenzen. Das aber hat mein Bruder nie eingesehen. So schwer wie das alles ist, wir müssen hier weiterarbeiten. Wie steht es bei euch mit der Mahd? Bekommt ihr Hilfe aus dem Dorf?«

Franzi wischte sich über die Stirn. Es war ihr anzumerken, dass sie jetzt nichts anderes denken konnte, als was Uli geschehen sein mochte.

»Ich habe mich noch gar nicht um Hilfe umgesehen«, gestand sie, »aber du hast recht, ich sollte es tun. Hoffentlich finde ich noch Leute, allein schaffen Vater und ich es nicht, das Heu rechtzeitig in die Scheune zu bringen. Im vorigen Jahr bist du eingesprungen.«

»Das werde ich auch in diesem Jahr tun.« Das sagte Korbinian mit fester Stimme. »Ja, wenn das Wetter so hält, komm ich morgen mit zwei Männern herüber.«

»Das willst du wirklich tun? Trotz allem?«, fragte Franzi ungläubig.

»Warum nicht? Ich habe auf unserem Hof genug Hilfe und bin mit allem besser ausgerüstet als ihr hier. Von dem anderen wollen wir nicht mehr reden. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich dir zu nahe trete oder gewisse Hoffnungen an meine Hilfe knüpfe. Was vorbei ist, ist vorbei, deshalb muss man nicht in Feindschaft leben.«

Franzi konnte dazu nichts mehr sagen. Sie hätte sich bedrückt fühlen müssen, dass Korbinian so großherzig war, aber sie spürte nur den Schmerz um Uli.

*

So ging es ihr auch in der Zeit noch, in der Korbinian täglich mit zwei Männern kam, ihr Gras auf den Hängen mähte und es in die Scheune brachte, sobald es getrocknet war. Als er gesehen hatte, dass das Waldstück ausgeholzt werden musste, das den Feistauers gehörte, übernahm er auch diese Arbeit. Josef Feistauer konnte ihn nicht genug loben, Franzi aber brachte ein solches Wort nicht über die Lippen. Sie sah ihm nur an jedem Tag mit hoffnungsvollen Blicken entgegen, als könne doch ein Wunder geschehen sein und er bessere Nachricht über Uli bringen.

Doch die kam nicht. Allenthalben sprach man von Uli, als sei es sicher, dass er oben im Gebirge den Tod gefunden hatte. Jeder hier wusste, dass man manchen nie fand, der in die Tiefe abgestürzt war.

Franzi konnte solche Reden nicht hören. Sie verbiss sich immer mehr in den Gedanken, selbst nach Uli zu suchen. Nur wenn sie ihn als Toten fand, würde sie glauben können, ihn für immer verloren zu haben.

Eines Tages fasste sie einen endgültigen Entschluss. Diesen teilte sie auch Ulis Bruder mit: »Ich mache mich auf den Weg, den Uli gegangen ist, Korbinian«, sagte sie. »Die Polizisten werden nicht gründlich genug gewesen sein. Uli hat mir doch von einer Alm und einer bewirtschafteten Schutzhütte erzählt, wo er immer eingekehrt ist und auch manchmal übernachtet hat. Dort muss ich nach ihm fragen, damit ich überhaupt weiß, wie weit er gekommen ist.«

Korbinian schüttelte den Kopf. »Nein, Franzi, tu das nicht. Dieser Weg ist viel zu gefährlich für dich. Ich bin ihn auch schon gegangen und kenne seine Tücken. Oft kommst du an Felsen nicht vorbei und musst sie übersteigen, um wieder auf einen Pfad zu kommen.« In Korbinians Augen war deutlich die Angst um das Mädchen zu sehen, das er noch immer liebte.

Jetzt griff auch Franzis Vater ein. Er war vor Schreck blass geworden. »Das wirst du mir doch nicht antun, Madl, dass du mich in solche Angst stürzt. Hör auf Korbinian.«

»Das kann ich nicht. Ich würde hier keine ruhige Minute mehr finden, wenn ich diesen Weg nicht nachgehe und absuche. Ich muss es tun, Vater.«

Vergeblich redeten beide Männer auf Franzi ein, doch sie ließ sich ihr Vorhaben nicht ausreden. Als sich Korbinian verabschiedete, drückte er ihr die Hand. »Komm gesund wieder, Franzi. Kehr lieber um, wenn du einsiehst, dass der Weg für dich zu gefährlich wird. Das wär keine Schand’, aber das andere, wenn du deinen Vater hier für immer allein lässt, das wäre schlimm.«

»Das werd ich nicht. Ich bin sicher, dass ich heil zurückkomme, aber vielleicht weiß ich dann das, was ich einfach wissen muss, wenn ich meine Ruhe wiederfinden will. Behüt dich Gott, Korbinian, und hab Dank für das, was du hier getan hast. Es war nicht selbstverständlich.«

Korbinian ging, ohne noch ein Wort zu sagen. Franzi aber füllte schon einen Rucksack mit dem, was sie unterwegs brauchen würde.

*

Franzi hatte ihren Anorak schon auf den Rucksack gepackt, in Bundhose und einer leichten Bluse stieg sie weiter bergauf. Die Sonne brannte so vom Himmel, dass es ihr viel zu heiß geworden war. Dadurch drückte der Rucksack noch mehr auf ihrem Rücken. Sie wusste, dass sie noch auf dem richtigen Weg war. Immer wieder sah sie kleine Schilder, die ihn auswiesen. Zuerst musste sie auf die Hohenalm. Von dort konnte sie weiter zu der Schutzhütte aufsteigen. Das war noch ein ungefährlicher Weg.

Um die Mittagszeit kam sie auf einer sattgrünen Matte an. Kühe weideten darauf. Es war ihr recht, dass sie jetzt eine Rast machen konnte. Sie war auf der Hohenalm angekommen.

Vor der Sennhütte stand ein strammes blondes Madl und hielt nach ihr Ausschau. Schon rief sie: »Schön, dass endlich mal wieder jemand hier heraufkommt. Was soll’s denn sein? Ein Glas frische Milch?«

»Ja, das wär’ mir recht.« Franzi legte die letzten Schritte zurück. »Ich komme aus dem Rehwinkel«, sagte sie, »und ich heiße Franzi.«

»Und ich Nani, Nani Wurzinger.« Das dralle junge Mädchen sah Franzi erfreut an. »Wohin willst du?«

»Ins Österreichische hinüber.« Franzi setzte sich auf die Bank vor der Sennhütte.

»Da hast du dir wohl zu viel vorgenommen.« Nani musterte Franzi. »Wie eine geübte Bergsteigerin siehst du gerade nicht aus. Um aber übers Gebirge zu kommen, muss man schon einige Erfahrungen haben.«

»Ich werde es schon schaffen.« Franzi griff nach dem Glas Milch, das ihr Nani auf einen klobig gezimmerten Tisch gestellt hatte. »Bist du immer hier?«, fragte sie.

»Ja, schon, halt den Sommer über. Im Winter bin ich bei meinem Vater. Ihm gehört die Schutzhütte ein Stück oberhalb.«

Franzi lauschte jetzt in die Sennhütte hinein. Sie meinte, Kinderweinen zu hören. »Bist du nicht allein hier?«, fragte sie.

Nanis pausbäckigem Gesicht sah man an, dass sie verlegen wurde. »Nein, nicht allein. Da ist noch der Stepherl, mein Sohn. Ich kann ihn nirgends unterbringen, also muss er mit hier sein. Er ist ein uneheliches Kind, das muss ich zu meiner Schand’ gestehen.«

»Weshalb Schand’?«, fragte Franzi. »Ein Kind ist ein Kind, ob es einen leiblichen Vater hat oder nicht. Aber jetzt was anderes. Ich kenne jemanden, der den Weg über die Alm und die Schutzhütte droben mehrmals gemacht hat. Ihm bin ich auf der Spur. Kannst du mir weiterhelfen? Es handelt sich um Uli Stettner …«

Nani fiel ihr ins Wort und streckte die Hände abwehrend aus. »Red mir nicht von dem. Dieser Uli ist ein Hallodri erster Klasse. Ich bin auf ihn hereingefallen. Mein Stepherl, der jetzt eben geweint hat, ist sein Sohn. Damals hat mir Uli versprochen, mich zu heiraten, aber später wollte er nichts mehr davon wissen.«

»Du hast ein Kind vom Stettner-Uli?« Franzi war fassungslos.

»Ja, mein Stepherl ist drei Jahre alt. So lange hat mich der Uli hingehalten. Immer, wenn er von seinem Onkel übers Gebirge kam, hat er mir versprochen, mich zu heiraten, aber gehalten hat er das nie, dieser Filou. Dabei hat er mir alle Chancen verdorben. Ein Großbauer aus dem Tal unten würde mich zur Frau nehmen, wenn der Bub nicht wär.« Nani wurde immer erboster.

»Wann ist Uli hier zum letzten Mal eingekehrt?«, fragte Franzi. Sie spürte, dass ihr Herz hart und schwer schlug.

»Ach, das ist noch nicht allzu lange her. Es mag vor drei oder vier Wochen gewesen sein. Zum Teufel mit ihm, er wollte wieder nichts von mir und dem Buben wissen.«

»Dann ist er also bis hierher gekommen«, sagte Franzi leise. Und etwas lauter: »Wollte er weiter ins Österreichische hinüber?«

»Das nehme ich an, sonst hätte er nicht diesen Weg genommen. Was hast du mit ihm zu tun? Hat er dir auch ein Kind angehängt? Du scheinst ihn doch jetzt zu suchen.«

»Nein, er hat mir kein Kind angehängt, aber ich möchte wissen, was aus ihm geworden ist. Er ist nämlich drüben im Österreichischen nicht angekommen.«

Es sah aus, als wolle sich Nani ducken. »Dann wird er wohl den Weg verfehlt haben und irgendwo abgestürzt sein. Nicht schad’ um ihn. Er soll drüben bei seinem Onkel auch mehrere Madln verführt haben. So einer war er eben, und ich bin auch auf ihn hereingefallen. Aber wart mal, Stepherl gibt jetzt keine Ruh’ mehr.« Nani ging in die Sennhütte. Wenig später kam sie mit einem kleinen Jungen heraus, an dessen Kleidung noch Heu hing.

»Mama«, weinte er, »ich will nicht mehr im Heu sein.«

Franzi sah in ein rundes Kindergesicht mit großen dunklen Augen. Hätte er fröhlicher dreingesehen, wäre seine Ähnlichkeit mit Uli aufgefallen. »Das ist doch ein ganz niedlicher kleiner Bursche«, sagte sie leise.

»Ja, wenn er nicht ein Balg wär’, das hier vollkommen überflüssig ist.« Nani schob den Jungen zur Seite. »Was soll ich denn mit ihm? Er wird mir hier nur zur Last. Wenn der Sommer vorbei ist, muss ich mit ihm zu meinem Vater zurück. Dort ist er erst recht überflüssig. Nein, ich kann den Buben nicht lieben, er macht mir alles kaputt, was ich erreichen wollte. Seinen Vater hätte ich sofort geheiratet, aber bei ihm war halt nicht mehr die Rede davon. Er hat sich nie zu seinem Kind bekannt, ich war für ihn nur ein Abenteuer, das er auf dem Weg ins Österreichische eben so mitnahm.«

»Aber jetzt ist Uli verschollen«, sagte Franzi.

Nani zuckte mit den Schultern. »Was kümmert’s mich? Vielleicht hat er nur bekommen, was ihm gebührt.«

Franzi zog den kleinen Stepherl zu sich. »Was bist du für ein liebes Kerlchen«, sagte sie, und dann setzte sie leise hinzu: »Ulis Kind.« Es wurde ihr wehmütig ums Herz, so verstört sie darüber auch war, dass Uli über dieses Kind nie ein Wort gesagt hatte.

Der kleine Junge drückte sich an sie, als sei er es nicht gewohnt, gestreichelt zu werden. »Du bist eine liebe Tante«, sagte er. »Mami ist gar nicht so lieb zu mir.«

Nani fuhr hoch. »Wie sollte ich das auch, wo du vollkommen überflüssig auf der Welt bist?«

»Das solltest du nicht sagen.« Franzi war entsetzt. »Der Bub kann doch nichts dafür, dass ihn sein Vater nicht wollte.«

»Ist schon gut«, meinte Nani, »du steckst ja nicht in meiner Haut. Geh jetzt weiter. Ich sehe schon, du suchst eine Spur von Uli, aber die wirst du nicht finden. Kehr in der Schutzhütte bei meinem Vater ein. Dort kannst du übernachten. Wenn du noch ins Österreichische hinüber willst, musst du eine Rast einlegen. Das hat selbst Uli immer getan, und er konnte sich etwas zutrauen.«

Franzi stand von der Bank auf, sie strich Stepherl noch einmal über den Kopf, dann schulterte sie ihren Rucksack. Wie ihr jetzt zumute war, hätte sie nicht sagen können. Sie wusste nur eines: dass Uli nicht ehrlich zu ihr gewesen war. Hier gab es ein Kind, dessen Vater er war. Sie glaubte Nani jedes Wort.

Als Franzi weiter bergauf stieg, die gewaltigen Felszacken schon vor Augen, kam sie nur langsam vorwärts. Diesmal nicht wegen der glühend heißen Sonne, sondern weil sie tief erschüttert war. Da gab es einen kleinen vernachlässigten Jungen, den Uli doch gesehen haben musste. Hatte dieser Stepherl nicht wenigstens Mitgefühl in ihm erweckt, wenn schon nicht Liebe? Hätte sie sich nicht auf diesen Weg gemacht, hätte sie nie etwas von Ulis Vaterschaft erfahren.

Es war wie ein Sturm, der durch Franzi ging. Einige Male überlegte sie, ob sie nicht umkehren sollte. Was wollte sie eigentlich noch erfahren? Ihre Beine wurden unter diesem seelischen Druck immer schwerer, sodass sie eigentlich in der Schutzhütte wieder eine Rast hätte machen müssen. Doch als sie nahe davor war, hörte sie laute Stimmen und ein Grölen, als sei dort jemand betrunken.

Nein, da hinein wollte sie nicht. Sie sah auf den Wegweiser, der an einem Steig stand. »Nach Brauneck« las sie. Dorthin wollte sie, in Brauneck war der Hof von Ulis Onkel. Nun raffte sie sich wieder auf und ging etwas schneller. Oft war der Steig kaum zu erkennen, die Gegend wurde immer wilder. Das ängstigte sie. Erst recht, als sie sich ausrechnete, dass sie Brauneck vor Einbruch der Dunkelheit nicht erreichen würde. Sie wusste nicht, ob sie noch auf deutschem oder schon auf österreichischem Gebiet war. Zöllner hatte sie nicht gesehen. Vielleicht waren sie die Männer in der Schutzhütte gewesen, die sich ihren langweiligen Dienst mit ein paar Maß Bier angenehmer machten.

Nun führte der Steig in eine Schlucht hinunter, und man sah, dass er sich auf der gegenüberliegenden Seite wieder hochschlängelte. Das ist ein Umweg, dachte Franzi und sah an dem Felsmassiv hinauf, vor dem sie stand. Sie war sicher, dass Uli den Weg darüber genommen hatte, aber konnte sie sich das zutrauen, nur um schneller an ihrem Ziel zu sein? Ein Schauer überfiel sie, wenn sie daran dachte, sich an dem Felsbrocken hochhangeln zu müssen. Nein, dem war sie nicht gewachsen. Vielleicht hatte es Uli mit dem Leben bezahlen müssen, dass er der Gefahr nicht aus dem Weg gegangen war.

Sie stieg nun in die Schlucht hinunter. Schon das war beschwerlich genug. Immer wieder sah sie auf das wilde Gestrüpp und die Steinmassen, aber sie entdeckte nichts Ungewöhnliches.

Dann blickte sie wieder zu dem Felsmassiv hinauf. Von dort oben konnte Uli in die Tiefe gestürzt sein. Was, wenn sie ihn jetzt vielleicht entdeckte? Dieser Gedanke jagte ihr Angst ein. Gleichzeitig aber wollte sie wissen, was aus ihm geworden war. Deshalb hatte sie sich doch auf diesen Weg gemacht! Der Zwiespalt, in dem sie steckte, und die große Einsamkeit um sie herum ließen sie immer ängstlicher werden. Auf dem Grund der Schlucht sah sie sich wie jemand um, der sich restlos verirrt hatte. Plötzlich sehnte sie sich nach Hause in den heimeligen Rehwinkel. Und sie sah Korbinian vor sich. Die Angst und Sorge in seinen Augen, als sie sich nicht hatte von diesem Marsch abbringen lassen!

Wie gut das tat, sich plötzlich Korbinian nahe zu fühlen! Er, der immer Zuverlässige, gab ihr wieder Kraft, nun aus der Schlucht hinaufzusteigen. Oben angekommen, erkannte sie, dass sie das schwerste Stück des Weges hinter sich hatte. Jetzt hoffte sie doch, Brauneck noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.

Und sie schaffte es. Nachdem ihr ein älterer Mann den Weg zum Hof von Ulis Onkel gewiesen hatte, stieg wieder die Frage in ihr auf: Was will ich hier eigentlich? Welchen Zweck hatte ihre ganze Aktion eigentlich gehabt? Aber nun war sie an dem Hof Albert Stettners und ging auch hinein. Eine Wirtschafterin, von der Uli auch erzählt hatte, führte sie zu dem Bauern in die Wohnstube.

Er sah sie sehr verwundert an, als sie sagte, wer sie war. Betont setzte sie hinzu: »Uli wollte mich heiraten, nachdem er sich mit Ihnen wieder versöhnt hatte. Wir hofften beide, dann zu Ihnen auf den Hof kommen zu können.«

Albert Stettner fuhr sich ein paarmal durch seinen Vollbart, dann zeigte er auf einen Sessel. »Dirndl, setz dich erst einmal. Natürlich kannst du auch bei uns übernachten. Willst du was essen und trinken?«

»Nur etwas trinken«, antwortete Franzi.

Der Bauer stand auf. »Ich hol’ dir einen heißen Tee und ein Glas Enzian dazu. Du kommst mir vor, als tät’ dir das gut. So, Franzi heißt du also? Von dir hat der Uli aber nie gesprochen.«

»Wir sind uns ja erst einig geworden, als er nach dem Streit mit Ihnen nach Hause kam. Es ist so, wie ich sagte, wir hatten uns sehr gern.«

»Ich komm’ gleich wieder.« Der Bauer ging hinaus. Es dauerte nicht lange, bis er mit einem Glas dampfendem Tee und einem Glas Enzianschnaps zurückkam. »Da nimm ein paar Schlucke und sag mir, warum du hierhergekommen bist. Dass der Uli noch lebt, können wir doch nicht hoffen. Ich habe es ja meinem Bruder geschrieben, dass er nie bei mir angekommen ist. Du wirst doch nicht am Ende gedacht haben, mehr als die Polizei herauszufinden?«

Franzi senkte den Kopf. »Doch, das muss ich wohl gedacht haben. Mir will es einfach nicht in den Sinn, dass der Uli tot sein soll.«

Nun machte der Bauer ein grimmiges Gesicht. »Nein, das will einem nicht in den Sinn, und es könnte auch sein, dass er eine neue Liebste hat, bei der er es sich gut gehen lässt. Madl, ich muss das so ehrlich sagen, Uli hatte ein Gspusi nach dem anderen hier. Das führte ja auch zu unserem Streit. Keine Magd war vor ihm sicher, und dir hat er also auch den Kopf verdreht. Ja, das konnte er meisterlich, und seine Arbeit litt immer darunter. Er nahm, was ihm an Weibsröcken über den Weg lief. Bei den meisten Dirndln hatte er ja auch Glück.«

»So schlimm hat er’s getrieben?« Franzi war fassungslos. »Dann hat er es mit mir auch nicht ehrlich gemeint?«

Der Bauer sah sie bedauernd an. »Wird wohl so sein«, brummte er in sich hinein, dann sprach er wieder etwas lauter. »Lass dich davon nicht unterkriegen, Dirndl. Mein Bruder Xaver hat mir geschrieben, dass du eigentlich dem Korbinian gut warst. Halt dir den, das ist ein rechtschaffener Mann, der seiner Frau immer treu sein wird. Vergiss den Uli.«

»Ich kann nicht Korbinian so vor den Kopf stoßen, wie ich es getan hab’, Bauer, und jetzt wieder zu ihm zurückgehen. Nein, das hat er nicht verdient, und ich bin auch noch gar nicht so weit. Morgen in der Früh’ werd ich mich wieder auf den Weg nach Hause machen. Es war ein Fehler von mir, hierherzukommen. Alles ist dadurch nur noch schlimmer geworden.«

Franzi dachte daran, was sie von Nani in der Almhütte hatte erfahren müssen und was sie von dem Bauern jetzt gehört hatte. Sie schämte sich, dass auch sie auf Uli hereingefallen war.

»Bauer, kann ich mich irgendwo zum Schlafen hinlegen?«, fragte sie. »Ich bin todmüde, und morgen früh muss ich wieder munter sein.«

»Komm mit, ich zeig’ dir die Kammer, in der du schlafen kannst.« Albert Stettner legte den Arm um Franzis Schulter, als er sie hinausführte. Es war zu merken, wie leid sie ihm tat.

Ihr fielen die Augen zu, als sie sich hingelegt hatte, aber im Halbschlaf sah sie nicht Uli vor sich, sondern den kleinen Stepherl.

*

So früh Franzi auch in Brauneck aufgebrochen war, sie kam langsamer vorwärts als am vergangenen Tag. Oft meinte sie, dass ihre Beine sie nicht mehr tragen würden. Sie war zutiefst niedergeschlagen und bitter enttäuscht. Das Bild von dem strahlenden, in sie so verliebten Uli hatte einen deutlichen Riss bekommen. Er war nicht der gewesen, für den sie ihn gehalten hatte. Sie war eines seiner vielen Abenteuer gewesen. Und dafür hatte sie sich von Korbinian getrennt und ihm damit sehr weh getan. Das ging ihr genauso durch den Sinn wie Ulis Vaterschaft. Wie hatte er das nur fertiggebracht, sich nicht zu dem kleinen Stepherl zu bekennen? Und wenn er Nani nicht geheiratet hatte, der Junge musste ihm doch nahgestanden haben. Hatte er nicht gesehen, wie sehr ihn die Mutter vernachlässigte und dass er ganz allein war auf dieser Welt? Fragen über Fragen, die sich Franzi immer wieder stellte und die ihr den Weg durch die Schlucht besonders schwer machten.

Sie wusste, dass sie es nicht schaffen würde, am Abend zu Hause zu sein. Dazu waren schon die gestrigen Strapazen zu groß gewesen. Jetzt bereute sie, nicht einen Tag in Brauneck geblieben zu sein, um sich etwas zu erholen. Am liebsten hätte sie sich auf einen Felsblock gesetzt und wäre sobald nicht wieder aufgestanden.

Als sie die gewaltige Schlucht hinter sich hatte, spürte sie noch die Angst, die dort wieder über sie hergefallen war. Jetzt machte sie noch eine längere Rast. Es war nicht so gutes Wetter wie am Vortag. Statt der brennenden Sonne nieselte es, und alles war grau, sodass sie beim Weitergehen schon Angst hatte, sich zu verirren.

Als die Schutzhütte aus dem Nebel vor ihr auftauchte, wusste sie, was sie brauchte – eine Nacht Schlaf, bevor sie den Rest des Weges hinter sich legte.

Diesmal war nichts aus dem Inneren zu hören. Das machte ihr das Eintreten leichter.

Sie kam in eine verrauchte Wirtsstube und setzte sich an einen Tisch. Es dauerte nicht lange, bis ein Mann mit fuchsrotem Vollbart und Haar zu ihr kam. »Was wünschen die Dame?«, fragte er ironisch.

»Kann ich bei Ihnen übernachten?« Franzi sah den älteren Mann bang an. Er wirkte nicht sehr vertrauenerweckend.

»Natürlich können Sie das. Dazu sind wir doch da. Sind Sie etwa das Madl, das sich hier in der Gegend nach Uli Stettner umsehen wollte?«

»Ja, die bin ich. Ich heiße Franzi.«

»Also doch.« Plötzlich schlug der Wirt mit der Faust auf den Tisch, sodass die noch darauf stehenden leeren Biergläser zu tanzen anfingen. »Meine Nani, die Sennerin, hat mir von Ihnen erzählt. Jetzt bin ich gar nicht so begeistert, dass Sie bei uns übernachten wollen.«

»Warum nicht?«, wagte Franzi zu fragen. Sie war mit ihrem Stuhl ein Stück zur Seite gerückt.

»Weil ich mit niemandem etwas zu tun haben will, der irgendwie zu diesem Halunken Uli gehört hat. Ich, Rupert Wurzinger, hätte diesem Burschen eigenhändig den Hals umdrehen können. Hängt meiner Tochter ein Kind an, will aber dann von dem Balg nichts wissen …« Es folgte ein ellenlanger Fluch, der Uli galt.

»Ihre Tochter hat mir schon alles erzählt«, wollte Franzi den Alten bremsen. Doch das schaffte sie nicht. Er wetterte schon weiter.

»Einen reichen Bauern könnte die Nani heiraten, aber der will mit dem Buben nichts zu tun haben. Alles hat uns dieser Verführer genommen, Nanis und unsere Ehr’, die Hoffnung auf eine gute Heirat meiner Tochter. Recht geschieht ihm, dass er irgendwo abgestürzt ist. Anders kann es ja nicht sein. Er ist schon zu lange vermisst. Selbst mit seinem Tod hat er uns noch Scherereien gemacht. Die Polizei war hier, als könnten wir ihr weiterhelfen, und nun tauchen auch Sie noch auf.«

»Ich mache Ihnen keine Scherereien«, versicherte Franzi. »Beruhigen Sie sich wieder, ich kann nichts für das, was der Uli angestellt hat.«

»Beruhigen, beruhigen!« Rupert Wurzinger lachte hart auf. »Als ob das so leicht wär’, wo das Kind da ist.«

»Es kann nichts für seinen Vater«, versuchte Franzi wieder zu beschwichtigen. »So einen kleinen lieben Kerl muss man doch gernhaben.«

»Den?«, schrie der Wirt heraus. »Niemals. Er ist ein Klumpen an Nanis Bein. Eine alte Jungfer wird sie werden, weil kein Mann sie mit dem Balg mag. Sie ist meine einzige Tochter, Frau hab’ ich schon lang keine.«

Franzi sagte nichts dazu. Eingeschüchtert fragte sie: »Kann ich auch etwas zu essen haben?«

»Mal sehen, was die alte Zenza in der Küche hat.« Der Wirt wandte sich ab. »Bei uns müssen Sie mit allem zufrieden sein.« Er stapfte davon.

Franzi atmete erleichtert auf, als zwei Wanderer die Wirtsstube betraten. Nun würde sie wenigstens mit dem zornigen Alten nicht mehr allein sein. Als er zurückkam, warf er ihr nur einen Blick zu und sagte: »Die Zenza bringt dann was. Sie zeigt Ihnen auch Ihre Kammer.«

Franzi wurde noch leichter ums Herz, als sie hörte, dass die beiden Wanderer auch hier übernachten wollten. Als einziger Gast in der Schutzhütte hätte sie sich gefürchtet.

Es dauerte lange, bis eine alte, verhutzelte Frau mit wirrem Haar kam und ihr Bratkartoffeln mit Speck brachte. Sie lachte, als sei sie nicht mehr ganz klar im Kopf. »So ein schönes Dirndl bei uns hier droben?« Sie schüttelte den Kopf. »Und ganz allein?«

»Lass sie in Ruhe, Zenza«, rief der Wirt. »Schau, dass du in die Kuchel kommst.«

Die Alte zog den Kopf ein und verschwand.

Hier ist alles unheimlich, dachte Franzi. Immer wieder sehnte sie sich nach ihrem Zuhause, nach dem friedlichen Vater und allem, was ihr vertraut war.

Noch bevor es ganz dunkel geworden war, zog sie sich in die Kammer zurück, die ihr Zenza zeigte. Beim Hinausgehen flüsterte die Alte: »Wenn Sie wirklich etwas mit diesem Uli zu tun haben, sollten Sie hier lieber so bald wie möglich verschwinden.«

»Ich gehe gleich morgen in der Frühe«, antwortete Franzi und schloss die Tür. Fast fürchtete sie, vor Angst keinen Schlaf zu finden. Am liebsten wäre sie noch in der Dunkelheit davongelaufen, aber das konnte sie nicht tun. Dazu war ihr hier alles zu fremd. Sie wickelte sich fest in die raue Decke ein und lauschte immer wieder nach unten. Dort war es jetzt sehr laut geworden. Anscheinend waren noch andere Gäste gekommen, und es wurde wild gezecht. Immer wieder war die Stimme des Wirtes herauszuhören.

Erst nach Stunden fielen Franzi vor Übermüdung die Augen zu, aber selbst in ihre Träume hinein verfolgte sie, was sie heute erlebt hatte.

*

Am Morgen bekam sie den Wirt nicht zu Gesicht. Zenza sagte, dass er immer bis Mittag schlafe. Franzi war das recht. Nachdem sie gefrühstückt hatte, machte sie sich gleich auf den Weg hinunter ins Tal. Gefahren hatte sie jetzt nicht mehr zu fürchten, die Wildnis lag hinter ihr. Aber sie schaffte es nicht, an der Sennhütte vorbeizugehen. Mit aller Gewalt zog es sie zu dem kleinen Stepherl. Sie spürte, dass er ihr Herz erobert hatte und dass ihm all ihr Mitgefühl gehörte. Nicht, weil er Ulis Sohn war, sondern weil er ein so trauriges Leben führte und niemand ihn wollte.

Schon von Weitem sah sie, dass der kleine Junge inmitten der Kühe auf der Weide saß. Er wirkte verloren, sein Blick war stumpf, als interessiere ihn überhaupt nichts.

Franzi ging zu ihm und zog ihn auf die Beine.

Er sah sie zuerst erschrocken an, dann etwas lebhafter. »Bist du wieder da?«, fragte er.

»Ja, ein Weilchen werde ich bei euch bleiben, Stepherl, aber dann muss ich weiter.« Franzi griff nach seiner Hand. »Komm, wir gehen auf die Bank vor der Hütte. Dort setzen wir uns hin.«

»Aber Mama will nicht, dass ich auf der Bank sitze, sie sagt immer, ich soll ihr aus den Augen gehen.« Das kam holperig über Stepherls Lippen.

»Jetzt wird sie nicht schimpfen.« Franzi genügte es nicht, sich neben den Jungen auf die Bank zu setzen, sie zog ihn auf ihren Schoß und drückte ihn an sich.

Da kam Nani aus der Hütte. »Ach was, bist schon wieder zurück?«, fragte sie spöttisch. »Wohl umgekehrt, weil es zu gefährlich war.«

»Nein, ich bin nicht umgekehrt, ich war bei Ulis Onkel.« Nun zuckte Franzi mit den Schultern. »Es hat alles nichts genutzt.«

»Wenn es um Uli geht, nutzt nichts etwas.« Nani wollte Stepherl von Franzis Schoß ziehen. »Lass dich nur mit dem nicht ein, sonst hängt er wie eine Klette an dir, und ich hab’ es dann wieder schwer mit ihm.«

»Lass ihn bei mir«, bat Franzi. »Ich mag den Kleinen.«

»Du musst ja auch nicht für ihn sorgen, dir hat Uli das Leben nicht verdorben.« Nani musterte Franzi. »Irgendwie bist du eine komische Heilige. Begibst dich auf die Suche nach Uli und bemutterst seinen Sohn. Aber den Uli kannst du nicht mehr finden.« Plötzlich brach Nani erschrocken ab.

Franzi sah sie erstaunt an.

»Du weißt also doch etwas von Uli, Nani.«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich weiß gar nichts von ihm, als dass er hier kurz eingekehrt ist und ich ihm die Hölle wieder so heiß gemacht habe, dass er es eilig hatte weiterzukommen. Bei meinem Vater hat er sich dann gar nicht erst sehen lassen.« Den letzten Satz sagte Nani sehr betont und fügte noch hinzu: »Nein, in der Schutzhütte war er nicht. Er muss gleich weitergegangen sein. Aber jetzt will ich nicht länger über ihn reden. Gib den Buben jetzt her, ich hab’ noch viel Arbeit. Da muss er ins Heu. Dort ist er am besten aufgehoben.«

Stepherl klammerte sich an Franzi. »Aber im Heu ist es doch so finster«, klagte er.

»Hör auf mit dem Gewinsel«, herrschte ihn seine Mutter an und zog ihn so ruckartig von Franzis Schoß, dass er ins Stolpern kam und hinfiel. Die spitzen Steine vor der Bank schürften ihm beide Knie auf, doch er tat keinen Muckser.

»Hast du Verbandsstoff?«, fragte Franzi erschrocken. »Und auch etwas Jod? Die Wunden müssen gesäubert werden.«

»Jetzt reicht’s mir aber«, schimpfte Nani. »Meinst du, ich hab’ so viel Zeit, mir solche Umstände zu machen?« Sie zerrte Stepherl mit sich und schob ihn in die Heukammer neben der Hütte. »Und da drin rührst du dich nicht«, befahl sie ihm noch.

Franzi war maßlos erschüttert, aber sie sah ein, dass sie dem Jungen nicht beistehen konnte. Sie hatte kein Recht dazu. Ohne noch etwas zu dem Vorfall zu sagen, verabschiedete sie sich und ging schnell den Hang hinunter. Sie wusste, dass sie Stepherl nicht vergessen würde.

*

Josef Feistauer stand mitten auf dem Hof, als Franzi den Steig heraufkam. Es sah aus, als habe er nichts anderes getan, als nach ihr Ausschau gehalten. Die letzten Schritte kam er ihr entgegen. »Dass du nur wieder da bist, Dirndl«, sagte er mit rauer Stimme. »So etwas darfst du mir nie mehr antun, dass du mich so lang in Angst und Sorge versetzt.«

»Ich bin ja heil zurückgekommen, Vater«, versuchte ihn Franzi zu beruhigen, als sie miteinander in die Wohnstube gingen. Dort fiel sie erschöpft auf einen Stuhl.

»Und?«, fragte der Vater. »Hast du etwas auskundschaften können?«

»Nicht mehr, als wir schon wussten, Vater. Oder war es doch ein bissel mehr?« Sie dachte noch einige Sekunden nach, dann erzählte sie ihrem Vater, was Korbinians Onkel über Uli gesagt hatte, vor allem aber, dass es da droben ein Kind gab, dessen Vater er war.

»Auch das noch«, stöhnte Josef Feistauer. »Da kannst du ja sehen, was für ein Hallodri Uli war. Dirndl, mit dem wärst du in dein Unglück gerannt. Hör auf zu grübeln und zu trauern. Der Uli hat das nicht verdient.«

»Das wird mir sehr schwer fallen, Vater.« Franzi strich sich das Haar aus der Stirn. »Ich werd’ die Gedanken an den armen Buben nicht los. Er ist ein so liebes Kerlchen. Wenn er einen mit seinen großen dunklen Augen ansieht, scheint er nur um Liebe zu betteln. Die Mutter hat kein Herz für ihn, und der Großvater ist ein rabiater Mann. Glaub mir, ich habe mich vor ihm gefürchtet. Der ist zu allem fähig. Ja, dem traue ich ganz schlimme Sachen zu.«

Franzi lehnte sich zurück und sah zum Fenster hinaus. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatte, fragte sie zögernd: »Vater, meinst nicht, dass auf unserem Hof ein Platz für so ein armes Hascherl wär’, wie es der Stepherl ist?«

»Was meinst du jetzt?«, fragte der Vater beunruhigt.

»Was ich mein’? Dass ich den Stepherl zu uns nehmen könnt’.«

»Dem Uli seinen Sohn, um den er sich nicht gekümmert hat. Aber Dirndl …«

»Red nicht weiter, Vater. Wenn ich mich um den Jungen sorg’, denk’ ich nicht an Uli. Mir ist nur, als wär’ ein Stück von meinem Herzen da droben geblieben. Mich verfolgt es jede Stunde, wie das kleine Stepherl behandelt wird. Eines Tages wird er eingehen wie eine Pflanze ohne Licht. Schau, Vater, bei uns könnt’ er es so gut haben. Wir hätten Platz für ihn und auch immer wieder Zeit, uns mit ihm zu befassen. Ich seh’ das richtig vor mir, wie er hier aufblühen würd’. Du magst doch Kinder auch gern.«

»Ja, schon, Franzi, aber es ist nicht gut, so schnelle Entschlüsse zu fassen. Du weißt auch gar nicht, ob dir diese Nani den Jungen in Pflege geben würde.«

Jetzt lächelte Franzi verbittert. »Die will ihn doch nur los sein. Ich bin sicher, dass sie ihn mir mitgeben würd’. Dann kann sie vielleicht ihren reichen Bauern heiraten, der auch von Stepherl nichts wissen will.«

Franzi beugte sich vor und griff nach den Händen des Vaters. »Lass mich doch den Buben holen«, bat sie. »Der Weg bis zur Sennhütte ist doch nicht allzu beschwerlich. Ich könnte die Hucke mitnehmen und Stepherl auf meinen Rücken laden, wenn seine kleinen Beine den Marsch nicht schaffen sollten.«

»Brauchst du noch mein Jawort?«, fragte der Vater. »Du hast dich doch schon entschieden. Das hört man aus jedem deiner Worte. Also meinethalben, wenn du meinst, dass wir ein gutes Werk tun sollten, dann hol den Buben zu uns. Wir beide werden dann vielleicht auch wieder ruhiger werden, wenn wir für ein Kind zu sorgen haben. Jetzt ist doch bei uns alles in Unordnung geraten. Zuerst hast du dich von Korbinian getrennt, und nun die Aufregungen um Ulis Verschwinden. Ja, es sollte wieder die alte Ordnung bei uns einkehren, dann wird uns um vieles wohler sein. Übrigens war Korbinian heut’ in aller Früh schon da, als du noch gar nicht zurück sein konntest. Er muss fürchterliche Angst um dich gehabt haben.«

Josef Feistauer seufzte. »Ja, das mit Korbinian hätt’ nicht passieren dürfen. Er ist ein gestandenes Mannsbild, bei dem du immer gut aufgehoben wärst. Dass du dir auch von Uli so hast den Kopf verdrehen lassen. Das werd’ ich nie begreifen.«

»Geschehen ist geschehen, Vater. Mach mir damit das Leben nicht schwer. Mein Gewissen Korbinian gegenüber ist schon schlecht genug. Lass uns jetzt wieder von Stepherl reden. Ich würd’ mich am liebsten gleich morgen früh auf den Weg zu ihm machen. Solche Dinge soll man nicht auf die lange Bank schieben. Kannst du mich noch einmal für einen Tag entbehren?«

»Das werd’ ich wohl müssen. Dann ruh dich jetzt aus, Dirndl, und schlaf dich wieder frisch, damit du am Morgen bei Kräften bist. Ich mach’ mir Sorgen um dich, weil du dir zu viel zumutest.«

»Brauchst du aber nicht, Vater.« Franzi streckte sich. »Ich bin jung und gesund. Dass ich jetzt wieder ein Ziel hab’, gibt mir Kraft. Ich geh’ jetzt noch in den Stall, mach’ im Haus Ordnung, und dann werd’ ich die Hucke schön auspolstern, damit es Stepherl bequem hat. Schau, der Knirps ist ja erst drei Jahre.«

»Ich red’ dir in nichts mehr hinein, Franzi, obwohl es mir lieber wäre, von dir Enkel zu haben. Meinst du nicht doch, dass das mit dem Korbinian noch einmal was wird? Er ist dir doch noch immer gut. Das merkt ein Blinder.«

»Das mag sein, Vater, aber ich kann nicht von einem Bruder zum anderen wandern. Korbinian hat nicht verdient, dass er mir jetzt wieder gut genug sein soll, weil es Uli nicht mehr gibt. Nein, Vater, befass dich nicht mit solchen Gedanken. Wenn ich morgen mit Stepherl komm’, dann haben wir ein Kind im Haus, für das wir sorgen müssen. Das soll uns genug sein.«

Josef Feistauer sagte dazu nichts mehr, er ließ Franzi in den Stall gehen. Als sie später im Haus arbeitete und ihm Essen für den nächsten Tag vorbereitete, sprach er sie nicht mehr auf Stepherl an, aber auch nicht auf Korbinian. Sie musste wissen, was sie tat.

*

Nani Wurzinger meinte ihren Augen nicht trauen zu können, als Franzi mit einer Hucke auf dem Rücken auf die Sennhütte zukam. »Du bist noch immer da?«, fragte sie.

»Nein, nicht noch immer, schon wieder. Inzwischen war ich zu Hause.« Franzi nahm ihre Hucke ab und setzte sich auf die kleine Bank vor der Sennhütte.

»Und was ist dir jetzt wieder eingefallen?«, fragte Nani spöttisch. »Ich glaub’, du willst hier alles unsicher machen. Gib’s doch auf, herausfinden zu wollen, was aus Uli geworden ist. Den hat der Teufel geholt.«

»Das hab’ ich auch aufgegeben, Nani. Heute bin ich wegen etwas anderem gekommen.«

»Mit einer leeren Hucke?« Nanis rundes Gesicht sah wenig geistreich aus.

»Ja, mit einer leeren Hucke, Nani, aber sie soll nicht leer bleiben, wenn ich wieder geh.« Nun platzte Franzi heraus: »Nani, überlass mir Stepherl als Pflegekind.«

Nani öffnete den Mund, und es sah aus, als könnte sie ihn nicht mehr schließen. Endlich fragte sie: »Was hast du gesagt?«

»Dass ich Stepherl gern zu mir nehmen würd’. Du sagst selbst, und dein Vater genauso, dass der Bub ein Klotz an deinem Bein ist …«

»Ist er auch.«

»Dann gib ihn mir doch mit. Bei meinem Vater und mir auf unserem Bergbauernhof hätte er es gut, und du wärst frei. Wo ist er überhaupt?«

»Dort drüben bei den Kühen. Da wird er wieder Löcher in den Himmel gucken. Etwas anderes kann er ja nicht. Aber ist das dein Ernst? Du würdest mir Stepherl abnehmen?«

Franzi tat das Wort »abnehmen« weh, aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich auf Nanis Jargon einzustellen. »Ja, das will ich tun. Ich gebe dir meine Adresse, und du schickst mir Stepherls Papiere, damit ich beim Jugendamt um die Pflegschaft ersuchen kann.«

»Und ich werd’ dann gewiss mit ihm nichts mehr zu tun haben?« Nanis Blick wirkte jetzt irgendwie lauernd.

»Nein, ich werd’ künftig für Stepherl sorgen, Nani.«

»Dann hol’ ich ihn gleich.« Nani rannte schon über die Matte, scheuchte Kühe zur Seite, bis sie bei dem Jungen war. Sie zog ihn hoch. »Komm mit! Es ist jemand da, der dich zu sich holen will. Jetzt mach aber keine Scharwenzchen.«

Als Franzi das hörte, hätte sie beinah den Kopf geschüttelt. War es wirklich möglich, dass sich eine Mutter so leichten Herzens von ihrem Kind trennte? Diese Nani schien in ihrer Gefühlskälte ihrem wilden Vater zu ähneln.

Stepherls Gesicht hellte sich auf, als er Franzi sah. »Du bist wieder da«, sagte er, und nun klang Freude in seiner Stimme.

»Ja, und sie nimmt dich mit.« Nani schob den Jungen ganz nahe zu Franzi.

»Ist das wahr?«, fragte der Kleine. »Wohin?«

»Auf einen schönen kleinen Hof, Stepherl.« Franzi beugte sich zu ihm und strich ihm über den Kopf. »Unterwegs erzähle ich dir alles. Du wirst auch einen ganz lieben Großvater haben.« Sie wandte sich an Nani. »Ich möchte mich nicht lang verweilen, damit ich mit Stepherl nicht zu spät nach Hause komme. Pack mir bitte etwas von seiner Kleidung ein, die er für den Anfang brauchen wird.«

»Er zieht jeden Tag dasselbe an, nur das Hemd wechsle ich ihm manchmal. Hier sind wir nicht in der Stadt, wo die Kinder so viel Kleidung haben wie die Großen.«

»Ist schon gut, dann wird es auch so gehen.« Franzi fasste den Jungen an der Hand. »Komm, ein Stück wirst du es schaffen, wenn ich nicht zu schnell geh’. Sobald du müde wirst, kommst du auf die Hucke. – Nani, vergiss nicht, mir die Papiere zu schicken.« Franzi nannte ihre Adresse, dann ging sie schon mit Stepherl von der Sennhütte weg. Sie hatte nicht das Gefühl, dass sich Nani von ihrem Sohn verabschieden wollte.

*

Franzi war es gewohnt, auch mal schwere Arbeit zu tun, und sie konnte kräftig zupacken, aber der Weg mit Stepherl auf der Hucke wurde doch hart für sie. Der Kleine hatte zu Fuß nur ein kurzes Stück mithalten können, dann war er müde geworden. Auf der Hucke hatte er bequem gesessen und nicht herunterfallen können, immer wieder hatte er etwas gefragt. Meistens wollte er wissen, ob er wirklich bei Franzi bleiben könnte, und nun nie mehr ins Heu müsste. Durch die Lieblosigkeit seiner Mutter hatte er kein tieferes Gefühl für sie entwickelt. Er schien sich hauptsächlich an die schlechten Dinge zu erinnern, die er in der Sennhütte immer wieder hatte erleben müssen.

Franzi wurde nicht müde, den kleinen Buben zu trösten, und sie versuchte, ihm auszumalen, wie schön er es von nun an haben würde, zusammen mit ihr und seinem neuen Großvater.

Es war später Nachmittag, als Franzi durch das Dorf ging, zu dem ihr Hof gehörte. Im Ort sahen ihr manche neugierig nach, einer aber, der mit dem Pferdewagen unterwegs war, sprang vom Kutschbock und kam auf sie zugelaufen. Es war Korbinian.

»Franzi, was soll das bedeuten?«, fragte er und zeigte auf den Jungen. »Ich hab’ doch gehört, dass du heil zurückgekommen bist, aber jetzt warst du anscheinend schon wieder unterwegs.«

»Ja, um den Buben hier zu holen. Bis zu der Sennhütte, in der er bisher lebte, war der Weg noch nicht zu beschwerlich. Ich muss weiter, Korbinian, sonst verlassen mich die Kräfte.«

Korbinian sah in ihr verschwitztes Gesicht, in ihre müden Augen. »Komm, ich nehm’ dir den Buben ab, gleichgültig, was du mit ihm vorhast. Ihr steigt zu mir auf den Kutschbock.« Er hob Stepherl schon von der Hucke.

»Du meinst es gut, Korbinian«, sagte Franzi, »aber den Steig hinauf muss ich den Jungen doch wieder tragen.«

»Du willst also mit ihm nach Hause?«

»Ja.«

»Dann werd’ ich dir den Jungen tragen. Nein, keine Widerrede. Die Zeit nehm’ ich mir, und mehr Kraft als du hab’ ich auch.« Korbinian half Franzi auf den Kutschbock, reichte ihr den Jungen und setzte sich neben sie. Gleich darauf knallte er mit der Peitsche. Darüber erschrak Stepherl zuerst, dann fand er es anscheinend lustig. Er lachte und klatschte erfreut in seine Händchen.

Franzi war darüber erschüttert. Zum ersten Mal sah sie den Kleinen lachen.

»Was soll das nun mit dem Kind?«, fragte Korbinian nach einer Weile.

»Es ist Ulis Sohn. Ja, glaub es mir. Ich hatte noch keine Gelegenheit, dir das zu erzählen. Hör zu!« Franzi schilderte nun Korbinian, wie sie Stepherl bei der Sennerin Nani angetroffen hatte und was sie von ihr hatte hören müssen.

»Das hat also Uli auch noch auf sein Gewissen geladen.« Korbinians Gesicht verdüsterte sich. »Hast du unterwegs irgendeinen Anhaltspunkt gefunden, was aus ihm geworden sein könnte?«

»Nein, Korbinian, aber ich will jetzt nicht mehr so viel an Uli denken, sondern versuchen, an Stepherl gutzumachen, was man ihm bisher angetan hat. Ich hätte zu Hause keine Ruhe gefunden, weil ich immer wieder daran hätte denken müssen, wie sehr er da oben verkümmert.«

Sie mussten jetzt das Pferdegespann stehen lassen und den Steig zu Fuß hinaufgehen.

Korbinian machte es nichts aus, nun Stepherl auf der Hucke zu schleppen.

Unterwegs sagte er: »Wenn das Ulis ist, würde er eher zu Vater und mir auf den Stettner-Hof gehören als zu dir, Franzi.«

Franzi blieb ruckartig stehen und sah ihn erschrocken an. »Du willst mir den Buben wegnehmen? Nein, das lass ich nicht zu. Mir ist er lieb geworden, ich will ihn aufpäppeln, damit er ein fröhliches Kind werden kann. Seine Mutter hat ihn mir übergeben, und ich werde die Pflegschaft für ihn beantragen.«

»Beruhige dich, Franzi, ich nehm’ dir den Buben nicht weg, wenn dein Herz an ihm hängt. Ich mach’ mir nur Sorgen, dass du dir mit dieser Pflegschaft zu viel aufbürdest.«

»Diese Sorgen brauchst du dir nicht zu machen. Nach dem, was ich erleben musste in der letzten Zeit, werd’ ich nun eine schöne Aufgabe haben. Aber einmal muss es ausgesprochen werden, dass ich für Uli nur ein Spielzeug war, eine von vielen, denen er nachrannte. Deshalb hat es auch Krach mit eurem Onkel gegeben.«

»Warst du doch bei ihm, Franzi?«

»Ja, ich hab’s geschafft, aber erinnere mich nicht daran, welche Ängste ich unterwegs ausgestanden hab’. Lass uns am besten nicht mehr davon reden. Ich bin ja nur dafür bestraft worden, was ich dir angetan hab’.«

»Ich will dir das nie vorhalten, Franzi, so schwer es mich auch getroffen hat. Da, schau, dein Vater kommt uns entgegen.«

Franzi lächelte. »Er wird neugierig auf Stepherl sein. Er weiß ja, dass ich ihn mitbringen wollte.«

Josef Feistauer sah Korbinian erstaunt an und fragte: »Hast du den Buben mit Franzi geholt?«

»Nein, Vater, Korbinian und ich haben uns nur zufällig im Ort unten getroffen. Das war gut, weil mir das Heraufsteigen mit Stepherl auf der Hucke sicher zu schwer geworden wär’. Unterwegs konnte ich Korbinian auch gleich erzählen, wessen Kind Stepherl ist. Aber lass uns doch schnell ins Haus gehen, der Bub muss auch müde sein.«

Josef Feistauer hob Stepherl von der Hucke und nahm ihn auf die Arme. »Für einen Jungen aus den Bergen bist du aber zu bleichsüchtig, du Hascherl, aber wir werden dich schon auffüttern.« Aus seiner Stimme klang viel Mitgefühl.

Korbinian blieb stehen. »Ich muss hinunter, Franzi, sonst werden mir die Pferde unruhig. Wenn du nichts dagegen hast, komme ich in den nächsten Tagen mal zu euch herüber.«

»Ich hab’ nichts dagegen, Korbinian. Vergelt’s Gott für deine Mühe. Du hast mir sehr geholfen.« Franzi folgte ihrem Vater ins Haus.

Dort schaute sich der kleine Junge verschüchtert um, aber er nahm, was ihm Franzi zu essen und zu trinken brachte. Nach einer Weile fragte er. »Muss ich hier auch ins Heu zum Schlafen?«

Franzi tätschelte seine Wange. »Bei uns schläft niemand im Heu, also auch du nicht. Auf dem Speicher steht noch mein Kinderbett, das wird der Großvater dann herunterholen und in meine Kammer stellen. Da schläfst du ganz nahe bei mir.«

»In einem Bett?«, fragte Stepherl verwundert.

»Ja, genau, Bub, in einem Bett.« Josef Feistauer strich ihm über den Kopf. »Und du hast ja gehört, dass ich jetzt dein Großvater bin.«

Stepherl musterte ihn. »Ich hatte schon einen Großvater, aber der war sehr bös.«