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Die USA, so wie wir sie kannten, gibt es nicht mehr. In ihren Städten ist es dunkel geworden. Und das ist nur der Anfang ... Der Polizeichef Marcus Colton und Tracker Sam ›Raven‹ Spears haben sich noch nie gemocht. Doch als im Rocky-Mountain-Nationalpark ein junges Mädchen vermisst wird, heuert Colton den Fährtenleser an, um es zu finden. Sehr schnell wird den beiden bewusst, dass sie sich auf der Spur eines wahnsinnigen Mörders befinden. Und dann erfolgt durch Nordkorea ein EMP-Angriff auf die Vereinigten Staaten. Ohne Strom versinkt das Land in ein blutiges Chaos – und die Jäger werden zu Gejagten ... In einer Zeit, in der die Bedrohung noch nie so real war, schildert die Trackers-Serie, welche Auswirkungen ein EMP-Angriff haben könnte. Explosive, harte Action, geradezu aus den Schlagzeilen gerissen. Steve Konkoly: »Nicholas Sansbury Smith zündet das postapokalyptische Genre mit Trackers neu.« Matthew Mather: »Eine actiongeladene Story über die EMP-Apokalypse, voller brutaler Kämpfe und großartigen Figuren.« Dr. Arthur Bradley: »Ein nuklearer EMP-Schlag ist nach wie vor eine der am wenigsten verstandenen, aber verheerendsten Bedrohungen für die industrialisierte Welt.« Tom Abrahams: »Man dachte schon, das postapokalyptische Genre hätte seine Unterhaltungskraft verloren, und da erscheint Trackers. Eine wunderbare Mischung aus militärischer SciFi, Polit-Verschwörung und Dystopie.«
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2019
Aus dem Englischen von Christian Jentzsch
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Trackers #1
erschien 2017 im Verlag CreateSpace Independent Publishing.
Copyright © 2017 by Nicholas Sansbury Smith
Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig
Lektorat: Katrin Holle
Titelbild: Arndt Drechsler
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-86552-742-4
www.Festa-Verlag.de
DANKSAGUNG
An der Entstehung dieser Geschichte waren viele Leute beteiligt. Ich bin allen dankbar für ihre Hilfe, Kritik und Zeit. Beginnen möchte ich mit den Leuten, für die ich dieses Buch geschrieben habe – den Lesern. Ihr seid der Grund, warum ich ständig versuche, etwas Frisches, Unverbrauchtes zu schreiben, und mich bemühe, jede Geschichte besser und anders als ihre Vorgänger zu machen. Für diejenigen von euch, die auf meine anderen Bücher warten: Danke für eure Geduld. Ich hoffe, Trackers gefällt euch.
Bevor ihr in diese Geschichte eintaucht, hier noch ein wenig über den Hintergrund ihrer Entstehung. Als ich 2016 Buch 5 der Serie Extinction Cycle beendet habe, dachte ich, Extinction End (dt.: Von der Erde getilgt, Festa Verlag) würde die Serie beenden. Ich beschloss, eine neue Geschichte über eine andere Art von Bedrohung für unsere nationale Sicherheit zu schreiben – eine Geschichte ohne Monster, Zombies und Aliens.
Zehn Jahre zuvor: Ich arbeitete für den Bundesstaat Iowa und erfuhr eine Menge über eine furchtbare Waffe, den elektromagnetischen Impuls (EMP). Bei einer Arbeitssitzung, zusammen mit mehreren Agenturen, stellte sich schockierenderweise heraus, dass nicht viel unternommen wurde, um unsere Versorgungswirtschaft und lebenswichtigen Einrichtungen vor dieser Bedrohung zu schützen.
Ein paar Jahre später begann ich für Homeland Security und Emergency Management Iowa zu arbeiten. Als Projektleiter hatte ich mehrere Aufgaben, aber der Schwerpunkt lag dabei auf dem Schutz der Infrastruktur und der Ausarbeitung eines Plans zum landesweiten Katastrophenschutz. In meiner Dienstzeit habe ich zahlreichen Gemeinden geholfen, Zuschüsse für die Einrichtung von Schutzräumen vor Tornados in ihren Schulen und städtischen Gebäuden zu beantragen. Wieder ein paar Jahre später ging es dann um Zuschüsse für die Stärkung und Härtung der Stromleitungen in ländlichen Gegenden.
Während meiner Arbeit auf dem Gebiet des Katastrophenschutzes erfuhr ich von unzähligen Bedrohungen, angefangen von Naturkatastrophen bis hin zu von Menschen gemachten Waffen. Doch meiner Ansicht nach ist die EMP die größte von allen.
Und das bringt uns zurück zur Gegenwart. Wir leben in einer turbulenten Zeit und unsere Feinde sind ständig auf der Suche nach Mitteln und Wegen, uns zu schaden, im Inland wie im Ausland. Wir wissen bereits, dass die Cybersicherheit ein Gegenstand großer Besorgnis für die Vereinigten Staaten ist. Nordkorea, China und Russland haben sich bekanntermaßen in unsere Systeme gehackt. Wir wissen außerdem, dass andere Staaten mit Technologie experimentieren, mit der sich Teile unseres Stromnetzes lahmlegen lassen. Aber stellt euch mal eine Waffe vor, die unser ganzes Netz stilllegen könnte. Der perfekt geplante EMP-Angriff gibt unseren Feinden genau dazu Gelegenheit.
Bevor ihr anfangt zu lesen, möchte ich mir die Zeit nehmen, allen zu danken, die dabei geholfen haben, dieses Buch Realität werden zu lassen, angefangen beim Estes Park Police Department.
Im Frühjahr 2016 verbrachten meine Verlobte und ich eine Woche in Estes Park, Colorado, einem Ort, den ich in meiner Jugend häufig besucht habe. Ich wollte ihr diese hinreißende Touristenstadt zeigen, die an der Grenze zum Rocky-Mountain-Nationalpark liegt, und kam zu dem Schluss, dass sie auch ein guter Schauplatz für einen Teil der Handlung in Trackers wäre.
Das Police Department gestattete mir großzügigerweise, mich überall umzusehen und im Streifenwagen von Officer Corey Richards mitzufahren. Die Beamten erklärten mir die Vorgehensweise bei der Suche nach Vermissten und ihre Aufgaben bei Naturkatastrophen. Captain Eric Rose, der das Notfallzentrum leitet, beschrieb mir, was sie bei der Überschwemmungskatastrophe 2013 durchgemacht haben, als Estes Park von den umliegenden Gemeinden buchstäblich abgeschnitten war.
Ich habe im Laufe meiner beruflichen Arbeit für die Regierung mit vielen Polizeidienststellen zu tun gehabt und kann euch sagen, dass Estes Park nicht nur eine der besten und professionellsten ist, sondern es mir auch ein Vergnügen war, sie kennenzulernen. Danke an alle Beamten für ihre Arbeit in Estes Park und ihre Unterstützung bei Trackers. Ich hoffe, ich bin eurer Gemeinde gerecht geworden.
Ich möchte außerdem meinem literarischen Agenten David Fugate danken, der mir zu jedem meiner Romane wertvolle Rückmeldungen gegeben hat. Die Version, die ihr heute lest, unterscheidet sich sehr stark vom ursprünglich eingereichten Manuskript, und das liegt zumindest teilweise an Davids ausgezeichneten Rückmeldungen.
Als Nächstes ist meine Lektorin Erin Elizabeth Long an der Reihe. Sie hatte ihre Finger in jedem Buch, das ich bisher geschrieben habe. Ich werde nicht lügen – Trackers war eine Herausforderung für uns beide, und Erin hat mich dazu ermuntert, weiter zu feilen und zu bohren, bis die Geschichte gestimmt hat. Danke, E. Ich schätze dich mehr, als du glaubst.
Außerdem hatte ich eine tolle Gruppe von Testlesern, die geholfen hat, die Geschichte zum Leben zu erwecken. Ihr wisst, wer gemeint ist. Nochmals danke für eure Hilfe.
Trackers ist mehr als nur ein postapokalyptischer Thriller über die Nachwirkungen eines Angriffs auf Amerika. Die Geschichte soll ebenso Mystery wie Thriller sein. Es gibt viele EMP-Geschichten, aber ich wollte eine schreiben, die sich neuen Themen zuwendet und Elemente aus Sagen und Geschichten der Cherokee und Sioux beinhaltet, auf die ich gestoßen bin, als ich meinen Abschluss in Geschichte der amerikanischen Ureinwohner gemacht habe.
Auch diese Geschichte der Fiktion erfordert einiges an willentlicher Aussetzung der Ungläubigkeit, aber hoffentlich nicht so viel wie in meinen anderen Science-Fiction-Werken. Etwaige Fehler in diesem Buch gehen allein auf meine Kappe, denn der Autor ist immer der oberste Hüter seines Werks.
Vor einigen Jahren wurde ich in einem Interview gefragt, warum ich schreibe. Meine Antwort war die, dass meine Geschichten zwar unterhalten sollen, aber auch als Warnung gedacht sind. Trackers könnte eine wahre Geschichte sein, und ich hoffe, unsere Regierung wird uns auch weiterhin auf eine solche Bedrohung vorbereiten und uns vor ihr schützen.
Captain Eric Rose vom Estes Park Police Department erzählte mir, dass er nicht sicher sei, ob er für ein postapokalyptisches Estes Park bereit ist. Ich bin es auch nicht. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Geschichte Fiktion bleibt.
Dessen ungeachtet hoffe ich, dass euch das Buch Spaß macht, und wie immer seid ihr herzlich eingeladen, mich über die sozialen Netzwerke zu kontaktieren, wenn ihr Fragen oder Anmerkungen habt.
Mit den besten Wünschen
Nicholas Sansbury Smith
VORWORT
von Dr. Arthur Bradley, Autor von Disaster Preparedness for EMP Attacks and Solar Storms und The Survivalist.
Bei konventionellem Einsatz könnte ein Atomsprengkopf eine Stadt zerstören und das umliegende Gebiet mit tödlicher Strahlung verseuchen. Ganz gewiss grauenhaft, aber wenigstens lokal begrenzt. Wenn dieser Sprengkopf aber in der richtigen Höhe in der Atmosphäre gezündet würde, könnte er einen elektromagnetischen Impuls (EMP) erzeugen, welcher der betroffenen Nation praktisch unvorstellbaren Schaden zufügen würde.
Die bedeutsamste Konsequenz solch eines Angriffs wäre der Schaden am Stromnetz. Aufgrund der Abhängigkeit von verschiedenen Systemen würde ein Stromausfall zu einer ganzen Kaskade weiterer Ausfälle in allen großen Bereichen der Infrastruktur führen, darunter Telekommunikation, Finanzwesen, Benzin- und Gasversorgung, Transportwesen, Lebensmittel- und Wasserversorgung, Notfalldienste, Weltraumunternehmen und Regierung. Einrichtungen wie Banken, Supermärkte, Restaurants und Tankstellen würden schließen. Die Versorgung mit lebenswichtigen Dingen wie Wasser, Treibstoff und Nahrung würde zusammenbrechen. Notfalldienste wie Krankenhäuser, Polizei und Feuerwehr würden mithilfe von Generatoren und Notstromaggregaten vielleicht etwas länger einsatzfähig bleiben, letzten Endes aber aus Mangel an Brennstoffnachschub sowie durch das Fernbleiben von Schlüsselpersonal ebenfalls kollabieren.
Abgesehen vom Kollaps nationaler Infrastrukturen könnte ein EMP auch großflächig Schäden an Transportmitteln wie Flugzeugen, Autos, Lastwagen und Schiffen anrichten sowie an elektronischen Systemen zur Datensammlung und -verarbeitung, wie sie in der Telekommunikation, bei der Verarbeitung von Rohstoffen und bei der Klärung von Abwasser eingesetzt werden. Satelliten könnten ausfallen und die Fähigkeit der Regierung, koordinierte Katastrophenschutzmaßnahmen zu veranlassen oder auch nur die Ordnung aufrechtzuerhalten, beeinträchtigen. Und schließlich könnten auch viele elektronische Gegenstände des persönlichen Bedarfs Schaden nehmen, darunter unsere geliebten Computer und Handys, aber auch Geräte, die der gesundheitlichen Überwachung dienen.
Angesichts des Kollapses der Infrastrukturen, des damit verbundenen Niedergangs des Handels und der weitreichenden Schäden an bestehenden Eigentumswerten wäre ein EMP-Angriff gleichbedeutend mit dem finanziellen Ruin der betroffenen Nation. Beispielsweise wird der Schaden, den die Detonation eines bescheidenen Sprengkopfes von ein bis zwei Megatonnen über der Ostküste der Vereinigten Staaten anrichten würde, auf über eine Billion $ (1.000.000.000.000) geschätzt.
In den 60ern durchgeführte Tests wie Starfish Prime und der sowjetische Test 184 lieferten bereits eine Vorstellung vom potenziellen Schaden, aber die Waffen sind seitdem stärker und unsere Welt ist technologisch anfälliger geworden. Niemand weiß mit Sicherheit, welches Ausmaß die Schäden hätten und wie sie sich auswirken würden. Einschätzungen der Experten zufolge wären sie katastrophal bis apokalyptisch. Allgemeine Einigkeit herrscht darüber, dass der EMP-Angriff mit nicht mehr als einem einzigen atomaren Sprengkopf und einer Rakete, die in der Lage ist, ihn auf die richtige Höhe zu transportieren, einen unvorstellbaren Schaden anrichten würde. Bedenkt man, dass mehr als 128.000 solcher Sprengköpfe und 10.000 Raketen existieren, scheint es ratsam, diese äußerst reale und präsente Gefahr besser verstehen zu lernen und Schutzmaßnahmen zu treffen.
Viele wissen nicht, dass den USA von Russland, dem Iran und Nordkorea ganz unverhohlen mit einem EMP-Schlag gedroht worden ist. Die Führungen dieser Länder haben die asymmetrische Natur eines solchen Angriffs erkannt und wissen sie zu schätzen. Ein EMP-Angriff wäre weitestgehend wetterunabhängig, hätte lang anhaltende Schäden in der Infrastruktur zur Folge und böte ein sehr viel besseres Schaden-Kosten-Verhältnis als jede konventionelle Waffe, darunter auch eine »schmutzige Atombombe«. Noch schlimmer ist, dass sich Angriffe nicht auf einen einzigen EMP-Schlag beschränken würden. Vielmehr würden mehrere Sprengköpfe gleichzeitig zur Explosion gebracht werden, gut über das ganze Land verteilt, um maximalen Schaden anzurichten.
Der Autor Nicholas Sansbury Smith versteht, inwiefern so ein Angriff die Vereinigten Staaten lähmen könnte. Mein erstes Gespräch mit ihm hatte ich, als er noch für Homeland Security und den Katastrophenschutz in Iowa gearbeitet hat. Er hat mich kontaktiert, als er eine SF-Geschichte über Sonnenstürme schrieb, und mir ein paar Fragen zu meinem Buch Disaster Preparedness for EMP Attacks and Solar Storms gestellt. Seitdem hat Nicholas auch eine Menge Zeit mit Recherchen zu EMPs verbracht.
Trackers ist Fiktion, aber viele Orte in der Geschichte gibt es tatsächlich. Nicholas hat sich seine Berufserfahrung innerhalb des Katastrophenschutzes zunutze gemacht und auf dieser Grundlage eine realistische geopolitische Krise beschrieben, welche die Bühne für einen EMP-Angriff bereitet. Die folgende Geschichte ist ein beängstigendes Szenario, in dem sich tapfere Männer und Frauen an eine herausfordernde neue Welt anpassen müssen – eine Welt, in der wir uns alle wiederfinden könnten. Ein Teil von mir wünscht, Nicholas hätte auch weiterhin reine SF-Geschichten über Aliens und von der Regierung entwickelte Biowaffen geschrieben, weil Trackers ein Roman ist, der Wirklichkeit werden könnte.
Für Chloe, Gerber, Bella, Ace und all meine treuen, bepelzten Gefährten, die sich in ständigem Einsatz befinden, Leckerlis aufzuspüren.
Keine Jagd ist so wie die Jagd auf Menschen, und wer lange genug bewaffnete Menschen gejagt und Gefallen daran gefunden hat, interessiert sich danach für nichts anderes mehr.
Ernest Hemingway
PROLOG
Ein sechsköpfiges Team der US Marine Force Recon bestieg kurz nach Mitternacht den Sikorsky UH-60 Black Hawk. Staff Sergeant Sam »Raven« Spears saß im Bauch des Vogels und schmierte sich Tarnfarbe auf seine sonnengebräunte Haut. Nach zehn Jahren bei den Marines war er daran gewöhnt, seine muskulöse Gestalt für Einsätze im Morgengrauen in Gefechtsausrüstung zu verpacken, nicht gewöhnt war er hingegen daran, dass die Predators ihre Befehle direkt vom Präsidenten der Vereinigten Staaten erhielten.
Raven sah aus dem Fenster, als der Black Hawk im Schutz der Dunkelheit von der Basis aufstieg. Die Piloten jagten im Tiefflug über flache Felder hinweg, der nordkoreanischen Grenze entgegen.
Ravens Dienstzeit bei den Marines würde in ein paar Wochen enden. Nach über einem Jahrzehnt des Krieges hatte er gehofft, sich in Estes Park, Colorado, ein Stück Land kaufen und ein Geschäft eröffnen zu können, aber der Anblick der mit Minen gespickten Felder und die Anwesenheit des koreanischen Zivilisten in der Truppenkabine ließen Zweifel daran aufkommen, ob es jetzt noch dazu kommen würde.
Der Black Hawk näherte sich der entmilitarisierten Zone und Raven konnte erkennen, warum sie als die gefährlichste Grenze der Welt galt. Im Norden herrschte das repressivste, brutalste Regime auf dem Planeten. Stacheldrahtzäune, Landminen und Wachposten wirkten als Abwehrmaßnahmen bei einem totalitären Staat wie diesem nahezu fadenscheinig. Truppen waren auf beiden Seiten der Grenze stationiert, und zwar so nah beieinander, dass sie sich praktisch gegenseitig mit Handgranaten bewerfen konnten. Das ganze Gebiet war ein Pulverfass – und die Predators sollten mittendrin abgesetzt werden. Die Kacke würde ziemlich schnell zu dampfen anfangen.
Alle im Team waren spezialisiert auf Fernaufklärung, Such-, Ergreifungs- und Überfalleinsätze. Traurige, von Krähenfüßen eingerahmte Augen begegneten Ravens Blick, bevor er sich seinem Team zuwandte.
Er war sich sicher, dass der dünne, schwarz gekleidete Koreaner auf der anderen Seite der Truppenkabine ihnen dabei helfen würde, ein Ziel ausfindig zu machen. Sie alle trugen schwarze Kampfanzüge und Helme mit Vier-Augen-Nachtsichtgerät.
Bewaffnet waren sie mit schallgedämpften M4-Karabinern und M9-Pistolen. Gunnery Sergeant Rodney Black, der Teamleader mittleren Alters, studierte gerade die Karte, während sich über ihnen beinahe lautlos die Rotorblätter drehten.
Schließlich faltete er sie zusammen und schaute einen nach dem anderen an. In Blacks Blick lag das kalte Starren eines Marines, der das Grauen des Krieges schon viel zu lange erlebte. Er forderte die bedingungslose Einhaltung von Regeln und uneingeschränkten Respekt, was ihn zum unbeliebtesten Marine im Team Predator machte.
»Na schön. Hört gut zu, weil wir nicht viel Zeit haben«, sagte Black mit fester, befehlsgewohnter Stimme. »Unsere Befehle kommen vom Oberbefehlshaber persönlich.«
Er griff in seine Weste und holte zwei Fotos heraus. Das erste zeigte eine dunkelhaarige junge Frau in einem Partykleid, die fröhlich in die Kamera lächelte.
»Das ist Hannah Sarcone oder Lima Eins«, erklärte Black. Er reichte das Foto herum, sodass es sich die Männer ansehen konnten. Während es die Runde machte, hielt Black das andere Foto in die Höhe, das einen Rotschopf in einem T-Shirt mit dem Peace-Zeichen auf der Brust zeigte.
»Das ist Sarah Baker oder Lima Zwei. Die beiden Mädchen werden in einem kleinen Gefangenenlager unweit der Grenze festgehalten. Unsere beste Karte von der Gegend ist immer noch scheiße, weshalb Mr. Lee hier bei uns ist.«
Die Fotos erreichten Raven, und er musterte die Gesichter der beiden jungen Frauen. Sie sahen … nett aus. Süß. Wie zum Teufel waren zwei hübsche Mädchen in einem nordkoreanischen Gefängnis gelandet?
Black zeigte auf den Koreaner, der Raven gegenübersaß. »Lee hat früher in dem Gefängnis gearbeitet, bevor er nach Südkorea desertiert ist.«
Alle behelmten Köpfe wandten sich Lee zu. Raven würde nicht über ihn urteilen: In seiner Vergangenheit war auch nicht immer alles nach Plan verlaufen. Aber er merkte, dass der Rest des Teams nicht glücklich damit war, einen Verräter bei sich zu haben, unabhängig davon, wen er verraten hatte.
»Was ist so besonders an diesen Mädchen?«, fragte Staff Sergeant Billy Franks.
Blacks Miene verfinsterte sich, obwohl es eine gute Frage war. »Sie sind Bürgerinnen der Vereinigten Staaten, Studentinnen, die auf irgendeiner Menschenrechtsprotestkundgebung in Seoul waren. An der Grenze müssen sie dann wohl falsch abgebogen sein, sonst würden Miss Baker und Miss Sarcone jetzt nicht in einer nordkoreanischen Haftanstalt festgehalten werden.«
»Augenblick mal, Gunny«, sagte Franks. »Sarcone? Nicht etwa verwandt mit Senator Mack Sarcone, oder doch?«
Blacks Zögern war Antwort genug, dennoch bestätigte er: »Sie ist Senator Sarcones Enkelin.«
Raven konnte sich denken, wie der Rest der Geschichte lautete. Sarcone hatte an ein paar Strippen gezogen, und jetzt hatte Präsident Brandon Drake genehmigt, die Predators hinter den feindlichen Linien abzusetzen, um Sarcones Enkelin heimzuholen.
Vom anderen Ende der Kabine kam ein skeptisches Schnauben, und Black hob eine behandschuhte Hand, um wieder für Ruhe zu sorgen.
»Ich weiß, was ihr alle denkt. Aber wir sind Marines und unsere Aufgabe besteht nicht darin, Befehle zu hinterfragen. Unsere Aufgabe – unsere Pflicht – besteht darin, unsere Zielpersonen zu evakuieren und sicher zur Basis zurückzubringen. Verstanden?«
Die Predators antworteten einstimmig: »Ja, Gunny!«
Black hielt die Karte in die Höhe, die er zuvor studiert hatte. »Wir glauben, Lima Eins und Zwei werden beide hier festgehalten«, fuhr er fort, während er auf eine Stelle auf dem laminierten Papier zeigte. »Es gibt drei Gebäude auf dem Gelände, aber unsere Info weist auf dieses hier.«
»Wenn wir das falsche Gebäude stürmen, wird Senator Sarcone echt angepisst sein«, flüsterte Billy.
Raven schüttelte den Kopf. Abgesehen von Billy hatte er bei den Marines nicht viele Freunde. Der junge Mann hatte Sinn für Humor und konnte Sergeant Black punktgenau imitieren, eine Fähigkeit, die ihm und Raven ständig zusätzliche Trainingsrunden und Liegestütze einbrachte.
»Lee hat uns darüber ins Bild gesetzt, wie die Anlage geschützt ist. Wir haben es mit mindestens zwei Dutzend Soldaten zu tun, die mit Panzerfäusten, 12,7 Millimeter-MGs und allem anderen bewaffnet sind, was sie kriegen konnten. Zuerst schalten wir die Wachtürme mit dem M240 aus, um den Weg frei zu machen. Dann teilen wir uns auf und gehen rein.«
Black zeigte auf Raven. »Staff Sergeant Spears und Franks, Sie begleiten mich in Team Alpha. Lee lotst uns. Alle anderen sind in Team Bravo, das Staff Sergeant Nixon führt.«
Ein paar Plätze weiter bestätigte Nixon den Befehl mit einem Nicken seines großen Kopfes. Er sah aus, als wäre er bereit, ein paar nordkoreanische Schädel in seinen riesigen Händen zu zerquetschen. Raven schnappte Billys nervösen Blick auf und versuchte, ihm ein beruhigendes Lächeln zuzuwerfen. Der Junge hatte schon eine ganze Reihe von Einsätzen mit den Predators erlebt, aber noch keinen wie diesen. Eigentlich hatte noch keiner von ihnen je etwas derartig Verrücktes gemacht.
Vielleicht hätte ich im Reservat bleiben sollen, dachte Raven. Im Rosebud-Reservat war die größte Gefahr der verdammte Schwachkopf gewesen, mit dem seine Schwester gerade ging.
»Wir glauben, dass die Nordkoreaner noch nicht wissen, wer Lima Eins ist, andernfalls hätten sie die Mädchen längst in eine sicherere Anlage gebracht. Wir haben nur einen Versuch in dieser Angelegenheit. Wenn wir versagen, werden diese jungen Frauen sterben oder in irgendeinem Rattenloch in Pjöngjang verschwinden, wodurch die Lage katastrophal eskalieren könnte. Präsident Drake will das so schnell wie möglich erledigt haben, was bedeutet, dass Schnelligkeit wichtiger ist, als unentdeckt zu bleiben. Verstanden?«
Mr. Lee, der bei dieser Einsatzbesprechung noch kein einziges Wort gesagt hatte, fuhr sich mit dem Finger über die Kehle, während Black seine Männer erneut einen nach dem anderen ansah.
»Die töten uns alle, wenn wir geschnappt werden«, bemerkte Lee in holprigem Englisch.
»Unser koreanischer Freund hat recht«, antwortete Black. »Er lotst uns rein. Der Plan ist, die Mädchen zu holen und so schnell wie möglich zu verschwinden. Team Bravo hat das C4 und Nixon ist dafür verantwortlich, es anzubringen.«
»Die haben meinen Bruder«, erklärte Lee. »Haben ihn eingesperrt, als ich geflohen bin. Wir holen amerikanische Mädchen und ihn.«
Das Oberkommando musste dem ehemaligen Gefängniswärter versprochen haben, dass sie seinen Bruder retten würden. Raven brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass sein Bruder ganz weit unten auf ihrer Prioritätenliste stand.
»Gunny«, begann Franks, »nur aus Neugier, was passiert, wenn der Oberste Führer herausfindet, dass die USA für diesen Überfall verantwortlich sind?«
Black runzelte die Stirn und entgegnete sehr bestimmt: »Wird er nicht. Weil es keine Beweise geben wird.«
Staff Sergeant Nixon nickte daraufhin und klopfte auf den Rucksack mit dem Plastiksprengstoff.
»Achtung, Funkstille tritt in Kraft«, verkündete einer der Piloten über Kabinenlautsprecher. »Wir nähern uns der entmilitarisierten Zone.«
»Irgendwelche Fragen?«, wollte Black wissen.
Franks hob zaghaft die Hand, ließ sie aber wieder sinken, als Black wegsah.
»Das war eine von diesen Fragen der rhetorischen Art«, murmelte Raven mit einem Schmunzeln. »Bleib einfach in meiner Nähe, Kleiner. Ich halte dir den Rücken frei.«
Die Geräusche letzter Ausrüstungs- und Waffenchecks durchbrachen die Stille, als sich der Crew Chief, ein Corporal namens Hendrickson, zur Tür begab. Das matte Licht in der Kabine wurde ausgeschaltet, sodass das Team von völliger Dunkelheit umgeben war.
Raven lauschte auf das Rauschen des Windes und das leise Rotorgeräusch, während er darauf wartete, sein Nachtsichtgerät herunterzuklappen. In der Schwärze des frühen Morgens konnte er die Umrisse der welligen Berge in der Ferne ausmachen. Irgendwo im Westen war ein einzelnes Licht zu sehen. Er hatte Satellitenbilder von der koreanischen Halbinsel bei Nacht gesehen, nördlich der EMZ lag das ganze Land beinahe in vollständiger Dunkelheit. Als er jetzt aus dem Black Hawk schaute, sah es nicht viel anders aus.
Er klappte das Nachtsichtgerät herunter, als Corporal Hendrickson das M240 nahm. Die nordkoreanische Landschaft färbte sich grün.
In der Ferne, am Fuß der Berge, lag ihr Ziel. Vier Wachtürme flankierten drei Gebäude, der Gefängniskomplex war von Stacheldrahtzäunen umgeben. Für eine nordkoreanische Anlage war sie eher klein. Raven hoffte, dass dies ebenso für die Anzahl bewaffneter Wachleute gelten würde.
Die Piloten verringerten die Höhe, was den Bauch des Black Hawk mit dem Rauschen kalten Windes erfüllte. Raven hatte genügend Einsätze auf dem Buckel, um zu wissen, dass dieser einem Himmelfahrtskommando glich. Sie hatten keine Rückendeckung, nur ein paar Häuserblocks in der Ferne wie in Falludscha und Bagdad. Die Predators waren auf sich gestellt und sie traten gegen eine kleine Armee der Nordkoreaner an, die jederzeit MiGs anfordern konnten.
Raven sehnte sich nach einer Zigarette, um seine Nerven zu beruhigen. Zum Glück blieb ihm nicht mehr viel Zeit, über die Stärke des Gegners zu spekulieren, mit dem sie es zu tun haben würden. Die Piloten begannen mit dem Zielanflug und Hendrickson richtete das M240 auf die Gebäude.
Black gab den Befehl mit einer schnellen Handbewegung und der Chief eröffnete das Feuer auf den ersten Wachturm. Das Knattern der Patronen vom Kaliber 7,62 hallte durch die Kabine.
Leuchtspurgeschosse trafen den Schlackenbeton, während die Piloten kreisten. Die Feuersäule einer Explosion schoss aus dem Turm und legte ihn in Schutt und Asche, augenblicklich schwenkte der Chief die Waffe zum nächsten Turm.
Ein nordkoreanischer Wärter konnte einen einzelnen Schuss abgeben, bevor er von den Kugeln des M240 getroffen wurde. Die Wucht schleuderte ihn über die Brüstung.
»Klar!«, rief der Chief.
Sofort setzten die Piloten zum Landeanflug innerhalb der Stacheldrahtzäune an. Noch bevor Black das Signal gab, hatten sich die Marines aufgestellt, bereit, nach draußen zu springen. Raven begutachtete das Gelände, während er wartete, bis er an der Reihe war. Das nächste Gebäude war zwei Stockwerke hoch und hatte viele Fenster in der oberen Etage. Die anderen beiden waren einstöckige Betonklötze. Sie standen etwa 60 Meter auseinander. Fässer, Kisten und ein paar Fahrzeuge sorgten für mehrere nicht einsehbare Stellen, wo sich der Feind verstecken konnte. Plötzlich stolperte ein einzelner Mann aus dem mittleren Gebäude, während er sich die Hose hochzog.
Staff Sergeant Nixon, der die Kabine als erster Marine verlassen hatte, ließ sich auf ein Knie fallen und gab einen Schuss aus seinem schallgedämpften M4 ab, der den überraschten Wärter in die Brust traf. Der Mann wurde gegen das Gebäude geschleudert und hinterließ eine blutige Spur an der Wand, als er zu Boden sank.
»Na los, Spears!«, blaffte Black.
Raven sprang nach draußen und konzentrierte sich auf das Gebäude, in dem die Mädchen festgehalten wurden. Er rannte geduckt darauf zu. Franks hielt sich links von ihm, Black und Lee folgten ihnen. Die Männer von Team Bravo scherten nach rechts aus. Der Black Hawk erhob sich wieder in die Luft und Hendrickson eröffnete das Feuer auf die anderen beiden Wachtürme des Lagers.
Raven schulterte sein M4 und ließ die Mündung durch sein Schussfeld wandern. In zweidimensionaler Sicht suchte er seine Umgebung systematisch nach Feinden ab.
An einem Mast ganz in der Nähe wehte eine nordkoreanische Flagge. Raven rückte zum nächsten Abschnitt des Gitters vor. Zu seiner Linken waren parallel zum Zaun mehrere Gräben ausgehoben.
»Kontakt«, kam es von Franks. Lee warf sich auf den Bauch, als Black vor ihnen auf ein Knie sank und auf zwei Wärter schoss, die aus dem ersten Gebäude nach draußen gestürmt waren. Beide Soldaten gingen mit einem Aufschrei zu Boden. Von links kam das Knattern automatischer Waffen. Raven warf sich hin. Kugeln pfiffen durch die Luft, die er Sekunden zuvor noch geatmet hatte. Eine kühle Brise, die nach Tiermist roch, wehte in den anschließenden Augenblicken der Stille über ihn hinweg. Ein Moment der Ruhe vor dem Sturm eines Kugelhagels, der aus allen Richtungen zu kommen schien.
Raven kroch in die Deckung eines Felsens, wobei jede Menge Kugeln seine Umrisse sauber nachzeichneten. Irgendwie schaffte er es zum Felsen, ohne getroffen zu werden. Die Schüsse kamen aus den Gräben. Dämlich von ihm, wegzusehen, bevor er das Gebiet gesichert hatte. Diese Art Fehler würde ihn umbringen und er wollte nicht als eine dieser ironischen, als Warnung gedachten Geschichten enden, die andere Marines einander erzählten.
Er konnte beinahe hören, wie sein Team dem Kerl, der Ravens Platz einnehmen würde, die Geschichte erzählte: Nur noch zwei Wochen, dann wäre das arme Schwein nach Hause gekommen.
Er wartete darauf, dass das Gewehrfeuer verstummte. Hinter ihm rückten die meisten Mitglieder der Teams Alpha und Bravo zum dritten Gebäude vor, während zwei Marines die Stellung hielten, um Kontakte außerhalb unter Beschuss zu nehmen. Der Black Hawk kreiste und Hendrickson richtete sein M240 auf alle Feinde, die vom Boden aus nicht zu sehen waren. Auf der gegenüberliegenden Seite des Lagers blieben die anderen beiden Wachtürme stumm.
Raven wälzte sich vom Felsen weg, stützte sein Gewehr mit einem Arm ab und zielte in die Richtung, aus der die Schüsse gekommen waren. Mit der freien Hand klappte er sein Visier hoch, um das Gelände mit bloßem Auge zu begutachten.
Wohin war der Schütze verschwunden?
Hinter ihm fielen Schüsse, die prompt von Sperrfeuer beantwortet wurden.
»Feind ausgeschaltet«, meldete Black.
Das Ziel, das Raven suchte, schoss wieder und eine Kugel wirbelte neben ihm Dreck auf. Er wälzte sich nach links, als weitere Kugeln den Boden umpflügten.
Es gab eine kurze Feuerpause, in der Raven den Bereich unter die Lupe nahm, in dem er das Mündungsfeuer gesehen hatte. Er gab schnell hintereinander zwei kurze Feuerstöße ab, um die Schützen aufzuscheuchen. Ein Soldat rief etwas auf Koreanisch und ein anderer antwortete.
Einen Augenblick später explodierte der Graben, ein Schrei ertönte. Dreck regnete auf Raven herab. Er klappte sein Sichtgerät wieder runter und bedeckte seinen Helm. Als er aufblickte, sah er, dass Billy zu ihm herüberlief. Er kniete sich neben Raven und legte ihm eine Hand auf den Rücken.
»Ich habe dir gerade den Arsch gerettet, Bruder«, japste er, während er Raven unter die Arme griff, um ihm aufzuhelfen. »Ich hoffe, diese koreanischen Hurensöhne hatten Spaß an dem Geschenk, das ich ihnen geschickt hab.«
»Danke.« Raven nickte Billy zu. Er blickte seinem Freund über die Schulter, sah zu dem zweistöckigen Gebäude hinter ihnen und registrierte eine Bewegung hinter einem Fenster im ersten Stock. Ein Wärter, dem ein Arm fehlte, kroch schreiend aus dem Graben und lenkte Raven kurz ab. Das Fenster im ersten Stock ging klirrend zu Bruch und Billys Grinsen wurde von einer Kugel durchs Kinn weggewischt. Heißes Blut spritzte Raven ins Gesicht.
Weitere Kugeln ließen Billy erbeben, noch bevor er zu Boden geglitten war. Raven spürte, wie eine ganz knapp an seinem Helm vorbeipfiff, während er zurück in die Deckung des Felsens robbte.
»Billy!«, rief Raven. Er knirschte mit den Zähnen, als der Schock in Wut überging. Vorsichtig hob er den Kopf, um nach dem Schwein Ausschau zu halten, das seinen Freund getötet hatte. Ein Mündungsblitz leuchtete hinter dem Fenster auf. Einen Sekundenbruchteil später traf die Kugel den Felsen und zwang Ravens Kopf nach unten.
»Spears, was ist bei euch los, verdammt noch mal?«, tönte Blacks Stimme in seinem Ohr.
»Sie haben Billy erwischt und ich bin hier festgenagelt! Da ist ein Heckenschütze …«
Ein weiterer Schuss zwang ihn auf den Boden. Er lag auf dem Rücken und starrte zum Himmel empor. Grüne Leuchtspurgeschosse zuckten durch die Nacht, während Raven auf seine Gelegenheit wartete. Sein nichtsnutziger Vater hatte ihm nicht viel mitgegeben, ihm aber beigebracht, seine Gefühle zu begraben, sodass der Feind sie nicht gegen ihn einsetzen konnte. Er war jetzt ganz ruhig und wartete geduldig auf den Moment, in dem er zurückschlagen konnte.
»Ich gehe rein«, sagte Black über Funk. Er befahl Bravo, ihm ins Gebäude zu folgen. Die unausgesprochene Botschaft lautete: Billy und Raven waren entbehrlich. Der Auftrag bestand darin, zwei hochwertige Ziele zu retten. Einfache Soldaten wie sie waren nur Kollateralschäden.
Raven sprang auf und gab mehrere Schüsse auf das Gebäude ab. Dann spurtete er zu einem Fass hinüber, das Deckung und einen besseren Überblick versprach. Er war schnell, doch nicht schnell genug.
Der Heckenschütze tauchte am Fenster auf und gab einen Schuss ab, der Raven in die Brust traf. Ihn mit solcher Gewalt zurückschleuderte, dass er außerhalb der Deckung landete. Sein Gewehr fiel ein Stück links von ihm in den Dreck.
Ungeachtet der Schmerzen griff er danach, zog die Hand allerdings sofort wieder zurück, als weitere Kugeln im Boden einschlugen und Erdfontänen aufwarfen. Er ließ sein Gewehr, wo es war, und kroch zum Fass. Als er nach der Wunde tastete, empfand er weder zusätzliche Schmerzen, noch spürte er die Nässe von Blut. Die Weste hatte die Kugel gestoppt, trotzdem bekam er nicht genug Luft.
Keuchend schaute Raven zurück zu Billys entstelltem Leichnam. Eine Kugel traf den Rand des Fasses. Er zog seine M9, holte tief Luft, kam hoch und gab zwei Schüsse auf das Fenster ab, hinter dem der Heckenschütze lauerte. Über Funk wurde etwas von einer Panzerfaust gebrüllt, doch Raven schoss weiter. Er traf sein Ziel beim vierten Schuss.
Gerade als der Heckenschütze aus dem Fenster fiel, schoss ein Projektil über ihn hinweg und traf das Gebäude. Die Druckwelle der Explosion traf Raven wie ein Tsunami und riss ihn von den Beinen. Die harte Landung raubte ihm den wenigen Atem, den ihm die Druckwelle der Explosion gelassen hatte.
Schmerzen breiteten sich in ihm aus, vor seinen Augen tanzten Sterne. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Selbst seine Augen schienen in Flammen zu stehen.
Sein Blickfeld verengte sich, färbte sich gleichzeitig rot.
In weiter Ferne ertönten Stimmen.
»Spears! Verdammt noch mal, wo bist du, Spears?«
In seinem Kopf hämmerte es dumpf, als Raven versuchte, die Schmerzen wegzublinzeln. Unter ihm bebte der Boden, als eine weitere Explosion das gesamte Lager erschütterte. Es gelang ihm, seine Pistole zu heben, als er mehrere Gestalten ausmachte, die sich auf ihn zubewegten.
Als er Sergeant Black und Staff Sergeant Nixon erkannte, ließ er die Waffe wieder sinken. Die Männer schirmten zwei Mädchen ab, beide ramponiert, verdreckt und die Augen vor Schreck weit aufgerissen. Lima Eins stolperte und fiel, Nixon half ihr auf. Er führte die Mädchen zum Black Hawk, der gut 100 Meter entfernt über dem Boden schwebte, während Black zurückblieb. Er zeigte auf Billy und brüllte den anderen beiden Mitgliedern von Team Bravo Befehle zu. Die Männer rannten zu Billy und hoben den Leichnam auf.
Plötzlich hallte ein Schrei durch das Lager. »Warten Sie.« Das kam von Lee. »Mein Bruder!«
Er lief zu Black, packte seinen Arm und versuchte, ihn in Richtung Zellenblock zurückzuziehen. Langsam und mechanisch zog Black seine M9 und schoss Lee unaufgeregt in den Kopf. Der Mann sank auf die Knie und kippte dann zur Seite wie ein Kegel.
Raven schnappte nach Luft, als Black auf ihn zukam. Fast rechnete er damit, als Nächster eine Kugel in den Kopf zu bekommen.
»Warum?«, keuchte Raven. »Was hat das …?«
Er zuckte, als sich Black zu ihm herunterbeugte, doch anders als erwartet wollte er Raven lediglich dabei helfen, auf die Beine zu kommen.
»Warum?«, wiederholte Raven, als er sich mit der Unterstützung von Black zum Heli schleppte. Black hob seine Pistole und schoss auf einen brennenden Soldaten, der auf sie zugelaufen kam. Von den lodernden Flammen stieg Rauch in den Nachthimmel auf, als er in den Dreck fiel.
»Befehle, Spears«, fauchte Black. »Jemand musste die Schuld für das hier übernehmen, und Uncle Sam durfte es nicht sein. Wir wollen schließlich keinen Krieg vom Zaun brechen.«
1
18 Monate später
Polizeichef Marcus Colton stand am Ausgangspunkt des Wanderwegs zum Mount Ypsilon und Lawn Lake, den Reißverschluss seines marineblauen Polizei-Anoraks bis zum Kinn hochgezogen. Er setzte seine Flieger-Sonnenbrille ab, um die Rocky Mountains zu betrachten. Sein Instinkt sagte ihm, dass das gesuchte Mädchen irgendwo da draußen war, in den grün-braunen subalpinen Wäldern. Das mulmige Gefühl im Bauch verriet ihm aber, dass es nicht mehr am Leben war.
Oberhalb der Rottannengrenze schienen die Gipfel des Ypsilon, des Fairchild und der Rest des Mummy Range mit Schnee besprüht zu sein. Der blutrote Sonnenuntergang blitzte hinter den grauen Wolken auf, die über zerklüfteten Bergspitzen dahintrieben. Es wirkte so, als würde er ein Gemälde betrachten.
Es war Anfang September, aber im Rocky-Mountain-Nationalpark war es kälter als um diese Jahreszeit üblich. Colton war in der malerischen Touristenstadt Estes Park in Colorado geboren und hatte sein ganzes Leben dort verbracht. An die Temperaturen war er gewöhnt, daher wusste er, als er zu zittern begann, dass es nicht am Wind lag.
Die kleine Melissa Stone. Die sechs Jahre alte Tochter seines Freundes Rex Stone wurde jetzt seit drei Tagen vermisst. Mit jeder Sekunde wurde ihr Tod wahrscheinlicher. Insbesondere jetzt, wo die Temperaturen rapide fielen.
Melissa war zuletzt gesehen worden, als sie an der Prospect Avenue aus dem Schulbus stieg. Ein halbes Dutzend Polizisten und eine 100 Mann zählende Schar von Freiwilligen durchkämmten die Ausläufer des Prospect Mountain.
Das Handy in Coltons Hosentasche vibrierte. Es hatte die ganze Nacht lang geklingelt. Er rechnete mit einem Anruf von einem seiner Beamten oder der Bürgermeisterin Andrews, doch es war seine Frau Kelly. Sie wartete zu Hause mit ihrer sieben Jahre alten Tochter Risa. Die Luft war erfüllt von Zedernduft. Er atmete noch einmal tief ein, bevor er über den Bildschirm strich und sich das Gerät ans Ohr hielt.
»Hallo, Schatz.«
»Ich habe seit Stunden nichts von dir gehört«, begann Kelly.
»Ich stehe gerade am Aufstieg zum Ypsilon und warte auf Raven. Es sieht ganz danach aus, als würde sich das Wetter verschlechtern. Wie geht’s dir? Und wie geht’s Risa?«
»Mir geht’s gut. Risa hält sich auch ganz gut, aber sie fragt mich ständig, wann du Melissa findest. Ich will sie gleich ins Bett bringen. Wir haben einen Teller Suppe gegessen und vermissen dich. Wann kommst du nach Hause?«
»Das könnte noch etwas dauern. Raven ist schon eine Stunde überfällig.«
Sie antwortete nicht sofort und Colton wusste, was die Pause bedeutete.
Seine Frau war auch sein bester Freund und größter Fan. Nach 20 Ehejahren konnte er in ihren Gedanken lesen wie in einem Buch.
»Was überlegst du?«, fragte er sie.
»Vertraust du Raven tatsächlich? Schließlich hast du ihn zwei Mal verhaftet.«
»Er ist nur ein junger Mann, der ein wenig den Boden unter den Füßen verloren hat. Du weißt, dass er nach dem Ende seiner Dienstzeit und seiner Rückkehr aus Übersee eine schwere Zeit durchgemacht hat. Deswegen habe ich ihm Anfang des Jahres angeboten, die Anklage wegen Trunkenheit am Steuer fallen zu lassen, wenn er mir dafür bei der Suche nach Sarah Kirkland hilft.«
»Aber das hier ist kein Fall, wo sich ein Kind einfach nur verirrt hat, oder?«
Colton seufzte. Seine Frau war clever. Viel cleverer als er. »Ich fürchte, nein. Ich habe einen Tipp bekommen, der mich heute Abend auf den Berg geführt hat, mehr kann ich dazu nicht sagen.«
»Die Leute vergessen, wie gefährlich es sein kann, hier draußen zu leben.«
»Das kann man wohl sagen. Erst letzte Woche hat mich ein Ranger angerufen, weil ein Tourist zugelassen hat, dass sein kleiner Sohn einen Elch tätschelt. Der Kerl hat den Elch für eine Art Pferd gehalten.«
»Was für ein Idiot.«
Eine erneute Pause trat ein, und in diesem Augenblick war er wieder zu Hause bei seiner Frau und seiner Tochter. Allerdings war er mehr als ein liebender Ehemann und Vater: Er war ein Soldat und ein Gesetzeshüter. Jemand musste hier draußen sein und die Schafe vor den Wölfen beschützen.
»Raven ist der beste Fährtenleser in der ganzen Gegend«, sagte Colton. »Er hat Sarah gefunden, bevor es zu spät war. Er kann mir hoffentlich auch dabei helfen, Melissa zu finden.«
»Er sollte seinen Hintern besser zügig zu dir in Bewegung setzen. Ich will nicht, dass du ganz allein auf dem Berg bist.«
»Ich kann auf mich aufpassen, das weißt du besser als jeder andere. Und jetzt gib Risa einen Kuss von mir. Ich komme nach Hause, so schnell ich kann.«
»Na gut. Ich liebe dich, Marcus. Pass gut auf dich auf.«
»Ich liebe dich.« Colton hielt kurz inne und betrachtete die Regenwolken. Normalerweise redete er mit seiner Frau nicht über die Arbeit, aber diesmal fühlte es sich anders an. »Kelly, schließ die Türen ab, ja? Und schlaf heute Nacht mit deiner Glock in Reichweite.«
»Ist es so schlimm?«
»Ich hoffe, nicht, aber Vorsicht ist besser als Nachsicht.«
Colton schob seine Sonnenbrille in die Tasche und erwog zu versprechen, dass er das Mädchen nach Hause bringen würde, doch nach zwei Dienstzeiten in Afghanistan und zehn Jahren Dienst als Polizeichef wusste er, dass die Dinge nicht immer gut ausgingen.
Er verstaute das Handy wieder in der Tasche. Verschwiegen hatte er seiner Frau, dass er Sam »Raven« Spears aus Verzweiflung angerufen hatte. Raven hatte sich nach seiner Entlassung bei den Marines ein paar schlechte Angewohnheiten zugelegt und dumme Entscheidungen getroffen, aber der Mann war der beste Jäger und Führer in der ganzen Gegend. Colton brauchte seine Fähigkeiten als Fährtenleser. Raven war seine letzte Hoffnung, Melissa in diesen Wäldern zu finden.
Am Horizont zog sich der feurige Schein des Sonnenuntergangs zurück und der Berg verschluckte die letzten Sonnenstrahlen. Wind ließ die Äste und Zweige der Pinien schwanken. Das Rauschen von Kiefern, Fichten und Douglastannen steigerte sich zu einer Kakofonie, die wie ein Wasserfall klang. Ein Passagierflugzeug umflog, auf dem Weg nach Denver im Südwesten, den für den Flugverkehr gesperrten Luftraum über dem Rocky-Mountain-Nationalpark. Hier draußen sah man nicht viele davon. Die Positionslampen blinkten, als es die Berge überflog.
Das Dröhnen eines Motors durchbrach die Stille. Auf der tiefer gelegenen Straße tauchte Scheinwerferlicht auf. Ein Jeep Cherokee, Baujahr irgendwann in den 70ern, fuhr den Weg empor und wirbelte dabei eine Wolke aus Staub und Abgasen auf.
Colton warf einen Blick auf seine Armbanduhr und schnaubte. Es war beinahe sechs Uhr. Er nahm sein Colt AR-15 mit ACOG-Zieloptik, lehnte sich an seinen Wagen und wartete darauf, dass Raven seinen Jeep abstellte.
Ein Regentropfen landete auf Coltons Schulter. Das Unwetter zog von Westen herauf. Er verwünschte ihr Pech und öffnete die Tür seines Wagens, um seinen Poncho herauszuholen. Es würde eine lange, kalte und nasse Nacht werden.
Raven erreichte den Parkplatz. Der Jeep war über 40 Jahre alt, doch das wenige Licht reichte aus, um zu erkennen, dass der metallgraue Lack keine Spur von Rost aufwies. Er hatte den Jeep mit übergroßen Geländereifen und einem Frontschutzbügel mit integrierter Winde ausgerüstet.
»Chief«, sagte Raven, als er die Tür öffnete und ausstieg. Er ging zur Beifahrertür und ließ seinen Hund Creek heraus. Der Akita sprang aus dem Wagen und sah Colton mit seinen dunkelbernsteinfarbenen, von weißem Fell umringten Augen an. Dann lief er zum Straßenrand und hob ein Bein.
»Schöner Jeep«, erwiderte Colton, wobei er sich bemühte, freundlich zu klingen.
Raven grinste und tätschelte die Motorhaube. »Ein Cherokee für einen Cherokee.«
»Ich dachte, Sie wären ein Sioux.«
»Halb und halb.« Raven zuckte mit den Schultern.
Colton grunzte. Genug geplaudert. »Wir haben eine gute Stunde Tageslicht vergeudet«, begann er. »Jetzt müssen wir uns nassregnen lassen.«
»Eine Stunde mehr hätte daran nichts geändert.« Raven warf sich einen Rucksack über die Schulter.
»Ihnen ist schon klar, warum ich Sie herbestellt habe, oder?«
Raven durchstöberte auf der Suche nach mehr Ausrüstung den Kofferraum des Jeeps. »Es geht um das verschwundene Mädchen«, antwortete er, ohne sich umzudrehen.
»Sie heißt Melissa«, entgegnete Colton. »Je schneller wir in die Gänge kommen, desto eher finden wir sie.«
Raven straffte die Tragegurte seines Rucksacks, sodass er ein wenig enger saß, und band sich die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen. Seine Lippen über dem Grübchenkinn verzogen sich zu dem Lächeln, das die Hälfte der Mädchen in der Stadt schwach werden ließ. Anders als Colton hatte Raven es geschafft, seinen Dienst abzuleisten, ohne größere Narben im Gesicht davonzutragen, und er sah fast zehn Jahre jünger aus als die 33, die er tatsächlich war.
»Ich habe ein paar Fragen«, sagte Raven. »Erst mal – sind wir hier nicht außerhalb Ihrer Zuständigkeit? Wo ist dieser Kerl, der uns beim Kirkland-Fall geholfen hat? Ranger Fry?«
»Ranger Field«, korrigierte Colton. »Der geht Spuren weiter oben auf der Trail Ridge Road nach.«
»Schön. Was können Sie mir sonst noch sagen, Chief?« Raven zündete sich eine Zigarette an, zog daran und ließ den Rauch durch die Nasenlöcher entweichen. »Ich musste eine Verabredung mit einer süßen kleinen Touristin absagen.«
»Zuletzt gesehen wurde Melissa, als sie an ihrer Haltestelle auf der Prospect Avenue aus dem Schulbus stieg, aber ein Einheimischer namens Bill Catcher glaubt, sie danach in einem blauen Pick-up, wahrscheinlich einem F-150 mit Kennzeichen aus South Dakota, gesehen zu haben, und zwar auf der Curry Road nicht weit vom Prospect Mountain. Den Fahrer hat er als Mann mittleren Alters mit sonnengebräunter Haut und kahl geschorenem Kopf beschrieben. Bill leidet unter Verfolgungswahn, dennoch hat er ein gutes Gedächtnis.«
»Wenn das kein Zufall ist«, sagte Raven. »Das klingt ganz nach dem Pick-up, den meine Schwester Sandra vor ein paar Wochen vor ihrem Haus gesehen hat. Meine Nichte Allie hat erzählt, der Fahrer habe versucht, sie aus dem Pick-up heraus anzuquatschen.«
Coltons Kiefermuskeln spannten sich an. »Was? Warum hat Sandra das nicht gemeldet?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Raven abwehrend. »Ich schätze mal, wir trauen den Bullen nicht.«
Colton ignorierte die Stichelei und stellte die nächste Frage. »Was hat dieser Kerl zu Allie gesagt?«
»Sie war viel zu erschüttert, um Sandra auch nur zu beschreiben, wie er ausgesehen hat. Warum? Glauben Sie, es könnte ein und derselbe sein?«
»Da würde ich sogar drauf wetten.«
Raven nahm einen tiefen Zug und dachte darüber nach.
»Ein paar Camper haben vor zwei Nächten wegen des Regens ihre Zelte hier oben früher abgebrochen. Sie haben um Mitternacht einen blauen F-150 mit Kennzeichen aus South Dakota parken sehen. Bei der Befragung durch meine Leute haben sie berichtet, dass sie einem Mann mit einem Mädchen in Melissas Alter begegnet sind, der auf dem Weg nach oben war. Das muss nichts zu bedeuten haben, könnte aber.«
»Tja, Scheiße, dann nichts wie los.« Raven pfiff Creek zu sich und der Hund trottete hinüber.
»Wir gehen, wenn Sie mit diesem Sargnagel durch sind«, sagte Colton. Raven war nicht der einzige Fährtenleser hier. Colton wusste auch ein paar Dinge darüber, wie man Menschen jagte, und Rauchen war ein Anfängerfehler, der jedem da draußen verraten würde, dass sie kamen.
»Ich wollte die Kippe gerade ausdrücken. Hören Sie schon auf, sich Sorgen zu machen, Chief.« Raven ließ die Zigarette auf den Boden fallen, trat sie aus und scharrte mit dem Fuß Dreck darüber. »Wenn ich so darüber nachdenke, habe ich doch noch ein paar Fragen. Was wissen Sie sonst noch über diesen Kerl? Glauben Sie, er ist bewaffnet?«
»Ich wette, er ist bewaffnet und gefährlich.«
»Dann macht es Ihnen sicher nichts aus, wenn ich meine Armbrust und meine Beile mitnehme?«
Colton schüttelte den Kopf und drückte sein AR-15 liebevoll an sich. Raven wandte sich wieder seiner Ausrüstung zu.
Er nahm einen x-förmigen Ledergürtel mit zwei Beilen in passenden Futteralen, den er sich umlegte und schloss, und schließlich noch eine Armbrust mit aufmontiertem Zielfernrohr.
»Ist dieser Pick-up noch hier?« Raven schaltete eine Taschenlampe ein und ließ den Lichtstrahl über den Parkplatz wandern.
»Nein, ich habe bereits nachgesehen.«
Raven schaltete die Lampe wieder aus und verstaute sie. »Haben Sie ein Kleidungsstück von Melissa?«
Colton warf sich seinen Poncho über und öffnete seinen Rucksack. Er kramte ein wenig darin herum, bis er den Beweisbeutel aus Plastik mit dem rosa Fausthandschuh fand, den ihm Rex Stone gegeben hatte.
Raven nahm ihn, hockte sich damit vor Creek und ließ den Akita die Witterung aufnehmen, während Colton den Plan erläuterte. Sie würden den Weg den Mount Ypsilon hoch zum Lawn Lake nehmen, wo die Camper ihre Begegnung gehabt hatten.
»Meinen Sie, er könnte entlang der Fälle zurückgegangen sein?«, fragte Raven. »Vielleicht sollten wir uns aufteilen, dann können wir mehr Gelände abdecken.«
Colton biss sich auf die Innenseite seiner Wange. Wenn Raven die Absicht hatte, jede Entscheidung durchzudiskutieren, würden sie nicht mal vom Parkplatz wegkommen.
»Wir gehen zum Lawn Lake, Raven.«
»Na gut, Chief«, meinte Raven mit einem spitzbübischen Grinsen. »Machen wir uns an die Arbeit.«
Major Nathan »Gambler« Sardetti spürte, dass ein Lächeln seine Züge erhellte, als sich die Tore der Luftwaffenbasis Buckley öffneten. Ein MP salutierte, als Nathan nach draußen auf die Straße fuhr.
»Endlich«, stöhnte er. Er öffnete eine Dose Red Bull und trank, während er davonraste. Nach Monaten der Ausbildung und sechs Tagen Arbeit in der Woche war er völlig erschöpft. Er würde auf der Fahrt nach Empire in Colorado eine ganze Palette dieser Energydrinks brauchen, um wach zu bleiben. Sein Neffe Ty war im dortigen Lager der Easterseals und Nathan wollte den Jungen überraschen.
Nathan war kaum auf den Highway gefahren, als er auf das Telefon-Symbol am Lenkrad drückte.
»Anrufen: Charlize Montgomery«, sagte er.
Aus den Lautsprechern drang der Klingelton. Nathan trank mehr Red Bull, während er darauf wartete, dass seine Schwester den Anruf annahm. In ein paar Stunden würde er in den Bergen sein, die nach Zedern duftende Luft atmen und Tys Rollstuhl den Weg um den kristallklaren See entlangschieben. Er konnte sich keine bessere Art vorstellen, seine kostbaren freien Tage zu genießen.
Eine feste, zugleich feminine Stimme tönte aus den Lautsprechern. »Guten Abend, Major.«
Nathan lächelte. »Guten Abend, Senatorin. Was macht D. C.?«
»Ist verstopft, wie üblich. Was macht mein liebster kleiner Bruder?«
»Ich bin dein einziger kleiner Bruder.« Nathan grinste im Stillen über das vertraute Geplänkel. »Und ich freue mich schon darauf, etwas Zeit mit Ty zu verbringen. Ich dachte, ich rufe dich an und frage, ob du irgendwelche besonderen Wünsche hast.«
Ihre Stimme klang nun ernst. »Nur einen: Überanstrenge ihn nicht. Nach deinem letzten Besuch hat er einen ganzen Tag lang geschlafen.«
Nathan nickte, als wäre sie da und könnte ihn sehen. »Versprochen. Und fürs Protokoll, letztes Mal war ich nur mit ihm am Strand. Er hatte die ganze Zeit seine Schwimmweste an. Du weißt, ich würde nie zulassen, dass ihm irgendwas passiert.«
Das Gespräch stockte kurz und Nathan wusste, dass sie beide das Gleiche dachten. Dass, als es wirklich darauf angekommen war, keiner von ihnen Ty hatte beschützen können. Seit dem Autounfall, bei dem sein Vater Richard ums Leben gekommen war, konnte er seine Beine nicht mehr spüren. Charlize hatte sich nie verziehen, dass sie sie nicht hatte retten können, egal wie oft Nathan auch schon versucht hatte, seine Schwester davon zu überzeugen, dass es nicht ihre Schuld war.
»Also gut, ich verspreche, ihn diesmal nicht allzu sehr aufzuregen«, sagte Nathan. »Keine Süßigkeiten, keine Limo und keine wilden Rollstuhlrennen im Gelände. Hand aufs Herz.«
Charlize lachte. »Er wird so überrascht sein, wenn er dich sieht.«
Nathan hatte seine Schwester schon lange nicht mehr lachen hören. Sein Lächeln wurde breiter, als sein Blick kurz zu dem Karton auf dem Beifahrersitz irrte.
»Ich habe ein kleines Geschenk für ihn.«
»Ach? Ich hoffe doch sehr, dass es nicht wieder Feuerwerk ist.«
»Du machst dir zu viele Sorgen, Senatorin.«
Wieder gab es eine Pause, länger als die erste.
»Das ist alles, was ich in letzter Zeit mache«, antwortete sie. Jede Spur von Heiterkeit war aus ihrer Stimme gewichen. »Hier sieht es gar nicht gut aus, Nathan. Wir haben große innenpolitische Probleme, aber ehrlich gesagt macht mir Nordkorea die größte Angst. Präsident Drake fährt einen harten Kurs gegenüber Pjöngjang. Es gibt reichlich Spannungen in der entmilitarisierten Zone, vor allem nachdem etwas von einem streng geheimen Militäreinsatz durchgesickert ist.«
»Militäreinsatz? Ich habe nichts dergleichen gehört.«
»Deswegen heißt es ja auch ›streng geheim‹, Nathan«, sagte sie leise.
Er war nicht so dumm nachzufragen. »Ein paar Kumpel von mir sind an der Grenze stationiert. Ich habe gehört, man hat ihnen gesagt, sie sollen sich auf einen potenziellen Angriff vorbereiten.«
Vom anderen Ende kam ein Seufzer. »Sollte Pjöngjang beschließen, den Süden anzugreifen, sind die 28.000 Soldaten, die wir dort stationiert haben, nicht mehr als eine Bremsschwelle für die über eine Million Mann starke nordkoreanische Armee.«
Nathan schüttelte den Kopf. »Bis zu den nächsten Wahlen sind es nur noch ein paar Jahre. Vielleicht brauchen wir jetzt eine Präsidentin Charlize Montgomery.«
»Das wird nicht passieren. Präsident Drake wird definitiv für eine zweite Amtszeit kandidieren, und wenn meine als Senatorin vorbei ist, kehre ich nach Denver zurück. Für mich wird es höchste Zeit, wieder eine Vollzeitmutter zu sein. Außerdem bin ich dann näher bei dir und kann an deinen Einsätzen teilhaben. Ich vermisse es doch sehr, da oben zu sein.«
»Ich wünschte, du würdest dir das mit deinem Sitz im Senat noch mal überlegen. Ty braucht dich, aber das Land auch.«
»Danke. Das bedeutet mir viel, aber ich vermisse auch …« Sie brach ab, doch Nathan wusste, was sie hatte sagen wollen.
»Ich weiß. Richard war ein toller Bursche. Aber du bist die beste Mutter, die zufällig auch noch Pilotin ist, und die beste Senatorin, der ich je begegnet bin.«
»Wahrscheinlich bin ich auch die einzige, der du je begegnet bist. Und da wir gerade mit Komplimenten um uns werfen: Hast du gewusst, dass du ein großartiger Onkel bist und dich selbst zu einem verdammt guten Piloten mauserst? Vielleicht brichst du ja sogar ein paar von meinen Rekorden.«
»Du hast die Messlatte ziemlich hoch angelegt.«
Am anderen Ende raschelte etwas. »Warte mal kurz«, sagte sie.
Nathan setzte noch einmal die Dose Red Bull an, während er wartete. Er hatte noch nicht heruntergeschluckt, als Charlize bereits wieder in der Leitung war.
»Tut mir leid, Nathan, ich muss das Gespräch jetzt beenden. Mein Stabschef ist gerade eingetroffen. Ich melde mich morgen bei dir, in Ordnung?«
»Verstanden. Ich liebe dich, Schwesterherz.«
»Ich dich auch, und nochmals danke. Es bedeutet Ty und mir sehr viel.«
»Gerne. Halt dich wacker und bis morgen.« Er legte auf und trank die Dose leer. Es tat gut, mit seiner Schwester zu reden, was sich immer seltener zu ergeben schien, seit sie in den Kongress gewählt und er befördert worden war. Mit seinen 31 war er noch jung für einen Major, aber er hatte sich den Rang verdient.
Er schaltete das Radio ein, im lokalen Sender NPR begannen eben die Nachrichten.