Hell Divers - Buch 1 - Nicholas Sansbury Smith - E-Book

Hell Divers - Buch 1 E-Book

Nicholas Sansbury Smith

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Beschreibung

Die NEW YORK TIMES-Bestseller-Serie Sie springen hinab in die Hölle, damit die Menschheit überlebt ... Zwei Jahrhunderte nach dem Dritten Weltkrieg ist unser Planet nahezu komplett radioaktiv verseucht. Die letzte Bastion der Menschheit sind zwei mächtige Luftschiffe, die den Globus umkreisen – immer auf der Suche nach einem bewohnbaren Gebiet. Doch mit zunehmendem Alter zerfallen die Schiffe. Das Einzige, was sie noch am Himmel hält, sind die Hell Divers: Männer und Frauen, die ihr Leben riskieren, indem sie auf die Erdoberfläche springen, um nach Ersatzteilen zu suchen. Buch 1: Als ein Team der Hell Divers in eine feindliche Zone namens Hades entsandt wird, erwartet sie das pure Grauen. Orson Scott Card: »Die Action-Szenen sind sehr gut. Smith schafft es, sie aufregend und lebendig zu schildern.« Bob Mayer: »Unaufhörliche Action und Gefahren in einer rauen postapokalyptischen Welt, in der das Überleben von ein paar tapferen Männern und Frauen abhängt. HELL DIVERS ist ein verdammter Pageturner!« A. G. Riddle: »Eine packende und ungewöhnliche Schilderung vom Untergang der Welt ... Fans von postapokalyptischen Thrillern werden begeistert sein.« Matthew Mather: »Das Ende der Welt sollte eigentlich nicht so viel Spaß machen!« Space and Sorcery: »Solch ein Buch kann Sie bis in die frühen Morgenstunden wach halten.« E. E. Giorgi: »Hugh Howey trifft auf Michael Crichton in Nicholas Smiths neuem postapokalyptischen Thriller.« Sam Sisavath: »Eine Mischung aus WATERWORLD und SNOWPIERCER ... aber mit Monstern und Luftschiffen. Ein Muss für Fans von cleveren postapokalyptischen Storys.«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

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Seitenzahl: 549

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Hell Divers #1

erschien 2016 im Verlag Blackstone Publishing.

Copyright © 2016 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-779-0

www.Festa-Verlag.de

Gewidmet meinem Agenten David Fugate für sein hervorragendes Feedback und seine Ermutigung sowie den Leuten bei Blackstone Publishing, weil sie an meine Geschichte glauben. Ich schätze mich glücklich, dass ich mit einem so talentierten Team zusammenarbeite.

Es gibt keinen Tod,

nur eine Veränderung der Welten.

– Chief Seattle

1

Die durchschnittliche Lebenserwartung für einen Hell Diver betrug 15 Sprünge. Für Xavier Rodriguez war es der 96., und er würde ihn verkatert bewältigen.

Schweigend, mit geneigtem Kopf wartete er vor den Türen der Startbucht, die Handflächen auf dem kalten Stahl. Die über den Gang verteilten, bewaffneten Wachen dachten vielleicht, er würde beten. Dabei bemühte er sich bloß, nicht zu kotzen.

Die Stimmung in der Nacht vor einem Sprung war immer sehr angespannt, was manchmal zu schlechten Entscheidungen an Bord der Hive führte. Normalerweise schaute Captain Ash bei den Ausschweifungen der Springerteams weg. Immerhin ließ sie diese Leute in die Apokalypse abspringen, um die verseuchte Oberfläche der alten Welt nach brauchbaren Teilen abzugrasen. Nur selten kamen alle Springer zurück. Ein wenig Fusel und Sex in der Nacht davor ließen sich praktisch nicht vermeiden.

»Viel Glück, X«, sagte einer der Wachleute.

X atmete tief ein, band sich das rote Bandana mit dem weißen Pfeilsymbol um den Kopf und schob anschließend die Doppeltür auf. Das rostige Metall kratzte über den Boden und lenkte die Blicke der drei anderen Mitglieder von Team Raptor auf ihn. Aaron, Rodney und Will legten in der Nähe der Spinde bereits ihre Anzüge an.

Am gegenüberliegenden Ende des Raums, jenseits der Kunststoffkuppeln der Startröhren, standen ein paar Springer von Team Angel. Sie stachen deutlich aus der Schar von Technikern und Ergänzungspersonal heraus, die sich entlang der Wand versammelt hatte. Ingenieure, Soldaten, Diebe: Springer besaßen breit gefächerte Fähigkeiten und hoben sich auch ohne ihre roten Overalls von anderen Menschen ab.

Flüchtig ließ X den Blick durch den Raum wandern. Team Apollo war diesmal nicht aufgekreuzt. X hatte nichts dagegen – er mochte es ohnehin nicht, beobachtet zu werden.

»Schön, dass du’s auch geschafft hast, X!«, rief Will. Das neueste Mitglied von Team Raptor zog seine verbeulte Körperpanzerung an und musterte X von oben bis unten, als er zu den Spinden hinüberging.

»Du siehst beschissen aus, Alter«, meinte Will und schmunzelte.

»Das lässt sich mit ein paar Aufputschmitteln leicht beheben«, gab X zurück.

Er brauchte in keinen Spiegel zu blicken, um zu wissen, dass Will recht hatte. X sah wesentlich älter aus als die 38 Jahre, die er auf dem Buckel hatte. Um seine Augen hatten sich Krähenfüße gebildet, weil er sie zu oft zusammenkniff, und seine übliche finstere Miene hatte sich in seine Wangen und Stirn gebrannt. Wenigstens hatte er noch den Großteil seiner Zähne. Ohne sein ungewöhnlich weißes Lächeln hätte er wesentlich schlimmer ausgesehen.

X hielt an seinem Spind für ein weiteres Ritual. Er fuhr mit einem Finger über sein Namensschild und nahm sich einen Moment Zeit, um seiner Vorgänger zu gedenken. Was jeden Tag schwieriger wurde. An manchen Tagen konnte er sich an einige Gesichter überhaupt nicht mehr erinnern. An diesem Tag jedoch lag das teilweise auch an seinen pulsierenden Kopfschmerzen.

Er öffnete die Spindtür und durchsuchte das oberste Fach nach einer Flasche mit Aufputschmitteln, die er bei einem Sprung vor einigen Monaten entdeckt hatte. Die kostbaren Tabletten – auch etwas, das man unmöglich an Bord der Hive herstellen konnte – waren ihr Gewicht in Gold wert.

X spürte durchdringende Blicke auf sich, als er ein paar der Pillen schluckte. Aus dem Augenwinkel nahm er die große, schlanke Gestalt seines besten Freundes Aaron Everhart wahr.

»Sag’s einfach«, forderte ihn X auf.

»Ich dachte, du wolltest das Zeug zurückschrauben.«

Zu lügen hatte keinen Sinn, das würde Aaron auf Anhieb durchschauen.

»Bin noch nicht dazu gekommen«, erwiderte X stattdessen.

Aaron sah ihm direkt in die Augen und legte die Stirn in Falten. »Bist du sicher, dass du in der Lage …«

X hob die Hand, als wollte er einen Anfänger zurechtstutzen. »Es geht mir gut, Mann.«

Nach einem angespannten Moment ging X los, um nach Rodney zu sehen, der gerade einen dunkelbraunen Fuß in seinen schwarzen Overall steckte. Als er aufschaute, schien sein leerer, emotionsloser Blick geradewegs durch X hindurchzustarren, anstatt ihn zu sehen. Rodney war der dritterfahrenste Springer an Bord des Schiffes. Die Arbeit hatte ihn über die Jahre abgestumpft, und manchmal hatte X den flüchtigen Eindruck, dass Rodney sterben wollte. Bei der letzten Gesundheitsuntersuchung hatte einer der Ärzte X dieselbe Frage gestellt. Aber wer konnte das schon mit Sicherheit sagen? Tief in ihrem Innersten mussten wohl alle Hell Divers zumindest ansatzweise Todessehnsucht verspüren.

»Alle mal herhören«, ergriff X das Wort. »Ich komme gerade vom Oberkommando. Captain Ash sagt, der Himmel sieht gut aus. Keine Anzeichen von Gewitterstürmen über dem Absprunggebiet.«

»Was steht diesmal auf der Liste?«, fragte Rodney.

»Nukleare Brennstoffzellen. Das ist alles. Captain Ash hat sich sehr deutlich ausgedrückt.«

»Mann, was ist daraus geworden, nach anderem Scheiß zu suchen?«, meldete sich Will zu Wort. »Ich vermiss die Tage, als wir noch nach echten Schätzen gesucht haben.«

X warf ihm einen finsteren Blick zu. »Du solltest froh sein, dass wir heute über einer grünen Zone abspringen – weniger Strahlungsgefahr an der Erdoberfläche.«

»Ich schätze, an die Absprünge über grünen Zonen könnt ich mich gewöhnen«, meinte Will. »Vielleicht lebe ich ja lang genug, um irgendwann eine Legende wie du zu werden.« Er ließ ein Grinsen aufblitzen, das unter X’ finsterem Blick gleich wieder verpuffte.

Will war ungefähr so jung wie X damals, als er sich den Hell Divers angeschlossen hatte, und ungefähr genauso naiv.

Kaum zu glauben, dass das vor 20 Jahren war. X war beileibe keine Legende, allerdings hatte er tatsächlich mehr erfolgreiche Sprünge hinter sich gebracht als jeder andere Hell Diver der Geschichte. Der Einzige, der nah an seinen Rekord herankam, war ein Mann namens Rick Weaver an Bord ihres Schwesternschiffes Ares. Soweit X gehört hatte, war Weaver nach wie vor als Springer aktiv.

X legte den Kopf in den Nacken und schluckte zwei weitere Pillen. Er spülte sie mit einem Schluck aus seiner Wasserflasche hinunter, verzog das Gesicht und wandte sich dann an Aaron.

»Wie geht’s dem Kleinen?«, erkundigte er sich. »Ich hab Stan schon länger nicht mehr gesehen.«

»Michael wächst viel zu schnell«, erwiderte Aaron. »Erst vor ein paar Wochen ist er an der Ingenieursschule aufgenommen worden. Zwei Jahre früher als normal.« X nahm einen Anflug von Traurigkeit in Aarons stechenden blauen Augen wahr, wusste jedoch nicht, was er bedeuten mochte. Lag es daran, dass X in letzter Zeit keinen Versuch unternommen hatte, Stan zu sehen? Oder daran, dass Stan entschieden hatte, Ingenieur statt Hell Diver zu werden?

»Du hast doch nicht etwa gedacht, er würde in deine Fußstapfen treten wollen, oder?«, fragte X.

»O Scheiße, nein!«, antwortete Aaron. Seine blonden Augenbrauen zogen sich zusammen. »Dieses Leben würde ich für meinen Jungen nie wollen.«

»Daraus kann ich dir keinen Vorwurf machen.«

Aaron zögerte. Seine Lippen bildeten eine schmale Linie. »Ich wollt’s ja nicht erwähnen, aber du hast seinen Geburtstag verpasst.«

»Scheiße«, murmelte X. »Wann ist er neun geworden?«

Wieder zogen sich Aarons Brauen zusammen. »Er ist zehn.«

X schaute zu Boden. »Tut mir leid. Ich mach’s wieder gut, wenn wir zurück sind.«

Aaron schloss seinen Spind. »Da mach ich mir mal keine allzu großen Hoffnungen.«

Sonst gab es eigentlich nichts mehr zu sagen. X musste sich mit Taten beweisen, nicht bloß ein weiteres leeres Versprechen abgeben. Er griff sich seinen abgetragenen Overall aus dem Spind und schlüpfte mit den Beinen hinein. Die Innenpolsterung passte sich seiner Muskulatur an, als er den Reißverschluss vorne zuzog. Aaron reichte ihm die mattschwarze Körperpanzerung, die seine lebensnotwendigen Organe schützte. Das Teil fühlte sich leicht in den Händen an, aber die Außenhülle aus Titan hielt einem Schuss mit einer Schrotflinte stand. Die Brustplatte hatte ihn schon bei unzähligen Sprüngen vor Knochenbrüchen oder Schlimmerem bewahrt.

Er stülpte sich die Panzerung über den Kopf, zog den Bauch ein und befestigte die Schnallen an beiden Seiten. Sie saß ziemlich eng, war für den Körper eines wesentlich jüngeren Mannes geformt worden, lange bevor sich sein Metabolismus verlangsamt und seine schlechten Angewohnheiten bemerkbar gemacht hatten.

Die Arm- und Beinschützer aus Titan passten auch nicht viel besser. Er brachte sie über alten Muskeln an, mittlerweile bedeckt von einer Fettschicht, die er nicht loszuwerden schien, ganz gleich, wie viele Liegestütze er machte oder wie viele Runden er durch das Schiff joggte. Nach dem Befestigen der Schutzvorrichtungen setzte er den Helm auf. Zum Abschluss der Routine fügte er seine Batterieeinheit in die Fassung seines Brustpanzers ein. Flackernd erwachte ein kühles blaues Licht zum Leben und leuchtete über die mattschwarze Panzerung. Die Ausrüstung mochte alt sein wie alles an Bord des Schiffes, aber die Teile passten perfekt zusammen und schützten ihn vor den feindseligen Bedingungen bei einem Sprung.

»Die Röhren sind bereit!«, rief eine Stimme aus X’ Startröhre. Ty, der Techniker des Teams, kletterte heraus und bekam dabei Schmiere auf seinen gelben Overall. Er kaute nervös auf einem brennwertverstärkten Kräuterstäbchen. So viele von den verdammten Dingern Ty auch aß, er blieb immer spindeldürr.

X griff sich eine mit Leuchtfackeln und Schrotmunition vollgestopfte Weste, warf sie sich über die Schulter und steuerte auf die Abwurfröhren zu. Unterwegs ließ er den Blick prüfend über die Bullaugen wandern. Außer wirbelnden dunklen Wolken war dahinter nichts zu sehen. Die Springer von Team Angel machten Platz, als X und seine Männer ihre Röhren erreichten. Rodney und Will eilten vorbei, aber Aaron hielt wie immer inne und nickte X zu. Die Geste war aussagekräftiger als Worte. Trotz der Spannungen vorhin würden sich die beiden gegenseitig ihr Leben anvertrauen.

Die Springer stiegen einer nach dem anderen in die Metallkokons.

Auch nach all den Jahren verspürte X immer noch einen Anflug von Angst, als Ty die Kunststoffkuppel über ihm schloss. Es dauerte einige Augenblicke, in denen er sich hin und her wand, bevor er eine bequeme Position fand. Sein Verstand kam in die Gänge, der Nebel seines Katers begann sich zu lichten – die Wirkung der Aufputschtabletten setzte endlich ein.

X atmete aus und tippte auf den Minicomputer an seinem rechten Unterarm. Hinter der gesprungenen Glasabdeckung flackerte das Bedienfeld. Er drückte die Schaltfläche zur Aktivierung des Head-up-Displays, kurz HUD. Rechts oben in seinem Visier erschien ein grüner transparenter Subscreen, über den digitale Telemetriedaten scrollten.

Er wischte ein zweites Mal über den Monitor an seinem Unterarm. Ein weiterer transparenter Subscreen tauchte über den Daten seines HUD auf und verfestigte sich zu einer rechteckigen Karte. Vier Signalimpulse zeigten sich darauf, einer für jedes Mitglied von Team Raptor.

X drückte mit dem Kinn auf die Sprechleiste in seinem Helm, um eine Leitung zu seiner Mannschaft zu öffnen. »Raptor, Systemcheck.«

»Bereit, Boss«, gab Rodney zurück.

»Sieht alles gut aus«, sagte Will. Eine kurze Pause, dann: »Bereit zum Sprung.«

Das leichte Zittern, das X in Wills Stimme hörte, überraschte ihn nicht. Es war der 15. Sprung des Jungen, und laut den Statistiken sollte es sein letzter werden.

Scheiß auf die Statistiken, dachte X. Würden die Zahlen immer die ganze Wahrheit sagen, wäre er selbst vor 80 Sprüngen draufgegangen.

»Systeme sehen gut aus, X«, meldete Aaron. »Wir sehen uns an der Erdoberfläche.«

»Sicheren Sprung«, gab X zurück und betonte das erste Wort.

Eine neue Stimme ertönte knisternd in seinem Helm. »Missionsfreigabe erteilt, X.« Captain Ashs Stimme, klinisch und unverwechselbar weich.

»Verstanden«, antwortete er. »Wir springen, damit die Menschheit überlebt.« So lautete das Motto der Hell Divers, und es war seine typische Erwiderung – eine Erwiderung, die Captain Ash versicherte, dass sie auf ihn zählen konnte.

Als die Hive langsamer wurde und schließlich zum Stillstand kam, klappte X sein verspiegeltes Visier hoch und presste sich den dünnen Polymer-Mundschutz gegen die oberen Zähne. Mittlerweile befand sich das Schiff in Schwebeflughöhe, aber X wartete darauf, dass Ty bestätigte, was er bereits wusste.

»Wir sind in Position«, meldete Ty kurz darauf. »Schicke in wenigen Sekunden die Versorgungskiste zur Erdoberfläche.«

X zeigte ihm den erhobenen Daumen, und Ty verriegelte die Kunststoffkuppel auf dem Zylinder. Er klopfte mit der flachen Hand auf die durchsichtige Abdeckung, nahm das Kräuterstäbchen aus dem Mund und formte mit den Lippen die Worte: Viel Glück.

Sirenengeheul dröhnte durch die Startbucht. Die erste Warnung.

X spürte das vertraute Kribbeln steigender Erwartung. Eine chaotische Kombination aus Angst und Erregung mit Suchtpotenzial – das Gefühl, das ihn dazu antrieb, wieder und wieder zu springen. Obwohl es X niemals einer Menschenseele gegenüber zugeben würde, lebte er für diesen Kick.

Jeder Sprung war riskant, oft auf eine völlig neue Weise. Ohne Risiko konnte man nicht in 6000 Metern Höhe aus einem Luftschiff springen, durch Gewitterstürme stürzen und auf der feindseligen Erdoberfläche landen. Und diesmal handelte es sich obendrein um keine gewöhnliche Bergungsmission. Die Brennstoffzellen, die sie für Captain Ash auftreiben sollten, waren nicht einfach zu beschaffen. Es gab nur noch wenige bekannte Orte auf dem Kontinent, an denen man das nukleare Gold finden konnte. Ohne die Zellen würde sich die Hive nicht in der Luft halten können. Und wenn die vorhandenen Brennstoffzellen ausfielen …

Bei dem Gedanken biss X entschlossen auf seinen Mundschutz. Er würde nicht versagen. Er versagte nie.

Auf seiner Missionsuhr wurden die Sekunden heruntergezählt. Mittlerweile hatten seine Sinne auf höchste Alarmbereitschaft geschaltet. Er konnte den abgetragenen Kunststoff des Helms riechen, sein hämmerndes Herz fühlen, das pulsierende Rauschen des Blutes in seinen Ohren hören und den sanften blauen Schimmer der inneren LEDs seines Helms sehen.

Eine zweite Sirene ertönte schrill, und die Notbeleuchtung tauchte seine Kapsel in Rot. Auf das Geräusch von knarrendem Metall folgte ein lautes Fupp!, als Ty aus einer anderen Röhre die Versorgungskiste startete.

Eine Minute bis zum Absprung.

X überflog ein letztes Mal die Daten seines HUD. Alle Systeme klar. Die leuchtenden Punkte von Rodney, Will und Aaron blinkten, alle aktiv. Sie waren bereit. X zählte in Gedanken die letzte Minute herunter. Er ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Knöchel knackten.

30 Sekunden bis zum Absprung.

Die Sirenen verblassten zu einem leisen Echo, das rote Leuchten ging in Blau über – die letzten Momente der Ruhe vor dem Sturm. In der Wolkendecke unter seinen Füßen schien kurz etwas zu gleißen, doch das musste eine Illusion sein. Das Oberkommando hatte gesagt, dass im Absprunggebiet keine Gewitterstürme tobten.

Die Stimme von Captain Ash ertönte knisternd in seinem Helm, leidenschaftslos, aber irgendwie beruhigend. »Viel Glück, Raptor.«

Fünf Sekunden bis zum Absprung.

Ein Schauder raste X über den Rücken, als er unter sich unbestreitbar einen Blitz durch die Wolken zucken sah. Das entfernte Aufflackern erlosch, ließ nur Spuren verschwommener Helligkeit zurück.

X drückte mit dem Kinn auf die Sprechtaste und schrie: »Start verzögern! Ich wiederhole …«

Er hob in dem Moment den Arm, um gegen die Kuppel zu hämmern, als sich der Glasboden ganz leise öffnete. Seine behandschuhten Fingerspitzen schabten über die Metalloberfläche der Röhre, als er fiel, seine Stimme verlor sich im Tosen des Windes.

Einen Moment lang fühlte er sich schwerelos, als bestünde er nur aus reinem Bewusstsein. Dann erfasste ihn der Wind und sog ihn in die schwarze Leere. Wut kochte in ihm hoch. Wie konnte dem Oberkommando das Unwetter entgangen sein? Ein defekter Sensor? Ein nachlässiger Offizier, der zu beschäftigt damit gewesen war, einer hübschen Auszubildenden an den Hintern zu fassen? X wusste es nicht, und im Augenblick spielte es ohnehin keine Rolle. Er musste sich auf den Sprung konzentrieren und darauf, sein Team lebend hinunter auf die Erdoberfläche zu bringen.

X kapitulierte vor den Kräften, die an seinem Anzug zerrten und ihn auf die Erde zuschleuderten. Indem er die Arme und Beine ausstreckte, ging er in eine stabile Position für den freien Fall über. Die glatte, käferähnliche Hülle der Hive schwebte über ihm, die Mantelstromtriebwerke flimmerten wie Insektenflügel. Weit über dem Schiff, tief in der Masse der Wolken, erhaschte er einen flüchtigen Blick auf etwas, das er lange nicht mehr gesehen hatte: eine Schliere goldenen Lichts. Die Sonne, die sich durchzukämpfen versuchte. Dann verschwand das Licht abrupt.

X richtete den Blick wieder auf sein HUD. Sie waren bereits auf 5800 Meter gefallen. Aus dem Augenwinkel nahm er den blauen Schimmer von Aarons Batterieeinheit wahr. Eine Millisekunde lang fragte er sich, was seinem alten Freund durch den Kopf gehen mochte, doch er konnte es sich gut vorstellen. Aaron sprang mit einer Last, die mehr als sein Fallschirm und seine Körperpanzerung wog. Auf ihn wartete oben ein Sohn.

X hatte niemanden, der auf ihn wartete oder auf ihm lastete. Und dadurch wurde er zu einem der besten Springer.

X spürte, wie die kühle Matratze des Windes gegen ihn drückte, und streckte den linken Arm ein paar Zentimeter aus – gerade genug für eine langsame Drehung nach rechts, damit er nach den anderen Springern sehen konnte. Sie näherten sich, arbeiteten sich auf eine Keilformation mit 100-Meter-Abständen zu.

Er neigte den Helm nach unten, spähte wieder in die Wolken. Ein blendendes Geflecht gezackter Blitze erstreckte sich in einer Höhe von etwa 4500 Metern unter ihnen.

Ein statisches Knistern drang aus dem Lautsprecher in seinem Helm, als einer der anderen Springer zu sprechen versuchte, aber die verstümmelten Worte ließen sich unmöglich verstehen. X richtete den Blick auf die wirbelnden Wolken. Die Dunkelheit tarnte die Ausmaße des Unwetters, doch er ließ sich nicht täuschen. Wenn es bereits ihre Elektronik beeinträchtigte, musste es gewaltig sein.

Während er rasend durch den Himmel fiel, nahm die Intensität der sporadischen Blitze zu. Bei 3600 Metern schleuderte ihn eine Ballung von Turbulenzen plötzlich nach links. Der Wind pfiff über seine Körperpanzerung hinweg und zerrte an seinem Overall. X achtete darauf, seine Masse zu zentrieren und seine stabile Position für den freien Fall beizubehalten.

3000 Meter. Die Hälfte geschafft.

Er schoss durch eine Wolkenbank so schwarz und flach wie ein Amboss und beobachtete entsetzt, wie der gesamte Himmel vor elektrisch blauen Blitzen aufleuchtete. Sofort übernahm seine Erfahrung die Kontrolle. Er winkelte die Arme nach hinten zu einem V an, neigte die Nase nach unten und verengte das V zu einer Pfeilspitze.

Sein Team war zwar in den Wolken verschwunden, aber die anderen würden dasselbe tun. Durch die Windscherungen und elektrischen Störungen würden sie blind und taub und ihre Elektronik nutzlos sein. Deshalb hatte X seiner Mannschaft beigebracht, die Höhe und Geschwindigkeit anhand der Zeit im freien Fall zu berechnen und sich an allem zu orientieren, was sie auf dem Boden oder am Horizont erspähen konnten. Dadurch waren sie nicht völlig auf die Unterstützung eines Computerprogramms angewiesen.

Nur erwies sich Kopfrechnen als nahezu unmöglich, während man durch eine Gewitterfront fiel. Der Wind peitschte jeden Quadratzentimeter seines Körpers, und die Blitze schienen die Dunkelheit zu verzerren und den Raum um X herum zu krümmen. Einen so heftigen und ausgedehnten Sturm hatte er seit Langem nicht mehr erlebt. Die Schlechtwetterfront erstreckte sich über sein gesamtes Sichtfeld. Es gab keine Möglichkeit, den Sturm zu umgehen. Sie konnten nur so schnell wie möglich hindurchtauchen.

X raste durch die Wolken wie eine Rakete. Der Wind heulte über seinen Körper, als sich seine Geschwindigkeit steigerte. 2400 erschien flackernd auf dem HUD seines Visiers, bevor er mitten ins dunkle Herz der Leere geriet. Er fiel mit 257 Stundenkilometern und beschleunigte immer noch. Jede Muskelfaser seines Körpers schien vor angespannter Bereitschaft zu vibrieren. Durch den kreischenden Wind drangen die peitschenden Knalle naher Donnerschläge und das grollende Rumoren weiter entfernt. Die ständigen Scherungen schleuderten ihn bald hierhin, bald dorthin und zwangen ihn, die Beine zu versteifen und die Hände als ausgleichende Ruder einzusetzen, um den Sturzflug beizubehalten und nicht unkontrolliert zu trudeln.

Unmittelbar vor ihm schnellte ein Blitz vorbei. Ihm blieb keine Zeit, sich zu rühren oder auch nur zu zucken. Er spürte, wie sich sämtliche Härchen an seinem Körper gleichzeitig aufrichteten.

Doch allein die Tatsache, dass ihm diese Gedanken durch den Kopf schossen, verriet ihm, dass es sich um keinen kritischen Treffer handelte. Er konnte immer noch sehen, und sein Herz hämmerte nach wie vor wie wild. Der Blitz hatte nicht die Schicht der synthetischen Materialien seines Anzugs durchdrungen, der ein gewisses Maß an Schutz gegen Stromschläge bot. Dennoch würde er schon bald ein Brennen spüren.

2000 Meter.

Er streckte die Arme seitlich aus, winkelte die Knie an und arbeitete sich zurück in eine stabile Position. Endlich machte sich die Hitze bemerkbar. Seine Haut fühlte sich an, als stünde sie in Flammen. Er biss härter auf den Mundschutz, schmeckte den Kunststoff.

1500 Meter.

Die digitale Karte auf seinem HUD hatte sich wieder gefestigt. Einer der blinkenden Punkte – die Herzschläge der anderen – war verschwunden. Es war Rodney, dessen Leuchtsignal erloschen war.

»Gottverdammt«, flüsterte X. Er spannte die Kiefermuskulatur an und bemühte sich, den Zorn zu bändigen, der unter seiner brennenden Haut brodelte. Irgendjemand würde für diese Dummheit bezahlen – aber das würde warten müssen.

1200 Meter.

Weitere Blitze zuckten durch seine Falllinie. Diesmal blieb er ungerührt. Er war fast unten und konzentrierte sich völlig darauf, die verbleibende Zeit zwischen ihm und der Erdoberfläche abzuschätzen. Die Anzüge besaßen kein automatisches Aktivierungssystem – die Techniker hatten es vor Jahren auf X’ Drängen entfernt. Er wollte nicht, dass ein fehleranfälliges Computersystem, das so alt wie er selbst war, darüber entschied, wann sich sein Fallschirm öffnete.

Ein blinkender Punkt in der Fülle der Daten auf seinem HUD lenkte seine Aufmerksamkeit zurück zum Visier. Wills Signalanzeige war dramatisch vom Kurs abgekommen.

X neigte den Kopf, suchte in der Dunkelheit nach dem blau schimmernden Licht der Batterieeinheit und erspähte es, als es in die brodelnde schwarze Masse hinein davonwirbelte.

Gleich darauf erlosch Wills Signal, als sein Herzschlag von einem fatalen Schlag statischer Elektrizität beendet wurde. Der Junge war am Ende doch genau im statistischen Mittel gelandet – tot beim 15. Sprung.

X spürte, wie sein Körper vor Wut zitterte. Die zwei Springer hatten es schon beinahe geschafft, das Unwetter fast hinter sich gelassen und die relative Sicherheit der verseuchten Erde erreicht. Und nun waren sie tot. Eine Verschwendung kostbaren menschlichen Lebens, die man hätte vermeiden können, wenn die Offiziere des Oberkommandos ihre verfluchte Arbeit ordentlich erledigt hätten. Wie konnte man einen Sturm mit einem Radius von um die 150 Kilometer übersehen?

Vor Zorn brüllend stieß X mit Höchstgeschwindigkeit durch den Boden der Wolkenschicht und betätigte mit dem Kinn den Taster in seinem Helm, um die Nachtsichtoptik zu aktivieren. Unter ihm geriet eine verfallende Stadt in Sicht. Die rostigen Ruinen von Wolkenkratzern ragten wie Grabsteine in einem Friedhof aus Metall und Beton empor. Jene Gebäude, die nicht eingestürzt waren, lehnten aneinander wie ein Wald abgestorbener Hochstümpfe. Ihre schief stehenden Träger, die sich knallgrün abzeichneten, füllten sein Visier aus und wurden mit jedem Schlag seines Herzens größer.

900 Meter.

Kaum hatte X den Sturm endlich hinter sich gelassen, zog er einen Arm an und vollführte eine halbe Drehung um die Längsachse, bevor er sich auf den Rücken legte und die Beine und Arme ausbreitete. Der Schimmer einer Batterieeinheit tauchte auf. Zwei Sekunden später schoss ein Springer durch die Wolken über ihm. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass es sich um Aaron handelte, rollte er sich zurück in eine stabile Position und zog an seiner Reißleine. Die Fangleinen strafften sich und rissen ihn mit einem Ruck nach oben, oder zumindest fühlte es sich so an. X griff über sich, packte die Schlaufen der Steuerleinen und lenkte auf ein Trümmerfeld nördlich von zwei eingestürzten Gebäuden zu.

Nachdem er die Landezone bestimmt hatte, zog er an der linken Steuerleine und drehte die Fallschirmkappe so, dass er den Himmel absuchen konnte. Einen Herzschlag danach kam Aaron in Sicht, aber irgendetwas stimmte nicht. Er befand sich immer noch im Sturzflug und raste auf die Ruinenpyramide zu.

»Aaron, lös den verfluchten Fallschirm aus!«, brüllte X in die Sprechverbindung.

Eine Sekunde lang ertönte nur ein statisches Knistern. Der Boden näherte sich um weitere 75 Meter.

Aarons panische Stimme dröhnte durch die Leitung. »Ich kann nichts sehen. Meine Nachtsicht funktioniert nicht!«

X erübrigte eine halbe Sekunde für einen prüfenden Blick zu seiner Landezone. Er befand sich nach wie vor auf Kurs dorthin. Sein Blick kehrte zurück zum Himmel und heftete sich auf den blauen Meteor, an den Aaron erinnerte.

»Zieh die Reißleine! Ich geb dir Anweisungen.«

»Ich kann nur Dächer sehen!« Das statische Knistern in der Leitung verbarg nicht die Angst, die in Aarons Stimme mitschwang.

»Zieh verdammt noch mal die Reißleine, wenn du nicht eines dieser Dächer küssen willst!«

X atmete erleichtert durch, als sich Aarons Fallschirm endlich öffnete. Er hatte immer noch die Chance, seinen Fall zu bremsen und zu überleben. X würde ihn leiten. Er würde für Aaron sehen.

»Lenk nach links!«

Aaron entfernte sich zwar von den Türmen, aber es waren so viele. Zu viele. Er hielt auf das emporragende Gerippe eines einst prächtigen Bürowolkenkratzers zu.

X drehte sich, um besser zu sehen. Seine Ohren verschlossen sich durch die Druckveränderung. Ein Schwindelgefühl erfasste ihn. Er blinzelte es weg und hielt den Blick auf Aaron gerichtet. Langsam trieb er von den Gerippen eingestürzter Gebäude weg.

»Ich kann nichts sehen, X!«

»Zieh weiter nach links. Du hast’s fast geschafft!«

Eine Pause entstand.

»Weißt du noch, was ich dir über Stan gesagt habe?« Aarons Stimme klang ruhiger als zuvor.

X’ Herzschlag setzte eine halbe Sekunde lang aus. »Ja.«

»Du musst dich um ihn kümmern. Versprich’s mir!«

»Aaron, du schaffst es. Halt dich einfach weiter links! Du bist fast dran vorbei.«

Der Fallschirm zog Aaron zwar weg von dem Dschungel aus Stahl und Glas, aber X konnte keine ungefährliche Landezone ausmachen. Er wand sich in seinem Gurtzeug hin und her. Seine Augen suchten verzweifelt die trostlose Landschaft nach einem sicheren Weg hinunter ab.

»Versprich’s mir, verflucht noch mal!«, wiederholte Aaron seine Forderung.

X sog einen gemessenen Atemzug ein. »Ich versprech’s. Aber du wirst …«

Bevor er den Satz beenden konnte, wurde die blaue Silhouette herumgerissen und krachte gegen die Seite eines Gebäudes. Hilflos musste X mit ansehen, wie sich der Fallschirm an scharfkantigem Metall verfing. Durch die Wucht des Aufpralls rissen die Leinen, und der blaue Schimmer stürzte in die dunkle Tiefe.

Das einsame Knistern von statischen Interferenzen drang über die Funkverbindung. Einen Lidschlag später verlor er Aaron aus den Augen, aber er hörte über die Leitung das knirschende Platschen, als der Körper seines Freundes auf dem Straßenpflaster aufschlug.

X starrte auf die verheerten Gebäude, während ihm der Atem in der Brust stockte. Er konnte nicht verarbeiten, dass Aaron tatsächlich tot war. Ihm blieben nur Sekunden, bis er den eigenen Fallschirm aufweiten und selbst landen musste. Aber er konnte den Blick nicht von den Türmen lösen oder den Gedanken ertragen, unten Aarons zerschmetterte Leiche zu finden. Nicht nachdem er so viele Sprünge überlebt hatte.

Irgendwann rissen ihn sein Versprechen und sein Pflichtgefühl aus dem benommenen Dämmerzustand. Die Menschheit zählte auf ihn. Aaron war gestorben, wie Will und Rodney vor ihm. Aber X durfte nicht sterben. Er hatte immer noch zwei Dinge zu erledigen: die Brennstoffzellen finden und für Stan da sein, bis der Junge erwachsen wäre.

Der Erdboden raste ihm entgegen. X winkelte leicht die Knie an, zog an den Steuerleinen, um den Abstieg weiter zu bremsen, und führte eine zweistufige Aufweitung durch. Eine Staubwolke wallte um ihn herum auf, als seine Stiefel auf dem verseuchten Untergrund landeten. Er versuchte, mit dem Schwung auszulaufen, doch ohne im Wind flatterndes Gras oder Laub hatte er sich verschätzt und sich dem Boden seitlich zum Wind genähert. Seine Knie knickten ein und er verlor das Gleichgewicht.

X knallte hart auf den Boden. Sein Körper überschlug sich, bevor er über die nackte Erde schlitterte. Letztlich kam er auf dem Rücken zum Stillstand. Ein paar Sekunden lang blieb er liegen. Jenes grauenhafte knirschende Platschen hallte ihm immer noch in den Ohren. Er konnte weder sehen noch atmen. Er hatte bei einem einzigen Sprung sein gesamtes Team verloren – und dabei sollte es eigentlich ein Absprung über einer grünen Zone sein.

Wutentbrannt zerrte er an den Haupttragegurten und den Fangleinen, die sich um seine Hüfte und seine Beine gewickelt hatten. Das Nylon wiegte sich in der toxischen Brise. X wand sich und zog es von seiner Körperpanzerung weg, wobei er stolperte und fiel. Schließlich zog er sein Messer und schnitt das Gurtzeug durch, um sich endlich zu befreien. Abermals fluchte er und trat, noch immer sitzend, auf den Boden.

Der Wind hatte sich beruhigt und das Grollen des Donners ertönte weit entfernt. Er steckte das Messer zurück in die Scheide und verharrte noch kurz auf dem Boden, bevor er sich letztlich auf die Beine stemmte.

Als das Blut aus seinem Kopf abfloss, wankte er leicht, dann blickte er durch die tänzelnden Sternchen in seinem Sichtfeld auf sein HUD. Das Anzeigesignal der Versorgungskiste, die Ty abgeworfen hatte, befand sich rund 800 Meter entfernt.

X fasste nach unten und aktivierte den Computer an seinem Handgelenk. Eine Karte breitete sich über den Bildschirm aus. Mit einer Fingerspitze schnippte er gegen die Oberfläche und zog einen Navigationsmarker auf die Position der Kiste.

Wenigstens würde er nicht stundenlang durch das Ödland marschieren müssen, um seine Ausrüstung zu bergen. Er überprüfte die Karte ein zweites Mal auf das Hauptziel der Mission. Den Aufzeichnungen an Bord der Hive zufolge befanden sich die nuklearen Brennstoffzellen in einem alten Lagerhaus etwa dreieinhalb Kilometer von der Versorgungskiste entfernt. X kennzeichnete die Position mit einem zweiten Navigationsmarker.

Als er mit der Planung der Route fertig war, überprüfte er die Strahlungswerte. Sein Herz setzte einen Schlag aus, als er die digitalen Telemetriedaten auf seinem HUD sah. Da konnte irgendetwas nicht stimmen. Die Zahlen waren astronomisch hoch.

Von wegen grüne Zone!

Im Augenblick fehlte ihm die Zeit, um Captain Ashs Team nach Strich und Faden zu verwünschen. Er musste sich in Bewegung setzen. Sein mehrschichtiger Anzug würde nicht die gesamte Strahlung abblocken, die Uhr tickte also. X zog die Schrotpistole aus dem Holster an seiner rechten Hüfte und öffnete das dreiläufige Kipplaufsystem. Im Verschluss kamen zwei Schrotpatronen zum Vorschein. Gut, dass er nachgesehen hatte – er hatte das Leuchtgeschoss vergessen. Er griff sich eines aus seiner Weste, legte es in den obersten Lauf ein und ließ den Verschluss mit einem Klicken zuschnappen.

Seine Ausbildung und die Erfahrung, die er im Verlauf von 96 Sprüngen gesammelt hatte, machten sich bemerkbar. Aufmerksam ließ er den Blick über die Verwüstung um ihn herum wandern, zu beiden Seiten gesäumt von Hunderten Gebäudeskeletten. Darüber tobte der wirbelnde Sturm. Ein Anblick, den andere Hell Divers unzählige Male gesehen hatten … doch diesmal gab es nur noch X, der ihn bezeugen konnte.

2

»Bitte, Maria, es ist noch nicht zu spät«, sagte Mark Ash. »Jordan kann übernehmen. Du hast deine Pflicht an Bord der Hive erfüllt. Es ist an der Zeit, dass du an dich selbst denkst.«

Captain Maria Ash stand über das Waschbecken gebeugt und spuckte Blut hinein. Sie zitterte und musste das kalte Metall umklammern, um sich abzustützen.

»Jordan ist nicht bereit dafür«, widersprach sie. »Er hat noch viel zu lernen, bevor er das Ruder übernimmt.« Sie schloss die Augen und wartete, bis sich der Schwindelanfall legte. Dann öffnete sie die Lider und betrachtete ihren Ehemann im Spiegel. Das spärliche braune Haar, das er noch besaß, bildete um den Schädel eine Art Krone, die an die Tonsur eines Mönchs erinnerte. Er schob die Brille auf der Knollennase weiter nach unten, dann lächelte er, als er bemerkte, dass sie ihn ansah.

Obwohl sie sich mittlerweile daran gewöhnt haben sollte, schnappte sie beim Anblick der Frau neben ihm unwillkürlich nach Luft. Ihre blasse Haut betonte die dunklen Ringe unter den grünen Augen, die maßgeschneiderte weiße Uniform konnte nicht verschleiern, wie viel Gewicht sie verloren hatte. Ihr Gesicht war verhärmt, und einen Moment lang wünschte Maria, sie könnte auf dem Schwarzmarkt Make-up kaufen. Aber sie musste mit gutem Beispiel vorangehen, auch wenn sie dadurch wie ein wandelnder Leichnam aussah.

Sie fuhr sich mit einer Hand durch das leuchtend rote Haar. Zumindest das hatte sie zurückerhalten. Ihr Haar war immer ein prägendes Merkmal ihrer selbst gewesen, und der Verlust hatte sich angefühlt, als hätte sie einen Teil ihrer Identität eingebüßt. Vor zwei Tagen, als ihr einer der Ärzte der Hive mitgeteilt hatte, dass der Kehlkopfkrebs zurückgekehrt war, hatte sie als Erstes ihr Haar angefasst. Es stellte ihren einzigen Luxus dar, ein wenig Weiblichkeit, die sie der Welt immer noch zeigen konnte. Geschickt knotete sie es zu einem Dutt und fixierte es mit einer Handvoll Nadeln.

Mark legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich liebe dich, Maria, und das seit dem Tag, an dem wir uns vor fast 25 Jahren begegnet sind. Ich will dich nicht verlieren.«

Sie wandte sich vom Spiegel ab und drehte sich ihm zu. »Und ich liebe dich, aber du weißt, wie wichtig mir mein Traum ist. Ich muss ein neues Zuhause für uns finden. Ich weiß, es gibt irgendwo einen Ort für uns – ein Fleckchen an der Erdoberfläche, das bewohnbar ist. Und ich werde es finden.«

Er seufzte leicht. »Du willst unbedingt glauben, dass es diesen Ort gibt, aber nicht mal deine eigene Besatzung glaubt daran. Bitte, ich flehe dich an. Übergib das Kommando an Jordan. Lass dich wieder behandeln. Ich hätte dich schon einmal fast verloren.«

Maria schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem Spiegel zu. Sie war eine Kämpfernatur. Schon immer gewesen. Bevor sie Captain wurde, war sie Lieutenant bei der Miliz gewesen. Sie trug ihre Uniformen immer voll Stolz.

»Das Schiff braucht mich jetzt mehr als je zuvor. Wir haben gerade Team Raptor in einen Gewittersturm abgeworfen, um Himmels willen!«

Mark rümpfte die Nase – was er immer dann tat, wenn er nicht recht wusste, was er sagen sollte.

»Es sind nur noch zwei Luftschiffe auf der gesamtenWelt übrig«, sagte sie. »Ich drücke mich jetzt nicht vor meiner Pflicht.«

»Na schön, das verstehe ich.« Mit einem niedergeschlagenen Nicken öffnete er die Badezimmertür und ließ sie allein in den Spiegel starren.

Maria nahm ihren Ehering vom Rand des Waschbeckens und steckte ihn dorthin zurück, wo er hingehörte. Er saß lose an ihrem knochigen Finger, und sie musste die Hand zur Faust ballen, um ihn nicht zu verlieren. Mark hatte recht. Ein Großteil ihrer Mannschaft hegte keine Hoffnung, dass es irgendwo auf der verseuchten Erdoberfläche einen Ort für einen Neuanfang der Menschheit geben könnte – aber Maria musste daran glauben. An den meisten Tagen hielt sie nur noch dieser kleine Hoffnungsschimmer aufrecht.

Eine kaum verständliche Stimme ertönte draußen durch die Bordlautsprecher und rief sie auf die Brücke. Nach dem Verlust des Kontakts zu Team Raptor befürchtete Maria das Schlimmste. Sie brauchten diese nuklearen Brennstoffzellen, um ihr derzeitiges Zuhause in der Luft zu halten. Und um ihre Entschlossenheit zu stärken, weiter nach einem neuen Zuhause zu suchen. Es kam nicht oft vor, dass sie auf potenzielle Lagerorte von Nuklearzellen stießen – wodurch die heutige Mission noch entscheidender wurde.

Maria schaltete das Licht aus und ging zurück zur Brücke. Mark war zu seiner Schicht in der Wasseraufbereitungsanlage zurückgekehrt, doch auf sie wartete am Eingang zur Brücke bereits mit versteinerter Miene ihr stellvertretender Offizier Leon Jordan.

Sie musterte ihn aus der Ferne und versuchte, etwas zu erahnen, bevor er ihr die Neuigkeiten mitteilte, die er für sie hatte. Jordan war ein stoischer junger Mann mit strengen Zügen, die sie eher bei jemandem erwartet hätte, der doppelt so alt war wie er. Seine ausgeprägte Kieferpartie und die dunkelbraunen Augen offenbarten keinerlei Anzeichen von Anspannung, nur Stärke. Was mit ein Grund dafür war, dass sie ihn als ihren Stellvertreter ausgewählt hatte. Er war klug, loyal und ehrgeizig. Und so wie ihr lag auch ihm aufrichtig etwas an der Hive und ihren Passagieren. Eines Tages – vielleicht schon bald – würde er ein guter Kapitän werden. Aber vorläufig war Maria nicht bereit, die Zügel aus der Hand zu geben.

Sie trat aus dem Schatten, legte die Finger auf das Geländer und ließ den Blick über den Raum unter ihr wandern. »Irgendwelche Neuigkeiten von Team Raptor?«

»Ich fürchte, nein, Captain«, antwortete Jordan. »Aber die Techniker haben den defekten Sensor repariert.«

»Das hilft X und seinen Männern jetzt auch nicht weiter, oder?« Ihr Ton klang barsch, doch sie war nicht wütend auf Jordan oder die Techniker – nur auf sich selbst. Der Schaden war bereits angerichtet. Wahrscheinlich hatte sie ein gesamtes Team in den Tod geschickt. Und Hell Divers stellten eine kostbare Ressource dar. Von fünf Rekruten schaffte es lediglich einer lebend durch die Ausbildung. Und die Lebenserwartung jener, die es schafften, betrug nur wenige Jahre. X und Aaron verkörperten die Ausnahmen. Beim Gedanken, sie könnte die beiden wegen eines defekten Sensors verloren haben, schmerzte ihr Hals noch heftiger.

Maria zwang sich, tief durchzuatmen. In der Luft hing der leichte Geruch von Bleichmittel. Die gesamte, makellose Brücke war in sauberes weißes Licht getüncht. Der Fliesenboden, die Wände und sogar die Pod-Stationen passten zu den weißen Uniformen der Menschen, die hier arbeiteten. Den Raum in tadellosem Zustand zu halten, galt als Tradition, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben wurde. Die Brücke bildete ein Symbol der Hoffnung, und Maria wollte, dass ihre Besatzung diese Hoffnung jederzeit repräsentierte.

Mit Jordan im Schlepptau ging sie die mittlere Rampe hinunter, die den Raum in zwei Hälften teilte. Als sie den Betriebs- und Navigationsbereich passierten, wollte sie von ihm wissen: »Haben Sie einen Lagebericht von der Technik?« Ash blieb neben dem Steuer aus Eichenholz in der Mitte der Plattform stehen und legte leicht die Hand darauf.

Jordan nickte und setzte den Weg fort zum Hauptdisplay im vorderen Bereich des Raums. Mit einem Fingerschnippen aktivierte er den Bildschirm. Eine Nahaufnahme von Chefingenieur Roger Samsons kahlem Schädel füllte den Monitor aus. Die Kamera verringerte den Zoom und zeigte einen kleinen, stämmigen Mann, der sich am Kopf kratzte, während er auf einen anderen Monitor außerhalb des Bildbereichs starrte.

»Samson«, sagte Ash. »Laut Jordan haben Sie einen Lagebericht.«

Erschrocken schaute der Techniker auf. »Ja, Captain. Wir haben ein verflucht großes Problem. Der Gewittersturm hat schwere Schäden an den Druckbegrenzungsventilen von zwei Reaktoren verursacht. Beide klemmen, und ich musste sie abschalten. Zum Glück ist keine Strahlung ausgetreten.«

Erleichtert atmete Maria mit einem Seufzen durch. »Ausgetreten« und »Strahlung« gehörten zu den Wörtern, die ein Kapitän am allerwenigsten hören wollte, denn schon geringe Mengen konnten alle an Bord töten.

»Ich muss sie außer Betrieb lassen, bis wir sie von einer Mannschaft reparieren lassen können. Wird wahrscheinlich ein paar Tage dauern. Da schon zwei andere ausgefallen sind, fliegen wir momentan mit halber Kraft. Ich brauche diese Brennstoffzellen von Team Raptor, und zwar gestern.«

»Können Sie nicht Zellen aus den beschädigten Reaktoren entnehmen und in die zwei einsetzen, die außer Betrieb sind?«, fragte Jordan.

Samson schnaubte, dann riss er sich zusammen und antwortete: »So funktioniert das nicht, Sir.«

»Was also machen wir?« Jordan verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wir beten, dass X mit Brennstoffzellen zurückkommt«, sagte Maria. Sie kannte ihr Schiff in- und auswendig. Ohne die Reaktoren waren sie, salopp ausgedrückt, im Arsch. Die Wärmeenergie, die sie erzeugten, wurde in elektrische Energie umgewandelt und durch ein Netzwerk unter Deck geleitet. Ein Teil jener Energie wurde in einer Notstrombatterie der Größe eines gesamten Raums gespeichert. Sobald sie aufgebraucht war, würden die mit Helium gefüllten Gasblasen sie zwar in der Luft halten, aber ohne Strom würden die Systeme des Schiffes ausfallen. Alles, von der Wasseraufbereitungsanlage, in der ihr Mann arbeitete, bis hin zu den gewaltigen Farmen, auf denen sie ihre Nahrungsmittel anbauten, müsste abgeschaltet werden. Die Ruder und Mantelstromtriebwerke wären nutzlos, und die Hive triebe hilflos, dunkel und tot über den Himmel, bis ihr ein Gewittersturm oder ein Berggipfel den Todesstoß versetzen würde.

»Wie halten sich die Gasblasen?«, fragte Maria.

»Wir haben zwei weitere verloren«, meldete Samson. »Damit sind wir runter auf 16 von 24. Ich konnte zwar das Helium durch das Netzwerk zurückleiten und wir zapfen Energie von allen nicht unbedingt nötigen Quellen ab, aber langsam gehen mir die Optionen aus. Schon bald werden wir anfangen müssen, Lichter auszuschalten.«

Jordan schüttelte den Kopf. »Wenn Sie das tun, müssen wir uns mit mehr als nur Protesten auseinandersetzen. Dann haben wir es mit purem Chaos und Anarchie von den Leuten der unteren Decks zu tun.«

»Wollen Sie lieber abstürzen?« Samson sah sie beide vom Bildschirm finster an. »Ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist, Lieutenant, aber die Hive liegt im Sterben. Wenn wir untergehen, ist nur noch die Ares übrig – und offen gestanden ist diese Rostlaube in noch üblerem Zustand als wir.«

Maria hob eine Hand. »Dessen bin ich mir schmerzlich bewusst, Samson.«

Der fette Ingenieur wischte sich über die Stirn. »Tut mir leid, Captain. Es ist nur …« Er verstummte und sah ihr direkt in die Augen. »Sofern Sie keinen magischen Ort finden, an dem wir landen können, werden wir demnächst anfangen müssen, äußerst unliebsame Entscheidungen zu treffen, wenn wir in der Luft bleiben wollen.«

Maria wechselte einen Blick mit Jordan. Seine Züge blieben unverändert emotionslos. Er würde ihr seine Meinung im Vertrauen mitteilen, abseits der Ohren der anderen Offiziere. An Bord der Hive verbreitete sich Gerede schnell, und Ash wollte die Gerüchteküche auf keinen Fall mit blanker Panik würzen.

»Bewahren Sie Stillschweigen darüber«, sagte Maria. »Das ist ein Befehl, Samson.«

»Verstanden.«

Die Übertragung endete, und das Display wurde dunkel. Maria spürte ein saures Brennen im Hals. Sie konnte beinah fühlen, wie sich die Krebszellen an ihren Eingeweiden gütlich taten. Auch die Hive war von einer Art Krebs befallen: Energieknappheit. Samson hatte recht. Das Schiff lag im Sterben, und wenn X nicht mit neuen Brennstoffzellen zurückkehrte, stellte sich nur noch die Frage, wann – nicht ob – sie auf die verwüstete Erdoberfläche abstürzen würden wie all die anderen Luftschiffe vor ihnen.

Zwei Stunden Fußmarsch durch die tote Stadt bescherten X reichlich Zeit zum Nachdenken. Er trug mehr als das Sturmgewehr bei sich, das er aus der Versorgungskiste geborgen hatte. Als er durch das Ödland stapfte und den Gipfel eines Aussichtspunkts erklomm, spürte er die Last des Todes von jedem Springer, der in den vergangenen 20 Jahren umgekommen war. Will, Rodney und Aaron bildeten nur drei weitere Leichen auf dem Haufen.

Er konnte sich beinahe einreden, dass es ein Versehen gewesen sein musste, dennoch brodelte in seinen Eingeweiden eine geballte Mischung aus Wut und Trauer. Was zum Teufel hatte sich das Oberkommando bloß gedacht? Ein Team durch einen Gewittersturm abzuwerfen, war ein katastrophaler Fehler – für den die Leute seines Teams mit dem Leben bezahlt hatten. Und nun schleppte er sich zu allem Überfluss durch radioaktiven Dreck in einer vermeintlich grünen Zone.

Die Menschheit war der Ausrottung drei Tote näher, und wenn er diese Brennstoffzellen nicht besorgte, würde auch der halbe Rest sterben. 6000 Meter über der Erde verließen sich 546 Männer, Frauen und Kinder auf ihn.

Aber falls er es zurück zur Hive schaffte, wollte er die Personen finden, die den Sohn seines besten Freundes zu einem Waisenkind gemacht hatten. Die Aussicht darauf brauchte er, weil sie ihm einen weiteren Grund bot, diese Tortur zu überleben.

Das entfernte Grollen von Donner holte ihn zurück in die Gegenwart. X hob das Fernglas und ließ den Blick über die Ruinenstadt wandern. Vereinzelte Blitze erhellten die leeren Hüllen der Türme von hinten mit einem pulsierenden Leuchten.

X schaltete die Nachtsichtoptik aus und betrachtete die Welt so, wie sie wirklich war: grau und braun und tot. Ganz gleich, wie sehr er es versuchte, er konnte sich das geschäftige Treiben in dieser Großstadt vor dem Abwurf der Bomben nicht vorstellen.

Der Friedhof der Ruinen erstreckte sich, so weit das Auge reichte. Trotz der offenen Weiten fühlte er sich plötzlich gefangen, erstickt von seinem Anzug und dem schmalen Sichtfeld seines Visiers. Ironisch für jemanden, der den Großteil seines Lebens in den beengten Verhältnissen an Bord der Hive verbracht hatte. Normalerweise empfand er Sprünge als eine Flucht aus jener kontrollierten, von Regeln beherrschten, erdrückenden Umgebung. Im Augenblick jedoch fühlte er sich isoliert und einsam wie ein Goldfisch in einem zu kleinen Glas.

Er schwenkte das Fernglas über einen Geröllhaufen der Stadt nach dem anderen, bis er auf eine Gruppe von vier Gebäuden stieß, die noch aus der Verwüstung aufragten. Eine Überprüfung der Minikarte bestätigte die Position. Er hatte das Ziel erreicht.

Bei den überirdischen Kuppelbauten handelte es sich um Lagerhäuser der Industrial Tech Corporation, desselben Unternehmens, das die Hive und ihre Schwesternschiffe gebaut hatte. Die Ingenieure hatten die fliegenden Kriegsschiffe für eine Einsatzdauer von zehn, vielleicht 20 Jahren konstruiert. Niemand hätte je damit gerechnet, dass sie für fast zweieinhalb Jahrhunderte zur Heimat der Menschheit werden würden. Eigentlich hätten die Schiffe schon längst in ihre Bestandteile zerfallen müssen – und das wären sie ohne die Hell Divers auch.

X nahm seine Pflicht sehr ernst. Klar, die kleinen Vorzüge wie zusätzliche Rationen und eine private Unterkunft waren angenehm, aber er sprang nicht deshalb. Er sprang, um die Menschheit am Himmel zu halten. Jede Entscheidung, die er auf dem Boden traf, wirkte sich darauf aus, ob die anderen weiterlebten oder starben. Und im Augenblick vergeudete er Zeit.

Als er den langen Hang aus Ziegelsteinschutt und Schrott hinabblickte, ertappte er sich dabei, eine weitere Entscheidung abzuwägen. Er konnte hinunterklettern und riskieren, sich dabei einen Riss im Anzug zuzuziehen, oder er konnte nach einem Weg außen herum suchen. Die Strahlungswerte vereinfachten die Entscheidung: Ein Riss würde unweigerlich zu einem langsamen, qualvollen Tod führen.

X trat näher an den Rand und hielt Ausschau nach einem Weg hinunter. Die Dunkelheit verbarg alle möglichen Fallen, die schon das Leben unzähliger Springer gefordert hatten. X hatte erlebt, wie Teamkameraden von Senklöchern verschluckt, in instabilen Gebäuden von Trümmern erschlagen und von Staubstürmen, die sich über Kilometer erstreckten, förmlich zerfetzt wurden. Verdammt, er hatte sogar gesehen, wie einige von mutierten Kreaturen in Stücke gerissen wurden, die sich an das Leben in den Strahlungszonen angepasst hatten – Zonen wie dieser.

X schaltete die Nachtsicht wieder ein und suchte nach Anzeichen von Lebensformen. Keine Bewegungen, keine Wärmesignaturen – nichts, das den Anschein erweckte, jemand oder etwas könnte sich in letzter Zeit in der Umgebung herumgetrieben haben.

Ein kräftiger Windstoß erfasste ihn, und er stolperte seitwärts. Er stemmte die Füße in den Boden, doch die leichte Bewegung hatte seinen Blickwinkel verändert. 30 Meter westlich verlief den Hang hinunter ein gekrümmter Pfad, den er zuvor übersehen hatte.

Er bahnte sich den Weg erst dorthin, dann hinab zur rissigen Straße. Viel Deckung gab es zwischen ihm und den Gebäuden nicht. Dass er keine Bewegungen wahrgenommen hatte, hieß noch lange nicht, dass er wirklich allein war.

Nach einem letzten Rundumblick über den Bereich sprintete er in vollem Lauf über das offene Gelände. Wenige Meter vor dem Gebäude wehte ihm ein mit Dreck beladender Windstoß entgegen. X kämpfte dagegen an, zog den Kopf an die Brust und stützte sich mit dem Rücken an der Mauer ab.

Heißer Atem beschlug die Innenseite seines Visiers, als er sich ein paar Herzschläge lang ausruhte. Seine Augen suchten dabei nach Bedrohungen, seine Ohren im heulenden Wind nach ungewöhnlichen Lauten.

Ein gleißender, gezackter Blitz schnellte über den Himmel, der Donnerschlag folgte kaum eine halbe Sekunde danach. X wartete, bis das Geräusch verhallte, dann trat er von dem Gebäude weg und betrachtete die hoch über ihn aufragende Doppeltür. Sie erwies sich als versiegelt – ein gutes Zeichen. Es ließ darauf hoffen, dass noch niemand die Lagerhalle geplündert hatte.

Tief geduckt und dicht an der Mauer schlich er zu der Gasse, die zwischen den Gebäuden verlief. Eine weitere Folge von Böen erfasste seinen Anzug, als er den schmalen Durchgang betrat. Mit vorsichtigen Schritten rückte er in den Bereich vor, in dem die Gasse dunkler wurde. Staub wirbelte und tänzelte in der Enge, als er sich langsam zu einer von Rost gesprenkelten Metalltür vorarbeitete.

Rasch wischte X das Bedienfeld der elektronischen Zugangssicherung ab, schloss ein kleines Kabel aus seiner Westentasche daran an und verband es mit seinem Minicomputer. Zahlen flirrten über das Display, auf dem sich eine Stelle nach der anderen verfestigte. Schließlich wurde der Zugangscode übertragen, und das Bedienfeld gab einen Piepton von sich. Es folgte eine Reihe von hohlen Klicklauten, als sich die Verriegelungsmechanismen zum ersten Mal seit über zwei Jahrhunderten bewegten.

Langsam schob er einen Türflügel mit einer Hand auf, während er mit der anderen das Gewehr im Anschlag hielt. Knarrend öffnete sich das Metall. Zum Vorschein kam ein Raum, der ungefähr so groß war wie die Startbucht der Hell Divers. X stand in der Stille, schwenkte die Waffe durch die Halle und lauschte.

Etliche Regalreihen, in denen sich Kartons und Metallkisten stapelten, reichten bis hinauf zur Decke. Eine Treppe zu seiner Rechten führte zu drei Zwischenbühnen, die sich über die Gänge des Lagers erstreckten. Die Decke hing durch und wölbte sich in einer Ecke. X hielt inne, um das Loch dort zu begutachten. Es schien groß genug, dass ein Mensch hindurchkriechen konnte, doch er sichtete nach wie vor keinerlei Anzeichen von Leben.

Natürlich konnte sich in der Dunkelheit etwas oder jemand verstecken, aber ihm fehlte die Zeit für eine vollständige Durchsuchung des Gebäudes. Er ergriff das Geländer und eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, zum ersten Absatz hinauf. Den ersten Gang entlang verlief ein Steg neben Regalen, in denen sich Elektrokabel türmten. X setzte den Weg hinauf zur zweiten Zwischenbühne fort. Was die Regale dort enthielten, sah nach Computerteilen und Monitoren aus.

Er hastete weiter zur letzten Plattform. Beim Anblick der Metallbehälter mit dem internationalen Symbol für Strahlung vollführte sein Herz in der Brust einen Freudensprung.

Volltreffer.

X eilte hin, zog einen Metallkoffer von einem der Regale und ließ die Schnappverschlüsse aufklappen. Mit einem Klicken öffnete sich der Deckel, und er spürte, wie sich seine Lippen zu einem verhaltenen Grinsen verzogen. Fünf zylindrische Energiezellen. Allerdings verblasste sein Lächeln sofort wieder – das fühlte sich nicht richtig an. Immerhin waren dafür drei seiner Männer gestorben. Zwar würden die Zellen das Schiff für Jahre mit Energie versorgen, aber wie es X auch betrachtete, er konnte es nicht annähernd als fairen Tausch empfinden.

X schloss den Deckel wieder, packte den Griff und überquerte den Steg. Der Koffer erwies sich als schwer, mindestens 20 Kilo. Er würde noch einmal herkommen müssen, um weitere zu holen, nachdem er den ersten bei der Versorgungskiste abgeliefert hätte.

Als X über die Zwischenbühne eilte, klapperten seine Schritte über das rutschfeste Metall, doch neben dem widerhallenden Geräusch nahm er noch etwas anderes wahr: ein merkwürdiges, hohes Summen, beinah ein elektronisches Geheul. Schlitternd kam er zum Stehen, spitzte die Ohren und fragte sich, ob er versehentlich irgendeinen Alarm ausgelöst hatte.

Dann verstummte das Geräusch abrupt, aber die jähe Stille ließ ihn nur noch beunruhigter werden. Einen Herzschlag lang wartete er, dann ging er weiter. Seine Ohren hatten ihm schon in der Vergangenheit Streiche gespielt und ihm Phantomgeräusche in einer Welt der Dunkelheit vorgegaukelt. Wahrscheinlich verhielt es sich nun genauso. Bin zu aufgekratzt, das ist alles. Er beschleunigte die Schritte.

Ein zweiter summender Schrei ertönte, als er sich auf halbem Weg über die Zwischenbühne befand. Er bildete sich nichts ein. Und es war auch kein Alarm, sondern ein kalter, schriller Laut. Organischen, nicht digitalen oder elektronischen Ursprungs. Bei all seinen Sprüngen hatte er nie etwas Vergleichbares gehört.

X raste auf die Treppe zu. Mit einer Hand am Geländer stürmte er zwei Stufen auf einmal nehmend nach unten. Durch den eigenen Schwung landete er hart auf dem zweiten Absatz, stolperte und wäre um ein Haar die nächste Treppenflucht hinabgestürzt.

Eine Bewegung unten lenkte seinen Blick ins Erdgeschoss. Im Boden am anderen Ende der Halle klaffte eine breite Spalte – ein fehlender Abschnitt, den er zuvor nicht bemerkt hatte. Ein Anfängerfehler, der ihn das Leben kosten konnte – der alle das Leben kosten konnte. Diesmal ließ er den Blick aufmerksamer durch den Raum wandern und hielt Ausschau nach etwas, das er vielleicht übersehen hatte.

Und das hatte er.

X war nicht einmal sicher, worum es sich bei diesem Etwas handelte. Drei knollige Kokons, überzogen von dicken Borsten und schuppigem Gewebe, das an halb geschmolzenes Schlangenleder erinnerte, hingen vom linken oberen Winkel der Decke über der Ausgangstür. Die Schatten hatten sie getarnt, als X die Lagerhalle betreten hatte, aber von der Treppe aus konnte er sie deutlich erkennen.

X trat einen Schritt näher. Keine Kokons, sondern Nester mit Öffnungen oben und in der Mitte. Ein gekräuselter Rand der rauen Haut umgab die Löcher wie verhärtete Lippen.

X rückte einen weiteren Schritt vor und stieß dabei absichtlich mit dem Brennstoffzellenkoffer gegen das Geländer, wodurch er ein lautes, widerhallendes Klirren erzeugte.

Als Reaktion ertönte ein schrilles Kreischen. In Gedanken fluchte er wüst, während sein Blick zum dunkelsten Teil der Halle schnellte, wo ein unförmiger Fleischhaufen aus einem der Nester zu Boden fiel.

Was zum Teufel …

X duckte sich und hielt den Atem an. Durch das Geländer konnte er sehen, dass sich unten etwas bewegte. Das Etwas stemmte sich mit zwei Händen vom Boden ab und erhob sich geduckt auf zwei Beinen. Ungläubig starrte X auf das grünstichige Bild der Nachtsichtanzeige, die eine menschenähnliche Gestalt offenbarte. Die Kreatur stimmte ein weiteres Kreischen an, das zu einem volltönenden Gebrüll anschwoll. Dann huschte sie außer Sicht, bevor X einen genaueren Blick auf sie erhaschen konnte.

Was immer dieses Wesen sein mochte, es sah verstörend menschlich aus. Aber das war unmöglich. Sie hatten auf der Oberfläche seit einem Jahrhundert keine Überlebenden mehr gefunden. Nichts konnte die Strahlung überleben, vor allem nicht in diesem Gebiet.

Geduckt schlich X zur anderen Seite der Plattform und schaute prüfend durch die Lagerhalle. Flüchtig erspähte er die Kreatur, wie sie einen der Gänge hinabhuschte. Das Kreischen schwoll ab und endete mit einem Heulen, das sich wie das Ausklingen einer Alarmsirene anhörte.

Als sich X dem Ausgang zudrehte, stellte er fest, dass er nicht allein war. Auf dem Boden unter den Nestern kauerte, in Dunkelheit gehüllt, eine zweite Gestalt.

Neugier regte sich in X, doch er wagte nicht, sich zu rühren. Er verstärkte den Griff um den Kolben des Gewehrs und um den Metallkoffer mit den Brennstoffzellen, weil er fürchtete, dass seine zitternden Hände die kostbare Beute sonst verlieren könnten.

Die Kreatur senkte sich auf alle viere und krabbelte zum offenen Ausgang. Bei jedem Blitz, der draußen über den Himmel zuckte, erhaschte X einen flüchtigen Blick darauf.

Mit einer Kinnbewegung schaltete er die Nachtsichtoptik aus und wartete auf den nächsten Blitzschlag. Eine Sekunde später sog er scharf die Luft ein. Ledrige, runzlige Haut der Farbe von Eierschalen spannte sich, als die Kreatur lange Gliedmaßen mit drahtigen, schlanken Muskeln streckte. Den sehnigen Körper übersäten lange Narben und mehrere glitzernde Schürfwunden.

Dann versank die Halle wieder in Dunkelheit. Als der nächste Blitzschlag das Lager erhellte, streckte die Kreatur den Rücken durch.

Kein Mensch, kein Tier … ein Monster.

Dornige Wirbel ragten wie knochige Schuppen aus dem Rücken hervor. Sie endeten am dünnen Hals, wo sie in schorfige, runzlige Haut mündeten, über der ein unförmiger Schädel folgte. Dicke Borsten bildeten etwas, das an einen Irokesenhaarschnitt erinnerte. Sie verliefen, wie auf dem Rücken eines Wildschweins, nach oben aufgestellt über den Kopf.

X musste bewusst die flache, gehetzte Atmung verlangsamen, durch die sich sein Visier zu beschlagen begann.

Reiß dich zusammen, X. Du musst dich …

Ein durchdringendes Geheul riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Er wirbelte herum und zielte mit dem Gewehr auf die Regale, wo die andere Kreatur verschwunden war. Mittlerweile herrschte in der Halle pechschwarze Finsternis. X schaltete die Nachtsicht ein und rasch wieder aus, als das Licht eines Blitzes durch die offene Tür des Lagers flutete.

Ein weiteres Kreischen folgte, und er drehte sich zurück zu dem Monster unter den Nestern. Dessen Kopf zuckte in seine Richtung, als hätte es seine Bewegung irgendwie gespürt. Aber statt Augen oder einer Nase sah X nur einen breiten Schlitz zwischen Lippen, die sich von einer Seite des Gesichts zur anderen erstreckten. Die Lippen teilten sich, weiteten sich zu einem schwarzen, von schimmernden, nadelspitzen Zähnen gesäumten Loch.

»Heilige Muttergottes«, flüsterte X.

Er hatte genug gesehen. X klemmte sich den Koffer unter einen Arm, hob mit der anderen Hand das Gewehr an und schaltete mit dem Kinn die Nachtsichtoptik wieder ein. Draußen würde er sie brauchen – falls er es zurück nach draußen schaffte.

Der Gedanke verlieh ihm einen Energieschub. Er drückte den Abzug und stürmte die Stufen hinunter in Richtung des Ausgangs. X zielte im Wesentlichen ins Blaue, und die meisten Schüsse prallten von der Metallwand hinter dem Monster ab. Nur eines der Geschosse traf ins Schwarze. Das Ergebnis war ein schier unmöglich lauter Schmerzensschrei. Der Laut schwoll zu einem Geheul an, das mitten durch X hindurchfuhr, und er musste dem sinnlosen Drang widerstehen, die Hände an den Helm zu legen.

Das andere Geschöpf, das er immer noch nicht sehen konnte, antwortete mit einem eigenen Schrei. Das Kreischen ging zu etwas über, das beinah wie der Alarm vor einem Absprung klang. X verlangsamte die Schritte und suchte die Regalgänge zu seiner Rechten nach dem ersten Monster ab, konnte es jedoch nicht entdecken.

Nicht anhalten. Bleib in Bewegung …

Er eilte weiter und stürmte durch die offene Tür in die Gasse hinaus. Der Metallkoffer klirrte im Rennen gegen seine Körperpanzerung.

Die hohen, schrillen Rufe anderer Monster, die er nicht sehen konnte, stimmten in den Chor ein. Zusammen hörten sie sich so sehr wie eine Alarmsirene an, dass er sich unwillkürlich fragte, ob er vielleicht träumte.

Als er über die Schulter spähte, erblickte er zwei Silhouetten, die sich an der Tür abzeichneten. Einer der Umrisse preschte durch die Schatten, ließ sich auf alle viere fallen und galoppierte hinter ihm her.

Bewegung, X. BEWEGUNG!

Für ihn bestand kein Zweifel daran, dass ihn diese Kreaturen in Stücke reißen würden, wenn sie ihn einholten. Er musste die Versorgungskiste erreichen und zurück zur Hive schicken.

X überprüfte sein HUD. Die Signalanzeige der Versorgungskiste befand sich zu weit entfernt. Diese Kreaturen bewegten sich unheimlich schnell – er würde es nie schaffen. Somit blieb ihm nur eine Möglichkeit: die Versorgungskiste zurücklassen und die Brennstoffzellen selbst zur Hive bringen. Doch bevor er seinen Booster aktivieren und mit seinem Ballon zurück zum Schiff aufsteigen konnte, musste er eine Öffnung in der Wolkendecke finden. Der Sturm hatte zwar nachgelassen, trotzdem zuckten nach wie vor sporadisch Blitze über das Firmament. X löste den Blick vom Himmel und schaute erneut über die Schulter. Mittlerweile verfolgten ihn beide Kreaturen, und sie holten auf. Die schlaksigere der zwei Gestalten übernahm die Spitze, stieß sich mit den Beinen zu mächtigen Vorwärtssprüngen ab.

X ließ beinah den Koffer fallen, als er um die Ecke eines halb eingestürzten Gebäudes rannte. Er konzentrierte sich auf seine Atmung und darauf, in der Dunkelheit nicht auszurutschen. Als er sich auf halbem Weg die nächste Straße hinunter befand, drehte er sich um, weil er feuern wollte. Er hoffte, die Geschosse würden die Monster zumindest verlangsamen.

Die vorderste Kreatur sprang durch die Luft. X zielte so ruhig wie möglich und feuerte eine Salve ab. Die Projektile durchschlugen den menschenähnlichen Rumpf und ein Geschoss streifte den Schädel am Scheitel. Das Ungetüm krachte auf den Asphalt, kreischte und krallte sich in mehrere Wunden, aus denen Blut hervorschoss. Das andere Monster sprang auf ein Gebäude und kletterte die mit Steinfliesen verkleidete Mauer hoch. Dann zog es sich durch ein zerbrochenes Fenster und verschwand im Inneren.

Die Schüsse hatten X ein paar kostbare Augenblicke verschafft. Er klemmte sich den Metallkoffer unter den rechten Arm und kramte nach einem frischen Magazin, fand jedoch keines. Er musste die Reservemunition wohl während der Flucht aus der Lagerhalle verloren haben.

Mit einem gemurmelten Fluch warf er das somit nutzlose Sturmgewehr zu Boden und zog die Schrotpistole aus dem Holster an seiner Hüfte. Sein Blick schwenkte zum Himmel, um das Unwetter zu überprüfen. Die Nachtsichtoptik verwandelte den Himmel in ein wirbelndes Meer von Grün, durch das smaragdfarbene Blitze zuckten. Hier konnte er nicht aufsteigen. Er musste weiterlaufen.

Eine Flut von Schreien folgte ihm, als er um die Ecke eines weiteren Gebäudes bog. Die Schüsse hatten ihm vielleicht Zeit gebracht, mussten jedoch auch weitere Monster angelockt haben.

X nahm ein Aufflackern von Bewegung am Ende der Straße wahr. Sah nach einer Plane oder einem Laken aus – nach etwas, das inmitten des Haufens aus Schrott, Beton und Glas völlig fehl am Platz wirkte. Das Material hatte sich um einen Laternenmast gewickelt und wehte im Wind.

Übelkeit breitete sich in seinen Eingeweiden aus.

Es war keine Plane. Sondern ein Fallschirm mit sieben Zellen.

»Aaron«, presste X erstickt hervor.

Er sprintete zu dem Laternenmast, sank auf die Knie und zwang sich, den verheerten Körper seines besten Freundes anzusehen.

Aaron lag auf dem Rücken, die Arme und Beine vom Aufprall gestaucht. Am Helm waren nur winzige Scherben des verspiegelten Visiers verblieben. Ein Auge war geöffnet, das andere fehlte, war mit dem Rest der rechten Gesichtshälfte zerschmettert worden.