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Unheimlich und unglaublich fesselnd. Action, Action und noch MEHR ACTION! In den Geheimlabors des amerikanischen Militärs gerät eine Biowaffe außer Kontrolle. Innerhalb von Tagen rast die Pest um den Globus und rottet den größten Teil der Menschheit aus. Buch 1: Verpestet Buch 2: Krieg gegen Monster Buch 3: Mutierte Bestien Buch 4: Entartung Buch 5: Von der Erde getilgt Buch 6: Metamorphose Buch 7: Am Ende bleibt nur Finsternis
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Seitenzahl: 668
Veröffentlichungsjahr: 2018
Aus dem Amerikanischen von Michael Krug
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Extinction End (The Extinction Cycle, #5)
erschien 2016 im Verlag CreateSpace Independent Publishing.
Copyright © 2016 by Nicholas Sansbury Smith
Copyright © dieser Ausgabe 2018 by Festa Verlag, Leipzig
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-648-9
www.Festa-Verlag.de
Für meine Leser – dieses Buch widme ich euch, Leute.
Danke, dass ihr mich auf dieser Reise begleitet. Ich hoffe, euch gefällt das »Ende«.
Wenn die Zivilisation überleben soll, müssen wir die Wissenschaft der menschlichen Beziehungen kultivieren – die Fähigkeit aller Völker jeder Art, friedlich in derselben Welt zusammenzuleben.
– Franklin D. Roosevelt
1
Der Regen prasselte in Strömen herab und machte Dr. Kate Lovato halb blind, als sie hinauf zum zornigen, dunklen Himmel blickte. Ein Donnerschlag hallte durch die verfallenen Straßen der Stadt. Als das Geräusch verebbte, wurde es vom Krächzen verhungernder Abartiger und von den Schreien ihrer menschlichen Gefangenen abgelöst.
Kate brauchte einen Moment, um sich daran zu erinnern, dass sie selbst zu diesen Gefangenen gehörte.
Überall um sie herum sah sie die missgebildeten, skelettartigen Gestalten von Abartigen. Sie kletterten über liegen gebliebene Fahrzeuge und krabbelten die Mauern naher Gebäude hoch. Gelenke klickten und knackten, als die Monster ihre Beute durch die dunklen Straßen schleiften.
Zuerst erkannte Kate die eigene, heulende Stimme gar nicht. Sie fühlte sich irgendwie von allem losgelöst, als wäre sie überhaupt nicht hier. Außer ihrem unregelmäßigen Herzschlag und dem kalten, auf ihre klamme Haut plätschernden Regen nahm sie kaum etwas wahr.
Als sich Kate zu konzentrieren versuchte, brach alles über sie herein. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, kam nun, da sie auf dem Rücken eines Abartigen durch die von Asche bedeckten Straßen von New York City getragen wurde, der Moment, in dem sie letztlich überschnappte. Erinnerungen an den Angriff auf Plum Island vor wenigen Stunden fluteten ihren Geist. Sie hatte ein Stück ihrer Seele eingebüßt, als Staff Sergeant Alex Riley von dem gigantischen, in eine Panzerung aus menschlichen Knochen gehüllten Monster getötet worden war.
Alles erschien ihr so surreal, und als sie tiefer in ihren Schockzustand driftete, kamen ihr die Stadt, die Abartigen und die Gefangenen weiter und weiter entfernt vor.
Erst die Schreie von Tasha und Jenny holten Kate jäh in die Realität zurück.
»Daddy!«, kreischte Jenny.
»Tasha, Jenny!«, rief Kate nach hinten. Dort befanden sich Staff Sergeant Parker Horns Töchter. Die Kinder konnte Kate nicht sehen, aber wenn sie sich ein wenig verrenkte, sah sie Meg Pratt. Die Feuerwehrfrau befand sich rechts von Kate. Zwei Abartige mit langen Gliedmaßen und krummen Rücken schleiften sie an den verletzten Beinen durch die Straßen. Meg setzte sich immer noch zur Wehr – sie warf sich hin und her, schlug nach ihren Peinigern und schrie: »Ihr habt Riley umgebracht! Ihr habt Riley umgebracht!«
Kate streckte die Hand in ihre Richtung aus, als sie hörte, wie Jenny heulend nach ihrer Schwester rief.
»Tasha! Tasha!«
Die Stimmen brachen Kate das Herz. Verkehrt herum hob sie den Kopf, um die Dunkelheit nach den Mädchen abzusuchen. Japsend atmete sie Luft ein, die nach verdorbenen Zitronen und faulendem Obst roch. Die Monster, die Kate und die anderen Gefangenen trugen, verströmten das ekelhafte Aroma. Kate hielt den Atem an und richtete den Blick zum Himmel.
Reed, wo bist du?
Sogar jetzt noch, als alles verloren zu sein schien, kreisten ihre Gedanken um den Vater ihres ungeborenen Kindes. Der Elitesoldat der Delta Force hatte sie schon so viele Male gerettet. Und wenngleich sie wusste, dass er irgendwo unterwegs sein würde, um sich den Weg nach New York zu erkämpfen, standen die Chancen, dass er rechtzeitig eintreffen würde …
Kates Gedankengang schwenkte zu den anderen Menschen, die Reed nicht hatte retten können. Riley war tot. Sie hatten Fitz und Apollo verloren. Und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch Kate und die anderen Gefangenen getötet werden würden.
Das Klick-klack zuschnappender Mäuler und das Kreischen der Monster schwollen zu einer bösartigen Kakofonie an, als die kleine Armee tiefer nach Manhattan vorrückte. Es fühlte sich an, als wären sie bereits seit Stunden unterwegs, doch Kate hatte keine Ahnung, wie spät es sein mochte. Es konnte mitten in der Nacht oder kurz vor Sonnenaufgang sein. Immer wieder driftete sie kurzzeitig aus der Wirklichkeit ab, verlor sich in Erinnerungen.
Um ein Monster zu töten, wirst du ein anderes erschaffen müssen.
Dr. Michael Allens letzte Worte hallten durch ihren Kopf. Vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie sich ihr Mentor und Boss geopfert hatte, indem er aus dem Blackhawk auf den Rasen vor dem Gebäude der Seuchenschutzbehörde sprang, während aus allen Richtungen Abartige herbeiströmten.
Sie riss die Lider auf und erblickte den Mond, der zwischen den über Manhattan treibenden Wolken hindurchlugte. Die Strahlen tauchten die Straßen in ein gespenstisches Licht, und endlich erhaschte Kate einen kurzen Blick auf Tasha und Jenny, bevor die Wolken den Schein wieder verschluckten. Beide Mädchen hingen über dem Rücken desselben Monsters. Mit einer die Mitte entlang so aufgeschlitzten Nase, dass zu beiden Seiten lose Fleischlappen baumelten, schnupperte es an den winzigen Beinchen. Eine spitze Zunge schoss zwischen den wurmartigen Lippen der Kreatur hervor, kreiste einmal und leckte dann über Tashas rechten Unterschenkel.
Kates Magen krampfte sich vor Abscheu zusammen. Sie musste etwas unternehmen. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass diese Ausgeburten der Hölle die Mädchen umbrachten.
»Lass mich runter!«, brüllte sie und hämmerte in einem Anflug von Raserei auf das Kreuz des Monsters ein, das sie trug. Die Kreatur heulte auf und verstärkte den Griff der Klaue um ihr Fußgelenk, ritzte ihr mit den Krallen die Haut auf.
Kate verbiss sich einen Schmerzensschrei. Sie brauchte einen Plan – einen Ausweg aus dieser Lage. Es musste eine Möglichkeit geben, zu entkommen. Sie schaute zurück zu Meg. Die Monster hatten sie auf den Bürgersteig gezerrt, doch sie kämpfte immer noch. Meg trat einer der Bestien ins Gesicht und kroch weg. Ihre Fingernägel kratzten über den Beton, als der zweite Abartige einen skelettdürren Arm ausstreckte, ihre Füße packte und sie zurückzog.
»Nein! Nein!«, schrie Meg.
Wie zur Antwort ertönte von dem Monster, das Kate auf dem Rücken trug, ein hohes, schrilles Geheul. Erst da wurde Kate bewusst, dass sie nach wie vor mit den Fäusten auf das Ungeheuer eintrommelte. Meg war nicht die Einzige, die kämpfte.
Es folgte ein Donnerschlag, der wie eine Bombe zwischen den Wolken explodierte. Kate stellte ihren nutzlosen Angriff vorübergehend ein, um zum Himmel zu spähen. Ihr Blick wanderte die Seiten der dunklen Gebäude hoch. Die Türme streckten sich dem Firmament entgegen, und dort, inmitten der bauchigen Wolken, schwebte ein geflügeltes Wesen.
Ein Engel, der über sie wachte.
Kate halluzinierte. Der Schock war zu viel für sie. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie konnte nicht …
»Helft mir!«, kreischte Tasha.
»Lass sie los!«, schrie Meg.
Kate rammte dem Abartigen, der sie festhielt, das Knie in den Kehlkopf. Der Treffer überraschte das Ungetüm. Es schwenkte sie zur Seite und lockerte den Griff um ihre Fußgelenke. Sie streckte den Arm aus, um sich mit der rechten Hand abzustützen, und bedeckte mit der linken ihren Bauch, als sie auf den Boden zustürzte.
Der Fall ereignete sich in Zeitlupe. Langsam, so unendlich langsam kamen die Asche und das Straßenpflaster auf sie zu. Sie landete auf der rechten Handfläche und rollte sich auf den Rücken. Kaum lag sie auf dem Boden, trat sie um sich.
»Nein!«, brüllte sie. »Lasst uns in Ruhe!« Kate wusste, wie wahnsinnig ihre Worte klangen. Die Abartigen kannten keine Vernunft. Sie würden weder ihr noch jemand anderem gegenüber Gnade zeigen. Sie waren darauf ausgelegt, zu töten – darauf ausgelegt, zu fressen. Und Kates Biowaffe hatte sie nur noch stärker gemacht.
Die Bestie kauerte sich vor sie. Regen prasselte auf den kahlen Schädel, als das Ungetüm den unförmigen Kopf erst auf die eine, dann auf die andere Seite legte. Es blinzelte. Dicke Lider zuckten über gelbe Augen. Kate strampelte rückwärts über den Boden, was die Kreatur dazu bewog, mit einer Hand nach ihr zu schlagen. Mit der anderen packte die Bestie ihre Füße. Krallen schabten über ihre Schuhe, als der Abartige, der Tasha und Jenny trug, an ihr vorbeistapfte. Seine Zunge baumelte dabei aus dem Mund wie der hängende Schwanz eines Hundes.
Ein Klappern lenkte Kates Blick zu einer dritten Kreatur, die etwas abseits des Rudels ging. Die Gestalt humpelte in einen Streifen des Mondlichts. Kate wischte sich die nassen Haare aus dem Gesicht und sog scharf die Luft ein, als sie die makabre Panzerung aus menschlichen Knochen des Monsters sah, das Riley getötet hatte.
Eine Klaue zog erneut an ihrem linken Schuh, doch Kate achtete kaum darauf. Ein kehliges Gebrüll, lauter als das der anderen Bestien, hallte durch die Stadt, als die Kreatur, die Kates Füße festhielt, sie über den Boden schleifte.
Der gepanzerte Koloss humpelte auf zwei Beinen herüber, hob einen am Ellbogen abgetrennten Arm an und rammte den scharfkantigen Knochen ansatzlos in den Schädel der Bestie, die Kates linken Schuh umklammerte. Die Spitze des Knochens ragte durch die Lippen des Monsters heraus, ein Gurgeln rasselte feucht aus der Kehle hervor.
Kate befreite sich aus dem Griff der sterbenden Kreatur und plumpste auf den Rücken. Der Alpha trat auf sie zu, ragte über ihr auf. Ein dicker Speichelfaden hing von seinen geöffneten Lippen.
Niedergeschlagen verzichtete Kate darauf, sich zu wehren. Ihr Geist löste sich vom Körper. Sie starrte nur zu den Wolken, betete stumm und hielt Ausschau nach einem Engel, von dem sie wusste, dass er nicht kommen würde.
Regentropfen prasselten ihr ins Gesicht. Sie zuckte zusammen, als einer in ihrem Auge landete und ihre Sicht verschwimmen ließ. Durch das unnatürliche Kreischen des Alphas und die Schreie der menschlichen Gefangenen drang ein anderes Geräusch – ein tiefes Brummen, das mit jeder verstreichenden Sekunde lauter wurde.
Die Wolkendecke teilte sich wie ein Vorhang, der von einem Fenster zurückgezogen wurde. Im Licht des Mondes schwebte dasselbe geflügelte Geschöpf, das Kate zuvor gesehen hatte. Zwei weitere flogen in Sicht, wurden von ihren Flügeln durch die Dunkelheit getragen.
Kates Herz hämmerte wild, ihre Atmung ging angestrengt, ihr gesamter Körper zitterte. Sie wusste, dass sie zurück in einen Schockzustand verfiel. Es handelte sich lediglich um eine Halluzination.
Der Alpha ergriff sie mit dem heilen Arm und hievte ihren Körper mühelos auf die Schulter. Kates Gesicht knallte gegen die Panzerung aus menschlichen Knochen, die den Rücken des Monsters bedeckte, die Luft schoss aus ihrer Lunge. Sie legte eine Hand auf den Bauch, um das winzige, unschuldige Leben zu schützen, das in ihr heranwuchs, und betete, es möge nicht verletzt worden sein. Dann richtete sie den Blick wieder zum Himmel, um die Engel zu beobachten, die nicht real sein konnten, wie sie sehr wohl wusste.
Donnerndes Gebrüll dröhnte durch die Luft, als die geflügelten Erscheinungen erneut vorbeirasten. Kate blinzelte sich den Regen aus den Augen und beruhigte ihre Atmung, doch das Herz schlug weiter laut und unerbittlich bis in die Ohren. Dampf stieg von der blutigen Haut der Kreatur auf, die Kate über der Schulter trug. Aus den Wunden, die das Monster eigentlich hätten töten müssen, stieg ihr ein ranziger, saurer Gestank in die Nase.
Plötzlich hielt der Alpha mitten im Schritt inne und schaute zum Himmel. In einem Moment der Klarheit erkannte Kate die geflügelten Geschöpfe als das, was sie in Wirklichkeit waren.
Keine Engel.
Jets.
Eine ganze Staffel.
Laute Stimmen weckten Präsidentin Jan Ringgold. Sie klangen entfernt, aber vertraut. Erschöpft und verwirrt bemühte sie sich, die Augen aufzubekommen. Eine Zwangsjacke überwältigender Erschöpfung hielt sie gefangen. Mühsam machte sie ein Augenlid auf. Ein verschwommener Tunnelblick erwartete sie, als würde sie durch ein zu beiden Seiten von blauen Wänden gesäumtes Portal spähen. Ein durchdringender Geruch stieg ihr in die Nase – der Geruch von Antiseptika.
»Sie schläft gerade, Mr. Vice President, und sie braucht ihre Ruhe.«
»Ich muss sofort mit ihr reden, Captain. Mir egal, ob sie schläft – wecken Sie sie.«
Eine Tür schloss sich mit einem Klicken und sperrte die Stimmen aus.
Das weiße Licht wurde heller, die Wände zeichneten sich scharf ab. Keine Schotten – Vorhänge. Von plötzlicher Angst gepackt, erinnerte sich die Präsidentin an Lieutenant Bretts abgehärmte Züge in den Sekunden, bevor er den Abzug gedrückt und auf sie geschossen hatte. Sie fand erstaunlich, an welche winzigen Details sie sich erinnern konnte – der gestörte Ausdruck in seinen Augen, die über seine Stirn herabrinnende Schweißperle. Nur was davor gewesen war, davon wusste sie nicht mehr viel. Bruchstückhaft tauchte aus ihrem Gedächtnis auf, dass Dr. Carmen erstochen worden war, Kate ihre Hand gehalten hatte, Soldaten in den Raum gestürmt waren. Und Blut. Da war so viel Blut gewesen.
Mühsam setzte sich Ringgold im Bett auf. Ihr rechtes Schlüsselbein brannte durch die abrupte Bewegung wie Feuer, eine weitere Erinnerung an das von Brett abgefeuerte Projektil.
Die Tür zur Krankenstation öffnete sich wieder. Das Geräusch von Schritten setzte ein. Ringgold verzog das Gesicht, stützte sich mit den Handflächen auf der Matratze ab und verlagerte das Gewicht auf den heilen Arm, um sich hochzustemmen. Als der Vorhang zur Seite gezogen wurde, saß sie bereits aufrecht, trotzig und bereit für die Neuigkeiten, die Johnson als so wichtig erachtete, dass er sie deswegen wecken lassen wollte.
Der Vizepräsident stand eingekeilt zwischen Doktor Klinger und Captain Humphrey da. Alle drei Männer starrten Ringgold mit ungläubigen Blicken an.
»Sie sollten eigentlich schlafen, Madam President«, sagte Klinger.
Johnson trat einen Schritt auf ihr Bett zu, doch bevor er ein Wort sagen konnte, forderte sie ihn auf: »Reden Sie nicht lange um den heißen Brei. Sagen Sie mir, warum Sie aussehen, als hätten Sie gerade Ihren Hund eingeschläfert.«
In Johnsons Züge trat kein Hauch von Belustigung, nur der verstörte Ausdruck eines Mannes, der im Begriff war, einen Krieg zu verlieren. »Ich habe wichtige Neuigkeiten, Madam President.«
Ringgold bemühte sich, die Schultern zu straffen. Das EKG piepte schneller, ihr Puls stieg an. Klinger ging neben ihr Bett und überprüfte ihre Vitalwerte am Monitor.
»Condor war dank Team Ghost und den Abartigenjägern doch noch ein Erfolg. Ihnen ist gelungen, was kein anderes Einsatzteam geschafft hat. Sie haben ein lebendes Exemplar der jungen Abartigen gefangen«, berichtete Johnson.
Ringgold legte eine Schweigeminute zum Gedenken an all die Männer ein, die ihr Leben eingebüßt hatten. Ein tragischer Verlust, aber die Mission war erfolgreich gewesen. Sie war nicht dumm. Wenn sie einen jungen Abartigen gefangen hatten, dann musste Johnson etwas anderes auf dem Herzen haben.
»Warum sind Sie wirklich hier?«, fragte Ringgold, die zunehmend gereizter und angespannter wurde.
Johnson legte die Stirn in Falten und zupfte an seinem rechten Ärmelaufschlag. »Es geht um Plum Island, Madam President.« Vor seinen nächsten Worten folgte ein leichtes Zögern, das Ringgold auf Anhieb bemerkte. Sie krallte die heile Hand ins Laken, um sich zu wappnen.
»Es hat ein von menschlichen Überläufern ermöglichter Angriff der Abartigen stattgefunden.«
Ein hilfloser Laut, den die Präsidentin nicht zurückhalten konnte, entkam aus ihrem Mund. Sie dachte an die Unschuldigen dort, die Frauen und die Kinder, die sie gut beschützt gewähnt hatte. Johnson fuhr fort, bevor sie sich nach Kate erkundigen konnte.
»Die Bioreaktoren sind in Sicherheit, und wir sind gerade dabei, sie auf die George Washington zu verlegen. Allerdings haben die Abartigen die Insel überrannt, Major Smith getötet und Dr. Lovato sowie eine Handvoll Zivilisten gefangen genommen. Wir suchen noch nach ihnen. Die uns vorliegenden Informationen weisen darauf hin, dass sie zu einem Bau in New York City gebracht werden.«
Ringgolds Fassungslosigkeit schlug in Wut um. »Warum vergeuden Sie dann Zeit damit, es mir zu erzählen? Schicken Sie jeden verdammten Soldaten los, der Ihnen zur Verfügung steht, um sie zurückzuholen.«
Johnson wechselte einen Blick mit Humphrey. Der Captain hatte sich seine Mütze unter den Arm geklemmt. Er zog sie hervor und schnippte mit einem Finger dagegen, mied Ringgolds Blick.
»Also?«, fragte sie. »Worauf warten Sie noch?«
»Wir sind knapp an Ressourcen, Madam President. Wir haben bei Operation Condor fast alle unsere Einsatzteams verloren und …«, begann Johnson, doch sie schnitt ihm das Wort ab.
»Sehe ich für Sie wie Präsident Mitchell aus, Johnson?«
»Nein, Ma’am.«
»Mitchell mag General Kennor einen Blankoscheck ausgestellt haben, aber Sie haben von mir keinen bekommen. Dr. Lovato ist der wichtigste Bestandteil von Operation Ausrottung. Wir brauchen sie zurück. Und jetzt will ich, dass Sie sämtliche Soldaten zusammentrommeln, die Sie finden können, und sie nach New York City schicken, um Dr. Lovato zu retten.«
Johnson nickte. »Team Ghost und die Abartigenjäger rüsten sich bereits.«
»Gut.« Ringgold seufzte. »Geben Sie ihnen, was immer sie wollen. Und sagen Sie Beckham, dass ich spezielle Anweisungen für ihn habe.«
»Welche, Ma’am?«
»Kate ist unter allen Umständen zurückzubringen. Lebend.«
Blut. Tränen. Schweiß.
Kummer und Hoffnung.
Die vergangenen sechs Wochen waren eine verfluchte Achterbahnfahrt gewesen. Master Sergeant Reed Beckham hatte gedacht, dank der Entwicklung von Kryptonit und der Gefangennahme eines jungen Abartigen stünde der Krieg kurz davor, beendet zu werden, und zwar mit der Hoffnung, dass die Menschheit tatsächlich eine Chance hätte, die Monster zu besiegen. Dann hatte ihn in einer Nacht niederschmetternden Grauens die bittere Realität dieser neuen Welt grausam eingeholt.
Kate, Meg und Horns Mädchen waren entführt worden. Major Smith war von menschlichen Überläufern ermordet worden, und Riley, der kleine Bruder der Mitglieder von Team Ghost, war tot. Um die Hundert Dinge gingen Beckham gleichzeitig durch den Kopf, nichts davon gut.
Der Traum von einem besseren Leben mit der Frau, die er liebte, und ihrem gemeinsamen Kind war so gut wie zerstört worden. Er wollte Rache für Riley, aber er musste Kate und Horns Mädchen retten. Wenn ihm das nicht gelänge, würde es für ihn nichts mehr geben, wofür es sich zu kämpfen lohnte.
Falsch, du fadenscheiniger Penner. Es gibt immer etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnt.
Jeder Soldat um ihn herum im Passagierraum hatte etwas, wofür es sich zu kämpfen lohnte.
Sie hatten einander.
Sergeant Thomas, Sergeant Garcia und Corporal »Tank« Talon saßen an dem Schott ihm gegenüber. Ihnen fehlte ein weiterer Mann, da sich Chow auf der George Washington befand und gerade operiert wurde. Aber Corporal Fitzpatrick war dabei. Der verwundete Krieger saß neben Beckham. Immer noch verschmierte Blut seine verbogene Prothesenklinge. Fitz murmelte immer und immer wieder dasselbe Mantra vor sich hin.
»Ich konnte sie nicht retten. Ich konnte sie verfickt noch mal nicht retten.«
»Schon gut, Fitz«, beruhigte ihn Beckham. »Wir biegen das wieder hin.« Nach einem zweiten Blick war sich Beckham nicht so sicher, ob seine Worte auch stimmten.
Fitz hatte ein MK11 zwischen den Beinen. Der Lauf lehnte an seiner Brust. Den Kopf ließ er hängen, die Finger hatte er ineinander verschränkt. Unter dem Schatten seines Helms wirkten seine Augen verschwommen, als hätte er etwas gesehen, das er nicht mehr loswurde – es war der gequälte Gesichtsausdruck eines Marines, der nicht in der Lage gewesen war, einen Freund zu retten.
Die Abartigenjäger starrten alle auf Beckham, warteten auf etwas. Befehle? Eine Ansprache? Bestärkende Worte? Im Augenblick hatte er davon nichts zu bieten.
Er mied ihre Blicke, indem er nach unten fasste und Apollos Kopf kraulte. Zu erfahren, dass Fitz und der Deutsche Schäferhund noch lebten, hatte ihm wenigstens einen kleinen Hoffnungsschimmer zurückgegeben. Wunder kamen vor. Nur leider nicht sehr oft.
Schon gar nicht in einer von Monstern überrannten Welt.
Apollo winselte, und Beckham überprüfte den Verband an seinem Fell. Ein Abartiger hatte ihn übel aufgeschlitzt, aber der Hund war verdammt hart im Nehmen. Apollo ließ keine Anzeichen erkennen, nicht mehr kämpfen zu wollen.
Beckham warf einen Blick zur offenen Tür des Blackhawk, wo Staff Sergeant Parker Horn das M240-Maschinengewehr über das Meer schwenkte. Beckham fürchtete, wenn sie Tasha und Jenny verlören, würde er auch seinen besten Freund verlieren. Wie Apollo würde Horn nie aufhören zu kämpfen, allerdings konnte ein Mann nur ein begrenztes Maß an Verlusten ertragen. Nach dem Tod seiner Frau wandelte Horn bereits nah am Rand. Tasha und Jenny durch diese Monster zu verlieren, würde ihn endgültig in den Abgrund stürzen.
Das wird nicht passieren.
Beckham umklammerte den Riemen des über seinen Rücken geschlungenen M4-Karabiners. Er stand auf und bahnte sich den Weg zu Horn, um besser nach draußen sehen zu können. Alle Männer waren bis an die Zähne mit Munition und Waffen beladen. Sie würden jede einzelne Patrone und Granate brauchen, wenn sie darauf hoffen wollten, Kate und die anderen zu retten.
»Zur Information, die Stingers-Staffel meldet eine Gruppe von Abartigen mit Zivilisten in Manhattan«, berichtete einer der Piloten über die Sprechverbindung.
Beckhams Herz setzte einen Schlag aus. Die F-18 Super Hornets konnten nicht das Geringste tun, um Kate oder die anderen zu retten, aber zu hören, dass die von Plum Island Entführten gesichtet worden waren, erfüllte Beckham mit neuer Kraft.
»Geschätzte Ankunft?«, fragte er.
»Drei Minuten, Sir.«
»Fliegt diese verfluchte Blechbüchse doch schneller!«, brüllte Horn. Er richtete die Waffe auf das Wasser und schaute zu Beckham, die sommersprossige Stirn in Falten gelegt. In seinen Augen glomm der Schmerz eines Vaters, der kurz davorstand, alles zu verlieren. »Wir holen sie zurück, richtig?«
Beckham blickte zurück zu Fitz und den Abartigenjägern. Diese Männer brauchten ihn jetzt mehr denn je. Sogar Garcia wirkte verängstigt. Die Augen im geschundenen Gesicht des Abartigenjägers waren geweitet.
Wir kommen, Kate. Halt einfach durch, Liebling.
Ganz gleich, was Beckham verloren hatte, er wusste, dass er sich zusammenreißen musste – er musste seine Angst tief in sich vergraben, seine persönlichen Gefühle für Kate und die anderen Gefangenen von der bevorstehenden Mission trennen und sich in einen kampferprobten Elitesoldaten der Delta Force zurückverwandeln. Nur so würde es ihm gelingen, sie zu retten.
»Wir holen sie zurück oder gehen beim Versuch drauf, Big Horn«, sagte Beckham. Er klopfte seinem Freund auf den Rücken und ließ den Blick übers Wasser wandern, bereit, alles zu geben, um diejenigen zu retten, die er liebte.
2
Meg Pratt hatte keine Möglichkeit abzuschätzen, wie viel Zeit seit dem Angriff auf Plum Island verstrichen war. Aus ihrer Sicht konnten es Stunden oder auch Tage sein. Sie konnte sich nur auf eine Tatsache konzentrieren: Riley war tot.
Es war nicht fair.
Kid war im Kampf gegen ein Monstrum gestorben, das eigentlich gar nicht existieren sollte, eine Bestie, die eine Panzerung aus menschlichen Knochen trug. Den einzigen Trost, wenn man es so bezeichnen wollte, bot der Umstand, wie sein Leben geendet hatte. Trotz des Rollstuhls und der Gipsverbände, in denen seine zerschmetterten Beine gesteckt hatten, war er so untergegangen, wie er sein Leben geführt hatte – tapfer kämpfend bis zum letzten Atemzug.
Megs Herz drohte aus allen Nähten zu platzen. Nichts ergab einen Sinn und sie schien außerstande zu sein, ihren Gedanken zu entkommen. Nur lauerten darin Albträume. Deshalb waren sie auch so beängstigend. Albträume endeten nicht. Erst vor wenigen Minuten hatte sie den Kampf gegen die Kreatur aufgegeben, die sie durch die von Asche bedeckten Straßen schleppte. Meg musste die letzten Reste ihrer Kraft für den Versuch aufsparen, Tasha und Jenny zu retten. Sie nahm sich zwar vor, kämpfend wie Riley unterzugehen, nur wie sollte sie gegen so viele dieser Dämonen kämpfen, noch dazu ohne Waffe?
Im Schein des Mondlichts zählte sie 14 Abartige unterschiedlicher Formen und Größen. Hinzu kamen zwei menschliche Überläufer, die das Rudel nach Manhattan führten. Die Kreaturen waren derart verdreckt und entstellt, dass sich das jeweilige Geschlecht nicht auf Anhieb erkennen ließ. Sie glaubte zwar, das Monster, das sie trug, könnte ein Männchen sein, die schmalen Schultern und einige lange Strähnen strohiger Haare jedoch ließen sie daran zweifeln. Aber was immer das Wesen sein mochte, stark war es allemal.
Überall um sie herum eilten die Monster mit ihrer menschlichen Fracht über den Schultern und den zernarbten Rücken durch die Straßen. Sogar jene, die eindeutig Verletzungen aufwiesen, schienen das gnadenlose Tempo der anderen mühelos zu halten. Die Ungeheuer schwärmten über die geschwärzten Wracks ausgebrannter Autos und erklommen die verkohlten Seiten von Gebäuden, um nach Bedrohungen Ausschau zu halten.
Ein Jet raste donnernd über sie hinweg und ließ Wirbelwinde aus Asche vom Boden aufsteigen. Körniger Dreck stob Meg ins Gesicht und brannte in ihren Augen. Die Abartigen preschten auf die Gehwege zu und krächzten in ihrer bösartig klingenden Sprache.
Meg bohrte die Finger in die schrumpelige Haut, als die Kreatur, von der sie getragen wurde, auf einen Bürgersteig sprang und auf den Schutz eines Vordachs zuhumpelte. Während Meg auf und ab holperte, konzentrierte sie sich auf das vertraut wirkende, grüne Vordach.
Konnte das wirklich sein?
Das Monster kauerte sich neben den Kirschholzrahmen einer Tür, durch die Meg wohl Hunderte Male ein und aus gegangen war. Es handelte sich um Mickey’s Irish Pub. Dieselbe Kneipe, in der sie sich früher mit ihren Freunden von der Feuerwehr und ihrem Ehemann Tim ganze Flaschen Jameson und Templeton Rye hinter die Binde gegossen hatte.
Die aufblitzenden Erinnerungen an jene Tage ließen ihr einen Kloß in den Hals steigen und sie konnte die Tränen nicht zurückhalten. Es wurde einfach alles zu viel. Zuerst Riley, nun die Erinnerungen …
Tränen fielen von ihren Augen, als die Jets für einen weiteren Überflug zurückkamen. Der Anblick bewirkte kein Aufflammen von Zuversicht. In wenigen Stunden würde sich Meg zusammen mit den anderen Gefangenen tief unter der Erde befinden. Dann würde es nichts mehr geben, was Team Ghost unternehmen könnte, ganz gleich, wie viel Blut die Elitesoldaten bereit wären, zu vergießen.
Meg konnte nicht zurück in jene stockfinsteren Tunnel.
Lieber sterbe ich.
Das Donnergrollen der Flugzeuge verhallte in der Nacht. Die Geräusche menschlicher Technik verließen die Stadt wieder, wurden abgelöst von den misstönenden Lauten der Monster.
Nur Tashas und Jennys Schluchzen hielt Meg noch davon ab, einfach aufzugeben. Was nicht in ihrer Natur lag. Sie war niemand, der leicht das Handtuch warf. Meg war eine Kämpfernatur, genau wie es Riley gewesen war, und sie würde diese kleinen Mädchen nicht sterben lassen. Da es ihren Beschützer Riley nicht mehr gab, war nur noch Meg übrig.
Die Vorstellung, die zwei Kleinen zu verlieren, jagte einen Adrenalinschub durch Meg. Sie rief sich einen ihrer Lieblingssprüche ins Gedächtnis:
Feuerwehrleute sterben nicht, sondern lodern für immer in den Herzen der Menschen, deren Leben sie gerettet haben.
Meg würde Tasha und Jenny retten, selbst wenn sie beim Versuch draufginge.
Sie streckte die Hand nach einem der Pfosten aus, die das Vordach stützten, und schlang die Finger um ihn. Indem sie alle Kraft aufwandte, zog sie sich daran hoch und trat gleichzeitig aus. Ihre verletzten Beine brannten, als ihre Schuhe gegen das Monster prallten. Wütend bäumte es sich auf und kreischte. Sie schwang sich zur Seite, befreite sich von der Kreatur, dann fiel sie zu Boden. Durch den Aufprall schoss ein zweiter Blitz lodernder Schmerzen durch ihre Beine.
Die Abartigen auf der Straße lösten die Blicke vom Himmel und hefteten sie stattdessen auf Meg, anscheinend genauso verdutzt wie Meg selbst. Diejenigen, die keine menschlichen Gefangenen trugen, sanken langsam auf alle viere und krabbelten auf sie zu, umzingelten sie. Die Kreatur, die sie getreten hatte, kauerte sich hin, wölbte den Rücken durch und pflanzte die Finger wie ein Footballspieler, der sich auf einen Angriff vorbereitet, in den Boden. Ein großer Diamant am linken Ringfinger stach Meg ins Auge.
Also doch ein Weibchen.
Die Missgeburt starrte Meg mit gelblichen Reptilienaugen an. Langsam öffneten und schlossen sich die Lider. Aus dem Blick der Kreatur sprachen keinerlei Emotionen oder Verständnis, keine Erinnerungen an den Verlobten, der ihr den Ring an den Finger gesteckt hatte, keinerlei Mitgefühl für die Kinder, die von den anderen Abartigen getötet werden sollten.
Nur Hunger.
Und animalische Wut.
Mit rasendem Herzen wich Meg ein Stück zurück. Die anderen Ungeheuer bildeten einen Kreis um sie. Mitten auf der Straße hinter den restlichen Monstern stand der Alpha, immer noch mit Kate auf dem Rücken. Die Wissenschaftlerin schien keinen Widerstand zu leisten, ihr Körper rührte sich nicht.
Einen halben Häuserblock weiter auf der rechten Seite hingen die Kinder über den Schultern ausgemergelter Abartiger. Sie hatten nicht nur Horns Mädchen mitgenommen, sondern auch den kleinen Jungen namens Bo. Regen strömte über die nackte, bleiche, straff gespannte Haut der Kreaturen, Knochen zeichneten sich deutlich darunter ab. Ohne den Alpha hätten die verhungernden Abscheulichkeiten die Kinder längst verschlungen, davon war Meg überzeugt.
Die Abartige vor ihr schmatzte mit den Lippen und stieß ein schrilles Quieken aus, bei dem Sabber auf Megs Shirt spritzte.
Die ehemalige Feuerwehrfrau wich einen weiteren Schritt zurück, bis sie gegen die zerbrochene Eingangstür der Kneipe stieß. Ein Stück Glas fiel zu Boden und zerbarst klirrend in scharfkantige Splitter.
Zwei Abartige ließen sich auf alle viere fallen und wieselten über den Bürgersteig, hinterließen Spuren in der schlammigen Ascheschicht. Drei Meter entfernt hielten sie inne, legten die Köpfe von einer Seite zur anderen.
Worauf warteten sie?
Einen flüchtigen Moment lang spielte Meg mit dem Gedanken, sich in das Gebäude zurückzuziehen. Sie kannte die Anordnung der Räumlichkeiten und könnte vielleicht fliehen oder sich zumindest verstecken. Doch der Gedanke verpuffte so schnell, wie er ihr gekommen war. Meg konnte den Blick nicht von Tasha und Jenny lösen. Die Mädchen schrien immer noch nach ihrem Papa und …
»Hilf uns, Meg!«, kreischte Tasha. »Bitte!«
Die jähe Flut von Adrenalin verursachte Meg beinahe Übelkeit. Dasselbe hatte sie früher immer empfunden, bevor sie ohne Rücksicht auf Verluste in ein brennendes Gebäude gestürmt war. Angestachelt von dem unverhofften Energieschub bückte sich Meg, hob eine der Scherben auf und stürzte sich auf die Abartige. Sie überraschte die Bestie, und es gelang ihr, die Spitze des Glassplitters in ihr rechtes Auge zu rammen. Meg zerschnitt sich dabei die Hand, dennoch trieb sie die Scherbe tiefer in das weiche Gewebe des Monsters.
Es entfesselte ein Geheul, das durch Mark und Bein ging, während Meg nicht lockerließ. Mit einem verzweifelten Schwinger schlug die Abartige Megs Hand weg und flüchtete vor Schmerzen krächzend auf die Straße.
Meg humpelte der Kreatur hinterher und umklammerte wie benommen ihre zerschnittene Hand. Die Wirkung des Adrenalins ließ nach, wurde von den Qualen in ihren Fingern und ihren Beinen überwältigt. Mühsam schleppte sie sich auf die Bestien zu, von denen die Kinder gefangen gehalten wurden, und schrie mit einer Stimme, die sie selbst nicht erkannte: »Lasst sie laufen!«
»Bitte hilf uns!«, kam von Tasha.
Der Alpha-Abartige richtete einen gehörnten Finger auf Meg. Bevor sie reagieren konnte, prallte von der Seite etwas gegen sie, riss sie von den Beinen und drückte sie zu Boden. Ihr Schädel schlug mit einem dumpfen Knall auf dem Straßenpflaster auf, die Luft wurde ihr zischend aus der Lunge gepresst. Sternchen tänzelten vor ihrer verschwommenen Sicht. Sie sog Luft ein, die nach fauligem Obst schmeckte, und kniff die Augen zusammen, um durch den Vorhang nasser Haare zu spähen, der ihr ins Gesicht hing.
Ein hohes, schrilles Geheul schwoll um sie herum an. Die Geräusche hallten zwischen den Gebäuden wider und steigerten sich zu einem Chor, der nach einer Armee von mindestens 100 Abartigen klang.
Meg schloss die Augen, blies den Atem aus, holte erneut tief Luft und versuchte, sich zu konzentrieren. Als sie die Lider öffnete, wirbelten immer noch Sternchen vor ihren Augen. Dahinter stürmte die Abartige, auf die sie gerade eingestochen hatte, plötzlich auf sie zu. Die Glasscherbe steckte noch im rechten Auge. Die Abartige hieb auf die Kreaturen ein, die Meg zu Boden drückten und festhielten, dann kletterte sie rittlings auf Meg und schmatzte mit den Lippen.
Meg hatte diesen Gesichtsausdruck schon gesehen. Das Monster bereitete sich darauf vor, zuzuschlagen. Die Feuerwehrfrau schloss erneut die Augen, fühlte sich in ihren letzten Momenten schwach und außerstande, zuzusehen. Das Adrenalin war verebbt, und damit waren auch die letzten Reste ihres Muts aus ihr abgeflossen.
Sie wollte so kämpfen, wie Riley es getan hatte, doch ihr wurde alles zu viel, und als sie versuchte, sich zu bewegen, konnte sie sich ums Verrecken nicht rühren. Ihre Arme und Beine wurden von der Kreatur niedergedrückt. Die Schmerzen waren unvorstellbar. Ganz gleich, wie sehr sie dagegendrückte, sie konnte sich nicht befreien.
Nein. Bitte. Nein.
Wieder und wieder versuchte sie, sich hin und her zu winden.
»Nein!«
Das Kreischen schwoll an, erfüllte die Stadt, die diese Monster als ihre Heimat für sich beanspruchten. Ansatzweise ließen sich unverwechselbar junge Stimmen heraushören. Tasha, Jenny und Bo brüllten um Hilfe, die niemals rechtzeitig eintreffen könnte.
Meg holte abermals lang und tief Luft. Ein letzter Versuch, den Mut zusammenzukratzen, den sie brauchte – den Mut, der Riley mit Stolz erfüllen würde. Sie zwang sich, die Lider zu öffnen, und blickte auf die Glasscherbe im Auge des Monsters, dann zu der Reihe von Wasserspeiern auf dem Dach von Mickey’s Irish Pub.
Ein Blutstropfen fiel in Megs Auge. Sie blinzelte ihn weg und versuchte, sich auf die Steingesichter zu konzentrieren. Meg konnte sich nicht daran erinnern, sie schon früher gesehen zu haben. Um sich tretend und zappelnd wehrte sie sich gegen den kraftvollen Griff der auf ihr sitzenden Kreatur.
Die Abartige schnappte nach ihrem Gesicht. Meg begegnete dem Angriff mit einem Kopfstoß, der dem weiblichen Monster die Nase brach und die Glasscherbe noch tiefer ins Auge trieb. Die Feuerwehrfrau aus New York nutzte den gewonnenen Augenblick, um erneut zum Dach zu schauen. Dort befanden sich Dutzende bleiche Statuen.
Keine Wasserspeier.
Abartige.
Ansatzlos setzten sie sich an der Seite des Gebäudes herunter in Bewegung und stimmten einen Schlachtruf an, lauter als alles, was Meg bisher gehört hatte. Das weibliche Monster rollte sich von ihr runter und preschte auf den Alpha zu. Alle 13 Abartigen des Rudels scharten sich um ihren Anführer und ließen ihre menschlichen Gefangenen auf der Straße zurück. Die menschlichen Überläufer hoben die Gewehre an, richteten sie auf das Gebäude, schwenkten die Mündungen hin und her, als wüssten sie nicht recht, worauf sie zielen sollten.
Meg kroch auf Tasha und Jenny zu. Schluchzend hockten sie auf dem Asphalt und streckten Meg die Arme entgegen. Bos Mutter Donna hob ihren Sohn auf und eilte zu den Mädchen, während die anderen menschlichen Gefangenen auseinanderstoben.
Ein Schuss ertönte. Wenige Sekunden später stürzte die Welt in ein heilloses Chaos. Meg brauchte eine Weile, um zu begreifen, was vor sich ging. Sie schaute in dem Moment über die Schulter, als die erste Welle der Monster vom Dach den Bürgersteig erreichte. Der Alpha und seine kleine Armee stürmten der Gruppe der Neuankömmlinge frontal entgegen, die Klauen ausgestreckt, die nadelspitzen Zähne schnappend.
Meg mühte sich auf die Beine. Blut tropfte von ihrer Hand. Sie beobachtete, wie die Rudel der Abartigen mit einer Wucht aufeinanderprallten, die einige der kleineren Kreaturen über den Boden kullern ließ. Einer der menschlichen Überläufer feuerte weiter, während der andere im Laufschritt die Flucht ergriff.
Der Alpha mit seiner Knochenrüstung pflügte durch die Masse aus Fleisch der gegnerischen Gruppe, schleuderte mit dem heilen Arm Abartige beiseite wie Lumpenpuppen und stach mit dem spitzen Knochen des anderen Armstumpfs auf andere ein.
Plötzlich sprang eine weibliche Bestie hoch in die Luft und landete auf dem Rücken des Alphas. Er schüttelte sie mühelos ab und pfählte sie mit dem Knochendolch seines kaputten Arms. Das Monster hob die kleinere Abartige dem Himmel entgegen und heulte ihr zwischen wulstigen Lippen hervor ins Gesicht. Mit der verbliebenen Hand riss der Alpha der Kreatur den rechten Arm aus der Gelenkpfanne, bevor er weitermarschierte. Die Abartige krachte zu Boden. Blut schoss aus beiden Wunden wie Wasser aus einem Feuerwehrschlauch.
Meg konnte sich kaum rühren. Voll Grauen beobachtete sie das Gefecht. Am Straßenrand leerte der letzte menschliche Verräter sein Magazin in Richtung des Dachs, von wo aus weitere Abartige über die Mauer herunterströmten. Meg brauchte nicht lange, um zu erkennen, dass die Gruppe, von der sie und die anderen gefangen genommen worden waren, den Kampf nicht überleben würde. Den Feigling, der gerade mit einem neuen Magazin hantierte, musste wohl dieselbe Erkenntnis ereilt haben. Er sprintete hinter seinem Freund her.
»Meg!«, rief jemand.
Sie schaute zu Donna hinüber. Eine Einsicht ereilte die beiden Frauen. Meg war zwar nie Mutter gewesen, doch sie hatte ihr Leben dem Schutz von Menschen gewidmet und dabei auch schon Kinder gerettet. Sie würde sich opfern, wenn die Kleinen dadurch die Chance erhielten, zu entkommen, und sie konnte Donna ansehen, dass sie genauso empfand.
»Schnell!«, rief Meg. Sie hielt Ausschau nach einem Ort, an den sie flüchten und wo sie sich verstecken konnten, sah jedoch nur eine wahre Flutwelle verseuchter Leiber. Meg wähnte sich wieder am Beginn ihres Albtraums: gefangen in der Stadt, die sie als ihr Zuhause betrachtet hatte, gejagt von Monstern, die früher ihre Freunde gewesen waren.
»Ich konnte sie nicht retten«, flüsterte Fitz.
Seine Gedanken drifteten vom Angriff auf Plum Island zurück in den Irak. Zurück in das Zimmer, in dem seinem Schussbeobachter, Private First Class Garland, das Gesicht weggeschossen worden war. In demselben Drecksloch von einem Gebäude, in dem Private First Class Duffy zwei unschuldige Kinder und deren Großvater ermordet hatte.
Fitz war nicht in der Lage gewesen, ihnen zu helfen.
Er war nicht in der Lage gewesen, seine Brüder an dem Tag zu retten, als er seine Beine durch eine unkonventionelle Sprengfalle verloren hatte.
Er war nicht in der Lage gewesen, Riley, Kate, Horns Mädchen zu retten oder …
»Nähern uns dem Ziel, geschätzte Ankunft in fünf Minuten«, meldete einer der Piloten über die Funkverbindung.
Fitz hörte zwar die Worte, fühlte sich jedoch noch nicht bereit, wieder hinauszugehen. Was, wenn er neuerlich versagte? Was, wenn er Kate und die anderen Gefangenen wieder nicht retten konnte?
Tief und rau sog er Luft in die Lunge. Dann atmete er noch einmal durch. Nach einem dritten Atemzug fing er an, zu hyperventilieren. Jemand sagte unter anderem seinen Namen, die anderen Worte jedoch konnte er kaum hören.
Ein Schlag gegen seinen Helm holte ihn zurück in die Gegenwart des Passagierraums an Bord des Helikopters. Beckham beugte sich aus seinem Sitz. Fitz war nur halb bei Bewusstsein, dennoch konnte er in den Zügen seines Freundes tiefe Furchen und Runzeln ausmachen, die ihm zuvor nie darin aufgefallen waren.
»Bist du bei mir, Fitz?«, fragte Beckham. Der Elitesoldat stupste ihn mit einem behandschuhten Finger in den Arm.
Fitz versuchte zu nicken, doch in seinem Kopf explodierte erneut die Sprengfalle von damals und füllte sein Sichtfeld aus, als wäre er wirklich wieder im Irak.
Du bist noch am Leben, hielt er sich vor Augen. Du kannst noch kämpfen.
Fitz blickte auf seine Prothesenklingen hinab. Beide wiesen Dellen auf, die rechte war sogar verbogen, trotzdem konnte er damit noch laufen. Er konnte nach wie vor kämpfen.
»Ja.« Fitz seufzte. »Alles in Ordnung.« Er zog ein Magazin von seiner Splitterschutzweste und schlug sich damit gegen den Helm.
Beckham sah ihm in die Augen und bestärkte ihn mit einer knappen Geste, indem er mit dem Kinn nickte.
»Ich bin bei dir, Bruder«, beteuerte Fitz.
»Ich weiß.«
Der Blackhawk flog über die Piers und die zerstörte Skyline von New York City hinweg. Horn schwenkte das M240 auf die Straßen zu und hielt verzweifelt Ausschau nach einem Hinweis auf seine Familie. Die anderen Marines, die Fitz gerade erst kennengelernt hatte – die sogenannten Abartigenjäger –, nahmen eine letzte Überprüfung ihrer Ausrüstung vor. Ihre Westen strotzten vor Reservemagazinen und M67-Granaten. Diese Männer waren Vollprofis und besaßen reichlich Kratzer und blaue Flecke, die es bewiesen.
Auch Beckham und Horn waren von Fleischwunden übersät. Beide Männer hatten aus mehreren Schnitten geblutet, wo ihre Körperpanzerung sie nicht geschützt hatte.
Rot bedeckte den Boden des Passagierraums, und nicht nur wegen Fitz’ triefender Prothesenklingen oder verdreckter Uniform. Jeder einzelne Mann hatte Wunden erlitten. Aber für eine Ruhepause oder ärztliche Versorgung fehlte schlicht die Zeit.
Einer der Piloten meldete sich über den Funkkanal. »Die Stingers haben gerade eine Gruppe von Abartigen und möglicherweise Zivilisten in der 44th Street gemeldet.«
»Das ist zwei Blocks von der öffentlichen Bibliothek entfernt«, sagte Fitz.
Beckham sah ihn mit Augen an, in die ein plötzliches Leuchten trat. »Scheiße, das ist in der Nähe der U-Bahn-Station Bryant Street.«
Fitz nickte. »Wo der Knochensammler zu Hause ist.«
Diesmal zog Beckham eine Augenbraue hoch, weil er nicht auf Anhieb verstand, was Fitz meinte.
»Der Alpha, der Kate entführt und Riley getötet hat«, erklärte Fitz. »Reed hat dem Pisser einen Arm weggeschossen, trotzdem lebt er anscheinend noch.«
Garcia erhob sich von seinem Sitz. »Ist das der Alpha, der den Angriff auf Plum Island angeführt hat?«
»Bist du dir sicher, Fitz?«, fragte Beckham.
Horn wandte sich vom Maschinengewehr ab und schaute über die Schulter.
»Ja«, antwortete Fitz. »Wenn wir das Scheißvieh finden, gehört es mir.«
Die Soldaten verstummten. Fitz wusste, was sie alle gerade dachten. Dasselbe wie er. Sie wollten sich das Ungeheuer selbst krallen.
Aber diese Beute stand ihm zu.
Und es war nicht das Einzige, was ihnen durch den Kopf ging. Jeder von ihnen wusste, wie verrückt die Mission war. Es kam Wahnsinn gleich, zu glauben, sie könnten Kate und die anderen zurückholen – Wahnsinn, zu glauben, sie könnten diesen verfluchten Krieg gewinnen.
»Gebt einfach alles, was ihr habt, Marines«, meldete sich Garcia mit tiefer, selbstsicherer Stimme zu Wort.
»Hurra«, sagte Thomas.
Tank nickte. »Verdammt richtig, Bruder!«
Beinahe hätte Fitz gelächelt. Das Motto hatte er schon eine ganze Weile nicht mehr gehört. Eine Gänsehaut breitete sich über seine Arme aus, und plötzlich schämte er sich dafür, dass er sich von so pessimistischen Gedanken hatte runterziehen lassen. Er hatte die Hölle schon einmal überlebt und er würde sie wieder überleben. Die anhaltende Taubheit, die Fitz seit dem Angriff auf Plum Island in ihren Klauen gehabt hatte, fiel von ihm ab, wurde von Herzklopfen verdrängt.
Er würde sie retten.
Ein Knistern ertönte in Fitz’ Kopfhörer, als sich die Piloten neuerlich meldeten. »Ghost, Abartigenjäger, wir haben Sichtkontakt mit etwas unter uns. Ecke 43rd und 44th.«
Fitz bahnte sich den Weg zu Beckham an der Tür und hob das MK11 an. Regen prasselte in den Hubschrauber, als die Maschine sich neigte, um den Männern eine bessere Sicht nach unten zu ermöglichen. Blut strömte wie ein Wasserfall über den Metallrand des Passagierraums nach draußen.
»Heilige Scheiße«, entfuhr es einem der Piloten. »Seht ihr das?«
Fitz hob das Gewehr an, blickte durch das Zielfernrohr und richtete es auf eine Masse nasser Haut auf der Straße unten. Dann hörte er das ferne Krachen von Schüssen.
»Was zum Teufel ist da los?«, flüsterte Fitz.
Er vergrößerte die Ansicht auf eine kleine Armee von Abartigen, die sich gegenseitig in Stücke rissen wie diejenigen in der U-Bahn-Station Bryant Street. Fitz versuchte, sie zu zählen, doch die Kreaturen schienen förmlich miteinander zu verschmelzen. Es mussten mindestens 50 sein, und immer noch schlossen sich weitere dem Kampf an. Ein menschlicher Überläufer rannte von dem Gefecht weg, drehte sich dabei immer wieder um und feuerte auf Monster, die ihn verfolgten. Inmitten des Chaos sichtete Fitz die Panzerung des Knochensammlers. Er zentrierte das Fadenkreuz auf das Ungeheuer, bekam jedoch kein freies Schussfeld. Der Alpha pflügte durch die gegnerische Gruppe, riss mit der heilen Hand Gliedmaßen aus und brach Genicke.
»Siehst du meine Mädchen?« In Horns Stimme schwoll Hysterie an.
»Sieht sie irgendjemand?«, fragte Beckham mit bewusster Zurückhaltung. Fitz merkte ihm an, dass er ruhig zu bleiben versuchte, doch die Beklommenheit in seiner Stimme ließ sich nicht überhören.
Fitz schwenkte den Lauf des Gewehrs nach rechts. Mit rasendem Herzen zwängte er sich näher zu Beckham und hielt krampfhaft Ausschau nach den Zivilisten. Wenn sich der Knochensammler dort unten befand, mussten sie in der Nähe sein.
Mittlerweile brüllte Horn hemmungslos. »Wo sind meine Mädchen?«
»Das ist unsere Chance. Schalten wir die Mistviecher aus!«, rief Garcia. Damit hob er den M4-Karabiner an, doch Horn wirbelte herum und schlug die Mündung beiseite.
»NICHT!«, schrie er. »Tasha und Jenny könnten da unten sein!«
Mit reumütigem Blick entfernte sich Garcia geduckt von der Tür.
Ein statisches Knistern ertönte in der Leitung, dann verkündete einer der Piloten: »Keine Spur von den Überlebenden, Ghost und Abartigenjägern. Ich sehe nur Abartige.«
»Bringt uns näher hin«, ordnete Beckham an. Er richtete den Blick auf Garcia. »Und verdammt noch mal nicht schießen.«
Fitz’ Herz überschlug sich und kletterte ihm in die Kehle, als Regen gegen seine Stirn prasselte. Er wischte sich das Gesicht sauber und presste das Auge ans Zielfernrohr.
Die Maschine schwenkte scharf nach rechts und kreiste für einen weiteren Überflug. Horn hing praktisch zur Tür hinaus, als er den Blick suchend über die Straßen wandern ließ. Seine Augen waren gerötet; das Wasser, das ihm übers Gesicht strömte, stammte nicht nur vom Regen.
Beim zweiten Überflug richtete Fitz das MK11 auf das Gebäude hinter den Abartigen. Mit angehaltenem Atem schwenkte er die Mündung rasch über die Gegend. Er konnte keine Anzeichen von Kate, Meg oder Horns Töchtern ausmachen. Keine Leichen. Keine Schreie.
Nichts.
»Kommt schon«, flüsterte Fitz bei sich. »Gebt uns ein Zeichen. Irgendeines.«
Ein Rauschen drang über die Funkverbindung. »Mögliches Ziel auf der South 5th und East 43rd Street gesichtet.«
Fitz schwenkte das Gewehr in die Richtung. Und dort, auf dem östlichen Gehweg, flüchtete eine kleine Gruppe von Zivilisten vor dem Gefecht der Monster. Fitz vergrößerte die Ansicht und richtete das Fadenkreuz auf mehrere kleine Gestalten, bei denen es sich durchaus um Tasha, Jenny und Bo handeln konnte.
Er atmete aus und verspürte einen kribbelnden Anflug von Erleichterung … die ihm jedoch gleich wieder geraubt wurde wie ein brutal von einer Wunde gerissener Schorf. Die Zivilisten bogen nach links auf die East 42nd in Richtung der Bibliothek.
»Fuck! Sie halten auf den Bau der Scheißer zu!«, rief Fitz.
»Bringt uns dort runter!«, brüllte Beckham.
Der Helikopter neigte sich nach links. Apollo schlitterte über den Boden. Fitz packte den Hund am Halsband, bevor er durch die offene Tür hinausstürzen konnte. Die Piloten brachten den Blackhawk wieder in die Waagerechte, und einer der beiden rief: »Feindkontakt auf der 42nd!«
Das Blut rauschte laut durch Fitz’ Ohren, als er das Gewehr an der Bibliothek vorbeischwenkte. Eine Horde von Abartigen hielt geradewegs auf die Zivilisten zu. Kate und die anderen, die von der neuen Bedrohung nichts mitbekamen, hatten angehalten, um dem Hubschrauber zuzuwinken.
Fitz schwenkte das Gewehr zwischen den Abartigen und der Gruppe der Zivilisten hin und her.
»Mein Gott«, murmelte er. Ihnen blieb nicht viel Zeit.
Beckham brüllte: »Bringt uns so nah ran, wie ihr könnt!«
Die Piloten senkten die Maschine tiefer auf die Straße zu, wirbelten eine Wolke aus Asche und Staub auf. Als der Helikopter weiter runterging, ertönte in der Ferne ein Knall, und etwas prasselte gegen die Seite des Blackhawk.
Es folgte eine ganze Salve von Schüssen. Allerdings nicht aus dem Hubschrauber. Da wurde Fitz klar, dass jemand auf sie feuerte. Er zog den Kopf ein, als der Vogel mit einem Ruck nach links drehte. Die Rotoren heulten auf.
»Was zur Hölle war das?«, stieß Beckham hervor.
Mittlerweile brüllten auch die Piloten, doch Fitz war zu beschäftigt damit, nach einem Ziel zu suchen, um darauf zu lauschen, was sie riefen. Sie alle steckten in Schwierigkeiten, die sehr bald noch schlimmer werden würden, wenn er den Schützen nicht fände, der auf sie feuerte, wer immer es sein mochte.
Fitz brauchte nicht lange zu suchen. Das verdreckte Gesicht eines menschlichen Überläufers tauchte in seinem Zielfernrohr auf. Bevor Fitz einen Schuss abgeben konnte, legte der Mann mit einem AR-15 auf den Hubschrauber an. Fitz zuckte zusammen, als die Mündung aufblitzte.
Mehrere Projektile durchschlugen die Metallseite. Ein gedämpfter Aufschrei folgte. Fitz wirbelte herum, als sich Thomas an die Brust fasste. Blut schoss aus dem Mund des Sergeants.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte Fitz. Er schwenkte zurück zu seinem Ziel, hielt den Atem an, drückte den Abzug und beobachtete, wie der Schädel des Überläufers explodierte. Bevor Fitz das Gewehr senken konnte, schlingerte der Helikopter erst nach rechts, dann nach links.
Die Marines und die Männer der Delta Force streckten sich nach irgendetwas zum Festhalten, als der Vogel vollends außer Kontrolle geriet. Thomas schlitterte stöhnend über den Boden, konnte die Bewegung nicht bremsen.
»Nein!«, brüllte Garcia. Er hechtete auf den Bauch und streckte sich nach seinem Freund, verfehlte jedoch knapp den Stiefel des Mannes. Thomas verschwand durch die offene Tür hinaus und stürzte 15 Meter auf die Straße hinunter.
Der Hubschrauber strudelte weiter, schleuderte die Soldaten hin und her und gegeneinander.
»Wir stürzen ab!«, schrie einer der Piloten.
Apollo jaulte, und Beckham forderte brüllend alle auf, sich an irgendetwas festzuhalten.
Fitz lag auf dem Rücken. Seine Prothesenklingen schabten über den Boden. Ein vertrautes Grauen erfasste ihn, als die Maschine scheinbar in Zeitlupe durch die Luft wirbelte. Die bruchstückhafte Erinnerung an die Sprengfalle, die ihm die Beine und seinen Freunden das Leben geraubt hatte, tauchte wieder in seinem Geist auf. Selbst nach all den Jahren konnte er immer noch die sengenden Phantomschmerzen in seinen nicht mehr vorhandenen Beinen spüren.
»Wir müssen raus!«, brüllte Beckham. »Bereit machen zum Springen!« Er packte Fitz an der Weste und zerrte ihn mit einem Ruck hoch.
Die Straße raste ihnen entgegen. Garcia und Tank sprangen als Erste aus dem Helikopter und verschwanden außer Sicht. Horn folgte als Nächster. Fitz hielt den Atem an und wartete auf Beckham. Der Elitesoldat schnappte sich Apollo und rief: »Jetzt, Fitz!«
3
Dr. Pat Ellis folgte einer Gruppe von Marines durch einen dunklen Gang an Bord der Cowpens. Überall roch es nach Bleichmittel. Sein Herz raste immer noch vor Beklommenheit, doch größtenteils hatte er sich von seinem Schock nach dem Überfall auf Plum Island erholt. Bei klarem Verstand hatte ihn die Erkenntnis letztlich eingeholt und war ihm ins Bewusstsein gesickert:
Kate war verschwunden.
In vielerlei Hinsicht war sie das Einzige gewesen, was er noch gehabt hatte. Die einzige Person, auf die er zählen konnte, abgesehen von Beckham. Wenn sie umkäme, müsste er die Kryptonit-Charge von Plum Island mit Wissenschaftlern fertigstellen, die er nicht einmal kannte. Den Gedanken empfand er als furchterregend – und zugleich egoistisch. Aber dasselbe galt für den Gedanken, Millionen Menschen im Stich zu lassen. Es gab da draußen immer noch Leute, die ums nackte Überleben kämpften. Er durfte die Arbeit nicht einstellen, ganz gleich, wie allein er sich dabei fühlte.
Jeder Schritt den Gang hinunter brachte ihn einen Schritt näher zu dem jungen Abartigen, den das Einsatzteam aus New York City mitgebracht hatte. In der rechten Hand trug Ellis einen kleinen Karton voll Spritzen, die Kryptonit enthielten. Er hatte einige der fertigen Antikörper extrahiert, an die Chemotherapeutika angefügt und in einer Lösung verdünnt. Denselben Vorgang würden sie beim Bestücken der Raketen wiederholen.
In wenigen Minuten würde er dem jungen Abartigen den Cocktail injizieren, und nach einem Tag oder weniger würden sie wissen, ob die Waffe sowohl die Erwachsenen als auch deren Nachwuchs tötete oder nicht.
Ellis hatte seine Zweifel.
Die Marines marschierten weiter, und Ellis eilte hinter ihnen her. Am Ende des Ganges wartete eine Frau mit stechenden grünen Augen, schulterlangen roten Haaren und scharfkantiger Kieferpartie neben einem Wissenschaftler mit Brille.
»Doktor Ellis«, sagte die Frau und trat mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Ich bin Lieutenant Rachel Davis und das ist Doktor Yokoyama.«
»Es tut mir sehr leid wegen Ihrer Kollegin. Vizepräsident Johnson tut, was er kann, um sie zurückzuholen«, sagte Yokoyama.
Die Äußerung erzielte bei Ellis keine besonders beruhigende Wirkung, also nickte er nur. Er war nicht sicher, wem er hier vertrauen konnte. Ellis hatte sich eine Schutzmauer zugelegt, nachdem er von Yokoyamas unmenschlichen Experimenten an Lieutenant Brett gehört hatte, und er zog sie hoch, wann immer der Wissenschaftler auch nur namentlich erwähnt wurde. Den Mann nun persönlich kennenzulernen änderte nichts, und Ellis wusste, dass er künftig größte Vorsicht walten lassen musste.
Nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, schlug Ellis vor: »Bringen wir es hinter uns. Wo wird das Junge festgehalten?«
Davis deutete mit dem Kinn in einen weiteren Gang. »Hier entlang.«
Ellis gelang es zwar, ein Stück vor Yokoyama zu bleiben, doch er hatte Mühe, mit Davis mitzuhalten. Sie machte nicht nur lange, sondern auch schnelle Schritte. Yokoyama versuchte, neben Ellis zu gelangen, doch Ellis war nicht in der Stimmung, irgendwelche Fragen zu beantworten. Pochende Stiefel folgten ihnen durch die Gänge – die Eskorte der Marines unmittelbar hinter ihnen.
Wenige Minuten später erreichten sie die Brigg, wo vier weitere Soldaten postiert waren. Die Männer trugen schwarze Körperpanzerung und Schrotflinten mit Munitionstrommeln. Außerdem trug jeder einen Kevlar-Helm mit rechteckigem, verspiegeltem Visier und daran angebrachtem Atemgerät. Die Männer erinnerten Ellis an Sturmtruppler. Der Anblick jagte ihm einen kalten Schauder über den Rücken. Diese Mistkerle hatte er immer gehasst, schon seit er als Kind zum ersten Mal Star Wars gesehen hatte.
Davis streckte die Hand nach dem Karton mit Spritzen aus. »Nach dem Zwischenfall mit Lieutenant Brett haben wir unsere Sicherheitsvorkehrungen verdoppelt und ein Spezialteam dafür abgestellt, den Jung-Abartigen das Kryptonit zu verabreichen.«
Die Soldaten schauten beinahe roboterhaft in Ellis’ Richtung, gaben aber kein Wort von sich. Lieutenant Davis ergriff den Karton und trat zu einer als Zelle 6 gekennzeichneten Tür. Yokoyama stellte sich neben sie und zog die Metallabdeckung auf, die das Fenster verhüllte. Es folgte ein kehliges Zischen, als hätte der Wissenschaftler die Falltür einer Grube mit einer Anakonda darin geöffnet.
Yokoyama schüttelte geradezu ehrfürchtig den Kopf. »Sie ist eine bemerkenswerte Kreatur.« Er blickte zurück zu Ellis und grinste. »Wir nennen sie Lucy.«
Beinahe hätte Ellis laut aufgelacht. Lucy war der Name, den Anthropologen den frühesten je gefundenen menschlichen Überresten gegeben hatten. »Lucy war kein Monster.«
Yokoyama nahm die Brille ab und steckte sie in die dichte Haarpracht, in der im Licht der Deckenbeleuchtung graue Wurzeln zum Vorschein kamen. Der Mann erwiderte nichts, sondern beugte sich näher zur Glasscheibe.
»Wie lange wird das dauern?«, fragte Davis.
Ellis zuckte mit den Schultern. »Kommt drauf an. Experimente an erwachsenen Abartigen haben sich von wenigen Stunden bis zu einem ganzen Tag hingezogen, aber bei den Jungen gibt es mehr bewegliche Ziele. Sie sind mit genetischen Mutationen geboren worden. Das bedeutet, Proteine könnten sich von Generation zu Generation leicht verändern. Wenn das Superman-Protein zu denen gehört, die sich verändert haben, gehen die Antikörper im Kryptonit keine Bindung damit ein und die Medikamente können nicht in die Zellen gelangen.«
»Und das heißt was?«, hakte Davis nach.
»Dass die Waffe bei Lucy keine Wirkung zeigen wird«, antwortete Yokoyama mit verkniffener Miene. »Mit der aktuellen Rate ist sie in wenigen Wochen voll ausgewachsen.«
Davis nickte, als verstünde sie, doch Ellis war davon nicht überzeugt. Wüsste die militärische Obrigkeit, was er wusste, würde man bereits an einem Plan B zur Vernichtung des Nachwuchses arbeiten. Nur Stunden vor dem Angriff auf Plum Island war Ellis auf besorgniserregende neue Informationen gestoßen. Die Kreaturen wuchsen nicht nur mit verblüffender Geschwindigkeit, ihre genetische Beschaffenheit entwickelte sich zudem rasant weiter. Wenn sie das einzigartige, bei erwachsenen Abartigen auftretende Superman-Protein nicht mehr anvisieren konnten, würde Kryptonit bei den jungen Kreaturen völlig nutzlos bleiben.
»Sergeant Russo, sind Sie bereit?«, fragte Davis.
Der größte der vier Männer in schwarzer Körperpanzerung trat vor. Er schlang sich den Riemen seiner Schrotflinte über die Schulter und neigte die Gesichtsmaske in Ellis’ Richtung.
Davis reichte dem Sergeant die kleine Schachtel.
»Injizieren Sie den Cocktail in die kleine Stelle weicher Haut zwischen dem Panzer am Hals und …«, begann Ellis, als ihm Yokoyama ins Wort fiel.
»Das wird nicht funktionieren. Die beste Stelle scheint das weiche Gewebe unmittelbar unter dem Nabel zu sein. Über diesen Punkt ist die Panzerung nie gewachsen.«
Russo sah die Männer nacheinander an. Seine Maske bewegte sich leicht hin und her. »Sind Sie sicher? Ich werde nur einen Versuch haben.«
»Entspannen Sie sich, Sergeant. Lucy wird ruhiggestellt sein«, warf Davis ein.
Entspannen?, dachte Ellis. Er fragte sich, ob man den Technikern und Wachleuten, die von Lieutenant Brett ermordet worden waren, dasselbe gesagt hatte, bevor sie in seine Zelle gegangen waren, um ihn »einzuschläfern«.
Davis zeigte auf die anderen drei Soldaten in Kampfausrüstung. »Sie sichern die Ketten für den Fall, dass Lucy aufwacht.« Die Offizierin drehte sich der Eskorte der Marines am Ende des dunklen Ganges zu. »Und Sie vier: wachsam bleiben.«
Die Marines nickten und setzten die Waffen an den Schultern an.
Ellis spürte, wie sich sein Herzschlag jäh beschleunigte. Es mochte eine Menge Feuerkraft anwesend sein, aber der Nachwuchs war anders als die erwachsenen Abartigen. Stärker, schneller, unberechenbarer.
Russo öffnete die Schachtel und entnahm ihr zwei Spritzen, bevor er Ellis den Karton zurückgab. Der Soldat verstaute beide Spritzen in seiner linken Westentasche, dann ergriff er die Schrotflinte.
Yokoyama trat von der Tür zurück, machte Platz für die Soldaten. Die vier Männer reihten sich in Gänsemarschformation auf, um den Raum zu betreten, jeder mit einer Hand auf der Schulter des Mannes vor ihm.
»Doktor Yokoyama, Doktor Ellis, hier entlang bitte«, sagte Davis.
Yokoyama nickte und folgte ihr den Korridor hinunter, Ellis hingegen blieb an der Tür zu Zelle 6.
»Ich habe Lucy noch nicht einmal zu Gesicht bekommen«, sagte er trotzig. »Ich würde wirklich gern bleiben und mir das ansehen.«
Davis zögerte. »Doktor Yokoyama, gehen Sie zurück ins Labor. Doktor Ellis, Sie bleiben dicht bei mir.«
Yokoyama erhob keine Einwände. Rasch ging er zu den wartenden Marines und verschwand mit ihnen um die nächste Ecke. Bisher beeindruckte der ältere Wissenschaftler Ellis nicht. Eindeutig kein gleichwertiger Ersatz für Dr. Kate Lovato.
Davis zog sich ihr Mini-Mikrofon an die Lippen.
»Med 1, hier Lieutenant Davis. Sie haben die Erlaubnis, die Betäubung vorzunehmen.«
Ellis drängte sich neben Russo an die Tür und spähte durch die Glasscheibe. Lucy war an die Decke gekettet, die Beine und Arme zu einem X gespreizt. Die Beleuchtung von oben erhellte den grotesken Körper des jungen Monsters. Ein grauer, schuppiger Panzer bedeckte die Extremitäten. Der kegelförmige Kopf hing schlaff nach unten, das Kinn ruhte an einer Hornschicht, wo sich bei einem normalen Säugetier die Brust befinden würde. Spitze Ohren mit einem Fellansatz standen lose an den Seiten des Kopfes ab.
»Schläft sie?«, fragte Ellis.
Langsam hob sich Lucys Kopf. Gelbe Augen öffneten sich abrupt, und die Ohren stellten sich in Richtung der Decke auf. Eine echsenähnliche Zunge schoss zwischen wurmartigen Lippen hervor. Fauchend kämpfte die Bestie gegen ihre Fesseln an, spannte sie mit krallenbewehrten Fingern. Sie war um die 1,20 Meter groß, einen Kopf größer als die Kinder, die Ellis aus dem Video vom Turner Field Stadion in Atlanta kannte.
Davis trat zu ihm ans Fenster. »Med 1, Lieutenant Davis. Hören Sie mich? Over.«
Gleich darauf wurde das Fauchen der jungen Abartigen vom Zischen des Gases übertönt, das durch Deckenschlitze in die Zelle strömte. Rasch füllte sich der Raum mit einer Nebelwolke, die sich grau um die groteske Bestie legte.
»Bereit machen«, sagte Davis und drehte sich leicht in Russos Richtung.
Sie packte Ellis am Arm und zog ihn von der Tür weg. Das Spezialteam der Soldaten bildete um sie herum eine Formation, die Gewehre auf das Fenster gerichtet. Russo zog einen Schlüssel aus der Tasche und wartete.
Hinter der Fensterscheibe wurde das Gas durch Bodenschlitze abgesaugt, und die sauberen, weißen Wände der Zelle zeichneten sich wieder deutlich ab. Lucy hing schlaff in den Ketten. Die Zunge baumelte wie ein nasser Schwanz aus dem Mund.
»Ausführen«, befahl Davis mit Autorität, aber auch mit Ruhe in der Stimme.
Als sich die Soldaten darauf vorbereiteten, den Raum zu betreten, spürte Ellis, wie sich seine Anspannung steigerte. Er war sich nicht sicher, ob sein Herz wegen des Monsters vor ihm so raste oder wegen der bruchstückhaften Erinnerungen an den Überfall auf die Insel. In einem der Bilder rannte er an Rileys schlaffem, verkrümmtem Leichnam vorbei. In einem anderen schoss er auf den Abartigen, der Fitz zu Boden gedrückt hatte. Ellis konnte beinahe das heiße Blut im Gesicht spüren. Weitere Erinnerungen spülten über ihn hinweg.
Die Boote, die mit Kate und den anderen Gefangenen an Bord von der Insel wegrasten. Eine Rakete, die auf die noch am Ufer liegenden Boote zuschoss. Das letzte Bild war am deutlichsten, als stünde er unmittelbar daneben. Vor seinem geistigen Auge sah Ellis, wie Fitz mit hängendem Kopf und blutüberströmt im Sand kniete.
Der Wissenschaftler biss die Zähne zusammen und tastete nach der in ihm verbliebenen Stärke. Tief in seinem Innersten hegte er ein wenig Hoffnung, dass Kryptonit beim Nachwuchs der Monster vielleicht doch wirkte und es Beckham, Fitz und Horn gelingen würde, Kate und die anderen zurückzuholen.
Ein Klicken fegte die Gedanken weg. Russo entriegelte das Schloss und steckte den Schlüssel zurück in seine Tasche. Dann nahm er in eine Hand eine Spritze, in die andere seine Schrotflinte.
»Bewegung, Bewegung, Bewegung!«, befahl Russo.
Der vorderste Soldat riss die Tür auf und stürmte in die Zelle. Einer nach dem anderen verschwanden die Männer. Russo ging als Letzter. Er schlug die Metalltür hinter ihnen zu, dann tauchte sein Visier eine Sekunde lang hinter dem Glasfenster auf und richtete sich auf Ellis. Der Mann ließ keine Spur von Angst erkennen, nur Entschlossenheit.
Davis ging zur Scheibe, um das Geschehen zu beobachten. Die Männer arbeiteten schnell. Wie angewiesen, hielten sie zu dritt die Ketten fest, während Russo vor Lucy auf ein Knie sank und ihr die Nadel knapp unter dem Nabel in den Bauch stach.