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Willkommen im dunklen Zeitalter! Vor acht Jahren verwüstete ein manipuliertes Virus den Globus und verwandelte Menschen in monströse Raubtiere. Milliarden starben, die Zivilisation brach zusammen und die Menschheit stand kurz vor dem Aussterben. Nationen schlossen sich zusammen und Helden erhoben sich, um diese Gräuel zu bekämpfen. Buch 4: In diesem spannenden Abschluss der Extinction-Cycle-Reihe bereitet sich die Menschheit auf den finalen Kampf gegen die Mutierten vor. Doch Präsidentin Jan Ringgold und ihre Generäle wissen, dass es unmöglich ist, den Feind auf dem Schlachtfeld zu schlagen. Die Zeit für Helden scheint abgelaufen … Wenn es in Büchern jemals Horror und Spannung gab, dann in dieser Bestsellerserie. Mysterythrillerweek.com: »Das ist postapokalyptische Spannung vom Feinsten!«
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Seitenzahl: 517
Veröffentlichungsjahr: 2022
Aus dem Amerikanischen von Michael Krug
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Extinction Cycle: Dark Age 4 – Extinction Darkness
erschien 2020 im Verlag Great Wave Ink Publishing.
Copyright © 2020 by Nicholas Sansbury Smith & Anthony J. Melchiorri
Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-011-3
www.Festa-Verlag.de
An die zahlreichen Leserinnen und Leser des Extinction Cycle: Dieses Buch ist für euch. Vielen Dank, dass ihr Team Ghost und die übrigen Charaktere des Extinction Cycle über die Jahre begleitet habt. Ohne die Unterstützung der Fans wäre diese Reihe nicht, was sie geworden ist, und ich bin jeder und jedem Einzelnen von euch unendlich dankbar.
– Nicholas Sansbury Smith
Gib einfach alles, was du hast.
Niemals aufgeben.
Niemals kapitulieren.
1
Leise bewegte sich Azrael auf klauenbewehrten Füßen durch die Straßen und betrachtete die überall im Außenposten Tulsa verstreuten Leichen. Der Gestank von Tod und Fäulnis lag in der frischen Abendluft. Seine Männer, sowohl Ableger als auch Menschen, genossen diesen Geruch des Siegs. Er hingegen konnte das nicht.
Azrael betrachtete einen einzelnen eroberten Außenposten ebenso wenig als echten Sieg wie einen einzelnen Schritt bei einem Marathon.
Sein Eroberungsfeldzug begann gerade erst.
Einer seiner Ableger, eine Kreatur namens Jonah, verneigte sich tief vor ihm.
»Prophet, wir haben ihn«, meldete Jonah. Seine Stimme stieg kratzig aus der Kehle auf.
Jonah gehörte zu den ältesten Ablegern aus der ersten Reihe erfolgreicher Experimente. Seit seiner Verwandlung von einem schwachen Menschen in den Halbgott, den er nun verkörperte, hatte er treu gedient.
»Bring mich zu ihm«, befahl Azrael knurrend.
»Ja, Prophet.«
Jonah machte auf dem Absatz kehrt. Er bewegte sich zwar noch wie ein Mensch, doch sein Körper zeigte die Früchte der wissenschaftlichen Forschung eines guten Jahrzehnts. Vergilbte, nadelspitze Zähne lugten unter Sauglippen hervor. Wo sich einst die Nase befunden hatte, prangten schlitzartige Öffnungen. Goldene Augen wie die eines Raubvogels suchten die Straße nach Bedrohungen ab. Die Finger endeten mit sichelähnlichen Krallen, so abgefeilt, dass er ein Gewehr benutzen konnte.
Sein Körper ähnelte dem von Azrael stark. Allerdings war Azrael, der Prophet, deutlich größer. Die Knochen seiner Schultern zeichneten sich sowohl unter der Haut als auch unter seinem langen schwarzen Mantel wie die Rüstung eines mittelalterlichen Ritters ab.
Zudem trug er unter dem Mantel eine eng anliegende Körperpanzerung. Er mochte stark sein, trotzdem ging er ungern unnötige Risiken ein. Eine gut gezielte Kugel konnte ihn trotz allem töten.
Jonah hielt an und schnupperte, dann setzte er den Weg eine andere Straße entlang fort.
Dunkelheit hatte sich über den gefallenen Außenposten gelegt, doch im Gegensatz zu Menschen brauchten Azrael und seine Ableger kein Licht. Diese armen besseren Primaten waren mit schwachen Augen geschlagen. Kein Vergleich zu dem Sehvermögen, das Azrael sich selbst und seinen leidenschaftlichsten Anhängern durch Genmanipulation verschafft hatte. Sie konnten in der Dunkelheit genauso deutlich sehen wie am helllichten Tag.
Schwarzer Rauch quoll aus Kratern im Asphalt und wirbelte im kalten Wind. Geschwärzte Fahrzeuge säumten die Straßen zwischen vom Krieg zerstörten Gebäuden und Trümmerhaufen. Der Schimmer der schwindenden Feuer flackerte über bleiche Abartige, die sich an ihren menschlichen Trophäen gütlich taten.
»Unsere Hörigen haben heute Nacht ein Festessen«, sagte Jonah. Ein breites Grinsen trat in seine unmenschlichen Züge. »Die Ketzer sind den neuen Göttern nicht gewachsen.«
»Sie haben sich für den falschen Weg entschieden«, erwiderte Azrael und ballte die Krallenfinger zu einer bebenden Faust. »Ihr Glaube ist fehlgeleitet. Sie haben so viele Leben vergeudet, die uns hätten dienen können.«
Die Ketzer ließen sich von den falschen Versprechungen einer Regierung blenden, die sie verraten hatte. Hirnlos folgten sie Frevlern wie Präsidentin Jan Ringgold.
Anführer wie sie erzählten den Ungläubigen, es gebe noch Hoffnung für die Menschheit. Sie versprachen ihnen den Sieg. In Wirklichkeit jedoch bestand die einzige Hoffnung für die Menschheit darin, sich den neuen Göttern anzuschließen.
In der Nähe eines Maschinengewehrnests fraßen sich zwei dürre hörige Abartige laut schlürfend an zwei toten Soldaten satt. Eines der Monster hob den Kopf. Zwischen den Zähnen baumelten die Schlingen von Eingeweiden.
Die Bestien waren primitive Raubtiere, die nur ein Ziel kannten. Und doch konnte man sogar sie dressieren. Wenn sich nur die Alliierten Staaten so leicht Azraels Willen unterwerfen ließen …
In der Ferne knallten sporadisch Schüsse. Das Geheul der jagenden Hörigen schwoll wie die Rufe dämonischer Geister an und ab. Dazwischen ertönte ein gellender menschlicher Schrei und verhallte.
Jedes Mal wenn der Prophet entsetzte Rufe voll Angst und Schmerz hörte, verspürte er einen Anflug von Abscheu.
»Ich wünschte, es müsste nicht so sein«, sagte Azrael.
»Ich weiß, dass es dich schmerzt, Prophet.«
»Sie hätten Ableger der neuen Götter werden können. Genau wie du. Statt Tod hätte ich ihnen neues Leben schenken können.«
»Eines Tages werden sie verstehen, was dein Versprechen ihnen bringt.«
Azrael besaß die Schlüssel zu bislang unerreichter Technologie und einer Armee, wie die Welt sie noch nie gesehen hatte. Und wenn sich die Bürger der sogenannten Alliierten Staaten dafür entschieden, ihm zu folgen, mussten sie für den Rest ihrer Tage nie wieder in Angst leben.
Wenn sie nur auf ihn hörten.
Jonah zeigte mit einer gekrümmten Kralle auf eine große Kirche zwischen zwei hohen Bürogebäuden. »Der Befehlshaber ist dadrin.«
Die Hälfte des Kirchturms war verschwunden, und eines der Pinakel bestand nur noch aus geschwärzten Trümmern. Die scharfkantigen Reste der Buntglasfenster funkelten im Feuerschein.
Azrael trat durch die zerbrochenen Holztüren in die Düsternis der einstigen Andachtsstätte. Jenseits der zertrümmerten Kirchenbänke und einer Handvoll Leichen bewachte eine Gruppe von sechs Ablegern mit verheerenden Kampfmessern im Kirchenschiff fünf Gefangene, die an der hinteren Wand an Seilen hingen.
Jonah verbeugte sich und blieb im Gang stehen, während Azrael zum Kirchenschiff weiterging. Patronenhülsen aus Messing übersäten den Boden. Einige lagen in Blutlachen. Er trat um den umgekippten Altar herum näher zu den Gefangenen.
Mondlicht fiel durch die zerbrochenen Buntglasfenster über den Menschen herein, die von den Deckenbalken hingen.
Die goldenen Augen der Ableger beobachteten Azrael, während er die Gefangenen musterte. Er konnte ihre eiternden Wunden und ihre Angst riechen.
Der Erste war ein Mann in Militäruniform mit vernarbtem Gesicht und Bartstoppeln. Neben ihm befand sich eine Frau, ebenfalls in Kampfuniform. Aus einer langen, klaffenden Wunde lief ihr Blut über die Wange. Ihr Kopf baumelte schlaff zwischen den Schultern, während sie stöhnte, kaum noch bei Bewusstsein.
Den Abschluss der Reihe bildete ein weiterer Mann in Kampfuniform. Das Abzeichen auf der Schulter wies ihn als Colonel aus. Er hatte einen glatt rasierten Schädel und starrte Azrael als Einziger der Gefangenen trotzig an. Risse in seiner Jacke zeigten, wo ein Abartiger sich an seiner Brust festgekrallt hatte.
Das ist der Befehlshaber des Außenpostens, dachte Azrael.
»Scheiße, was glotzt du so?«, brummte der Mann.
Einer der Ableger trat mit gezückter Klinge auf den Colonel zu. »Unverschämter Ketzer.«
Azrael hob die Hand, und der Ableger ließ ein Knurren vernehmen. Aber der treue Diener senkte die Waffe und zog sich zurück.
»Du warst für diesen Außenposten verantwortlich«, sagte Azrael.
Der Befehlshaber verengte die Augen zu Schlitzen. »Das bin ich immer noch.«
Azrael schüttelte den Kopf. »Ein guter Anführer weiß, wann er sich eine Niederlage eingestehen muss.«
»Wir werden gewinnen. Vielleicht nicht heute, aber am Ende werden wir dich und deine abscheulichen Mutanten vernichten.«
Mit einem Schnauben holte Azrael tief Luft. Er roch die Pheromone, die von dem schwachen Mann ausgingen. Er hatte schon Menschen erlebt, die selbst im Angesicht des sicheren Todes so beherzt auftraten. Bewundernswert zwar, letztlich jedoch dumm.
»Ihr habt bereits verloren«, sagte Azrael.
»Fick … dich …«, presste die Frau mit der Wunde im Gesicht mühsam hervor. »Ihr seid …«
Bevor sie zu Ende sprechen konnte, wirbelte Azrael vom Kommandanten weg und schlitzte mit den Krallen über ihre Kehle. Blut sprudelte aus der Wunde, und ihr Kopf baumelte schlaff zur Seite.
Azrael wandte sich wieder dem Kommandanten zu und leckte sich Blut von den Klauen.
Die Augen des alten Soldaten glänzten. Es schmerzte ihn sichtlich, dass er den Tod der Frau erleben musste. Seine Unterlippe bebte, obwohl er sich bemühte, die Zähne zusammenzubeißen.
Azrael wischte die Krallen an der Jacke des Kommandanten ab und verteilte das Blut der Soldatin darauf. »Sag mir, wo Präsidentin Jan Ringgold ist.«
»Keine Ahnung.«
Azrael schlang die Krallenhand um den Hals des Befehlshabers.
»Ich denke, doch.«
»Selbst wenn, würd ich’s dir nicht sagen.«
»Ich will diesen Krieg beenden. Ich will Präsidentin Ringgolds Kapitulation. Und wenn sie das Richtige tut, gestatte ich allen, die es wollen, sich der Armee der neuen Götter anzuschließen. Auch du kannst ein Ableger werden.«
»Wir sterben lieber, als uns in Freaks zu verwandeln.«
»Freaks?« Azrael verstärkte den Griff um die Kehle des Kommandanten. Man musste ihm zugutehalten, dass er mit keiner Wimper zuckte. »Das wollte euer Militär erschaffen, als es ursprünglich VX-99 hergestellt hat. Ich habe es lediglich perfektioniert. Meine Leute haben es eingesetzt. Wir sind stärker als ihr. Klüger. In jeder Hinsicht besser. Das ist Evolution.«
»Du bist ein schiefgelaufenes wissenschaftliches Experiment. Sonst nichts.«
Heiße Wut flammte in Azrael auf. Am liebsten hätte er den Kommandanten in Stücke gerissen und die Krallen tief in dessen Eingeweide gerammt. Er spürte, dass seine Ableger ihn beobachteten und aufmerksam darauf achteten, wie er auf die Beleidigung reagieren würde.
Azrael atmete aus und ließ die Wut verfliegen. Sein Ego war nicht wichtig. Er musste sich beherrschen, wenn er erfahren wollte, wo sich die neue Kommandozentrale befand.
»Sag mir, wo Ringgold ist, und ich verschone euch alle«, zischte Azrael.
»Wie gesagt, ich weiß es nicht.«
Azrael starrte den Kommandanten an. Ihm fielen die kleinen pulsierenden roten Blutgefäße in der Haut des Mannes auf. Ebenso bemerkte er, wie sich die Nasenflügel des erbärmlichen Menschen leicht blähten und bei jedem angestrengten Atemzug zuckten.
Der Mann stand Todesangst aus.
Und danach zu urteilen, wie sich seine Pupillen weiteten und er die Kieferpartie anspannte, log er. Azrael spürte es so deutlich wie ein Wolf seine verängstigte Beute.
Aber es wusste noch etwas, das ihm nicht seine übernatürlich geschärften Sinne verrieten. Dieser Befehlshaber würde schier unaussprechliche körperliche Schmerzen über sich ergehen lassen und die Präsidentin dennoch nicht verraten.
Azrael grinste. Seine zurückgezogenen Lippen entblößten die Fänge eines Raubtiers.
Er löste die Klauen vom Hals des Kommandanten. Der Mann erwies sich als so unverschämt, dass er vor Erleichterung seufzte.
Ein Irrtum.
Mit einer schnellen Handbewegung schlitzte Azrael dem Kommandanten über den Bauch und öffnete darin vier klaffende Wunden. Blut schoss daraus hervor. Der Mann entfesselte ein lang gezogenes Stöhnen. Schweißperlen kullerten ihm über das blasse Gesicht.
»Ich … sage … dir … gar nichts«, presste er heraus.
»Ich weiß«, erwiderte Azrael. »Das war zu meiner Befriedigung. Aber ich fürchte, es war nicht befriedigend genug.«
Er hörte das Knurren der sechs um die menschlichen Gefangenen herum wartenden Ableger.
»Fresst, aber lasst den Kommandanten für mich übrig«, sagte Azrael.
Mit schnappenden Mäulern stürzten sich die Ableger vor den Augen des menschlichen Befehlshabers auf die anderen Gefangenen. Die Geräusche reißender Sehnen und brechender Knochen hallten durch die Kirche. Organe klatschten mit schmatzenden Lauten auf den Steinboden, was von gequälten, gellenden Schreien übertönt wurde.
Die Lippen des Kommandanten bebten. Die mutige Fassade war zerbröckelt und von ihm abgefallen. Ein dunkler Fleck breitete sich in seinem Schritt aus, als er sich einnässte.
Azrael beugte sich zu ihm herüber. »Du kannst das beenden«, flüsterte er dem Mann ins Ohr. »Du musst mir nur sagen, was ich hören will.«
»Ich … Ich … Ich …«
»Rede.«
Weiteres Fleisch wurde zerfetzt. Blut ergoss sich auf den Boden, während sich der Gestank von entleerten Gedärmen in der Luft ausbreitete.
»Ich …« Das Gesicht des Kommandanten wurde noch bleicher. Sein Hirn schien gegen eine Schockstarre anzukämpfen. »Puerto Rico … Ich glaube … sie wappnen sich dort für einen weiteren …« Abrupt klappte er an der Stelle den Mund zu und sah Azrael in die Augen. »Mehr weiß ich nicht … Das ist alles, was ich gehört habe … Bitte beende das jetzt!«
»Natürlich.«
Azrael fuhr mit den Krallen über das Kinn des Mannes und hinterließ dabei rote Spuren. Dann schnellte er vorwärts, biss kraftvoll in den Hals des Befehlshabers und kaute Fleisch und Knorpelmasse.
Azrael wischte sich mit dem Handrücken das Blut von den Lippen und beobachtete, wie seine Ableger fraßen, was von den Gefangenen noch übrig war. Wenn sich die Regierung der Alliierten Staaten bis nach Puerto Rico zurückzog, war der Sieg offenbar näher, als er erwartet hatte.
Er betrachtete den Leichnam des Kommandanten. Eine Verschwendung eines tapferen Mannes, der den neuen Göttern hätte dienen können.
Aber zumindest als Mahlzeit würde er nicht verschwendet sein. Damit gab er den in seinem gentechnisch veränderten Körper verankerten animalischen Instinkten nach und fraß.
Eine kühle, salzige Brise wehte durch Galveston. Erst vor wenigen Tagen hatte eine Bestattungszeremonie zu Ehren des Ölmagnaten und Ranchers S. M. Fischer stattgefunden. Nur ein weiterer tragischer Verlust in einem Krieg, den Captain Reed Beckham für beendet gehalten hatte.
Vor dem Ausbruch dieses neuen Konflikts hatten Schätzungen der Regierung ergeben, dass nach dem großen Krieg gegen die Ausrottung nur noch vereinzelte Gruppen von Abartigen übrig waren, die überwiegend in den verlassenen Städten lebten.
Beckham hatte daran geglaubt, was er mittlerweile zutiefst bereute.
Die Menschheit bezahlte gerade einen verheerenden Preis für den fatalen Irrtum. Die Außenposten und Stützpunkte fielen reihenweise. Während Vizepräsident Dan Lemke auf Puerto Rico eine Kommandozentrale für die Regierung der Alliierten Staaten einrichtete, hatten sich die Reste der Zivilbevölkerung und der Streitkräfte der Alliierten Staaten in den amerikanischen Südosten zurückgezogen.
General Souza und sein Verbindungsoffizier Lieutenant Festa waren vorübergehend von Puerto Rico aufs Festland der Alliierten Staaten zurückgekehrt. Mit ihrer Hilfe hatte Präsidentin Ringgold das Special Operations Command in Galveston zur Planung und Leitung von Sondereinsätzen eingerichtet.
Galveston gehörte zu den wenigen noch intakten Stützpunkten, vor allem dank General Cornelius, der die Insel befestigt hatte. Die Stadt diente mittlerweile als vorübergehendes Zuhause für Beckham und seine Frau Dr. Kate Lovato sowie ihren Sohn Javier. Auch Master Sergeant Parker Horn und seine Töchter Jenny und Tasha waren mit ihren Hunden Spark und Ginger hierhergezogen.
Die Kinder liebten die Strände und die Sonne, aber Beckham wusste, dass die Idylle nicht lange anhalten würde. Schon bald würden die Abartigen und die Überläufer auch gegen diesen Stützpunkt vorrücken.
Doch bis dahin würde der Stützpunkt gewappnet für den Feind sein.
Er stand vor einem Parkplatz neben seinem besten Freund und Waffenbruder Horn, dessen Tanktop einen ungehinderten Blick auf die Tätowierungen an seinen muskulösen Armen ermöglichte. Zusammen überwachten sie die Ausbildung von über 100 Freiwilligen, die sich zur Verteidigung der Mauern gemeldet hatten. Die meisten Rekruten wirkten völlig ausgelaugt und schweißgebadet. Einige konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. Sie litten unter Erschöpfung und Hunger, aber wie Beckham wusste, würden sich die Bedingungen nicht bessern, bis sie sich den Abartigen auf dem Schlachtfeld stellen mussten. Die Grünschnäbel mussten lernen, wie wichtig Durchhaltevermögen war.
»Noch eine Übung, ihr Maden!«, brüllte Horn.
Beckham warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
»Was denn?«, fragte Horn. »Das wollte ich schon immer mal sagen.«
»Schalt einen Gang runter, Mann … Herrgott.«
Sergeant First Class Jeni Rico kam herübergelaufen. »Ja, Big Horn«, brummte sie. »Die Hälfte der Leute da ist unterernährt. Sei nicht ganz so streng mit ihnen.«
Horn zuckte mit den Schultern. »Wer zu verweichlicht ist, stirbt da draußen.« Er hielt die Hände an den Mund und brüllte: »Alle Mann aufreihen!«
Die meisten Rekruten und Freiwilligen stöhnten, einer der angehenden Soldaten jedoch begab sich prompt in Bereitschaftsposition.
Timothy Temper hatte einen ernsten, entschlossenen Blick aufgesetzt, ähnlich wie früher sein Vater Jake im Dienst. Der Junge ähnelte seinem alten Herrn mit jedem Tag mehr.
Timothy bedeutete einigen der strauchelnden Rekruten, sich aufzurappeln und sich in die Reihe zu stellen.
»Wir haben’s fast geschafft, und danach gehen wir futtern«, spornte er sie an.
»Futter kriegt aber nur, wer sich ins Zeug legt«, warnte Horn.
Rico warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Nur ein Scherz!«, beschwichtigte Horn rasch.
Beckham überkamen jedes Mal Schuldgefühle, wenn er Timothy sah. Er fühlte sich verantwortlich dafür, was im Außenposten Portland passiert war – nicht nur mit Jake, sondern im Zuge der Zerstörung des Außenpostens auch mit Timothy. Aber an der Vergangenheit konnte er nichts ändern. Er konnte nur für die Zukunft kämpfen, wie es Timothy tat.
»Den Abartigen ist scheißegal, ob ihr müde, hungrig, alt oder jung seid«, sagte der Junge. »Sie sind Raubtiere, und ihr seid so lange die Beute, bis ihr beschließt, das zu ändern.«
Ein paar der müden Rekruten strafften die Schultern.
»Er ist gut«, meinte Horn leise.
»Er ist schon da draußen gewesen«, erwiderte Beckham. »Er weiß aus eigener Erfahrung, wie es dort zugeht.«
»Dabei hatte er Glück, aber im Gegensatz zu den meisten der Leute hier hat er auch was auf dem Kasten.« Rico seufzte. »Freunde, da haben wir noch jede Menge Arbeit vor uns.«
Horn klatschte in die Hände. »Bewegt euch, dann machen wir im Handumdrehen Soldaten aus euch!« Fragend sah er Rico an. »Besser?«
Sie schmunzelte nur, bevor sie die Rekruten zusammen mit Timothy zu einem Gewirr verlassener Gebäude führte, mit dem sie die Verhältnisse draußen im Ödland simulierten.
Von einem separaten Teil des Übungsgeländes ertönten Schüsse. Es widerstrebte Beckham zwar, wertvolle Munition zu verbrauchen, aber diese Leute mussten schießen lernen, sonst würden sie im Gefecht noch mehr verschwenden.
Rico lenkte ihre Truppe mit Handzeichen zu einem Hindernisparcours. Beckham beobachtete, wie Timothy geschickt ein Seilnetz erklomm, bevor er unter einer Reihe von niedrig aufgehängten Stacheldrahtsträngen hindurchrobbte. Der Junge überwand die Hindernisse scheinbar mühelos und verschwand zwischen den alten Gebäuden.
»Der beste Soldat des Haufens«, kommentierte Horn. Er rieb sich das bartstoppelige Kinn. »Vielleicht tut sich eines Tages sogar ein Platz in Team Ghost für ihn auf.«
Eigentlich wollte sich Beckham nicht mal vorstellen, dass der junge Mann noch mehr Zeit draußen im Krisengebiet bei brandgefährlichen Einsätzen verbringen müsste. Aber so, wie sich der Krieg entwickelte, würde es sich vielleicht nicht vermeiden lassen.
Eine C-130 flog mit dröhnenden Triebwerken über den Parkplatz hinweg. Hinter den Gebäuden sank die Maschine ab, um auf dem behelfsmäßigen Rollfeld entlang des Seawall Boulevard zu landen.
»Weitere Flüchtlinge?«, fragte Horn und schirmte mit einer Hand die Augen gegen die Sonne des späten Nachmittags ab.
»Hätte nicht gedacht, dass heute noch welche reinkommen.«
In der Ferne setzte sich das Training fort, aber Beckham wandte sich davon ab und drehte sich einem Jeep zu, der mit quietschenden Reifen neben ihnen zum Stehen kam. Ein Mann mit schwarzem Schnurrbart sprang heraus.
»Captain Beckham«, sagte der Neuankömmling.
Beckham erkannte ihn. Es handelte sich um Sergeant Ken Sharp. Der Soldat war früher zum Schutz von S. M. Fischers Ranch abgestellt gewesen, bevor er sich General Cornelius angeschlossen hatte.
»General Cornelius schickt mich«, berichtete Sharp etwas atemlos. »Er ersucht um Ihre sofortige Anwesenheit in der Kommandozentrale.«
»Gibt’s ein Problem?«, fragte Beckham. Er vermutete, dass es etwas mit dem Flugzeug zu tun hatte.
»Ist wohl besser, wenn ich das Cornelius und Ringgold erklären lasse. Wir haben nicht viel Zeit.«
Beckham wandte sich Horn zu. »Big Horn, bring du das Training zu Ende. Ich stoße später wieder zu dir und Rico. Und um Himmels willen, geh auch mal duschen.«
Horn hob den Arm und schnupperte an seiner Achselhöhle. Er zuckte mit den Schultern.
Beckham stieg in den Jeep, der im Leerlauf wartete, dann fuhren sie zum alten Harbor House Hotel an den Docks der Nordwestseite der Insel. Cornelius hatte das Gebäude zur Kommandozentrale umfunktioniert.
Sergeant Sharp sprang als Erster hinaus, gefolgt von Beckham. In der Hotellobby wimmelte es von Offizieren an Schreibtischen mit Computern, Funkgeräten und Aufklärungsbildern von Drohnen und Spähern.
»Hier lang, Captain«, sagte Sharp.
Er führte Beckham in einen Besprechungsraum mit einem großen rechteckigen Tisch, um den Dutzende Stühle verteilt standen. Karten an den Wänden bildeten die USA, Texas und andere Regionen, ab, in denen die Alliierten Staaten noch über Außenposten verfügten. Mehrere Bildschirme zeigten außerdem Liveübertragungen von jenen Außenposten.
Um den Tisch saßen vertraute Gesichter wie General Cornelius mit seinem weißen Schnurrbart, Präsidentin Ringgold sowie General Souza und sein Verbindungsoffizier Lieutenant Festa. Auch einige ihrer Mitarbeiter, darunter Stabschef James Soprano, befanden sich am Tisch.
Diejenigen, die Beckham nicht kannte, trugen Militäruniformen mit der rot-weißen Flagge Kanadas auf den Schultern.
»Captain Beckham, danke, dass Sie so kurzfristig gekommen sind«, ergriff General Cornelius das Wort. »Unsere Brüder im Norden sind mit Geschenken eingetroffen. Das ist Colonel Maurice Stilwell von den kanadischen Streitkräften.«
Ein Mann Anfang 60 mit schwarzer, dickrandiger Brille und kantigen Zügen stand auf und schüttelte Beckham die Hand.
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Captain«, sagte Stilwell. »Ihr Ruf eilt Ihnen voraus.«
Stilwell stellte den Rest der Offiziere und Politiker seiner Gruppe vor.
»Bitte nehmen Sie alle Platz«, übernahm schließlich Ringgold das Wort. Beckham ließ sich neben General Cornelius nieder. »Wir haben viel zu besprechen. Als ersten Punkt hätten wir, dass Colonel Stilwell die von Team Ghost in Kalifornien geborgene seismische Ortungsausrüstung mitgebracht hat.«
Die Neuigkeit verlieh Beckham etwas Mut. Endlich hatte es die Technologie, um die Team Ghost so hart gekämpft hatte, in die Alliierten Staaten geschafft. Der Einsatz der Ausrüstung würde ihnen helfen, anrückende Truppen der Abartigen rechtzeitig zu erkennen und abzuwehren, bevor sie sich unter den Mauern der Außenposten oder Stützpunkte hindurchgraben konnten.
»Wie geht’s den Mitgliedern von Team Ghost?«, erkundigte sich Beckham.
»Gut, soweit ich weiß«, antwortete Stilwell.
»Sie sind noch immer in Banff stationiert«, ergänzte Ringgold. »Da wir inzwischen sämtliche Stützpunkte im Norden verloren haben, belassen wir sie vorerst in Kanada.«
»So haben wir jemanden verfügbar, der in diesen Regionen schneller auf Bedrohungen reagieren kann«, erklärte Souza.
»Im Gegenzug haben wir etwas Verstärkung mitgebracht«, sagte Stilwell. »Am wichtigsten ist, dass wir Techniker haben, die beim Aufstellen der angeforderten SDS-Ausrüstung helfen können.«
»Die Hälfte der Techniker und Ausrüstung schicken wir zum Außenposten Houston«, sagte Ringgold. »Houston wurde beim letzten feindlichen Angriff fast zerstört. Die Überlebenden haben sich auf einem Areal zusammengeschlossen, das gerade mal etwa zehn Prozent der Größe des ursprünglichen Außenpostens entspricht. Die können dort alles brauchen, was wir ihnen schicken können. Die andere Hälfte bleibt in Galveston.«
Sie deutete auf die Soldaten. »Captain Beckham, Sie, Master Sergeant Horn und Sergeant Rico helfen beim Aufbau der Verteidigungsanlagen um Houston herum. Was von dem Außenposten noch übrig ist, wollen wir unbedingt halten. Es ist unsere erste Verteidigungslinie gegen Angriffe, die nach Galveston führen.«
»Wir haben außerdem zwei Züge Soldaten dabei, die bereit sind, im Kampf gegen die Abartigen und Chimären mitzuwirken«, fügte Stilwell hinzu. »Wir können sie je nach Bedarf Ihren Verteidigungsstreitkräften oder Spähtrupps zuteilen.«
Beckham versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Zwei Züge wären gegen den nahenden Sturm bloß ein Tropfen auf den heißen Stein.
»Der mexikanische Präsident hat zugesagt, ebenfalls Streitkräfte abzustellen«, kam von Souza. »Wir rechnen damit, den Einsatz von insgesamt 2000 zusätzlichen Männern und Frauen als Unterstützung für die Alliierten Staaten koordinieren zu können.«
Das klang in Beckhams Ohren schon besser, und er beobachtete, wie auch die Sorgenfalten in Ringgolds Zügen vorübergehend ein wenig verblassten.
»Wir sind dankbar für die Unterstützung Kanadas und der Mexikanischen Föderation. Tut gut zu wissen, dass die Alliierten Staaten in diesem Kampf nicht mehr allein dastehen«, sagte sie. »Ich bin zuversichtlich, dass wir mit vereinten Kräften und den unermüdlichen Bemühungen unserer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Wende in diesem Krieg herbeiführen können.«
Das Gespräch setzte sich knapp eine Stunde mit dem Erörtern der Logistik für die eintreffende Verstärkung fort. Als die Besprechung schließlich endete, löste sich die Gruppe auf, doch Beckham wurde von Ringgold zurückgehalten, bevor er gehen konnte.
»Reed, ich weiß, Sie sind gerade erst auf der Insel angekommen. Trotzdem müssen Sie und Horn sich umgehend darauf vorbereiten, die Kanadier mit der SDS-Ausrüstung nach Houston zu begleiten«, sagte sie. »Da wir sie jetzt haben, will ich außerdem keinen Tag länger als nötig damit warten, das Netzwerk der Abartigen anzuzapfen. Kate und ihr Team begleiten Sie.«
»Wann brechen wir auf?«, fragte Beckham.
»In zwei Stunden.«
2
Dr. Kate Lovato hob eine Kiste mit Laborbedarf vom Boden der Lagerhalle auf und trug sie zum Heck eines wartenden Lasters. Daneben parkte ein Stryker Radschützenpanzer. Ihre Laborassistenten Ron und Leslie stellten die Kiste zwischen die anderen für den Außenposten Houston bestimmten auf die Ladefläche des Transportfahrzeugs.
Beckham, Horn und Sergeant First Class Jeni Rico von Team Ghost halfen beim Verladen. Sogar Javier und die Mädchen schleppten kleinere Teile der Laborausrüstung zum Lastwagen, um noch so viel Zeit wie möglich mit ihren Eltern zu verbringen, bevor sie abreisen mussten.
Sammy Tibalt, ihre Computerspezialistin, hob stöhnend eine kleinere Kiste auf und schleppte sie mit gequält verzogenem Gesicht zum Transporter.
»Sammy!«, schimpfte Kate mit ihr. »Lass mich das machen.«
Sie nahm ihr die Kiste ab.
»Ich schaffe das schon«, behauptete Sammy.
Unter ihrem Oberteil zeichnete sich eine leichte Erhebung ab, wo Verbände die Eintritts- und Austrittswunden des Projektils bedeckten, das ihren Bauchbereich durchschlagen hatte. Sammy hatte Riesenglück gehabt, dass kein lebenswichtiges Organ getroffen worden war. Aber sie schien es jeden Tag aufs Neue herauszufordern, indem sie sich überanstrengte.
Sie seufzte.
»Ich hasse es, nutzlos zu sein.«
»Du bist alles andere als nutzlos«, widersprach Kate. »Wäre besser, wenn du ausgeruht bist, sobald wir in Houston ankommen. Dann brauchen wir dich.«
»Du versuchst doch bloß, mein Ego aufzumöbeln.«
»Funktioniert es denn?«
Sammy bedachte sie mit einem Grinsen.
Es hatte den Zusammenhalt im wissenschaftlichen Team zusätzlich gestärkt, dass sie beschlossen hatten, sich alle zu duzen.
Eine Gruppe von sechs kanadischen Ingenieuren schloss sich ihnen an. Die Männer trugen Metallbehälter mit SDS-Ausrüstung.
»Das war’s, ja?«, fragte Beckham und sprang vom Wagen, gefolgt von Horn.
»Ich glaube, schon«, antwortete Kate.
Javier stand bei ihnen am Heck des Lastwagens. »Kann ich nicht doch mitkommen?«
»Hier ist es sicherer«, erklärte Kate.
Javier begegnete ihrem Blick. »Aber ich kann kämpfen.«
»Du kannst deinen Teil beitragen, indem du auf Galveston aufpasst«, sagte Beckham. »Vor allem auf Tasha und Jenny.«
Javier runzelte die Stirn.
»Stimmt«, bestätigte Tasha und spielte mit. »Wir brauchen jemanden, der uns beschützt.«
»Dafür hast du doch schon Timothy«, gab Javier zurück.
Tasha lief rot an und Jenny lachte leise.
»Komm bloß nicht auf dumme Gedanken, während ich weg bin«, warnte Horn mit strengem Blick. »Ich sage Connor, dass er ein Auge auf dich haben soll.«
Connor war der Agent des Secret Service, der damals in Long Island auf die Kinder aufgepasst hatte. Mit Ringgolds Segen kümmerte er sich erneut um sie, während Kate, Beckham und Horn zum Einsatz loszogen.
»In Wirklichkeit bleibt Timothy ja sowieso nicht hier«, sagte Tasha. »Er hat mir erzählt, dass er nach Houston geht.«
Horn sah Beckham an.
»Er kommt mit uns?«
Beckham nickte. »Timothy und Sergeant Ruckley werden mit einem Trupp neuer Rekruten mitgeschickt. Sie sollen helfen, Houston zu verteidigen.«
»Er hat noch nicht mal seine Ausbildung abgeschlossen«, merkte Tasha an.
»Ich weiß, aber wir sind unheimlich knapp besetzt, und er ist einer der Besten«, gab Beckham zurück. »Und offen gestanden hat auch Ruckley nach ihm verlangt. Sie mag Timothy genauso sehr wie wir.«
Tasha sah ihren Vater an. »Kannst du auf Timothy aufpassen? Dafür sorgen, dass ihm nichts passiert?«
»Klar«, versprach Horn.
»Captain, wir sollten uns auf den Weg machen«, rief ein Soldat aus der Kabine des Lastwagens.
Beckham nickte ihm zu, bevor er auf ein Knie sank und Javier in eine Umarmung zog. »Hör auf Connor und sei brav, okay?«
»Mach ich«, beteuerte Javier.
Kate kam bei dem Jungen an die Reihe und drückte ihn innig. Sich von ihrem kleinen Sohn zu verabschieden wurde nie einfacher, ganz gleich wie oft sie es wiederholen musste.
»Hab dich lieb«, sagte sie und strich ihm einige Strähnen aus dem Gesicht. »Vergiss das nie.«
»Hab dich auch lieb, Ma.«
»Bald ist das alles vorbei. Dann müssen wir nie wieder ohne einander irgendwohin.«
Der Soldat im Führerhaus des Lastwagens lehnte sich erneut durchs offene Fenster heraus. »Captain, entschuldigen Sie die Störung, aber uns geht das Tageslicht aus.«
Kate umarmte Javier ein letztes Mal, und Horn beendete die Verabschiedung von seinen Mädchen. Rico saß bereits hinten im Stryker und starrte ins Leere, was Kate vermuten ließ, dass sie wohl an Fitz dachte.
»Ich bin sicher, Fitz geht’s gut«, sagte Kate.
»Ja, ganz bestimmt.«
Allerdings klang Rico nicht überzeugt.
Der Dieselmotor erwachte tuckernd zum Leben. Kate, Horn und Beckham winkten den Kindern durch die offene Luke am Heck, bis die Lagerhalle außer Sicht geriet.
Beckham schloss die Luke. Wenige Minuten später stieß der Stryker zu einem Konvoi anderer Transportfahrzeuge und Humvees an den Außentoren der Brücke, die zum Festland führte. Die Soldaten auf der Mauer öffneten das Schiebetor aus Metall, und der Konvoi rollte hinaus ins Ödland.
Sie kamen an verlassenen Häusern entlang eines Jachthafens vorbei. Boote verrotteten an ihren Anlegestellen, viele davon halb gesunken. Von den Häusern blätterte die Farbe ab wie abgestorbene Haut von einer Leiche.
Als sie die Küste hinter sich ließen, wurde das Sonnenlicht über dem texanischen Horizont schwächer und fiel in Schattierungen von Orange durch die leicht geöffneten Luken auf dem Dach und über dem Fahrer. Sie fuhren durch die Außenbezirke von Houston, in denen es nicht besser aussah als in den Gebieten näher bei Galveston. Viele der verkohlten Häuser waren beinahe völlig verschüttet, weil sie in Tunnel gesunken waren, die Abartige gegraben hatten.
Kate drückte Beckhams Hand, als der Schrei eines der Monster ertönte.
Plötzlich kam der Konvoi zum Stehen.
»Warum halten wir an?«, fragte Ron.
»Hindernis auf der Straße«, meldete der Fahrer nach hinten. »Ein Haufen zurückgelassener Autos.«
Leslie kauerte sich neben Sammy, und Ron sah Beckham an.
»Captain, wir dürfen uns hier nicht aufhalten«, sagte Ron.
»Ich weiß.« Beckham öffnete einen der seitlichen Aussichtsschlitze und warf einen Blick nach draußen. »Horn, geh nach oben.«
»Wird gemacht«, erwiderte der Hüne und schob mit seinem M249 die Dachluke auf.
»Verhaltet euch ruhig und bleibt hier«, sagte Beckham an Kate und die anderen gewandt.
»Scheiße, wir haben Kontakt auf drei Uhr!«, rief der Fahrer plötzlich.
Kate spähte um den Mann herum durch die vordere Luke hinaus.
Sie sichtete die Schemen spindeldürrer Kreaturen, die auf ihren Stryker zugerannt kamen. Auf dem Dach brach das Rattern von Horns M249 los und hallte im Inneren des Stryker wider.
Beckham sprach mit dem Fahrer, und Kate versuchte, die Worte zu belauschen. So, wie er fluchte, steckten sie offenbar tief in der Tinte.
»Wir müssen den Weg freiräumen«, sagte er.
»Können wir das Hindernis nicht einfach von der Straße rammen?«, fragte Ron.
»Es sind zu viele Autos«, gab Beckham zurück. »Aber es arbeiten schon Leute aus dem Lastwagen daran, sie aus dem Weg zu räumen.« Er ging zur Luke am Heck. »Rico, zu mir. Ihr anderen bleibt hier drin, ganz gleich was passiert.«
Er nickte Rico zu. Dann sprangen sie beide hinaus. Sofort krachten Schüsse von beiden Seiten des Stryker und mischten sich zum Stakkato des M249 auf dem Dach.
Schreie ertönten. Einige Stimmen klangen panisch, andere riefen Befehle, dann schwangen in einer Schmerzen mit. Weder von Beckham noch von Rico, soweit Kate es beurteilen konnte.
»Feindkontakt auf sechs Uhr«, brüllte jemand.
Etwas prallte gegen die hintere Luke, und Leslie kreischte. Ron zog sie an sich, während Sammy zitternd dasaß.
»Schon gut«, sagte Kate. »Wir werden …«
Schüsse kleinkalibriger Waffen schnitten ihr das Wort ab.
»Timothy!«, ertönte ein Ruf.
Das war Beckham.
Auf weitere Schüsse folgte ein Chor von Geschrei und Geheul Abartiger.
»Hindernis beseitigt!«, rief der Fahrer.
Die Luke am Heck öffnete sich. Beckham und Rico sprangen mit blutverschmierten Kampfanzügen herein. Horn ließ sich von der oberen Luke ins Innere fallen.
»Los, los, los!«, brüllte Beckham.
Der Konvoi rollte vorwärts und tuckerte weiter.
»Geht’s Timothy gut?«, fragte Kate.
»Ja. Dank ihm fahren wir wieder«, erwiderte Beckham. »Er ist ein ziemliches Risiko eingegangen, aber es hat sich gelohnt.«
Mit einem Seufzen lehnte er sich zurück.
Die Wissenschaftler aus Kates Team schauten nur erschüttert drein.
Der Rest der Fahrt verlief in bedrücktem Schweigen. Kate rechnete ständig mit einer weiteren Blockade der Straße und dem Kreischen von Abartigen, aber die Fahrt blieb ruhig. Als sie schließlich den Außenposten Houston erreichten, färbte sich der Himmel purpurn und die ersten Sterne zeichneten sich funkelnd in der aufziehenden Dunkelheit ab.
»Wir sind da«, verkündete der Fahrer.
Beckham nickte. »SDS-Mannschaft, ihr kommt mit Horn und mir. Alle anderen ab zu den Tunneln.«
Horn stand auf, streckte die Arme und klopfte sich auf den Bauch. »Ob die hier ein gutes altes texanisches Barbecue für uns vorbereitet haben? Ich könnte glatt ein Pferd verdrücken.«
Beckham warf ihm einen Energieriegel zu. »Da. Abendessen.«
Ein Ford Pick-up kam auf sie zu. Kate schirmte die Augen gegen die Scheinwerfer ab, bis sie ausgeschaltet wurden. Auf der Ladefläche saßen sechs Soldaten.
»Das muss das Begrüßungskomitee sein«, kommentierte Horn.
Beckham führte die Gruppe aus dem Stryker. Aus dem Pick-up stieg ein Mann, um sie in Empfang zu nehmen. Er war groß und muskulös. Die hochgekrempelten Ärmel offenbarten von Brandnarben übersäte Haut. Als er sich näherte, stellte Kate fest, dass eine Gesichtshälfte durch weitere Verbrennungen glänzte, als bestünde sie aus Plastik.
»Ich bin Commander Leo Jacobs«, stellte sich der Mann vor. Er streckte Beckham die Hand entgegen.
»Captain Reed Beckham.«
»Ich weiß, wer Sie sind. Praktisch eine Berühmtheit.« Jacobs deutete mit dem Kopf in Richtung einer Gruppe von Männern, die von der Ladefläche seines Pick-ups gesprungen waren. »Viel ist von der Stadt zwar nicht übrig, aber ich bin stolz auf das bisschen, das wir uns bewahrt haben. Meine Jungs führen Sie und Ihr Team durch den Stützpunkt, damit Sie sich mit dem Umfeld vertraut machen, die SDS-Ausrüstung aufstellen und uns über die Verteidigungsmaßnahmen beraten können.«
»Ja, Sir«, erwiderte Beckham.
Die sechs Soldaten teilten sich auf und halfen den kanadischen Technikern beim Verladen der SDS-Ausrüstung in den Pick-up.
»Sie gehen wohl besser mit«, meinte Jacobs zu Beckham.
»Ja, Sir.« Beckham wandte sich an Kate. »Ich liebe dich. Pass auf dich auf.«
»Du auch«, gab sie zurück.
Beckham, Horn und Rico brachen mit dem Pick-up der Techniker in den Stützpunkt auf.
»Sie müssen Dr. Lovato sein.« Jacobs streckte Kate die Hand entgegen. »Danke fürs Mitkommen.«
»Danke für die Gastfreundschaft«, erwiderte sie und schüttelte ihm die Hand.
Er stieg in den Stryker.
Kate und ihr Team folgten ihm. Diesmal schlossen sich ihnen sechs bewaffnete Männer des Befehlshabers an.
Erneut passierten sie ein stahlverkleidetes Tor, durch das sie den Schutz der Mauern wieder verließen. Zu ihrer Rechten befand sich ein Krankenhaus, umgeben von verfallenen Wohnhäusern. Im Gegensatz zu ihnen sah das Krankenhaus weitgehend intakt aus.
Die Soldaten stiegen zuerst aus und bildeten einen Schutzkreis.
»Alles klar!«, meldete einer.
Die restliche Gruppe verließ den Stryker mit ihren Computern.
»Alpha Security, Jacobs hier«, sagte der Befehlshaber. »Licht an.«
Ein Summen wie von einem gigantischen Bienenstock ertönte aus dem Krankenhaus. Hinter den zerbrochenen Fenstern gingen flackernd Lampen an, während die letzten Reste des Tageslichts vom texanischen Himmel verschwanden.
»Beim letzten Angriff haben sich die Abartigen in die Parkgarage für das Krankenhaus gebuddelt«, berichtete Jacobs.
Als sie den Bürgersteig entlang zum Krankenhaus gingen, fielen Kate etliche an den Fenstern postierte Soldaten auf, die sich als Umrisse vor dem Licht abzeichneten. Jacobs führte sie über eine Treppe in der Eingangshalle des Krankenhauses hinunter in eine riesige Tiefgarage. Trümmer blockierten die Zufahrtsrampe.
Neonleuchten erhellten den Raum. Auf der gegenüberliegenden Seite standen 20 Soldaten versammelt. Dort strahlten mehrere Scheinwerfer in etwas, das mittlerweile nur allzu vertraut geworden war. Pulsierende rote Ranken wucherten von einem Tunnel aus dunklem Erdreich über den Beton heraus. Kates Magen krampfte sich zusammen. Was nicht nur am Anblick des Netzwerks aus jenem Gespinst lag, sondern auch am überwältigenden Gestank von Tod, der damit einherging.
»Den Tunnel haben die Bestien benutzt, als sie uns fast aufgerieben hätten«, erklärte Jacobs. »Wir haben hier unten Generatoren, um das Licht und Ihre Ausrüstung mit Strom zu versorgen. Oben haben wir außerdem ein klinisches Labor in Beschlag genommen, das Sie bei Bedarf nutzen können.«
»Hervorragend. Danke«, sagte Kate. Sie war nicht daran gewöhnt, dass militärische Befehlshaber ihren wissenschaftlichen Bedarf so vorhersahen.
»Ich fahre zurück zum Stützpunkt. Wenn Sie noch irgendwas brauchen – mehr Männer, mehr Computer, mehr Generatoren –, dann geben Sie mir einfach Bescheid.«
»Vielen Dank, Commander«, sagte Kate.
Der Kommandant entfernte sich und ließ die Soldaten zurück, die das wissenschaftliche Equipment heruntergetragen hatten. Kate wies ihr Team unverzüglich an, alles in der Nähe des Tunnels aufzustellen. Die Vorbereitungen dauerten eine halbe Stunde.
»Die Software ist bereit«, meldete Sammy, die an ihrem Platz saß.
»Die Microarrays sind auch so weit«, kam von Leslie.
»Initiiert die Computerverbindungen«, ordnete Kate an.
Sammy nickte. Ihre Finger rasten über die Tastatur, während Leslie den Stecker anschloss.
»Aktive Verbindung hergestellt«, sagte Sammy. »Wir müssen dich nur noch einklinken.«
Der Teil widerstrebte Kate zutiefst. Sie hatten herausgefunden, dass die Kommunikation mit dem Netzwerk der Abartigen nur per Computer nicht ausreichte, um zwischen den feindlichen Streitkräften ausgetauschte Nachrichten zu sabotieren. Der Unterschied ähnelte dem zwischen einem rein automatisierten Kundendienstanruf und einem Gespräch mit einem echten, menschlichen Kundenbetreuer. Auch die Kreaturen zogen »biologische« Stimmen am anderen Ende des Gespinsts vor.
Anders ausgedrückt, sie merkten es, wenn Kates Team nur den Computer benutzte. Dadurch flogen sie auf.
»Das ist für dich.« Ron hielt ein Stück Gespinst in einer Hand und gab Kate mit der anderen ein Zeichen, sich zu setzen.
Sie kam der Aufforderung nach und bemühte sich, ruhig zu bleiben, während sie sich für die über das Netzwerk übertragenen Stimmen wappnete. Es waren Hunderte. Einige klangen von Grauen erfüllt, andere erteilten gebieterisch Befehle. Als Kate zuletzt mit dem Netzwerk verbunden gewesen war, hatte sie aus dem Chaos herausgefiltert, dass der gesuchte Meister der neuen Götter als »der Prophet« bezeichnet wurde.
Ron platzierte das Gespinst in ihrem Nacken, und sie spürte die vertraute, Übelkeit erregende Wärme der Ranke.
Kate biss die Zähne zusammen, als ein Kribbeln durch ihre Nerven ging. Schon bald würden die wirren Stimmen von Monstern im gesamten Land durch ihren Kopf treiben.
Und sie würde die Einzige sein, die ihre Reihen infiltrierte.
»Bereit«, verkündete sie. »Verbindet mich.«
Ringgold hörte Schüsse, Gebrüll und die Schreie ihrer Leute in der Nacht. Galveston geriet bei einer erneuten Belagerung durch Abartige ins Hintertreffen, und die Menschen starben.
Soldaten. Zivilisten. Frauen. Kinder.
Ringgold wollte kämpfen, doch sie hatte keine Waffe, nur ihre Hände.
Zwei Schüsse knallten im Flur vor ihrem Zimmer. Stimmen brüllten. Dann folgten ein Schmerzensschrei, das Knirschen von brechenden Knochen und die Geräusche von Zähnen, die Fleisch zerfetzten.
»Nein«, murmelte sie. »Gott, nein.«
Ringgold erstarrte.
Ein langes Kratzen ertönte an der Tür. Unter dem Spalt sickerte eine Blutlache herein und besudelte den Teppich.
Sie robbte rückwärts in die Ecke des Zimmers und presste sich kauernd hinein.
Der Abartige draußen drosch so wuchtig gegen die Tür, dass er sie um ein Haar aus den Angeln geschlagen hätte.
Sie presste sich die Hände auf die Ohren, um die Schreie der Menschen auszusperren, die in Stücke gerissen wurden. Das Hämmern an der Tür wurde zu einer wilden Kakofonie, durch die eine laute Stimme schnitt.
»Madam President, bitte öffnen Sie die Tür.«
Mit einem Ruck erwachte sie und stellte fest, dass sie schweißgebadet und schwer atmend im Bett lag.
Reiß dich gefälligst zusammen, Jan.
Nur ein Traum. Ein Albtraum.
Allerdings war die Realität bedauerlicherweise genauso schlimm wie ein Albtraum.
»Madam President«, wiederholte die Stimme an der Tür, gefolgt von einem weiteren Klopfen.
»Einen Moment«, erwiderte sie.
Ringgold spritzte sich in ihrem Hotelzimmer in Galveston Wasser ins Gesicht. Sie fühlte sich so ausgelaugt wie in letzter Zeit ständig. Die Flüchtlingsströme zu organisieren, die noch vorhandenen Außenposten zu stärken und die militärischen Aktionen strategisch zu planen glich dem Versuch, ein Puzzle in die Luft zu werfen und sämtliche Teile zusammenzusetzen, bevor sie auf dem Boden landeten.
Die Last all der verlorenen Leben, all der heimatlos gewordenen Menschen, all der vielleicht noch lebenden Gefangenen der Abartigen rollte wie eine verheerende Lawine über sie hinweg.
Sie trank ein Glas Wasser, bevor sie die Tür öffnete. Stabschef James Soprano stand davor.
»Madam President, tut mir leid, Sie zu stören, aber Ihr Gespräch mit dem Vizepräsidenten steht in wenigen Minuten an.« Er hielt ihr einen Kaffee hin. »Ich dachte mir, den könnten Sie vielleicht brauchen.«
Ringgold nahm den Becher entgegen und genoss das Aroma.
»James, Sie sind ein Lebensretter. Danke.«
»Gern«, erwiderte Soprano. Dann bedachte er sie mit einem besorgten Blick. »Geht es Ihnen gut?«
»Hab nur versucht, ein bisschen zu schlafen.« Ringgold trat aus ihrem Zimmer und wechselte schnell das Thema. »Irgendwas Neues vom Außenposten Houston?«
»Ja, wir haben gerade eine Mitteilung von Commander Jacobs erhalten. Das Wissenschaftsteam hat die Verbindung mit dem Netzwerk der Abartigen hergestellt und überwacht derzeit die gesamte Kommunikation.«
»Und Captain Beckham?«
»Berät sich mit dem Team der kanadischen Techniker und Commander Jacobs darüber, wie sich die Verteidigung im Außenposten Houston am besten verstärken lässt. Außerdem sind bereits die ersten SDS-Sensoren rund um die Mauern aufgestellt.«
»Sehr gut«, sagte Ringgold.
Sie durchquerten die Korridore des Hotels im ersten Stock, den Ringgold in ihre neueste Version des legendären Westflügels verwandelt hatte. Unterwegs versuchte sie zu zählen, wie oft sie die Hauptstadt der Nation bereits verlegt hatte. Jedenfalls öfter als jeder andere Präsident in der Geschichte der USA.
Ihre Mitarbeiter und sie hatten ständig versucht, den neuen Göttern einen Schritt voraus zu sein.
Diesmal nahm sie sich fest vor, dass ihre Regierung nirgendwohin flüchten würde. In Wirklichkeit hatten sie ohnehin kaum noch Rückzugsorte übrig.
Während Lemke in Puerto Rico eine neue, sicherere Kommandozentrale einrichtete, wollte sie so lange wie möglich bei ihren Leuten bleiben.
Soprano ging voraus ins Erdgeschoss zu dem Besprechungsraum, in dem sich Ringgold vor einigen Stunden mit Beckham und Kate getroffen hatte. General Souza und Lieutenant Festa warteten bereits auf ihr erstes persönliches Treffen seit ihrer Ankunft aus Puerto Rico.
General Cornelius saß ihnen in Unterlagen vertieft am Tisch gegenüber.
Alle standen auf, als Ringgold eintrat. Sie nickte den Anwesenden zur Begrüßung zu, bevor sie am Kopfende des Tisches Platz nahm. Soprano schob ein Konferenztelefon zwischen die vier Führungspersönlichkeiten und wählte über eine verschlüsselte Leitung eine Nummer.
»Hier Lemke«, drang eine von Knistern begleitete Stimme aus den Lautsprechern.
»Hier Jan«, sagte Ringgold. »Wie ist der Stand der Dinge?«
»Präsident Ringgold, wie schön, Ihre Stimme zu hören. Hier geht’s voran. Der Hafen war bei unserer Ankunft ein einziges Chaos, aber wir haben ausreichend aufgeräumt, um mit einigen Schiffen der Flotte anzulegen. Bei denen, die draußen bleiben müssen, transportieren wir mit Beibooten Vorräte hin und her.«
»Irgendwelche Berichte über Feindaktivitäten?«, fragte General Souza.
»Nur vereinzelte Abartige«, antwortete Lemke. »Keine dramatische Veränderung, seit Sie und Festa aufs Festland zurückgekehrt sind. Wir haben Vorkehrungen gegen die im Meer vorhandenen Arten getroffen, sind aber bisher auf nichts gestoßen, das nicht einfach zu bewältigen wäre.«
»Was wir in Puerto Rico gesehen haben, deckt sich mit unseren Informationen«, sagte Festa. »Anscheinend beschränken sich die Aktivitäten der neuen Götter vorerst ausschließlich auf die Alliierten Staaten.«
»Was ist mit menschlichen Überlebenden?«, fragte Ringgold.
»In San Juan waren keine«, erwiderte Souza.
»Aber es könnte weiter im Inneren der Insel noch Gruppen von Überlebenden geben, auf die wir bisher nicht gestoßen sind«, fügte Lemke hinzu. »Wir haben Kundschafter losgeschickt, die wahrscheinliche Verstecke überprüfen.«
»Ich verstehe.« Noch drängender lag Ringgold eine Frage auf dem Herzen, die sie bereits quälte, seit sie die Kommandoflotte verlassen hatte. »Haben Sie in die Besatzungen der Flotte eingeschleuste Überläufer entdeckt?«
»Nein, Madam President. Mit General Souzas Unterstützung haben wir die gesamte Flotte gesichert. Ich bin überzeugt davon, dass wir keine Maulwürfe der Überläufer dabeihaben.«
Ringgold hätte gern erleichtert aufgeatmet, allerdings wusste sie, dass sie lieber nicht zu optimistisch sein sollte. »Bleiben Sie wachsam. Wir dürfen nichts mehr als selbstverständlich ansehen.«
»Ich kann Ihnen versichern, dass ich die Suche nach Verrätern nicht auf die leichte Schulter genommen habe. Wie sieht es auf dem Festland aus?«
»Mit heutigem Stand haben wir nur noch 23 Außenposten, fast alle im amerikanischen Südosten.«
Funkstille trat ein.
»Dan, sind Sie noch da?«, fragte Ringgold nach.
»Ja … Ich … Mein Gott, nur 23?«
»Leider. Es gibt aber auch gute Neuigkeiten«, sagte Ringgold. »Kanada und Mexiko stellen ihre ersten 2000 Soldaten als Unterstützung für Einsätze bereit. Damit haben wir fast 9000 Männer und Frauen für den Kampf gegen das Übel zur Verfügung, das unser Land heimsucht.«
»Ich bin zuversichtlich, dass wir die Staaten zurückerobern«, warf Cornelius ein. »Wir müssen nur weiter zusammenarbeiten.«
»Sie haben recht. Aber ich fürchte, wir haben gleichzeitig eine Flüchtlingskrise zu bewältigen. Lieutenant Festa koordiniert unsere Evakuierungsmaßnahmen, also lasse ich ihn weitermachen.«
Festa holte tief Luft. Seine Brust hob sich deutlich. »Da immer mehr Außenposten fallen, stoßen wir demnächst an unsere Grenzen dabei, alle Flüchtlinge sicher in den noch bestehenden Stützpunkten unterbringen zu können. Alle von Pensacola bis Houston platzen vor eintreffenden Flüchtlingen aus allen Nähten. Und leider ist es nicht nur ein Platz-, sondern auch ein Ressourcenproblem.«
»Nachschublinien zu organisieren ist fast nicht mehr machbar«, sagte Souza. »Wir haben Schwierigkeiten, sie zu sichern und umzuleiten, wenn ein Außenposten ausfällt.«
»Und nicht nur das. Jedes Mal, wenn wir Menschen umzusiedeln versuchen, brauchen wir Treibstoff, Munition und Fahrzeuge, die an der Front nützlich wären«, fügte Festa hinzu. »Einfach ausgedrückt: Der Versuch, Menschen zu evakuieren und neue, sichere Orte für sie zu finden, entwickelt sich allmählich zu einem aussichtslosen Unterfangen.«
»Deshalb müssen Sie umso dringender dafür sorgen, dass Puerto Rico eine sichere Zuflucht wird«, gab Ringgold zurück. »Nicht nur für das Oberkommando, sondern für das Volk der Alliierten Staaten. Ich hoffe, dass wir demnächst anfangen können, Flüchtlinge dorthin zu schicken. Dann müssen wir die Menschen nicht mehr ständig von Außenposten zu Außenposten verlagern.«
»Ich kann ein paar Flugzeuge meiner Privatarmee für die Evakuierung abstellen, aber wir brauchen einen Platz zum Landen«, bot Cornelius an.
»Verstanden«, sagte Lemke. »Wie viele Menschen sollen denn umgesiedelt werden?«
»Wir haben mindestens 40.000, für die wir in nächster Zeit einen sicheren Ort brauchen. Aber wenn es uns nicht gelingt, die Staaten zurückzuerobern …« Festa sprach nicht weiter.
»Wir werden nicht versagen«, entgegnete Ringgold.
»Ma’am, ich sage es nur ungern, aber wir sind im Begriff, den Krieg zu verlieren. Wir müssen die Möglichkeit in Betracht ziehen, das Land aufzugeben«, wand Souza ein. »Unter Umständen müssen wir alle Menschen evakuieren.«
Stille breitete sich aus.
»Noch ziehen wir uns nicht zurück«, entschied Ringgold schließlich. »In uns steckt nach wie vor reichlich Kampfgeist.«
»Sehr richtig.« Cornelius stand auf. »Vergessen Sie nicht, wo Sie sind, General Souza. Texaner kennen keinen Rückzug.«
3
Master Sergeant Joe »Fitz« Fitzpatrick kauerte zwischen zwei Kiefern außerhalb der Stadt Banff in Kanada. Er fror, war müde und vermisste Rico mehr als je zuvor.
An diesem Tag hatte er schwer mit seinen Emotionen zu kämpfen, und seine klingenartigen Beinprothesen waren seiner Stimmung nicht zuträglich. Bei jedem Schritt rutschte er auf dem weißen Untergrund aus. Es fühlte sich an, als würde er mit den Prothesen Schnee schaufeln. Vor lauter Anstrengung beim Laufen hatte trotz der Kälte Schweiß die Shirts und Hosen unter der Außenbekleidung durchtränkt.
Sogar das älteste Mitglied ihres Teams, Corporal Bobby Ace, schien schneller als er voranzukommen.
Sergeant Yas Dohi befand sich vor beiden. Alle drei Männer trugen Nachtsichtbrillen und hielten die Gewehre unterwegs im Anschlag. Der zart rieselnde Schnee in der grünstichigen Ansicht durch die Nachtsichtoptik verlieh der kalten Nacht ein Flair von Beschaulichkeit. Eine Ruhe, die über den Grund der Mission von Team Ghost hinwegtäuschte. Sie folgten nämlich der Spur eines der tödlichsten Abartigen des Nordens. Man hatte in der Umgebung von Banff eine der riesigen Bestien gesichtet. Die Kanadier bezeichneten sie als Bären.
Späher hatten das Ungetüm entdeckt, die Spur jedoch in den Bergen südwestlich des Fairmont Hotels verloren, das als Kommandozentrale von Banff diente. Also hatte General Kamer die Männer von Team Ghost für das eingespannt, was sie am besten konnten: Monster aufspüren. Etwa zehn Meter südlich und parallel zu ihrer Position befand sich ein vierköpfiger Trupp kanadischer Sondereinsatzspezialisten mit dem Spitznamen Spearhead. Fitz war froh, die Leute dabeizuhaben. Sie dienten in erster Linie als Rückhalt und hielten sich für den Fall bereit, dass Team Ghost Unterstützung brauchte.
Fitz holte tief Luft. Seine Rippen schmerzten noch von den Verletzungen, die er in Seattle erlitten hatte, aber seine Muskeln hatten sich einigermaßen erholt. Ein wenig Ruhe und medizinische Versorgung hatten sowohl Ace als auch ihn wieder auf Vordermann gebracht.
Allerdings suchten ihn jedes Mal, wenn er die Augen schloss, Erinnerungen an den geisteskranken Arzt namens Lloyd heim, der sie misshandelt hatte. Gleichzeitig sorgte er sich unwillkürlich um Rico. Wie erging es ihr in Texas? Und wann würde Fitz sie wiedersehen können? Ohne sie an seiner Seite fühlte sich Team Ghost irgendwie unvollständig an.
Rasch schüttelte er den Gedanken ab.
Im Augenblick musste er sich konzentrieren.
Fitz klappte seine Nachtsichtbrille hoch, spähte in sein Zielfernrohr und schwenkte es über die dürren Bäume vor ihm. »Kontakt?«
»Negativ«, flüsterte Dohi.
Sergeant Lucas Neilson schüttelte den Kopf, als er seinen Trupp näher zu Team Ghost führte. »Das verfluchte Vieh ist verschwunden.«
Fitz gab Dohi das Zeichen zum Vorrücken. Sie folgten den unübersehbaren Abdrücken, die der riesige Bär im Schnee hinterlassen hatte.
Sosehr es ihm missfiel, in dem stickigen Hotel festzusitzen, so ungern ließ er ihren Gefangenen – den Chimären-Mann namens Corrin – in seiner provisorischen Gefängniszelle allein zurück. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, wäre es Fitz lieber gewesen, ihn ständig von jemand aus seinem Team bewachen zu lassen oder ihn selbst im Auge zu behalten.
Dohi hob die Faust. Prompt hielt Fitz inne und brachte erneut das Gewehr in Anschlag.
»Ich sehe eine weitere Reihe von Spuren«, sagte Dohi. »Es müssen zwei sein.«
»Bist du sicher?«, fragte Fitz nach. Der Gedanke an eine weitere riesige Bestie ließ ihn schlucken.
»Ja«, bestätigte Dohi. »Könnten sogar mehr als zwei sein. Aber der Schneefall ist nicht gerade hilfreich. Er verdeckt die Spuren, dadurch ist es schwer zu sagen.«
Fitz zögerte einige Sekunden lang. Damit hatte sich die Gefahr für ihre Teams soeben verdoppelt. Andererseits erhöhte es auch die Bedrohung für den Stützpunkt. Er übermittelte die neue Information dem Leiter von Team Spearhead, bevor er das Zeichen zum Weitergehen gab.
Dohi pirschte sich zwischen den Bäumen hindurch. Ein eisiger Wind fuhr heulend durch die Äste und schüttelte losen Schnee herab. Das Geräusch, das dabei entstand, klang wie aneinander klappernde Knochen.
Je tiefer sie in den Wald vordrangen, desto stärker bekam Fitz das Gefühl, von Raubtieraugen beobachtet zu werden. Die Spuren, denen sie folgten, waren nicht frisch. Sie führten den Berg hinunter in ein Tal und verliefen in nordwestlicher Richtung zum Bow River. Dohi schätzte, dass die Bestien bereits vor einigen Stunden vorbeigekommen waren und sie noch einen langen Weg vor sich hatten, bis sie die Monster einholen würden. Dennoch konnte Fitz ein kribbelndes Gefühl der Erwartung nicht abschütteln, das ihn durchströmte. Bei jeder Biegung rechnete er mit ohrenbetäubendem Gebrüll und dem Angriff eines der Monster oder beider.
Die Kanadier hatten Fitz erzählt, dass die Bären normalerweise direkt auf Banff zustürmten. Angelockt wurden sie vom Anblick und den Geräuschen menschlicher Aktivitäten. Sie gierten bei jeder sich bietenden Gelegenheit danach, sich satt zu fressen.
Dennoch hatte sich der ursprüngliche Bär, dem sie gerade folgten, von den Motorgeräuschen der Schneemobile und Trucks in der Nähe des Stützpunkts abgewandt. Noch seltsamer mutete an, dass auch die zweite Bestie in dieselbe Richtung zu steuern schien, weg von Banff.
Wenn Abartige von ihrem normalen Verhaltensmuster abwichen, war äußerste Vorsicht geboten, das hatte Fitz vor langer Zeit gelernt. In der Regel bedeutete es, dass etwas Übles abging, das meist mit Überläufern oder den neuen Göttern zu tun hatte. Team Ghost musste die Bären aufspüren, um herauszufinden, was vor sich ging.
Dohi kniete sich neben einen der Fußabdrücke der ungefähren Größe eines menschlichen Schädels.
Während der Navajo-Fährtensucher den rasch schwindenden Spuren folgte, suchten Fitz und Ace die Umgebung ab. Dohi beschleunigte die Schritte, bewegte sich zunehmend schneller zwischen den Bäumen hindurch, als sie eine Steigung erklommen. Mittlerweile hatte der leichte Schneefall die Spuren fast vollständig bedeckt.
Nachdem sie der kaum noch auszumachenden Fährte weitere 20 Minuten lang gefolgt waren, blieb Dohi schließlich stehen. Fitz beobachtete, wie er den Schnee absuchte, bevor er sich aufrichtete und niedergeschlagen seufzte.
»Wir haben die Abdrücke verloren«, gestand Dohi.
»Ich sage, wir gehen weiter«, brummte Ace. »Muss doch auch ’ne andere Möglichkeit geben, sie zu finden.«
Die kanadischen Elitesoldaten stapften durch den Schnee zu Team Ghost.
Neilson blieb neben Fitz stehen, der Rest seiner Truppe hinter ihm. »Wir sollten die Sache abblasen und umkehren. So gleicht es dem Versuch, ’nen Schneeball in einer Lawine zu finden.«
»Nein«, widersprach Dohi, während er den Blick über die Bäume wandern ließ. »Fußabdrücke sind zwar der einfachste Weg, den Bestien zu folgen, aber nicht der einzige. Ich kann die Fährte wiederfinden.«
Neilson sah Fitz an, als wäre er nicht überzeugt.
»Wenn er sagt, er kann sie finden, dann kann er es auch«, beteuerte Fitz. »Aber wenn ihr umkehren wollt, nur zu. Wir gehen nicht zurück, bevor wir diese Bären aufgespürt haben. Mir ist lieber, wir finden sie, als umgekehrt.«
Neilson zuckte mit den Schultern, und einen Moment lang dachte Fitz, die Kanadier würden den Rückweg nach Banff antreten.
»Tja, wir werden nicht einfach Amerikaner in der kanadischen Wildnis zurücklassen«, erklärte Neilson. »Wenn ihr bleibt, dann bleiben wir auch.«
Ein großer, kantiger Kanadier namens Corporal Sherman trat vor. Ein dichter schwarzer Bart lugte aus seinem Anorak und wippte beim Sprechen.
»Wenn Ihr Mann die Monster tatsächlich aufspürt, gehen bei der Rückkehr so viele Drinks auf mich, wie ihr alle wollt«, bot Sherman an.
»Deal«, kam prompt von Ace. »Du hast den Mann gehört, Dohi. Wirk deine Zauberei.«
»Das ist keine Zauberei«, gab Dohi zurück. »Und wenn ihr alle mitkommt, müsst ihr leiser sein als Tote.«
»Das krieg ich hin«, sagte ein hagerer Corporal mit strahlend grünen Augen namens Daugherty.
Das dritte Mitglied von Team Spearhead, eine Frau mit rabenschwarzem Haar – Private Lauren Toussaint – nickte nur.
Die Kanadier reihten sich hinter den Amerikanern ein. Fitz bedeutete Ace und Sherman, die Nachhut zu bilden. Neilson, Daugherty und Toussaint deckten ihre Flanken, während Dohi die Gruppe durch den Schnee führte.
Dabei bewegte er sich mit kompetenter Selbstsicherheit und schien zielstrebig unsichtbaren Hinweisen zu folgen. Fitz beobachtete, wie der Mann mit einem behandschuhten Finger über einen Baum strich und innehielt, als schnupperte er wie ein jagender Wolf.
In Wirklichkeit besaß Dohi keine übermenschliche Begabung, wie Fitz wusste. Der Navajo hatte lediglich eine Reihe von Fähigkeiten perfektioniert, die andere vernachlässigten. Der Fährtensucher hielt erneut an, hob mit zwei Fingern ein Stück weißes Fell auf und änderte dann die Richtung.
Immer öfter blieb Dohi stehen und betrachtete aufmerksam die Umgebung. Je langsamer sie wurden, desto mehr befürchtete Fitz, sie könnten die Spur endgültig verloren haben. Vielleicht war seine so zuversichtliche Beteuerung gegenüber Neilson vorschnell gewesen. Vielleicht hatte ihr Fährtensucher letztlich in Mutter Natur seinen Meister gefunden.
Dann hob Dohi die Faust.
Alle Mitglieder des Teams erstarrten.
Dohi schaute zu Fitz zurück, übermittelte ihm mit den Augen eine Botschaft und ließ zwei Finger aufblitzen.
Zweifacher Feindkontakt.
Fitz gab Dohi das Zeichen, sie weiter den unsichtbaren Pfad entlangzuführen, den er entdeckt hatte.
Sie marschierten nur wenige Hundert Meter bis zum Waldrand. Dort wichen die schneebedeckten Bäume einem steilen Abhang zu einem gefrorenen Bach. Aus dem Eis ragten scharfkantige Felsen. Und dazwischen sichtete Fitz endlich ihre Beute.
Wie von Dohi prophezeit, liefen zwei massige Abartige mit zottigem weißen Fell auf allen vieren über das gefrorene Wasser. Ihren gemächlichen Bewegungen nach zu urteilen hatten sie keine Ahnung, dass sie gejagt wurden.
Fitz legte das Gewehr an und folgte ihnen mit der Mündung. Allerdings befand er sich noch zu weit entfernt für einen sauberen Todesschuss. Auch die Bäume unten behinderten seine Sicht auf die Beute.
Bevor Fitz den Befehl zum Vorrücken erteilen konnte, legte Dohi ihm die Hand auf die Schulter. Der Fährtensucher zeigte auf eine weitere Lichtung zwischen den Bäumen.
Fitz sackte der Magen zu den Knien. Angst breitete sich schleichend in ihm aus. Sie hatten damit gerechnet, auf die beiden von ihnen verfolgten Bären zu treffen.
Allerdings verblassten die riesigen Bestien im Vergleich zu dem Anblick vor ihnen.
Neilson schnappte hörbar nach Luft.
Fitz spähte durch sein Zielfernrohr und zählte die Bären auf der Lichtung.
Sechs insgesamt. Sechs Scheußlichkeiten der Größe des sagenumwobenen Yeti mit der Kraft eines Panzers. Die Bestien knurrten sich gegenseitig an. Lange Reißzähne ragten aus menschenähnlichen Gesichtern. Dreck bildete Klumpen in ihrem dichten weißen Fell. Bei allen prangte an der Brust getrocknetes Blut von Opfern, die sie in der Vergangenheit erlegt hatten.
Schon ein einzelner Bär verkörperte eine Bedrohung für ein gesamtes Team. So viele, vor allem als zusammenarbeitendes Rudel, waren höllisch gefährlich. Bei dem Gedanken lief Fitz ein Schauder über den Rücken, kälter als der gefrierende Schnee.
Als er zuletzt erlebt hatte, wie Abartige organisiert zusammenarbeiteten, hatten noch viel gefährlichere und bösartigere Kräfte dahintergesteckt.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Ace. Er klang verunsichert.
Dohi richtete den Blick mit der Nachtsichtbrille direkt auf Fitz und wartete auf Anweisungen.
»Wir bleiben auf Abstand und außer Sicht«, flüsterte Fitz. »Wir müssen rausfinden, was sie vorhaben.«
»Die Bären sind nicht schlau genug für einen koordinierten Angriff oder so«, sagte Neilson. »Im Wesentlichen sind sie bloß hirnlose Bestien.«
»Sehen für mich nicht wie hirnlose Bestien aus«, warf Ace ein.
Dohi stieß die Luft aus, die kleine Wölkchen vor seinem Mund bildete. »Mir bereiten weniger die Bären selbst Kopfzerbrechen. Eher die Frage, wer oder was sie alle hierhergeführt hat.«
»Hast wohl gedacht, du könntest mich loswerden, was, Temper?«, sagte Sergeant Candace Ruckley.
»Nein, nach allem, durch das ich Sie begleitet habe, war damit nicht zu rechnen«, gab Timothy schlagfertig zurück. »Und ehrlich gesagt bin ich sogar dankbar, dass Sie mich in Ihr Team lassen. Ich weiß, dass ich mich im Einsatz nicht unbedingt an Ihre Anweisungen gehalten habe.«
»Stimmt. Dafür hast du gelernt, dich zu behaupten und mich am Leben zu erhalten.« Sie gab ihm einen verspielten Klaps auf den Arm. »Bin froh, dass du hier bist.«
»Danke.«
Er saß auf dem Rücksitz eines fahrenden Humvee, überprüfte sein M4A1 Sturmgewehr und zog am Tragriemen, um sich zu vergewissern, dass alles richtig saß. An diesem Abend bestritt er seinen ersten offiziellen Einsatz als Soldat in der Armee der Alliierten Staaten. Die Ausbildung in Galveston hatte nur wenige Tage gedauert, aber Beckham und Horn hatten einstimmig gemeint, Timothys draußen gesammelte Erfahrungen wären eine noch bessere Vorbereitung gewesen.
Sie haben zu wenige Soldaten, dachte er.
Fast alle waren tot oder zumindest verletzt wie Ruckley.
Sie rieb sich den heilenden Arm. Die Jacke ihrer Kampfuniform bedeckte die Verbände um die Nähte an ihrem Bizeps.
»Wie geht’s dem Arm?«, erkundigte sich Timothy.
»Gut«, antwortete sie. »Die Infektion ist weg.«
Timothy fragte sich, ob sie überhaupt schon wieder im Einsatz sein sollte. Wären die Ärzte des Außenpostens nicht so überlastet mit Patienten in noch schlechterer Verfassung, hätten sie ihr vermutlich Schonung verordnet. Aber Timothy hatte festgestellt, dass Ruckley genau wie er niemand war, der es an den Seitenlinien aushielt. Sie hatte sich geschickt aus dem Lazarett geredet, und wenngleich sie noch kein M4 tragen konnte, hatte sie eine M9 in der Hand.
»Wir nähern uns dem Ziel, Sarge«, sagte Corporal Boyd. Der Mann mittleren Alters mit markanten Gesichtszügen fuhr den Humvee mit auf die Straße konzentriertem Blick. Er hatte bei den Verteidigungskräften des Außenpostens Chattanooga gedient, bevor die Stadt in Tennessee von den Streitkräften der Abartigen überrannt worden war.
»Geladen, entsichert und einsatzbereit«, sagte Corporal Mark Wong. Der Amerikaner mit asiatischen Wurzeln stammte aus Houston und hatte sich wegen seiner Ortskenntnisse freiwillig für die Aufklärungsmission gemeldet.
»Gut«, sagte Ruckley. »Sollte reine Routine sein. Wir gehen leise zur Aufklärung rein.«
»Wonach suchen wir?«, fragte Boyd. »Alligatoren? Leer stehende Häuser?«
»Eher Letzteres. Ersteres bleibt uns hoffentlich erspart«, gab Ruckley zurück. »Die von Captain Beckham und den Technikern aufgestellte SDS-Ausrüstung hat zwar noch keine buddelnden Abartigen entdeckt, aber die Northside-Einheiten haben vereinzelte Aktivitäten der Abartigen knapp außerhalb der I-610-Schleife gemeldet.«
»Ein bisschen zu nah am Außenposten für meinen Geschmack«, meinte Wong.
»Dann kriegen wir hoffentlich doch nur Alligatoren zu sehen«, sagte Ruckley. »Vielleicht bekommen wir ja leckere Alligatorfrikadellen hin, falls jemand ein gutes Rezept kennt.«
Timothy sah Wong an.
Wong lachte. »Was denn, Temper, glaubst du, nur weil ich aus dem Süden komme, esse ich Alligator? Was ist mit dir, Boyd?«
»Hab ich bloß ein einziges Mal probiert, als ich in New Orleans war«, erwiderte Boyd und schaltete einen Gang runter, als sie vom verwaisten Highway in ein Wohngebiet abbogen. »Hat irgendwie nach Hühnchen geschmeckt.«
»Wirklich?«, fragte Timothy.
»Na ja, wie ziemlich fettes Hühnchen. Hat mich jetzt nicht vom Hocker gerissen, war aber auch nicht übel.«
Boyd lenkte den Humvee eine von dunklen Häusern gesäumte Vorstadtstraße entlang, weiter auf ihr Ziel zu. In sämtlichen Gärten wucherten Wildblumen und hohes Gras.
»Fast da«, kündigte er an.