Hell Divers - Buch 5 - Nicholas Sansbury Smith - E-Book

Hell Divers - Buch 5 E-Book

Nicholas Sansbury Smith

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Beschreibung

Die NEW YORK TIMES-Bestseller-Serie Sie springen hinab in die Hölle, damit die Menschheit überlebt ... Zwei Jahrhunderte nach dem Dritten Weltkrieg ist unser Planet nahezu komplett radioaktiv verseucht. Die letzte Bastion der Menschheit sind zwei mächtige Luftschiffe, die den Globus umkreisen – immer auf der Suche nach einem bewohnbaren Gebiet. Doch mit zunehmendem Alter zerfallen die Schiffe. Das Einzige, was sie noch am Himmel hält, sind die Hell Divers: Männer und Frauen, die ihr Leben riskieren, indem sie auf die Erdoberfläche springen, um nach Ersatzteilen zu suchen.  Buch 5: Nach einer langen, gefährlichen Reise finden die Hell Divers die Metallinseln, eine bewohnbare Zone, in der Tausende Menschen von Fischerei und Landwirtschaft leben. Es scheint, als hätten die Überlebenden des Dritten Weltkrieges endlich ein neues Zuhause gefunden. Aber dieses »Paradies« ist nur vorgetäuscht. Und das Überleben wird viel Blut kosten ... Orson Scott Card: »Die Action-Szenen sind sehr gut. Smith schafft es, sie aufregend und lebendig zu schildern.« Bob Mayer: »Unaufhörliche Action und Gefahren in einer rauen postapokalyptischen Welt, in der das Überleben von ein paar tapferen Männern und Frauen abhängt. HELL DIVERS ist ein verdammter Pageturner!« A. G. Riddle: »Eine packende und ungewöhnliche Schilderung vom Untergang der Welt ... Fans von postapokalyptischen Thrillern werden begeistert sein.« Matthew Mather: »Das Ende der Welt sollte eigentlich nicht so viel Spaß machen!« Space and Sorcery: »Solch ein Buch kann Sie bis in die frühen Morgenstunden wach halten.« E. E. Giorgi: »Hugh Howey trifft auf Michael Crichton in Nicholas Smiths neuem postapokalyptischen Thriller.« Sam Sisavath: »Eine Mischung aus WATERWORLD und SNOWPIERCER ... aber mit Monstern und Luftschiffen. Ein Muss für Fans von cleveren postapokalyptischen Storys.«

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Seitenzahl: 529

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Hell Divers#5 –Captives

erschien 2019 im Verlag Blackstone Publishing.

Copyright © 2019 by Nicholas Sansbury Smith

Copyright © dieser Ausgabe 2021 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-893-3

www.Festa-Verlag.de

Für Robert Bray.

Danke dafür, dass du an der Hell Divers-Reihe mitwirkst

und X deine legendäre Stimme leihst.

Ohne dich wäre die Reihe nicht, was sie ist.

»Akzeptiere deine Vergangenheit ohne Bedauern, geh zuversichtlich mit deiner Gegenwart um, stell dich deiner Zukunft ohne Angst.«

– UNBEKANNT

PROLOG

Vor drei Monaten

Rodger Mintel erwachte mit den schlimmsten Schmerzen seines Lebens. Sein gesamter Körper brannte, als würde er Zentimeter für Zentimeter von einem Schwarm mutierter Ameisen gefressen.

Er wollte schreien, hörte die eigene Stimme jedoch nicht, nur ein gedämpftes Klingeln. Auch seine Augen schienen nicht zu funktionieren.

Vielleicht war er doch nicht wach. Er konnte weder die Beine noch die Arme oder Hände bewegen. Zu funktionieren schienen nur seine Nerven – und jede Faser seines Körpers brüllte aus voller Kehle.

Es fühlte sich an, als ertrüge er die Folter bereits seit Stunden, aber es konnten in Wirklichkeit auch nur Minuten oder sogar Sekunden gewesen sein.

Irgendwie schafften es einige bruchstückhafte Gedanken durch das Inferno, das seinen Körper beherrschte. Dazu gehörte die Erinnerung an ein rostiges, unter einem dunklen Himmel an einem Pier vertäutes Schiff. Gezackte Blitze zuckten durch die roten Ranken, die verästelt und verschlungen entlang des Ufers wucherten.

Die Schmerzen setzten wieder ein, die Bilder lösten sich in grellweißen Explosionen auf.

Abermals versuchte er, die Lider zu öffnen, aber sie reagierten nicht. Er konnte nicht mal mit den Zähnen knirschen.

Eine weitere Erinnerung tauchte vor seinem geistigen Auge auf. Er sah das Schiffsdeck, auf dem er gefesselt lag. Jemand befand sich regungslos auf dem Boden neben ihm.

Eine Frau …

Mags!

Die Erkenntnis überlagerte kurzzeitig die Qualen seines geschundenen Körpers. Abgesehen davon, dass er neben ihr am Deck festgezurrt gewesen war, wusste er kaum noch etwas. Sehr wohl jedoch erinnerte er sich daran, dass er in der Stadt von Männern in schwerer Panzerung aus dem Hinterhalt angegriffen worden war.

Rodger versuchte, sein Gedächtnis in Gang zu bringen, doch sosehr er sich bemühte, sein Gehirn arbeitete nicht richtig, konnte sich nicht konzentrieren. Es fühlte sich an, als wäre er zugleich hundemüde und sturzbetrunken.

Eine neue Welle höllischer Qualen fegte über ihn hinweg, und diesmal konnte er die Folter nicht ertragen. Sein Verstand gab auf und schaltete sich ab wie eine ausgeknipste Glühbirne.

Als er wieder zu sich kam, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war, aber er erinnerte sich deutlich an die Schmerzen. Sie hatten aufgehört. Stattdessen nahm er nur noch Taubheit wahr.

»Bin ich tot?«, sprach er laut aus.

Er konnte die Worte hören, also lautete die Antwort vermutlich Nein.

Nachdem er zusammengekratzt hatte, was er an spärlicher Kraft besaß, gelang es ihm, die Lider einen Spalt zu öffnen. Ein gleißender Lichtpunkt ließ ihn die Augen zu schmalen Schlitzen verengen und erinnerte ihn an die LEDs, die Hell Divers einst von der Erdoberfläche geborgen und seinem Vater für die Verwendung in seiner Holz- und Uhrenwerkstatt gegeben hatten.

Hell Divers … Pa …

Ein Schwarm von Erinnerungen flatterte durch sein Hirn. Gedanken an seine Familie und an die Arbeit an Uhren und Schätzen aus Holz bescherten ihm einen flüchtigen Moment der Freude. Genau wie die bunten Bilder in den Gängen der Hive, dem einzigen Zuhause, das er je gekannt hatte.

Er schloss die Augen wieder, ließ die Erinnerungen herbeiströmen. Nicht alle stammten vom Leben am Himmel. Das nächste Bild, das er sah, ließ ihn an Bord jenes rostigen Schiffes zurückkehren, auf dem man ihn mit Magnolia festgehalten hatte. Vor seinem geistigen Auge sah er Xavier Rodriguez, der seinen Hund Miles trug. Er kletterte über die Reling des Schiffes, stellte den Hund ab und schnitt sowohl Rodger als auch Magnolia los.

Ein Gefühl der Erleichterung spülte über Rodger hinweg, zerbarst jedoch in dem heftigen Schusswechsel, der gleich darauf in der Erinnerungsabfolge einsetzte. Cazadores umzingelten die drei Hell Divers, doch X hielt die Stellung und schlachtete die Barbaren einen nach dem anderen ab.

Rodger wusste noch, dass er nach einer Waffe gesucht hatte, um Magnolia zu schützen und X im Kampf zu helfen. Dann erinnerte er sich an den massigen Schatten. Ein Ungetüm von einem Mann ragte über ihm auf. Mit den dicken, knochigen Erhebungen von Sirenenschädeln auf den gepanzerten Schultern.

El Pulpo, König der Cazadores.

Rodger erinnerte sich daran, wie etwas Heißes durch seinen Rücken fetzte und ihm den Atem verschlug, sowohl damals als auch jetzt. Dann ertönte ein schauerlicher Schrei, der ihm das Herz brach und den Drang auslöste, mit einem eigenen Schrei darauf zu antworten.

Das geistige Bild von Magnolia, die erstarrt auf dem Deck lag und furchtsam die Hände hochstreckte, holte Rodger letztlich mit einem Ruck zurück in die Gegenwart. Jäh schlug er die Lider auf und wurde von grellem Licht geblendet.

Er war doch noch am Leben.

Langsam passten sich seine Augen an die Helligkeit an und nahmen einen schmalen, verschwommenen Ausschnitt des Raums wahr, in dem er sich befand. Es handelte sich um eine Krankenstation mit Geräten und Regalen voll Bedarfsmaterial an den Schotten.

Auf der gegenüberliegenden Seite standen zwei Gestalten an einer Luke, doch er sah sie nur undeutlich und konnte ihre Züge nicht erkennen.

War er zurück an Bord der Hive? War es Magnolia und X gelungen, ihn von dem Schiff zu retten?

Mühsam versuchte er, sich zu bewegen, aber sein Körper reagierte immer noch nicht. Jeder Quadratzentimeter seiner Haut fühlte sich taub an wie ein eingeschlafener Fuß.

»M-Mags?«, stammelte er. »Ma? Pa?«

Wenn er sich an Bord der Hive befand, würden bestimmt seine Eltern in der Nähe sein.

Er blinzelte mehrmals, bis sich die zwei Gestalten schärfer abzeichneten.

»Nein«, flüsterte er. »Das kann nicht sein.«

Er befand sich nicht an Bord der Hive. Milizsoldaten trugen keine Körperpanzerung.

Durch die Taubheit drang nach und nach ein Gefühl – ein kalter Klumpen Angst, der sich in seinen Eingeweiden einnistete. Außerdem nahm er eine schaukelnde Bewegung unter sich wahr.

Begreifen setzte ein. Er war nicht zurück am Himmel. Sondern auf dem Wasser.

Endlich verschwand das Gewicht, das seine Lider nach unten zog, und er blickte auf seinen halb nackten Körper hinab. Lederriemen fesselten seine Arme und Beine. Ein weiterer Riemen spannte sich über seinen Hals, hielt seinen Kopf zurück und schränkte dadurch sein Sichtfeld ein. Eine Flüssigkeit sickerte durch transparente Leitungen in die Venen seiner Arme.

Fühlte er sich deshalb so betäubt?

Die zwei gepanzerten Wächter an der Tür sprachen miteinander. Metall kreischte, als einer der beiden die Luke öffnete. Der größere Mann verließ den Raum. Der andere trat vor und sprach auf Spanisch zu Rodger. Ein Atemgerät dämpfte dabei seine Stimme.

Rodger kämpfte gegen den Riemen an seinem Hals an und hob den Kopf gerade weit genug, um einen flüchtigen Blick auf den grob genähten Schnitt in seinem unteren Brustbereich zu erhaschen.

Einen Moment lang starrte er auf die hässliche Wunde. Ein grauenhafter Gedanke schoss ihm durch den Kopf: Vielleicht hatte man ihm einen Teil entnommen und gegessen. Aber dann hätte man sich wohl kaum die Mühe gemacht, ihn an Schläuche anzuschließen.

Irgendjemand wollte ihn retten, zumindest vorerst. Die Wunde wirkte frisch, was bedeutete, dass seit seiner Gefangennahme nur wenige Tage vergangen sein konnten.

Als er sich auf dem Tisch hin und her wand, setzte das Brennen wieder ein.

Wie immer. Er fühlte sich tief in einem Universum greller, sengender Schmerzen gefangen.

Sein Kopf fiel auf den Tisch zurück und er blinzelte unablässig, als weitere Erinnerungen über ihn hereinbrachen. Der Kampf auf dem Deck des Schiffes zwischen X und den Cazadores-Soldaten. Miles, der gekläfft hatte, Magnolia, die geschrien hatte.

Und dann El Pulpo, der Rodger von hinten gepackt hatte.

Rodger hatte nie gesehen, was ihn durch den Rücken gepfählt hatte, aber es hatte ihn durchstoßen und war durch seine Brust wieder ausgetreten. Was bedeutete, dass der rote Schnitt unter seinem Brustbein nicht die einzige Wunde sein konnte.

Er wandte den Blick davon ab und versuchte, sich daran zu erinnern, was zwischen damals und jetzt geschehen war. Aber so angestrengt er es versuchte, es fiel ihm nicht ein. Er wusste weder, wo sich Magnolia und X oder die anderen Springer befanden, noch was aus der Hive geworden war.

»Bitte«, presste Rodger erstickt hervor. »Bitte lass mich gehen.«

Der Wächter kehrte zur Luke zurück und öffnete sie für den anderen Soldaten. Diesmal hatte er Gesellschaft.

Zwei andere Männer traten ein. Einer erwies sich als klein und kahl. Er besaß einen hellen Teint, trug eine braune Robe und hatte einen üppigen Bart. Der Mann hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Der andere hatte olivfarbene Haut und eine Brille. Über das wilde silbrige Haar hatte er eine Stirnlampe hochgeschoben, um seinen Hals hing lose eine weiße Maske.

Keiner der beiden sah wie ein Soldat aus. Hätte Rodger raten müssen, er hätte den Kerl mit der Maske als irgendeinen Arzt eingestuft.

Anscheinend kamen die Männer nicht allein.

Aus dem Gang drang das Poltern schwerer Stiefel herein. Im trüben Licht draußen erhaschte Rodger einen undeutlichen Blick auf eine massige Gestalt, die sich der offenen Luke näherte. Aber er musste den Neuankömmling nicht deutlich sehen, um zu wissen, dass es sich um den König der Cazadores höchstpersönlich handelte.

El Pulpo bewegte sich herein. Die Sirenenschädel auf seinen Schultern schrammten dabei über den Rahmen der Luke. Unbekümmert schritt er direkt neben Rodgers Bett und betrachtete mit dem verbliebenen Auge die unverheilte Wunde.

Dann drehte er sich dem Mann mit der Maske zu und erteilte ihm auf Spanisch Anweisungen.

Der Mann schaltete seine Stirnlampe ein, zog Chirurgenhandschuhe an und beugte sich über Rodger.

So verharrte er mehrere Sekunden lang und neigte leicht den Kopf, um den Lichtstrahl auf die Wunde zu richten. Rodger hatte sich noch nie zuvor im Leben so geschändet gefühlt.

»Bitte«, flüsterte er. »Bitte nicht …«

El Pulpo schnupperte, dann wischte er sich über die knollige Nase. Der Mann in der braunen Robe ging auf die andere Seite des Bettes, die Hände nach wie vor hinter dem Rücken verschränkt.

»Hab keine Angst, mein Freund«, ergriff er mit leiser, beruhigender Stimme das Wort. »Wir haben dich von den Toten zurückgeholt.«

»Wer bist du?«, fragte Rodger krächzend und blinzelte die Sternchen weg. Das graubärtige Gesicht wies die runzlige Stirn und die freundlichen Augen eines weisen alten Mannes auf. Jedenfalls sah dieser Bursche nicht wie einer der grobschlächtigen Cazadores-Soldaten aus.

»Ich bin Imulah«, antwortete er mit einem herzlichen Lächeln, das allerdings ein wenig gezwungen wirkte. »Ich diene El Pulpo als Schriftgelehrter.«

Rodger hielt sich für gut darin, Menschen zu deuten, und irgendetwas an diesem »Schriftgelehrten« kam ihm falsch vor.

»Warum erzählst du mir nicht etwas über dich, da du jetzt wach bist?«, schlug Imulah vor. »El Pulpo wartet seit Tagen auf die Gelegenheit, mit dir zu reden.«

Rodgers Blick schnellte von dem Schriftgelehrten zum Kriegerkönig der Cazadores. Er trug keine Klappe über der entzündeten Höhle des Auges, das X zerstört hatte.

»Hab keine Angst«, wiederholte Imulah. Er bewegte die Hände hinter dem Rücken hervor und trat näher ans Bett. »Dr. Javan kümmert sich sehr gut um dich.«

Der Mann mit der Stirnlampe nickte Rodger zu, begegnete jedoch immer noch nicht seinem Blick. Sowohl der Arzt als auch der Schriftgelehrte wirkten eindeutig angespannt, und Rodger vermutete, dass es an der Gegenwart ihres Königs lag.

Unwillkürlich fragte er sich, ob diese Leute El Pulpo aus freien Stücken folgten oder ob sie Sklaven waren. Und er überlegte, was ihr barbarischer Anführer mit ihm vorhaben mochte.

Javan sprach auf Spanisch mit Imulah, der übersetzte.

»Hast du Schmerzen?«, erkundigte sich der Schriftgelehrte.

Ich hab ein verfluchtes Loch in mir, durch das man den Stiel einer Harke stecken könnte, also ja, ich hab verdammt noch mal Schmerzen, hätte Rodger gern erwidert, doch er hielt lieber den Mund. Seine Eltern hatten ihm stets eingebläut: »Je weniger du sagst, desto weniger musst du kitten.« Vor allem in Situationen wie dieser.

»Wir wollten nicht, dass du leidest, und wenn du willst, geben wir dir mehr Medizin, die deine Schmerzen lindert.« Als Rodger immer noch nichts erwiderte, entfuhr Imulah ein kurzes Seufzen.

Auch El Pulpo schien nicht allzu erfreut zu sein. Er wischte sich den Schweiß von der Tätowierung eines Kraken auf seiner Stirn und grunzte zwischen angespitzten Zähnen hindurch.

»Fangen wir mit etwas Einfachem an«, meinte Imulah. »Wie ist dein Name?«

Nach kurzem Zögern entschied Rodger, dass es nicht schaden könnte, zumindest so viel zu verraten. »Ich bin Rodgeman.«

»Und du kommst wie deine Freunde vom Himmel? Wir haben euer Luftfahrzeug gesehen, also lüg bitte nicht. Lügen ist sehr schlecht und führt nur zu noch mehr Schmerz. Das willst du doch nicht, oder?« Imulah zog eine Augenbraue hoch.

Rodger bremste sich, bevor er etwas über seine Freunde am Himmel ausplaudern konnte. Darüber wollte er nicht mal diesem vergleichsweise netten Kerl etwas preisgeben.

»Nun?«, hakte Imulah nach.

»Ich bin Rodgeman«, wiederholte Rodger.

Das freundliche Lächeln in Imulahs Gesicht verkam zu einem stirnrunzelnden Ausdruck. »Muss ich dich daran erinnern, dass wir dir das Leben gerettet haben und dass wir …?«

Rodger fiel dem Mann ins Wort. »Ja, nachdem mir der da in den Rücken gestochen hat.« Ein unverhoffter Anflug von Schmerzen ließ ihn mit den Zähnen knirschen.

Imulah versteifte den Körper, korrigierte seine schlaffe Haltung.

Schweiß lief Rodger übers Gesicht, und er schloss die Augen, um gegen die sich ausbreitenden Schmerzen anzukämpfen. Was immer man ihm in die Venen pumpte, die Wirkung ließ allmählich nach.

Javan spürte Rodgers Unbehagen und entfernte sich vom Bett, um die Flüssigkeiten und medizinischen Geräte zu überprüfen. Nachdem er die Anzeigen einige Sekunden lang überwacht hatte, meldete er seine Erkenntnisse El Pulpo, und Imulah übersetzte anschließend für Rodger.

»Javan sagt, du wirst gesund, und es gibt keine Anzeichen für eine Infektion. Du kannst ihm dafür danken, dass er dir das Leben gerettet hat.«

Rodger schaute zum Doktor, der zu einem Spülbecken getreten war, wo er sich mit irgendeinem Schaum die Hände wusch. Javan spähte über die Schulter zurück und nickte in Rodgers Richtung. Allerdings wirkte es nicht wie eine freundliche Geste, eher wie das emotionslose Nicken eines Roboters, was Rodger verriet, dass dieser Mann lediglich Befehle befolgte.

»Warum habt ihr mich gerettet?«, wollte Rodger wissen, als er den Blick wieder auf Imulah und schließlich El Pulpo richtete. »Damit ihr mich essen könnt?« Ein weiteres Aufflammen von Schmerzen ließ Rodger zusammenzucken. »Das tut ihr doch, oder?«

Javan kam zurück und überprüfte die Flüssigkeitsleitung, die in Rodgers linken Arm verlief. Er sagte etwas zu El Pulpo, der darüber nachzudenken schien und dann nickte.

Der Arzt ging zur Wand mit Schränken und zog eine Schublade auf.

»Wieso?«, hakte Rodger nach, obwohl er nicht sicher war, ob er die Antwort hören wollte. Die Fragen machten ihn nervös. Sein Blutdruck stieg und brachte eines der Geräte zum Piepen.

Javan bedachte Imulah mit einem besorgten Blick, und der Schriftgelehrte trat näher ans Bett.

»Beruhig dich, mein Freund«, sagte Imulah. »Deine Fragen werden schon bald beantwortet.«

Javan holte eine Spritze hervor und drückte den Kolben, bis ein wenig klare Flüssigkeit durch die Nadel austrat.

»Was … Was ist das?«, wollte Rodger wissen und versuchte, sich zu bewegen.

Sein Herz hämmerte heftiger, das Gerät piepte schneller.

Javan erteilte den beiden Cazadores-Soldaten auf Spanisch eine Anweisung. Sie rückten an und hielten Rodger fest, der sich unter den Riemen hin und her wand.

»Lasst mich los!«, grollte er. »Lasst mich los!«

Er beobachtete, wie Javan die Nadel in ein Ventil eines der Schläuche einführte. Sofort durchströmte Rodger ein warmes Gefühl der Erleichterung.

»Schlaf, mein Freund«, sagte Imulah.

Schläfrig kämpfte Rodger gegen die Euphorie an.

»Schon bald wirst du dein neues Zuhause sehen«, fügte Imulah hinzu, als die Dunkelheit Rodger übermannte.

Neues Zuhause?

Er dachte an das einzige Zuhause, das er je gekannt hatte, und an seine Eltern, Magnolia und seine anderen Freunde.

Ein letztes Bild tauchte noch auf, bevor sich sein Verstand verabschiedete.

Die Rückblende zum Schiff erwies sich als die bisher lebhafteste Erinnerung. Sowohl Magnolia als auch X waren an seiner Seite gewesen. Beide hatten mit ihm geredet und ihn gehalten, nachdem ihn El Pulpo durch den Rücken aufgespießt und anschließend auf das nasse Deck fallen gelassen hatte.

Danach jedoch hatten sie ihn zum Sterben zurückgelassen.

Die Erinnerung daran betrübte Rodger zutiefst. Seine Freunde hatten ihn aufgegeben, ihn einem Leben in Gefangenschaft bei diesen Monstern ausgesetzt.

1

Heute

Xavier Rodriguez tunkte den Lappen in den Eimer mit Wasser, dann legte er ihn sich auf die Stirn. Als er den Stoff entfernte, hatte er sich rot verfärbt.

Er blutete noch immer.

Weil du genäht werden musst.

Allerdings brauchte er nicht nur das. Er brauchte auch etwas, das die Menschen früher als Urlaub bezeichnet hatten.

Am schlimmsten waren nicht die offenen Wunden. Am schlimmsten war das Atmen. X wusste, wie sich angeknackste Rippen anfühlten, und was er im Augenblick empfand, war entschieden heftiger. Gegen eine angeknackste Rippe konnte er ohnehin nicht viel unternehmen.

Er senkte den Blick und begutachtete die hässliche Verletzung am Rand seines Fußes, wo ihn ein Projektil gestreift hatte. Tat immer noch höllisch weh. Und als wäre das nicht schlimm genug, hatte er beim Pinkeln nach wie vor das Gefühl, Nadeln zu pissen.

Aber er musste zugeben, dass er schon in üblerer Verfassung gewesen war, seit er seine Laufbahn als Hell Diver begonnen hatte. Etliche Male hatte er auf der Erdoberfläche Schlimmeres erlitten, für das er seinen gegenwärtigen Zustand mit Freuden eingetauscht hätte.

Er würde genesen. Sein Körper würde die frühere Kraft zurückerlangen.

Und er würde weiterkämpfen.

X spuckte einen Schleimpfropfen auf den Boden seiner Gefängniszelle und zuckte zusammen, als prompt Schmerzen durch sein Brustbein und seine Rippen schossen. Nachdem sie sich gelegt hatten, bewegte er sich zu den Gitterstäben seiner Zelle.

Seit mittlerweile drei Tagen stellte der Ort sein neues Zuhause dar. Er hatte diese Zeit in nahezu völliger Abgeschiedenheit verbracht, und er hatte keine Ahnung, ob Miles, Magnolia oder Rodger noch lebte.

»Lasst mich …« Seine Stimme kippte, und er verstummte.

X massierte sich die Kehle. Vom stundenlangen Schreien fühlte sich sein Hals wund an. Er hatte brüllend verlangt, freigelassen zu werden, damit er El Pulpo und jeden Soldaten der Cazadores auf den Metallinseln umbringen könnte.

Nur schienen sich die Barbaren einen Scheißdreck um seine Forderungen zu scheren.

Reagiert hatte auf sein Geschrei bislang nur ein junger Sklave, der ihm zweimal am Tag Wasser und ein paar Brocken Essen brachte. Sofern seine innere Uhr richtig tickte, würde der Junge sehr bald zurückkehren, um die Cazadores-Version einer Kackkiste der Hive zu leeren – einen Eimer, der sich nicht von dem unterschied, in dem das Wasser gebracht wurde.

X hoffte nur, sie wuschen die Dinger zuerst aus. Das Letzte, was er brauchen könnte, wäre die Ruhr, vor allem ohne Zugang zu den lebensrettenden Medikamenten, die er an Bord der Sea Wolf gehabt hatte.

X wartete an den Gitterstäben, den Blick auf die Luke am Ende des Gangs gerichtet, wo der Junge hereinkommen würde. In diesem Gefängnis gab es Dutzende weitere Zellen, aber keine anderen Gefangenen. Aus irgendeinem Grund hielt man ihn in Einzelhaft fest.

Nein, nicht aus irgendeinem Grund. Es war ein bewusstes, beschissenes Psychospielchen. Sie wollten ihn so zermürben, dass er wie ein willensschwacher Feigling mit Freuden zustimmen würde, El Pulpo zu dienen, sobald sie ihn endlich wieder Tageslicht sehen ließen.

Allerdings wusste El Pulpo nicht, dass X bereits den Großteil des letzten Jahrzehnts bei seinem Marsch durch die Ödnis der Erdoberfläche in völliger Einsamkeit verbracht hatte. Jene Jahre waren wirklich hart gewesen. Im Vergleich dazu nahm sich das hier wie ein Spaziergang im Park aus.

»Mit Einsamkeit komm ich klar«, brummte er mit kratziger Stimme. »Ich hab Einsamkeit praktisch erfunden!«

Jeder, der seine Sprache verstand, würde ihn für verrückt halten, doch genau darum ging es ihm. Das war sein Plan. Er wollte sie zu dem Glauben verleiten, er wäre verrückt, damit sie ihn hinausließen.

X drehte sich dem kleinen Fenster in der Zelle zu – nur ein Schlitz, nicht breiter als die Klinge eines Schwertes. Sehen konnte er nur einen Teil der Ölplattform und ein daran angedocktes Containerschiff. Ein Kran entlud Fässer vom Deck. Zwei Männer in dunkler Kluft und mit Strohhüten schienen die gelöschte Fracht zu zählen. X wusste immer noch nicht, woher die Cazadores verwertbaren Treibstoff bezogen, aber sie hatten irgendwo einen Vorrat davon gefunden. Nachdem er das Treiben draußen einige weitere Minuten lang beobachtet hatte, setzte er sich zurück auf den Boden seiner Zelle und begutachtete wieder seine Wunden. Als er sie bestmöglich gereinigt hatte, legte er sich hin und verschränkte die Hände unter dem Kopf.

Mit dem Wissen, dass sich Miles und seine Freunde irgendwo in der Nähe befanden, fiel es ihm schwer, sich zu entspannen, aber er brauchte seine mentale und körperliche Kraft.

Also tat X, was er am besten konnte: Er sperrte den Rest der Welt aus und konzentrierte sich ausschließlich darauf zu überleben.

Einige Zeit später öffnete sich quietschend die Metalltür.

Er rappelte sich auf und kehrte zu den Gitterstäben zurück, spähte mit zusammengekniffenen Augen ins Licht, das aus dem Gang hereinströmte. Seine Augen brauchten einige Sekunden, um sich an die Helligkeit anzupassen. Als es ihnen gelang, erblickte er draußen vor den Gitterstäben keinen Jungen, sondern einen Mann.

Auch keinen richtigen Mann, wie X feststellte, sondern einen Sklaven, einen Feigling.

Imulah, den Schriftgelehrten, der El Pulpo diente.

»Hallo, Xavier«, grüßte der Schleimer in geselligem Ton.

Zwei Cazadores-Soldaten kamen herein und gingen links und rechts der offenen Luke mit Speeren in den gepanzerten Händen in Stellung. Sie trugen keine Helme. Ihre Augen, in denen Wut und Mordlust funkelten, fixierten X.

Er konnte ihnen keinen Vorwurf daraus machen, dass sie offenbar Rache wollten. Immerhin hatte er ganz allein eine ganze Wagenladung dieser Kannibalen getötet. Für eine Kriegergesellschaft hatten sich die sogenannten »Krieger« nicht besonders gut gegen einen einzigen, kampferprobten Hell Diver geschlagen.

Als X nichts erwiderte, bewegte sich Imulah näher zu den Gitterstäben und erkundigte sich: »Wie fühlst du dich?«

Diesmal reagierte X, indem er einen Schleimpfropfen hochräusperte und vor die Füße des Lakaien spuckte.

Imulah wich einen Schritt zurück und seufzte dann. »Du und deine Freundin sind nicht so höflich wie Rodger. Das ist sehr enttäuschend.«

»Im Gegensatz zu dir sind wir nicht dran gewöhnt, Sklaven zu sein«, gab X zurück.

Der kahle, bärtige Mann bückte sich und begutachtete X, als wäre er ein wildes, hinter Gittern gefangenes Tier, und genauso starrte X zu ihm zurück.

»Normalerweise spreche ich zurückhaltend, wenn meine Aufpasser zuhören«, verriet Imulah. »Aber die zwei Aufpasser, die du hier siehst, beherrschen deine Sprache nicht, daher will ich sehr ehrlich zu dir sein, Xavier Rodriguez.«

»Irgendwie bezweifle ich das.«

Imulah sah X finster an. »Du hast keine andere Wahl, als in El Pulpos Armee zu kämpfen. Tust du es nicht, foltert er Magnolia und Rodger zuerst und isst sie dann zusammen mit deinem Hund vor deinen Augen.« Kurz verstummte er, bevor er den Gedanken zu Ende brachte. »Er hat gesagt, vor dem Hauptgang würde dein Hund einen guten aperitivo abgeben – ich glaube, Vorspeise ist das Wort, das du vermutlich verstehst.«

X packte die Gitterstäbe und fletschte die Zähne, wie es Miles getan hätte.

Überraschenderweise wich Imulah nicht zurück.

»Ich war einst wie du«, sagte er leise. Eine wehmütige Note schlich sich in den Klang seiner Stimme. »Ich war einst ein Krieger. Meine Leute haben sich gegen die Cazadores gewehrt, als sie unseren kleinen Außenposten auf der Insel Ascension gefunden haben. Wir waren nicht viele, aber diejenigen von uns, die kämpfen konnten, haben es getan.«

X verengte die Augen zu Schlitzen.

»El Pulpo und du stammen vom selben Ort?«

»Ganz recht, so ist es«, bestätigte Imulah. »Wir sind Nachkommen der Himmelsmenschen, die auf der Insel gelandet sind und für über 200 Jahre in einer ITC-Anlage Zuflucht gesucht haben. Lang bevor El Pulpo zum König der Cazadores wurde, war er bloß ein Junge namens Maximus, der Sohn eines Mannes, der im Kampf um unseren Außenposten gefallen ist. Auch ich habe an dem Tag gekämpft und verloren. Ich musste den Anblick ertragen, wie der Großteil meiner Freunde und Familie abgeschlachtet wurde, und ich werde nie vergessen, wie Maximus …«

Imulah schüttelte den Kopf. »Obwohl er damals ein erst neunjähriger Junge war, hat er drei Krieger der Cazadores getötet und dem die Nase abgebissen, der ihn schließlich gefangen hat. Er war zum Kämpfen geboren.«

X hatte Mühe, die Geschichte zu glauben. War das bloß eine List, damit er seine Meinung änderte?

»Wie ich wurde Maximus zum Sklaven, als unser Volk erobert wurde. Sie haben ihn in die Kriegsmaschinerie der Cazadores gesteckt, wo er sich den Weg an die Macht erkämpft hat. Er ist vom einfachen Speerträger zum König aufgestiegen – über einen Berg von toten Kriegern.«

Grundsätzlich klang die Geschichte einleuchtend, wenngleich X nicht sicher war, warum El Pulpo dann nicht fließend Englisch sprach. Es sei denn, er hatte vergessen, was er als Kind gewusst hatte, und war Spanisch sprechend aufgewachsen.

»Er hat uns zum größten Fund von allen geführt«, fuhr Imulah fort. »Zu einem Ort mit Millionen Litern Benzin, konserviert durch einen Zusatzstoff von ITC, durch den der Treibstoff so frisch wie am Tag geblieben ist, an dem er die Raffinerie verlassen hat.«

»Also bezieht ihr euer Öl gar nicht über die Plattformen?«, fragte X.

Imulah schmunzelte. »Natürlich nicht.«

X schaute erneut zu den zwei Männern, die Wache hielten und ihn mit zornigen Blicken bedachten. Der Kleinere der beiden bleckte die Zähne in X’ Richtung, und X zeigte ihm prompt den Mittelfinger, obwohl er keine Ahnung hatte, ob der Kerl die Geste überhaupt verstand.

Imulah offensichtlich schon. »Deshalb respektiert dich El Pulpo«, merkte er an. »Er sieht in dir eine Stärke, die er bisher nur in wenigen Männern gesehen hat. Er versteht, warum dich Magnolia und deine Leute ›den Unsterblichen‹ nennen.«

Der Schriftgelehrte richtete sich auf und zuckte zusammen, als seine Gelenke knackten.

»Vielleicht wirst ja eines Tages du König der Cazadores«, meinte er und verschränkte die Hände wieder hinter der Robe. Damit wandte er sich ab und entfernte sich. Kurz vor der offenen Luke blieb er stehen, um den Dienstjungen hereinzulassen.

Der Bursche trug in einer dreckigen Hand einen Eimer mit Wasser, in der anderen eine orangefarbene Brotkruste und ein paar Brocken Dörrfisch.

»Trink besser und iss«, riet Imulah. Er fasste in die Tasche und holte ein kleines Glas hervor, das er dem Jungen reichte, der es X geben sollte.

»Benutz das für deine Wunden«, fügte Imulah hinzu. »Dadurch heilen sie schneller. Du wirst alle Kraft brauchen, die du zusammenkratzen kannst. Morgen Nacht ist dein erster Kampf in der Himmelsarena.«

Captain Katrina DaVita stand allein auf der Brücke des mit Tarnkappentechnologie ausgestatteten Kriegsschiffes USS Zion und starrte hinaus zum dunklen Horizont. Blitze schnellten durch die Wolken und zogen bläuliches Restlicht hinter sich her, das sich auflöste, bevor der darauffolgende Donnerschlag ihre Ohren erreichte. Das Schiff wurde unverändert von Wellen bestürmt.

Die Metallinseln befanden sich dort draußen, genau wie ihre Freunde – irgendwo hinter der dichten, trüben Front elektromagnetischer Stürme.

Zum wiederholten Mal widerstand sie dem Drang, den Autopiloten des Kriegsschiffes auszuschalten und auf volle Kraft zu beschleunigen. Als Kapitänin trug sie in erster Linie eine Verantwortung gegenüber der Bevölkerung der Hive und der Deliverance, erst danach gegenüber X, Magnolia und Miles.

Dennoch suchte das Wissen, dass sie sich irgendwo dort draußen befanden und gefangen oder vielleicht sogar noch Schlimmerem ausgesetzt waren, sowohl Katrina selbst als auch den Rest der Mannschaft heim. Vorerst jedoch mussten sie einen Weg finden, den Monstersturm zu umschiffen, der ihnen den Weg versperrte. Gleichzeitig versuchten sie ständig, den Kontakt mit den Luftschiffen wiederherzustellen, damit sie ihren Angriffsplan konkretisieren konnten.

Die von dem Gewittersturm ausgehenden Interferenzen hinderten Katrina mittlerweile seit Tagen daran, mit ihrem Chefingenieur Samson oder ihrem Stellvertreter, Lieutenant Mitchells, zu reden. Das Unwetter brachte alles durcheinander, auch den Radar und die sonstigen Instrumente.

Die Anzeigetafeln auf der Brücke des Kreuzers piepten, als Katrina den Blick über die Daten wandern ließ. Normalerweise gefiel ihr die Einsamkeit, wenn sie allein arbeitete, doch in dieser Nacht lastete ihr zu viel auf der Seele. Die offene See barg unzählige Gefahren: mutierte Meeresbewohner, abtrünnige künstliche Intelligenzen, die sich irgendwo herumtrieben, potenzielle Piratenschiffe der Cazadores und ein Monstersturm, der mit einer Front von 80 Kilometern eine Fläche von mindestens 5000 Quadratkilometern abdeckte.

Der Regen prasselte in Strömen auf Trey Mitchells und Jaideep Abhaya herab, die auf dem Deck unten patrouillierten. Ihre Batterieeinheiten tünchten ihre Gestalten in einen schwachen, blauen Schein. Die Wolken gerieten im grellen Licht eines verästelten Geflechts von Blitzen in Sicht. Wenige Sekunden später folgte ein Donnerschlag, der die Schotten erzittern ließ.

Katrina übermittelte eine Botschaft über die Sprechverbindung, um Jaideep und Trey wieder hereinzuholen.

Während das Kriegsschiff durch die heranbrandenden Wellen pflügte, änderten die Gestalten auf dem Deck unten die Richtung und kehrten in die Sicherheit im Inneren des Schiffes zurück.

Als Nächstes überprüfte Katrina das Radar. Die Anzeige war immer noch ein einziges Chaos.

»Mistding«, fluchte sie leise.

Sie griff sich das Handteil des Funkgeräts und nahm Verbindung mit der Kampfeinsatzinformationszentrale auf, wo Eevi Corey und ihr Ehemann Alexander eine Waffenbestandsliste zusammenstellten.

»Wie läuft’s da unten?«, fragte Katrina.

»Gut, fast fertig«, antwortete Alexander.

»Wir treffen uns in 15 Minuten auf der Brücke.«

»Aye, aye, Ma’am.«

Katrina überlegte, ob sie die Krankenstation anfunken sollte, um sich nach Edgar Cervantes zu erkundigen. Er erholte sich noch von seinen in Red Sphere erlittenen Verletzungen. Aber sie wollte ihn nicht wecken, falls er gerade schlief.

Das Funkgerät piepte, und sie trat näher hin, um den Ruf von Sandy Bloomberg und Jed Snow entgegenzunehmen. Die zwei jüngsten Besatzungsmitglieder hatten die Aufgabe, die Kabinen unter Deck nach Vorräten zu durchforsten.

»Captain, hier Sandy, hören Sie mich?«

»Höre dich. Schieß los, Sandy.«

»Wir sind fertig mit der Durchsuchung der verschlossenen Kabinen und haben etwas Trockennahrung und eine Wasseraufbereitungsanlage entdeckt.«

»Hervorragende Arbeit«, lobte Katrina. »Was ist mit Waffen?«

»Negativ«, antwortete Jed.

Katrina stieß einen leisen Fluch aus. Sie hatte gehofft, sie würden weitere der Lasergewehre entdecken, die von den künstlichen Intelligenzen der DEF-9-Einheiten in Red Sphere mit so katastrophalen Folgen eingesetzt worden waren. Selbst eine Handvoll der fortschrittlichen Waffen wäre für die Hell Divers im Kampf ein Segen, sobald sie die Metallinseln erreichten.

Sie konnte nur beten, dass die Cazadores keine davon hatten.

»Meldet euch in 15 Minuten auf der Brücke«, befahl sie Sandy und Jed.

Als mehrere weitere Pieptöne erklangen, eilte Katrina zurück zur Brücke, um die Meldungen zu überprüfen. Ein Schiff dieser Größenordnung sollte eigentlich eine Besatzung von 100 Mann aufweisen. Ihr standen nur acht zur Verfügung, und die meisten, sie selbst eingeschlossen, hatten keinerlei Erfahrung mit einem so alten Betriebssystem.

Zum Glück war das Schiff fortschrittlich genug, um es fast ausschließlich mit dem Autopiloten zu steuern, obwohl sie es grundsätzlich dennoch vorzog, einen Menschen am Ruder zu haben.

Vielleicht hätte sie Les und Layla nicht zurück an Bord der Hive schicken sollen.

Katrina schüttelte die Zweifel ab. Mit ihrer Entscheidung zu hadern, brachte niemandem etwas. Um die anderen anzuführen, musste sie auch nach den tragischen Todesfällen, die sie in den vergangenen Tagen erlitten hatten, weiterhin Zuversicht ausstrahlen.

Der Verlust von Erin Jenkins und Ramon Ochoa in Red Sphere hatte das Team hart getroffen, zusätzlich erschwert durch Michael Everharts verheerende Verletzung. Er würde zwar überleben, aber seine Tage als Springer waren vermutlich gezählt. Und wie hilfreich konnte er wirklich im bevorstehenden Krieg sein?

Und obwohl sie Layla und Les wirklich hätte brauchen können, waren die beiden genau dort, wo sie sein mussten. Katrina brauchte eine Kampftruppe, und Les besaß als einziger Offizier genug Diplomatie, um eine zusammenzustellen.

Die Luke öffnete sich flüsternd, und die Grünschnäbel betraten einer nach dem anderen die Brücke für ihre Besprechung.

Katrina musterte das einzige Team von Hell Divers, das sie noch hatte. Die jugendlichen Gesichter von Jed, Sandy, Vish, Jaideep und Edgar erinnerten sie an Fotos von Soldaten aus der alten Welt. Es hatte einen Grund gegeben, warum das Militär immer junge Menschen wollte, und der lautete nicht nur, dass sie schneller und stärker waren. Sie hielten sich außerdem für unbesiegbar.

Den Unterschied zwischen einem Hell Diver und einem Soldaten der alten Welt konnte man mit dem Unterschied zwischen einem Gladiator und einem Preisboxer vergleichen – wie ein Gladiator wussten alle, die sich den Hell Divers anschlossen, dass der Tod sie früher oder später einholen würde.

Katrina verdrängte den Gedanken. Sie hatten viel zu besprechen.

»Da draußen ist es echt übel«, meinte Trey.

Jaideep schüttelte das lange Haar und ließ sich auf einen Stuhl plumpsen.

»Trey, versuch mal die Luftschiffe zu erreichen«, sagte Katrina.

»Ja, Ma’am«, erwiderte er höflich. Er bahnte sich einen Weg durch das Labyrinth der Stationen zu einer Reihe von Kommunikationsgeräten, setzte sich und legte seinen Helm aufs Deck.

Draußen vor den Bullaugen flimmerten Blitze und warfen ihr Licht auf die Brücke, als die Springer Platz nahmen und weitere Frischlinge den Raum betraten. Edgar Cervantes hinkte hinter den anderen her und bemühte sich, den Rücken bestmöglich zu straffen.

»Du hättest in der Krankenstation bleiben können«, merkte Katrina an.

»Geht mir gut, Cap.«

Katrina erkannte deutlich die Schmerzen, die der junge Mann so wacker zu verbergen versuchte.

»Keine Chance«, meldete Trey, nachdem er an der Ausrüstung herumgeregelt hatte. »Samson antwortet immer noch nicht. Zu Lieutenant Mitchells komme ich auch nicht durch.«

»Wegen des Sturms«, kommentierte Vish.

Eine weitere Runde von Pieptönen setzte ein, und Eevi setzte sich in Bewegung, um die Wetterstation zu überprüfen. Die ehemalige Ermittlerin der Miliz schaute zurück zu Katrina.

»Das ist nicht gut, Cap«, sagte Eevi.

Katrina nickte und ergriff im Befehlston das Wort. »Also gut, alle Mann hinsetzen und Essen fassen. Ich habe einige Neuigkeiten für euch und muss eine Entscheidung treffen.«

Alle nahmen um den Metalltisch Platz und machten sich über die frischen Lebensmittel her, die sie von der Deliverance herunterbefördert hatten. Das Obst fing bereits an, zu verderben, aber die Tomaten waren noch fest, rot und saftig. Außerdem hatten sie ein bisschen mehrere Tage altes Brot und Dörrfleisch übrig, aber damit hatte es sich.

Sobald sie diese Mahlzeit beendet hätten, würden sie gezwungen sein, auf gefriergetrocknete Nahrung und Proteinriegel zurückzugreifen, die an Bord der Luftschiffe hergestellt wurden.

»Sandy, Jed, was habt ihr unter Deck gefunden?«, fragte Katrina und leckte sich Tomatensaft von den Fingern.

»Nicht wirklich viel«, antwortete Jed. »Wir haben noch ungefähr für zwei Wochen Proviant, den wir von der Deliverance heruntergeholt haben. Die neuen Vorräte von hier … ich bin mir nicht sicher, ob die noch genießbar sind. Gefriergetrocknet zwar und gut verpackt, aber steinalt.«

Sandy nickte. »Und die Wasseraufbereitungsanlage funktioniert leider nicht. Ohne sie haben wir bestenfalls für zwei Wochen Wasser.«

Ursprünglich hatte Katrina gedacht, sie würden nicht mehr brauchen – bis ihnen der Sturm dazwischengefunkt hatte. Ihr Blick folgte dem grellen Bogen eines Blitzes draußen vor dem Bullauge, während sie über ihre Möglichkeiten nachdachte. Das Unwetter zu umschiffen konnte eine Woche oder länger dauern, und sie bezweifelte, dass X und Mags so viel Zeit blieb.

»Wie sieht’s mit den Waffensystemen aus?«, fragte die Kapitänin. »Wissen wir darüber schon mehr?«

Eevi überließ die Erklärung Alexander. Er begann mit einem Seufzen, was Katrina verriet, dass keine erfreuliche Meldung folgen würde.

»Wie die Lebensmittel sind die Waffen an Bord alt. Ich schätze, nur ungefähr die Hälfte der Raketen lassen sich überhaupt abfeuern, und einige könnten eher eine Gefahr für uns sein. Vier der fünf Kaliber-50-Maschinengewehre funktionieren, aber nur eine der MK-65-Kanonen. Und zwar die, mit der Layla in Red Sphere gefeuert hat …«

»Funktionieren würde ich das nicht gerade nennen«, warf Eevi ein.

Alexander seufzte. »Ich glaub schon, dass sie feuert, aber der Geschützturm reagiert nicht auf Befehle.«

»Na großartig«, brummte Katrina. »Ich hatte gehofft, die Kanone einzusetzen, um ein hübsches Loch in El Pulpos Palast zu pusten.«

»Mal sehen, was ich da machen kann«, meinte Alexander grinsend. »Ich arbeite weiter dran, Cap. Vielleicht bekomme ich ja auch die andere wieder hin.«

»Wir haben immer noch das Lasergewehr aus Red Sphere, vergessen wir das mal nicht«, merkte Eevi an.

Katrina nickte. Eine der Laserwaffen hatte sie mit Les für den Angriff der Deliverance auf die Metallinseln nach oben geschickt, die andere hatte sie an Bord der USS Zion behalten. Der Kolben der Waffe ragte aus einer Tasche wenige Meter von ihrem Stuhl entfernt.

»Sonst noch was?«, fragte sie.

»Wir haben zwei alte Schlauchboote, die als Zodiacs bezeichnet werden«, berichtete Eevi. »Die Motoren sind batteriebetrieben, und ich hab beide aufgeladen. Ob sie die Ladung auch halten, kann nur die Zeit zeigen.«

Das Schiff schwankte, und Katrina streckte die Hand aus, um sich an einer Station abzustützen. Sie war an das heftige Stampfen und Schlingern auf dem offenen Meer nicht gewöhnt. Dem würde sie jederzeit den Himmel vorziehen.

»Gute Arbeit, Leute«, lobte Katrina und machte sich über ihre Mahlzeit her.

Die nächsten Minuten aßen sie alle schweigend. Katrina lauschte, wie Jaideep und Vish miteinander scherzten und ihr Essen teilten. Jed und Sandy taten es ihnen gleich.

Ihre Verbindung war in der vergangenen Woche enger geworden. Die beiden Teenager saßen nahe beisammen, so nahe, dass sich ihre Arme berührten – nahe genug, um Katrinas Verdacht zu bestätigen. Und wie sie sich gegenseitig ansahen, räumte die letzten verbleibenden Zweifel aus. Sie dachte daran zurück, wie sie selbst einst Xavier angesehen hatte. Es hatte sich nicht wesentlich davon unterschieden, was sie bei den zwei jungen Springern vor ihr beobachten konnte. Sandy lächelte, als ihr Jed sein letztes Stück Brot von der Hive anbot.

»Tauscht irgendjemand Brot gegen dieses leckere Meerschweinchen-Dörrfleisch?«, fragte Trey. Er öffnete eine Konservendose und hielt sie hoch.

»Klar«, sagte Vish. Er brach ein Stück von seiner Scheibe ab und warf es zu Trey, der seinerseits einen Streifen Dörrfleisch zu Vish warf.

»Wann stoßen die Luftschiffe eigentlich bei den Metallinseln zu uns?«, fragte Vish, während er auf dem ledrigen Fleisch kaute. »Und was passiert dann?«

»Was zum Teufel glaubst du wohl, was dann passiert?«, gab Jaideep zurück und warf einen Seitenblick zu ihm.

»Das hängt davon ab, ob El Pulpo kapituliert«, ergriff Katrina das Wort.

»Ich hoffe für ihn, dass er’s tut«, meinte Trey. »Sonst lässt mein Pa Raketen auf ihn regnen.«

Katrina spähte zu Edgar Cervantes, der stumm in seinem Essen stocherte. Er schaute zwar auf, steuerte aber seine Gedanken nicht bei. Seit dem Verlust seines Cousins Ramon hatte er kaum ein Wort verloren.

»Wie fühlst du dich?«, fragte sie ihn.

»Ich bin bereit zum Kampf, Captain, aber ich hoffe, wir können die Cazadores zum Aufgeben bringen, ohne die Ölplattformen zu beschädigen. Unsere Leute brauchen einen Ort, an dem sie leben können.«

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass es die Metallinseln wirklich gibt«, sagte Sandy mit einem breiten Lächeln, bei dem ihre schiefen Zähne zum Vorschein kamen. »Ich hab immer nur davon geträumt, wie die Sonne aussehen würde.«

»Und das Meer«, fügte Jaideep hinzu. »Ich kann’s kaum erwarten, schwimmen zu lernen.«

Vish meldete sich zu Wort. »Ich werd fischen und Boot fahren. Mann, das wird …«

Katrina stand auf und ließ den Blick über all die jugendlichen Gesichter voll Angst und Hoffnung wandern. Aber sie konnte ihre Mannschaft nicht belügen – sich schönen Illusionen darüber hinzugeben, was sie vorfinden würden, wäre gefährlich.

»Das wird die Hölle«, stellte sie klar. »Vergesst nicht, diese Leute sind der Feind, und sie halten unsere Freunde gefangen. Auf die eine oder andere Weise werden wir kämpfen müssen.«

Die Kapitänin ging zu den Bullaugen hinüber. In der brodelnden Masse der Wolken blitzte es, und die glühenden Ranken leckten am Horizont über das Wasser. Katrina beobachtete, wie der Sturm tobte, als wäre er eine Armee, die nach einer Schwäche in der Verteidigung des Feindes sucht.

Im Augenblick stellte das Unwetter eine größere Bedrohung dar als sämtliche Kannibalen auf den Metallinseln.

Aber es war an der Zeit, sich von dem Wunschdenken zu verabschieden, der Sturm würde nachlassen. Es war an der Zeit, eine Entscheidung zu fällen.

»Wir haben zwei Möglichkeiten«, erklärte sie ihrem Team. »Wir können entweder weiter nach einem Weg suchen, diese Unwetterfront zu umschiffen, um die Metallinseln zu erreichen, oder wir pflügen mitten hindurch.«

Sie erinnerte sich an die Worte von Captain Maria Ash, als Katrina selbst noch ein Neuling als Springerin war.

Alles hat eine Schwäche, hatte Ash vor einer Gruppe von Hell Divers erklärt. Sogar Mutter Natur. Eure Aufgabe besteht darin, sie zu finden. Euer Leben und das Leben aller, die ihr kennt, hängen davon ab, dass ihr euch euren Ängsten stellt.

Im Verlauf der Jahre hatte sich Katrina ein eigenes Repertoire an Sprüchen zugelegt. Einer davon schien zur aktuellen Lage zu passen.

»Der Weg ins Paradies führt durch die Hölle«, sagte Katrina. »Esst auf und geht dann auf eure Posten. Wir kreuzen durch das Ungetüm durch.«

2

Michael Everhart saß auf einem Bett in der Krankenstation an Bord der Hive und blickte auf den Stumpf seines Arms hinab. Dr. Huff löste vorsichtig den Verband.

»Wir müssen die Wunde ein wenig atmen lassen«, meinte der Mediziner mit seiner brüchigen, greisen Stimme. »Außerdem will ich sie auf eine Infektion untersuchen.«

Der älteste Arzt an Bord des Schiffes – in Michaels Augen praktisch ein Fossil – kauerte auf einem Hocker und schob sich eine Brille die Nase hoch. Nach drei Tagen starker Sedierung wurden die schweren Medikamente bei Michael endlich abgesetzt. Die Schmerzen waren übel, dennoch konnte er nur an seine Freunde denken.

X, Mags und Miles befanden sich irgendwo da draußen, und Michael konnte es kaum erwarten, sich zurück ins Gefecht zu stürzen. Allmählich fing er an, sich an Bord des Schiffes wie ein Tier in einem Käfig zu fühlen.

Dr. Huff murmelte vor sich hin, während er den Blick langsam über die gerötete Haut des Stumpfs wandern ließ. Den Großteil der verbrannten Stellen hatte er bereits entfernt, und um die offenen Wunden hatten sich Schorfe gebildet.

Michael versuchte, die Reaktion des Arztes abzuschätzen. Er fühlte sich bereit, die Krankenstation schleunigst zu verlassen und in das Quartier zurückzukehren, das er sich mit Layla teilte.

»Hmmm. Keine Anzeichen einer Infektion zu sehen, aber …«

»Aber was?«, fragte Michael ungeduldig.

Behutsam drehte der Arzt den Stumpf. »Na ja, das … ist nicht …«, murmelte er in sich hinein. Sein Doppelkinn waberte, als er den Kopf bewegte. »Scheint alles gut zu verheilen.«

»Na prima! Wann kann ich also zurück an die Arbeit?«

Huff schaute auf. Seine Brille beschlug von seinem warmen Atem. »Das ist jetzt ein Scherz, oder?«

»Äh, nein.«

Darüber lachte der Arzt nervös und nahm die Wunde weiter in Augenschein. »Commander, wir müssen einplanen, das hier zweimal täglich zu säubern, außerdem werden Sie für die nächste Zukunft täglich eine Dosis von dem Gel brauchen, das Ihr Team von der Erdoberfläche mitgebracht hat. Dazu Schmerzmittel nach Bedarf. Die werden verhindern, dass die Phantomschmerzen Sie noch verrückter machen, als Sie anscheinend schon sind.«

»Damit komme ich klar, Doc. Ich muss zurück an die Arbeit.«

Huff baute sich vor dem Tisch auf, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Michael an, wie es ein missbilligender Vater vielleicht tun würde.

»Im Moment haben Sie keine Infektion, aber wenn Sie sich unbedingt eine einhandeln wollen, dann nur zu, gehen Sie zurück an die Arbeit. Ist Ihre Entscheidung. Ich kann Sie nicht aufhalten.«

»Verbinden Sie mich einfach wieder, Doc.«

Huff seufzte und ergriff eine Ampulle der nanotechnischen Arznei, die Team Raptor in einer ITC-Anlage gefunden hatte. Michael erinnerte sich an den Beutezug vor zwei Jahren, bei dem sie die kostbaren Medikamente ergattert hatten. Nur hätte er nie gedacht, dass er selbst zum Empfänger werden würde.

Der Arzt drückte die gelartige blaue Salbe aus der Tube und massierte sie mit den behandschuhten Fingern in den Stumpf. Nachdem er die Haut großzügig beschichtet hatte, brachte er einen frischen Verband darüber an. Michael musste die Zähne zusammenbeißen, während der Arzt die Salbe auftrug, die höllisch brannte.

»Alles erledigt«, verkündete Huff. »Ich sehe später noch mal nach Ihnen. Falls Sie Phantomschmerzen haben, geben Sie Bescheid, dann erhöhe ich Ihre Schmerzmitteldosis.«

Kaum war der Arzt gegangen, griff sich Michael sein Shirt vom Stuhl. Das untätige Herumsitzen und Warten hatte er gründlich satt. Ihm standen keine zwei Wochen zur Verfügung, die laut Dr. Huff trotz Einsatz dieser Nanotechnologie nötig wären, um vollständig zu genesen.

Zwei Wochen waren entschieden zu lang, und die Phantomschmerzen linderte das Gel überhaupt nicht.

Er zog sich das Shirt über den Kopf und streifte es über den schlanken, muskulösen Oberkörper. Man musste sich erst daran gewöhnen, alles mit nur einer Hand zu erledigen, aber allmählich wurde er besser darin, allein zurechtzukommen.

Es war an der Zeit, aus der Krankenstation zu verschwinden und Layla einen Besuch auf der Brücke abzustatten. Danach wollte er die Aufzeichnungen nach jeglichen Informationen durchforsten, die er über die abtrünnigen künstlichen Intelligenzen ausgraben konnte. Nachdem er einen Arm an die Maschinen verloren hatte, wollte er so viel wie möglich über sie herausfinden.

Ohne Aufmerksamkeit zu erregen, verließ er den medizinischen Trakt des Luftschiffes. Das diensthabende Pflegepersonal und Dr. Huff waren mit anderen Patienten beschäftigt. Und selbst wenn sie es versuchten, sie würden Michael nicht davon abhalten können zu gehen.

Er mochte einen Arm weniger haben, trotzdem war er nach wie vor ein Hell Diver.

Nicht gerechnet hatte er mit dem Gaffen und den Kommentaren, die ihn begleiteten, als er sich den Weg durch die Hive zu dem Tunnel bahnte, der das Luftschiff mit der Deliverance verband. Alle, die er passierte, blieben stehen und glotzten ihn an oder wendeten, liefen ihm nach und riefen ihm Fragen hinterher.

»Hat’s die Sea Wolf wirklich zu den Metallinseln geschafft?«

»Kämpft der Unsterbliche gegen die Kannibalen?«

»Haben sie deinen Arm gegessen?«

Schnaubend beschleunigte Michael die Schritte und versuchte, zumindest zu joggen. Da ihm von den Medikamenten schwindlig wurde, musste er das Tempo schon bald auf einen schnellen Marsch durch die frisch bemalten Korridore herunterdrosseln. Die Kunstwerke empfand er als beruhigend. Captain Jordans Vermächtnis wurde gründlich vom Schiff beseitigt. Alles, was er zerstört hatte, wurde nach und nach zurückgebracht: Aufzeichnungen wurden wiederhergestellt, neue Malereien zierten die Schotten und die allgemeine Stimmung hob sich durch Hoffnung.

Am Himmel ist Hoffnung etwas Gefährliches.

Für Michael jedoch war es das erste Mal im Leben, dass er Hoffnung länger als einen flüchtigen Moment verspürte. X hatte die Metallinseln tatsächlich gefunden – einen realen Ort, der die Bevölkerung beider Luftschiffe beherbergen konnte.

Eine Heimat für die Zukunft der Menschheit.

Die Frage lautete nur: Wie viel würde es kosten, sie den Cazadores abzunehmen? Oder konnten diese beiden so grundverschiedenen Gruppen einen Weg zu friedlicher Koexistenz finden?

Sein Bauchgefühl verriet ihm, dass beides nicht einfach und mit hohen Kosten verbunden sein würde.

Weitere Stimmen folgten Michael durch die Gänge. Als er Phyl Mitchells sah, hielt er an. Das Mädchen trug eine kleine Kreidetafel unter dem Arm.

»Hi, Commander Everhart«, grüßte ihn Phyl höflich.

»Hallo, Phyl. Wie läuft’s in der Schule?« Er bückte sich und warf einen Blick auf das Gekritzel auf der Tafel. »Ist das Algebra?«

Sie nickte, sah ihm jedoch nicht in die Augen. Ihr Blick verharrte auf seinem Armstumpf.

»Was … Was ist da passiert?«

»Ich wurde verletzt, aber ich werd wieder gesund.«

»Das freut mich«, erwiderte das Mädchen. »Aber wissen Sie, wann Trey zurück nach Hause kommt?«

»Bald. Er ist auf einer wirklich wichtigen Mission.«

Neugierige Augen begegneten Michaels Blick. »Mission?«

»Das bedeutet, er hat eine Aufgabe zu erledigen.«

»Oh.«

»Mach dir keine Sorgen um deinen großen Bruder, ihm passiert nichts.«

»Okay«, erwiderte Phyl. »Hoffentlich geht’s Ihnen bald wieder gut.«

Michael sah ihr nach, bis sie um die nächste Ecke verschwand. Wie die meisten anderen Menschen an Bord hatte die Kleine noch keine Ahnung, was gerade vor sich ging.

Den restlichen Weg trabte Michael. Als er die Brücke der Deliverance erreichte, war er außer Atem und schwitzte. Sein Stumpf pochte mit jedem Herzschlag.

Zähneknirschend hielt er ihn mit der heilen Hand an sich gepresst.

Ensign Ada Winslow, eine junge Frau, schaute von ihrer Station auf, als er die beiden Milizgardisten passierte und durch die offene Luke eintrat. Aus ihrem sommersprossigen Gesicht sprach Besorgnis.

»Commander Everhart. Ich hätte nicht damit gerechnet, dass …«

Layla schnitt ihr mit einem Ruf quer durch den Raum das Wort ab. »Stan! Was zum Hades machst du hier?«

Michael lächelte. »In dem Rattenkäfig ist es mir zu eng geworden.«

Die Ensigns Dave Connor und Bronson White standen an ihren Stationen auf und musterten Michael mitfühlend – vor allem Dave, der bei einem Unfall mit der Technik vor einigen Jahren ein Bein verloren hatte.

»Willkommen zurück«, sagte Bronson mit seiner weichen Stimme.

»Schön, Sie zu sehen, Commander«, kam von Dave.

»Schön, wieder hier zu sein«, erwiderte Michael. Er durchquerte den runden, offenen Raum. Über die Bildschirme der Stationen um die zentrale Insel flimmerten Daten und Berichte.

Michael erinnerte sich noch daran, wie er das erste Mal auf einem der bequemen Lederstühle Platz genommen hatte, nachdem Pipe und Commander Rick Weaver in der Hügelbastion ums Leben gekommen waren.

Die traurigen Verluste tauchten aus Michaels Gedächtnis auf, und er zuckte zusammen, als ihnen andere schmerzliche Erinnerungen folgten. Erin Jenkins, Rodger Mintel, sein eigener Vater … Die Liste ließ sich ellenlang fortsetzen.

»Stan?«, sagte Layla. »Alles in Ordnung?«

Er nickte und sank auf den Stuhl neben der Radarstation, die sie überwachte.

»Ich muss dir was sagen«, ließ er sie wissen. »Aber wie wär’s davor mit einem Update? Haben wir schon was von der USS Zion gehört?«

Ihre Grübchen säumten eine verkniffene Miene.

»Ich fürchte, nein. Auch nichts von Timothy Pepper an Bord der Sea Wolf.«

»Verdammt …«

»Wahrscheinlich stört der Gewittersturm, der die USS Zion von den Metallinseln trennt, die Signale.«

»Hoffen wir, dass es bloß daran liegt«, meinte Michael.

Er schwenkte den Stuhl zum Monitor herum und tippte einhändig auf das Display.

»Was wolltest du mir sagen?«

»Einen Moment«, gab Michael zurück und tippte weiter.

Eine neue Stimme betrat die Brücke. Beide schauten auf und erblickten die groß gewachsene Gestalt von Les Mitchells, der sich unter dem Sturz der Luke ducken musste.

»Commander Everhart!«, rief Les. »Das freut mich aber, dass Sie wieder auf den Beinen sind.«

»Schön, Sie zu sehen, Lieutenant«, erwiderte Michael.

Les durchquerte die Brücke und stellte sich zu Michael und Ensign Winslow an die Radarstation.

»Wie geht’s mit der Rekrutierung voran?«, erkundigte sich Michael.

»Schleppend«, antwortete Les. »Alle wollen etwas über die Metallinseln wissen. Wenn ich sie erwähne, hören alle nur Sonnenschein und laue Meeresbrisen. Jedes Wort von menschenfressenden Barbaren, die derzeit dort hausen, ignorieren sie.«

»Ja, davon kann ich ein Lied singen«, meinte Michael. »Mich haben sie auf dem Weg hierher bestürmt.«

»Vielleicht ist es an der Zeit, den Leuten die Wahrheit zu sagen«, schlug Layla vor.

Les steckte die Hände in die Taschen. »Ich warte auf Anweisungen von Katrina, bevor ich etwas anderes unternehme als zu rekrutieren.«

»Außerdem finde ich, es wäre an der Zeit, sich mit Samson zusammenzusetzen und darüber zu reden, Timothy Pepper an Bord der Hive wieder online zu holen«, fügte Layla hinzu. »Ich denke, wir werden ihn brauchen.«

Michael ließ den Stumpf sinken und betrachtete den Verband. »Da wir mittlerweile wissen, dass Timothy Pepper an Bord der Sea Wolf dazu beigetragen hat, dass X die Metallinseln erreichen konnte, finde ich, wir können seinem Pendant an Bord der Hive vertrauen.«

Les sah Michael verunsichert an. »Sie haben einen Arm an eine künstliche Intelligenz in Red Sphere verloren, trotzdem wäre es für Sie in Ordnung, eine andere künstliche Intelligenz wieder online zu schalten?«

Michael und Layla wechselten einen Blick.

»Ich bin ihrer Meinung«, bestätigte er. »Pepper ist kein Überläufer. Und ich denke, beim aktuellen Stand der Dinge haben wir gar keine andere Wahl. Wir sind unterbesetzt und brauchen Hilfe.«

Les schürzte die Lippen, bevor er erwiderte: »Na schön, ich rede mit Samson, und wenn er einverstanden ist, geht Pepper wieder online.«

Magnolia suchte den Himmel vor ihrem Fenster nach Anzeichen für die Hive, die Deliverance oder die blau leuchtenden Batterieeinheiten von durch die Wolken fallenden Hell Divers ab. Vor ihrem geistigen Auge malte sie sich aus, wie sich die Fallschirme öffneten und wie die Mündungsblitze von Sturmgewehren gleich mutierten Glühwürmchen flimmerten, während die Himmelsoldaten zu ihrer Rettung herabschwebten.

Wo steckten sie?

Am vierten Tag ihrer Gefangenschaft fing sie allmählich an, sich zu fragen, ob die verbliebenen Springer überhaupt kommen würden.

Sehen konnte sie nur die glänzenden, glatten Konturen des Luftschiffes über ihr. Sie hatte es mehrere Stunden lang studiert, nach einer Kennzeichnung oder irgendwas gesucht, das helfen könnte, es als die von Captain Marcus Bolter befehligte ITC Ashland zu identifizieren.

Aber was spielte es für eine Rolle? Wer immer das Schiff geflogen haben mochte, war längst tot. Nur noch Knochen oder Fragmente wie der Großteil der alten Welt.

Stimmen und ein Klopfen an der Tür lösten ihre Aufmerksamkeit vom Fenster. Magnolia eilte hinüber zu ihrem Bett, setzte sich hin und legte die Hände auf den Schoß.

Die Tür zu ihrer kleinen Kammer führte hinaus auf einen Balkon, wo zwei Soldaten mit olivfarbigem Teint Wache hielten. Der Ältere der beiden gestikulierte mit seinem Speer.

»Komm«, befahl er.

Der andere, kaum mehr als ein Teenager, glotzte auf Magnolias Brust, als versuchte er, einen Blick unter ihr zerrissenes Shirt zu erhaschen.

Sie stand auf, bedeckte sich mit den Armen und folgte den Männern hinaus. Unwillkürlich hob sie die Hand, um die Augen vor der Sonne abzuschirmen. Nach vier Tagen in einem schwach erhellten Raum war sie nicht gewappnet für Tageslicht.

Der ältere Wächter führte sie den Laufsteg entlang, der jüngere folgte ihr. Beide Männer trugen eine ausgebleichte Latzhose und zusätzlich zum Speer eine Machete und ein Messer. Eine Schusswaffe besaßen sie beide nicht, doch Magnolia zweifelte nicht daran, dass sie mit dem Speer umzugehen verstanden.

Sie blieb dicht am Geländer, das sie vom Meer zehn Stockwerke tiefer trennte. Im Westen kreuzten drei Boote durch das Wasser. Eines wirkte merkwürdig vertraut.

Magnolia blieb stehen, um mit zusammengekniffenen Augen die Aussicht zu betrachten.

Die Sea Wolf.

Zwei andere Boote zogen das Doppelrumpfgefährt auf den Turm zu, in dem man sie gefangen gehalten hatte.

»Rápido«, drängte der Mann hinter ihr und versetzte ihr mit dem Holzstiel seines Speers einen Stoß.

Magnolia schleuderte dem jungen Krieger über die Schulter einen finsteren Blick zu. Er bleckte die Zähne. Sie erwiderte die Geste, fletschte die eigenen Zähne.

Das schien ihm zu gefallen. Schmunzelnd gestikulierte er zu seinem bärtigen Gefährten. Sie wechselten ein paar Worte auf Spanisch, dann traten sie näher, keilten Magnolia zwischen sich ein.

»Gefällt dir das?«, fragte sie den Jüngeren. Sie entfernte die Hand von der Brust und gewährte ihm einen Einblick. »Was ist mit dir?« Ihr Blick schwenkte zum Älteren.

Sein Bart teilte sich, zum Vorschein kamen kaputte, braune Zähne. Er streckte sich nach Magnolia, während sein Kamerad sie mit dem Schaft seines Speers triezte. Magnolia schlug die Waffe weg, und der Ältere stieß sie gegen das Geländer zurück.

Als sie das Gleichgewicht zurückerlangte, deutete sie mit der erhobenen rechten Faust einen Haken an und erwischte ihn mit der Linken satt am Kinn.

Dem jüngeren Soldaten entlockte sie damit ein Kichern.

Magnolia verlor keine Zeit, sondern legte das gesamte Körpergewicht hinter einen Tritt gegen den Solarplexus des Getroffenen, womit sie ihn wuchtig zum gegenüberliegenden Geländer beförderte. Er kippte darüber.

Ein langer Schrei ertönte und wurde jäh von einem lauten Klatschen und Platschen abgeschnitten. Der verbliebene Soldat stürmte zum Geländer und spähte in die Tiefe. Als er sich umdrehte, diesmal mit zorniger Miene statt mit einem Grinsen, musste er feststellen, dass Magnolia den fallen gelassenen Speer aufgehoben hatte und auf seinen Adamsapfel richtete.

Nun war sie es, die grinste … bis sie das Klicken eines Hahns hörte, der gespannt wurde.

Der junge Soldat ließ wieder die scharfen Zähne aufblitzen, aber Magnolia zielte mit der Speerspitze weiter auf seine Kehle. Ein schneller Blick nach hinten offenbarte vier aus der offenen Luke auf sie gerichtete Gewehre.

So viel zu ihrer Flucht.

Ein eher kleiner, kahler Mann in einer braunen Kutte schob sich durch die Wand aus gepanzerten Körpern und Waffen. Als er ins Licht geriet, erkannte ihn Magnolia als den Schriftgelehrten Imulah. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und bedachte sie mit einem Kopfschütteln.

»Das ist kein guter Beginn für dein Leben hier«, meinte er. Vier gepanzerte Soldaten folgten ihm auf den Balkon. Sie zielten mit ihren Gewehren und Speeren auf Magnolia, während der Schriftgelehrte zum Geländer ging und nach unten schaute, wo der schlaffe Körper des Abgestürzten aus dem Wasser in ein Boot gehievt wurde.

»Gehört zu den ersten Dingen, die man bei der Ausbildung zum Hell Diver lernt – dass Wasser einen nicht rettet, falls sich der Fallschirm nicht öffnet«, sagte Magnolia. »Wenn man tief und schnell genug fällt, ist es, als würde man auf Beton aufschlagen.«

Imulah legte den Kopf schief, als versuchte er zu bestimmen, ob sie scherzte.

Was sie nicht tat.

»Mein Ausbilder – übrigens der Mann, dem El Pulpo den Verlust seines Auges verdankt – hat gesagt, man soll die Beine steif halten und sich abrollen, wenn der Fallschirm versagt.«

Magnolia deutete mit dem Kinn zum Geländer. »Oder wenn man über ein Balkongeländer stürzt. Pech aber auch, dass der Spast da offenbar keine Ausbildung zum Hell Diver hatte.«

»Lass den Speer fallen, Magnolia«, forderte Imulah sie auf. »Du willst König Pulpo sicher nicht noch einmal verärgern. Er ist zwar ein nachsichtiger Mann, aber auch seine Geduld hat Grenzen.«

»Scheiß auf diesen Pulpo-Arsch!«, fauchte sie. »Bring mich zu meinen Freunden, oder ich füttere mit dem Adamsapfel von dem Arschloch hier die Fische.«

Der plötzlich verängstigte Soldat der Cazadores schwenkte den Blick von Magnolia zu Imulah.

»Wenn du das tust, wird dein Freund Rodger Futter für die Schweine«, konterte Imulah. Er zog eine Braue hoch. »Habt ihr Schweine in diesen Luftschiffen? Hat dir dein Ausbilder je erzählt, was passiert, wenn man ein Schwein aushungert und ihm dann Menschenfleisch anbietet?«

Er schüttelte den Kopf. »Ist kein schöner Anblick, Magnolia. Sie nagen die Knochen blitzsauber.«

Der Schriftgelehrte wich in die Gruppe der Soldaten zurück, die ihrerseits vortraten. Ihre Stiefel polterten über den Metallrost, als sie Magnolia umzingelten.

»Lass den Speer fallen, und wir vergessen den Zwischenfall«, schlug Imulah vor.

»Und was ist mit ihm?«, fragte sie mit einem Blick hinunter zum Wasser.

»Ein bedauerlicher Unfall. Bei Weitem nicht der erste«, antwortete Imulah. »Komm, wir haben einen großen Tag geplant.«

Magnolia ließ sich ihre Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Diese Penner würden sie vielleicht in dem Moment töten, in dem sie den Speer fallen ließe. Andererseits konnten sie Magnolia ebenso gut auf der Stelle töten.

Die andere Möglichkeit war, sich zu fügen und auf eine bessere Gelegenheit zu warten. Das würde ihr Zeit verschaffen, um herauszufinden, wo Rodger und Miles festgehalten wurden – und X. Der legendäre Hell Diver hatte zwar sagenhaft gekämpft, doch gegen eine derart überwältigende Streitmacht konnte ein Einzelner nichts ausrichten.

»So ist’s gut. Schön sachte«, sagte Imulah, als sie den Speer schließlich sinken ließ.

Magnolia gab dem jungen Soldaten den Speer zurück und wischte ihm die Schulter ab. Dann lächelte sie herzlich – und versetzte ihm einen Schlag ins Zwerchfell.

»Das dafür, dass du mich vorhin angemacht hast«, erklärte sie.

Prompt richteten sich die Gewehrläufe wieder auf sie, doch mittlerweile wusste sie, dass die Soldaten den Befehl hatten, sie für ihren König am Leben zu lassen – und idealerweise ohne Löcher, blaue Flecke oder sonstige Verletzungen.

Während der junge Soldat vornübergekrümmt nach Luft schnappte, trat sie ans Geländer und schaute zum blaugrünen Wasser hinab, als die Sea Wolf unter dem Turm hindurch zum Verwahrungshafen geschleppt wurde.

Einen flüchtigen Moment lang spielte Magnolia mit der Idee, dem Mann, den sie getötet hatte, hinunter ins Wasser zu folgen. Wenn sie sich daran hielte, was X ihr beigebracht hatte, würde sie den Sturz vielleicht überleben. Allerdings würde sie sich aus dieser Höhe mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit etwas brechen.

Nein, es war nicht der richtige Augenblick für einen weiteren Fluchtversuch.

Magnolia holte tief Luft und schritt an Imulah vorbei.

»Wohin?«, fragte sie.

Die Soldaten senkten die Waffen, und Imulah ging voraus. Er steuerte auf die offene Luke zu und bedeutete Magnolia, ihm in einen fensterlosen, von Wandleuchten erhellten Gang zu folgen.

Es überraschte sie immer noch, dass es auf diesen Stahlplattformen Strom gab. Andererseits konnte sie nun, da sie für mehr als ein paar Sekunden die Sonne gesehen hatte, nichts mehr wirklich verblüffen.

Die Soldaten setzten den Weg durch die schmalen Korridore fort. Sämtliche Luken standen offen und boten flüchtige Einblicke in das Leben der Menschen, die hier hausten. Einige wenige Eindrücke genügten, um zu erkennen, dass es auf den Metallinseln eine mehrschichtige Gesellschaft gab, in der manche etwas hatten und andere nicht, genau wie an Bord der Hive.

Hier befand sich eindeutig das Pendant der Oberdecks.